Schafkopf
Kriminalroman
Auf der Spitze des Riederstein wird der Bergwanderer Kummeder erschossen. Kommissar Wallner und seine Leute stoßen auf einen seltsamen Vorfall im Leben des Opfers. Und auch, als ein weiterer Mord geschieht, führen die Spuren in Kummeders...
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Produktinformationen zu „Schafkopf “
Auf der Spitze des Riederstein wird der Bergwanderer Kummeder erschossen. Kommissar Wallner und seine Leute stoßen auf einen seltsamen Vorfall im Leben des Opfers. Und auch, als ein weiterer Mord geschieht, führen die Spuren in Kummeders Vergangenheit: zu jenem Abend im Juni 2007, als Kummerders Freundin verschwand.
Ein neuer, kultiger Oberbayernkrimi vom Autor von "Der Prinzessinenmörder"!
Klappentext zu „Schafkopf “
SchafkopfDer Kleinkriminelle Stanislaus Kummeder geht an einem Oktobersonntag frühmorgens mit einem Bierfass auf den Riederstein. Dort auf dem Gipfel, hoch über dem Tegernsee, wird ihm aus heiterem Himmel der Kopf weggeschossen. Was der Mann, der nie auf Berge ging, auf dem Riederstein zu schaffen hatte, wozu er ein Bierfass auf den Gipfel schleppte und weshalb ihn jemand mit einem Präzisionsgewehr aus 500 Meter Entfernung erschoss das können nur zwei Menschen beantworten: der ewig frierende Kommissar Wallner und sein bayerisch-anarchistischer Kollege Polizeiobermeister Kreuthner. Bei ihren Ermittlungen stoßen die beiden auf das geheimnisvolle Verschwinden einer jungen Frau, auf 200 000 Euro im Kofferraum eines dubiosen Anwalts, einen prügelnden Wirt mit abnormen Körperkräften und eine Neumondnacht vor zwei Jahren, in der die Geschehnisse durch eine Partie Schafkopf ihren tragischen Anfang nahmen...
Der Kleinkriminelle Stanislaus Kummeder geht an einem Oktobersonntag frühmorgens mit einem Bierfass auf den Riederstein. Dort auf dem Gipfel, hoch über dem Tegernsee, wird ihm aus heiterem Himmel der Kopf weggeschossen. Was der Mann, der nie auf Berge ging, auf dem Riederstein zu schaffen hatte, wozu er ein Bierfass auf den Gipfel schleppte und weshalb ihn jemand mit einem Präzisionsgewehr aus 500 Meter Entfernung erschoss - das können nur zwei Menschen beantworten: Der ewig frierende Kommissar Wallner und sein bayerisch-anarchistischer Kollege Polizeiobermeister Kreuthner. Bei ihren Ermittlungen stoßen die beiden auf das geheimnisvolle Verschwinden einer jungen Frau, auf 200.000 Euro im Kofferraum eines dubiosen Anwalts, einen prügelnden Wirt mit abnormen Körperkräften und eine Neumondnacht vor zwei Jahren, in der die Geschehnisse durch eine Partie Schafkopf ihren tragischen Anfang nahmen ...
Lese-Probe zu „Schafkopf “
Schafkopf von Andreas Föhr... mehr
Prolog
15. Juni 2007, 22 Uhr 58: Die Nacht war warm. Rechtsanwalt Jonas Falcking stand neben seinem silbernen Porsche. Grillen zirpten, eine Katze huschte vorbei, löste einen Bewegungsmelder aus, die Lampe über der Tür des Hauses schaltete sich ein. Im Erdgeschoss hatte das Haus grüne Fensterläden mit ausgeschnittenen Herzen in der Mitte. Im ersten Stock konnte man im Gegenlicht der Lampe undeutlich einen geschnitzten Holzbalkon erkennen. Bayerischer Landhausstil.
Eine Ziertanne stand blau auf dem nächtlichen Rasen. Falcking hatte die Hände in die Hosentaschen seines Armani-Anzugs gesteckt. Der Anwalt wartete darauf, dass der Bewohner des Hauses herauskam. Von der Lampe über der Tür fi el Licht auf das Wagendach. Dort hatte die nächtliche Kühle Tau niedergeschlagen. Falcking zog eine Hand aus der Hosentasche und malte mit dem Zeigefi nger eine Zwei und dahinter fünf Nullen in den feuchten Fleck. Er betrachtete die Zahl und sog die Abendluft ein. Sie roch nach gemähtem Gras. Falcking hörte Schritte im Haus und wischte die Zahl vom Wagendach.
Der Mann war Mitte fünfzig, einen Meter neunzig groß und wog einhundertdreißig Kilo. Die Sporttasche sah in seiner fleischigen Hand aus wie ein Damenhandtäschchen. In der anderen Hand hielt er eine Fernbedienung. Auf einen Knopfdruck hin rollte das Garagentor nach oben. Der Mann bedeutete Falcking, ihm zu folgen. Als sie in der Garage waren, ertönte ein Summen. Das Garagentor schloss sich wieder.
»Muss net jeder zuschauen«, sagte der Dicke. »Glaubst, da ist noch jemand wach?«
»Die hocken mit'm Fernglas hinterm dunklen Fenster.«
»Quatsch, oder?« Falcking lachte.
»Ja ohne Schmarrn. Was glaubst du denn? Mir san hier am Land.«
Der dicke Mann stellte die Sporttasche auf einer Werkbank ab und sah Falcking mit verwaschenem Blick an. Die Haut um die Augen war feucht. Aber er weinte nicht, er schwitzte. Von der Anstrengung, die jede Bewegung ihm verursachte, von dem Dutzend Obstlern, die er getrunken hatte, und auch vor Aufregung über das, was er gleich tun würde. Der dicke Mann öffnete den Reißverschluss der Sporttasche und ließ Falcking einen Blick auf den Inhalt werfen. Im dünnen Licht der Garagenlampe sah Falcking Geldscheine. Sie waren gebündelt. Nicht mit Banderolen wie in der Bank. Ein schlichter Gummi war um jedes Bündel gebrauchter Scheine gespannt worden. Falcking nahm eines der Päckchen heraus. Es war sehr dick und enthielt Fünfzigeuroscheine.
»Immer hundert in einem Bündel.« Der dicke Mann holte eines mit Zwanzigern heraus und hielt es Falcking hin.
»Zähl's nach.«
Falcking schüttelte den Kopf, nahm dem Mann das Bündel Zwanziger aus der Hand und legte es zusammen mit dem Fünfzigerbündel in die Tasche zurück. »Hundertsechsundneunzigtausend. Dein Wort genügt mir.«
Falcking machte den Reißverschluss zu. Der dicke Mann warf einen besorgten Blick auf die geschlossene Tasche. »Mach keinen Scheiß, hörst du? Das ist meine Rente. Und die von der Maria. Vielleicht bin ich bald nimmer da.«
Falcking legte seinen Arm um die Schulter des massigen Mannes. »Du bist noch viele Jahre da. Hörst du?«
Der Dicke nickte, und die Muskeln um seinen Mund verkrampften sich. Er kämpfte mit den Tränen.
»Bernd - ich kümmer mich um deine Mädels. Das hab ich dir versprochen, und das halte ich«, sagte Falcking.
»Ich weiß. Bist a feiner Kerl.« Die Stimme des Mannes war belegt. Er wischte sich mit den Zeigefi ngern die Augen trocken.
Falcking zog seinen Schwiegervater an sich, gab ihm einen Klaps auf die Schulter und griff nach der Reisetasche. Der dicke Mann sollte sein Geld nie wiedersehen.
Zur gleichen Zeit ...
... wenige Kilometer entfernt im nächtlichen Mangfalltal. Die Temperatur fünf Grad kälter, Bodennebel in der Flusssenke. Aus dem Wirtshaus fi el Licht auf den Schotterplatz vor dem Haus. Dort standen zwei Motorräder, ein nachträglich mit Spoilern versehener Ford Escort aus den Achtzigerjahren sowie zwei weitere Altwagen. Einer davon auf Ziegelsteinen aufgebockt, verrostet, Fenster und Scheinwerfer fehlten. Schwaches Licht fi el auch auf einen Matratzenrost, zwei abgefahrene Traktorreifen, Bretter und alte Ziegelsteine, die ohne Sorgfalt neben einem Holzschuppen aufgeschichtet waren. Hinter dem Wirtshaus stapelten sich Getränkekisten, gelblich beleuchtet von einer Laterne mit zerbrochener Scheibe. Die Laterne hing über dem Hintereingang. Leises Schluchzen war zu hören, jemand weinte und zog die Nase hoch.
Im gelben Schein der Vierzig-Watt-Birne konnte man sehen, dass die Nase geschwollen und mit einem weißen Pfl aster überklebt war. Ebenso geschwollen war das linke Auge der jungen Frau. Susi reichte Kathrin ein Papiertaschentuch. Aber Kathrin wehrte ab. Sie konnte sich mit der gebrochenen Nase nicht schneuzen. Stattdessen zog sie den Rotz noch einmal hoch und spuckte das, was im Mund ankam, auf die Stufe vor dem Hintereingang. Es war rot. Susi hielt Kathrin eine Zigarette hin.
»Das wird schon wieder.« Susi lächelte. Es war aufmunternd gemeint, wirkte aber verzweifelt. Kathrin steckte sich die Zigarette zwischen die aufgeplatzten Lippen, ließ sich von Susi Feuer geben und inhalierte gierig. Den Rauch blies sie nach oben zu der ramponierten schmiedeeisernen Laterne und scheuchte die Motten für einen Augenblick vom Licht. Kathrin schüttelte den Kopf und wischte sich mit der freien Hand eine Träne aus dem Auge. »Der bringt mich um. Eines Tages bringt er mich um«, sagte sie. »Ich will nimmer.«
Der letzte Satz erschreckte Susi. »Was meinst'n damit - du willst nimmer?«
»Ich ... ich halt das nimmer aus. Es muss Schluss sein damit. Verstehst? Schluss. Endgültig.«
Susis Unruhe wurde stärker. »Willst den Stani verlassen?«
»Spinnst du?« Fassungslos versuchte Kathrin zu lachen, aber die Naht an der Nase und ihr geschwollenes Auge taten dabei weh. »Was glaubst, dass der mit mir macht, wenn ich ihn zum Teufel hau?«
Susi betrachtete Kathrin mit wachsender Sorge. Was hatte ihre Freundin im Sinn? Es musste etwas so Radikales sein, dass sich Susi nicht einmal vorstellen konnte, was es sein mochte. Mit Stani Schluss zu machen war ganz sicher keine Lösung - wo er Kathrin schon jetzt so zurichtete. Was würde er ihr antun, wenn sie ihn verließ? Stani hing an Kathrin wie an nichts an derem auf der Welt. Susi biss auf ihre Unterlippe und traute sich nicht, die Frage zu stellen, die so nahelag.
Im Halbdunkel an die Hauswand gelehnt stand Kathrins Fahrrad. Erst jetzt bemerkte Susi, dass neben dem Rad eine Reisetasche stand - prall gefüllt. »Du gehst weg?«
»Ja. Ich hau ab.« Kathrin nickte und sah in die Nacht hinaus.
»Wohin denn?«
»Berlin, London, Ibiza. Keine Ahnung. Nur weit weg, wo der Stani mich net fi ndet.«
»Aber man kann net einfach ... nach Berlin oder Ibiza gehen. Wie stellst dir das vor?«
»Es wird schon irgendwie gehen.«
Susi schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich tät sterben vor Heimweh. Ich mein - es ist ja kein Urlaub.«
»Was tätst denn vermissen? Deinen Vater? Oder deine depperten Brüder?«
Susi zuckte mit den Schultern. »Den Peter.«
»Dass er dich jede Woch grün und blau schlagt? Dass du dich gar nix mehr sagen traust, aus Angst, du fangst dir eine? Das tätst net vermissen. Glaub's mir.«
Susi zuckte noch einmal mit den Schultern und starrte vor sich hin. Dabei verfi ng sich ihr Blick an Kathrins Unterarm, der ein Stück aus ihrer Lederjacke ragte. Er war blau von Blutergüssen. Kathrin hatte versucht, die Schläge abzuwehren.
»Dich tät ich vermissen«, sagte Susi leise.
Kathrin sagte nichts darauf. Sie schwiegen eine Weile, und Kathrin blies Rauch in die gelbe Nacht.
»Ihr müsst ein bissl aufeinander zugehen. Dann geht das schon. Du liebst ihn doch.«
»Nein. Wer so was tut, den kannst du nicht lieben.« Etwas in Kathrin revoltierte plötzlich. »Schau mich an, was er mit mir gemacht hat! «, schrie sie auf Susi ein. »Siehst des net?!«
Susi schossen die Tränen in die Augen. »Ich weiß, aber ...« Sie fi ng an zu weinen. Kathrin nahm ihre Hand, drückte sie. Susi blickte zu Boden. Endlose Sekunden, ohne etwas zu sagen. Sie schien nicht einmal zu atmen. Nur ein leichtes Zucken ging durch ihren Oberkörper. Als sie wieder zu Kathrin aufsah, war deren Gesicht verzerrt von Schmerz und Wut. Susis Kinn zitterte, ihre Wangen waren nass. »Lass mich hier net allein«, flüsterte sie.
Kathrin nahm die Freundin in den Arm und drückte sie. Außer Kathrin hatte Susi niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Susis Vater und ihre Brüder sahen weg, wenn Peter sie verprügelte. Sie hatten Angst. Wenn Peter zuschlug, brachen Knochen. Er hatte übermenschliche Kräfte.
Vor nicht langer Zeit war Peter noch Susis Märchenprinz gewesen. Der Ritter, der sie aus ihrem Familiengefängnis befreit hatte. Zu dieser Zeit waren auch Kathrin und Stani zusammengekommen. Ein paar Monate lang waren sie zwei Traumpaare gewesen, hatten Händchen gehalten und sich so unentwegt geküsst und aneinandergeklammert, dass es den Freunden schon zu viel war. Doch schnell kam der Alltag. Mit ihm die ersten Grobheiten, dann die erste Ohrfeige. Ein Jahr später waren Kathrin und Susi immer noch mit ihren Burschen zusammen. Aber die hatten sich mittlerweile als unbeherrscht und gewalttätig herausgestellt und ihre Mädchen mehrfach so geschlagen, dass sie ärztlich behandelt werden mussten. »The fairytale gone bad«, wie es im Lied hieß.
»Komm mit«, sagte Kathrin.
Susi überlegte eine Weile. Dann schniefte sie und schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nie weiter als bis Sterzing gefahren.«
»Ja und? Du bist einundzwanzig. Dann machst mal was Neues.«
»Ich kann das net. Ich hab zu viel Angst.«
»Wovor?«
»Vor dem ... Unbekannten.«
»Ist das schlimmer, als vom Peter geschlagen werden?« »Ja«, sagte Susi mit Bestimmtheit und dachte an all das Unbekannte da draußen in der Welt, das ihr zustoßen konnte, und ihre Augen wurden ganz groß vor Entsetzen.
Kathrin ließ die Zigarette zu Boden fallen und drückte sie aus. »Weißt was?«
Susi schüttelte den Kopf.
»Ich hol dich nach, wenn ich in Berlin bin. Oder wo immer.«
Susi sah sie verunsichert an. »Dann gehst du wohin, wo du schon wen kennst. Dann ist es gar nimmer schlimm, verstehst?« Kathrin legte ihre Hände auf Susis Schultern, sah ihrer Freundin in die Augen und lächelte, soweit das die gebrochene Nase zuließ. Susi nickte schließlich.
»Ja. So machen wir's.« Die beiden Frauen umarmten sich.
»Kannst mir a Geld leihen?«, sagte Kathrin, als sie sich aus der Umarmung gelöst hatten.
»Ich hab mein Trinkgeld gespart. Das sind neunhundert Euro.«
»Ich geb's dir wieder, wenn du nach Berlin kommst. Okay?«
»Schon gut.«
Susi verschwand im Haus, wo ihr Freund Peter Zimbeck, der Inhaber der Gastwirtschaft, mit drei anderen Männern in der Wirtsstube Schafkopf spielte. Kathrin zündete sich noch eine Zigarette an. Ihre Nase pochte und begann stärker zu schmerzen. Die Wirkung des Mittels, das der Arzt ihr gegeben hatte, ließ nach. Als sie einen Augenblick innehielt und in die Nacht lauschte, meinte sie, ein Geräusch zu hören. Nur kurz, dann verschwand es und nur noch das Rauschen der Mang-fall kam aus der Dunkelheit. Kathrin blickte durch die offene Hintertür ins Wirtshaus, um zu sehen, wo ihre Freundin blieb. Da hörte sie es wieder - das Geräusch. Diesmal war es näher. Es klang wie ein röhrendes Tier im Wald. Vielfach gebrochen hallte es durch die Nacht. Kathrin krampfte sich der Magen zusammen. Sie kannte das Geräusch, hoffte aber inständig, sich zu irren. Sie ging vor bis zur Hausecke, um besser hören zu können, was sich dem Wirtshaus näherte. Jetzt war das Geräusch so laut und klar, dass nicht der geringste Zweifel blieb: Es war das Röhren eines alten Saab Cabrio. Der Saab Cabrio des Stanislaus Kummeder, der sich dem Wirtshaus näherte.
1. Kapitel
Der Wirt der Aueralm, in gleicher Person auch Senner der Alm, blickte auf zum Morgenhimmel, der
sich im Osten rosa färbte an diesem 4. Oktober des Jahres 2009. Abgesehen davon war der Himmel sehr blau und dunkel und ohne eine Wolke und kündigte einen dieser Tage an, wie es sie erst gab, seit sie die Ozonschicht kaputtgemacht hatten: mit so beißend klarem Licht und harten Farben, dass es einem vorkam, als habe jemand einen Filter vor die Landschaft gestellt, der alles Milde und Weiche aufzehrte und Schwarztöne zum Leben erweckte, wie die teuersten Plasmabildschirme sie nicht hervorbrachten. Im Norden hörte der blaue Himmel etwa auf der Höhe von Holzkirchen auf. Wie mit dem Lineal gezogen lauerte dort eine Wolkenwand darauf, nach Süden vorzustoßen. Weiter war der Föhn nicht gekommen, von dem der Senner hoffte, dass er stark genug sein und nicht im Verlauf des Tages zusammenbrechen und sich hinter die Grenze nach Tirol zurückziehen würde. Das hielten sie im Wetterbericht für möglich. Der Senner-Wirt sandte noch einen Blick in Richtung Hirschberghaus und Tegernseer Hütte. Auch dort würden sie jetzt Vorbereitungen treffen, um für den Ansturm gerüstet zu sein. Man würde Getränke einkühlen, Zapfanlagen prüfen, Vorräte zählen, Speisekarten schreiben und zum Herrgott beten, er möge die Bedienung bei Gesundheit erhalten - zumindest bis der Sonntag vorbei war.
Auf der anderen Seite des Sees, tief im morgendlichen Dämmer, joggte Polizeiobermeister Leonhard Kreuthner mit zähen Sprüngen den Weg zur Galaun hinauf. Der Weg knirschte unter den neuen Laufschuhen, kalte Herbstluft mit dem Aroma von Waldboden und harzigem Holz strömte in schnellen Zügen durch die Lungen, Schweiß netzte die Lippen und rann über die Augenbrauen. Oberschenkel und Waden waren geschwollen und hart, obwohl Kreuthner erst seit sieben Minuten unterwegs war. Der erste Anstieg gleich nach dem Parkplatz war der schlimmste Teil der Strecke. Hier musste man durchhalten. Ein Stechen in der Lunge und das kaltschweißige Gefühl auf der Stirn ließen Kreuthner das Tempo drosseln, wenngleich der Spielraum hierfür gering war. Noch ein wenig langsamer, und er würde auf der Stelle traben.
Kreuthner hatte sich hinreißen lassen, mit dem Sennleitner eine Wette abzumachen, derzufolge er, Kreuthner, innerhalb eines Jahres das Europäische Polizeileistungsabzeichen in Bronze machen musste, andernfalls hatte er nicht nur ein teures Entenessen in der Weißachalm auszurichten, er würde künftig auch bei der gesamten Polizei des Landkreises als Waschlappen dastehen. Der Abend, an dem man die Wette abgeschlossen hatte, war Kreuthner nur in Bruchstücken erinnerlich. Besonders der Teil nach dreiundzwanzig Uhr fehlte. Nicht hingegen fehlte es an Zeugen, deren Gedächtnis weitaus besser war, was möglicherweise damit zu tun hatte, dass alle an dem Abend Anwesenden auch beim Entenessen dabei sein sollten.
Er keuchte und verstand nicht, warum jede Bewegung schmerzte. Am Alkohol konnte es nicht liegen, denn Kreuthner hatte der leidigen Sauferei abgeschworen. Sechs Halbe am Abend und keinen Tropfen mehr! Da war er eisern. Vielleicht dauerte es einfach seine Zeit, bis sich die wohltätige Wirkung der Enthaltsamkeit dem Körper offenbarte. Nach dreizehn Minuten war Kreuthner am Limit. Doch jetzt wurde der Weg weniger steil, mit dem Versprechen, weiter abzufl achen. Dreizehn Minuten - so lange brauchten die Schnellsten vom Tegernseer Ruderclub, um ganz hinauf auf die Galaun zu rennen. Junge Burschen. Natürlich. Aber Kreuthner war auch erst siebenunddreißig und hatte nicht einmal die Hälfte des Weges hinter sich.
Als er nach achtundzwanzig Minuten am Wirtshaus ankam und sich eingestehen musste, dass er die Strecke mit einem zügigen Fußmarsch in ähnlicher Zeit zurückgelegt hätte, überkam Kreuthner Panik. Für das Abzeichen musste er dreitausend Meter im Gelände in weniger als fünfzehn Minuten laufen. Freilich, das Gelände würde flacher sein. Aber fünf Minuten für den Kilometer waren schon auf der Tartanbahn ein straffes Tempo und Kreuthner Lichtjahre davon entfernt. Er blickte zu dem kapellengekrönten Felsen auf, der sich hinter dem Wirtshaus hundertvierzig Meter in den Morgenhimmel erhob, und fasste den Entschluss, sich das Letzte abzuverlangen und noch auf den Riederstein hinaufzurennen. Rechts ging es auf einem Kreuzweg zur Kapelle.
Das erste Mal in seinem Leben vermochte er den Leidenspfad Jesu Christi mit Inbrunst nachzuempfi nden. Die Tafeln am Wegesrand gemahnten ihn an die eigene Passion, und nur die Aussicht auf ein Weißbier hielt ihn am Laufen. An der sechsten Station reichte die Veronika Jesu das Schweißtuch; Kreuthner wischte sich mit dem Sweatshirtärmel das Gesicht trocken. Als der Heiland an der neunten Station zum dritten Male strauchelte, brachte eine hölzerne Stufe auch Kreuthner, dessen Oberschenkel taub geworden waren, fast zu Fall. An der zwölften Station starb Jesus am Kreuz, und Kreuthner fasste Hoffnung. Nicht weil die Erlösung der sündigen Menschheit ihn erbaute, sondern weil er irrtümlich annahm, der Kreuzweg habe zwölf Stationen, und sich bereits am Ziel wähnte. Tatsächlich hatte er noch zwei Stationen bis zur Grablegung vor sich und fuhr damit noch gut. Denn in neuerer Zeit waren Kreuzwege mit fünfzehn Stationen in Mode geraten, wo sie noch die Auferstehung zeigen. Als Kreuthner, inzwischen nur mehr Fuß vor Fuß setzend, denn der Bergpfad war zur steilen Holztreppe geworden, nach vorn blickte und sah, dass sein Weg noch nicht zu Ende war, wurde ihm elend ums Herz und auch im Magen. Aber er schleppte sich weiter, heftete seinen Blick nur noch auf die im Waldboden eingelassenen Holzbohlen. Eine nach der anderen glitt vorbei, gelegentlich vom Schweiß besprenkelt, der von Kreuthners Nasenspitze tropfte. Mit einem Mal wurde es heller, und er wagte wieder aufzusehen. Er war am Ziel.
Vor ihm die kleine Gipfelkapelle des Riedersteins, neben der aus nicht sogleich ersichtlichen Gründen ein Zehn-Liter-Fass Bier stand. Um die Kapelle herum ein eisernes Geländer, dahinter, tief unten, der Tegernsee. Kreuthners schweißbrennende Augen konnten auf der anderen Seite des Sees das Hirschberghaus und die Aueralm erkennen. Die Hölle würde da los sein heute. Wie die Hunnen würden die Münchner einfallen und alles zusammensaufen, was man mühsam auf den Berg geschafft hatte. Das brachte Kreuthner darauf, dass ihn unten im Berggasthaus Galaun ein Weißbier erwartete. Die Aussicht auf das Weißbier erschien überraschenderweise gar nicht so verlockend. Ganz flau war ihm im Magen. Er musste sich auf das Geländer stützen. Aus dem Augenwinkel sah er einen Mann mit roter Baseballkappe und gelbem T-Shirt, auf das eine Art Batman aufgedruckt war, an der Kapelle stehen. Das musste der Besitzer des Bierfasses sein. Der Bursche war groß, blond und muskulös, und als er Kreuthner das Gesicht zuwandte, sah der, dass es Stanislaus Kummeder war, ein grober Bursche, der selbst nach Kreuthners Maß stäben unmäßig soff und Schlägereien nur aus dem Weg ging, wenn er wirklich keine Zeit hatte. Kreuthner schickte Kummeder ein erschöpftes Kopf nicken. Der andere nickte zurück.
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Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Prolog
15. Juni 2007, 22 Uhr 58: Die Nacht war warm. Rechtsanwalt Jonas Falcking stand neben seinem silbernen Porsche. Grillen zirpten, eine Katze huschte vorbei, löste einen Bewegungsmelder aus, die Lampe über der Tür des Hauses schaltete sich ein. Im Erdgeschoss hatte das Haus grüne Fensterläden mit ausgeschnittenen Herzen in der Mitte. Im ersten Stock konnte man im Gegenlicht der Lampe undeutlich einen geschnitzten Holzbalkon erkennen. Bayerischer Landhausstil.
Eine Ziertanne stand blau auf dem nächtlichen Rasen. Falcking hatte die Hände in die Hosentaschen seines Armani-Anzugs gesteckt. Der Anwalt wartete darauf, dass der Bewohner des Hauses herauskam. Von der Lampe über der Tür fi el Licht auf das Wagendach. Dort hatte die nächtliche Kühle Tau niedergeschlagen. Falcking zog eine Hand aus der Hosentasche und malte mit dem Zeigefi nger eine Zwei und dahinter fünf Nullen in den feuchten Fleck. Er betrachtete die Zahl und sog die Abendluft ein. Sie roch nach gemähtem Gras. Falcking hörte Schritte im Haus und wischte die Zahl vom Wagendach.
Der Mann war Mitte fünfzig, einen Meter neunzig groß und wog einhundertdreißig Kilo. Die Sporttasche sah in seiner fleischigen Hand aus wie ein Damenhandtäschchen. In der anderen Hand hielt er eine Fernbedienung. Auf einen Knopfdruck hin rollte das Garagentor nach oben. Der Mann bedeutete Falcking, ihm zu folgen. Als sie in der Garage waren, ertönte ein Summen. Das Garagentor schloss sich wieder.
»Muss net jeder zuschauen«, sagte der Dicke. »Glaubst, da ist noch jemand wach?«
»Die hocken mit'm Fernglas hinterm dunklen Fenster.«
»Quatsch, oder?« Falcking lachte.
»Ja ohne Schmarrn. Was glaubst du denn? Mir san hier am Land.«
Der dicke Mann stellte die Sporttasche auf einer Werkbank ab und sah Falcking mit verwaschenem Blick an. Die Haut um die Augen war feucht. Aber er weinte nicht, er schwitzte. Von der Anstrengung, die jede Bewegung ihm verursachte, von dem Dutzend Obstlern, die er getrunken hatte, und auch vor Aufregung über das, was er gleich tun würde. Der dicke Mann öffnete den Reißverschluss der Sporttasche und ließ Falcking einen Blick auf den Inhalt werfen. Im dünnen Licht der Garagenlampe sah Falcking Geldscheine. Sie waren gebündelt. Nicht mit Banderolen wie in der Bank. Ein schlichter Gummi war um jedes Bündel gebrauchter Scheine gespannt worden. Falcking nahm eines der Päckchen heraus. Es war sehr dick und enthielt Fünfzigeuroscheine.
»Immer hundert in einem Bündel.« Der dicke Mann holte eines mit Zwanzigern heraus und hielt es Falcking hin.
»Zähl's nach.«
Falcking schüttelte den Kopf, nahm dem Mann das Bündel Zwanziger aus der Hand und legte es zusammen mit dem Fünfzigerbündel in die Tasche zurück. »Hundertsechsundneunzigtausend. Dein Wort genügt mir.«
Falcking machte den Reißverschluss zu. Der dicke Mann warf einen besorgten Blick auf die geschlossene Tasche. »Mach keinen Scheiß, hörst du? Das ist meine Rente. Und die von der Maria. Vielleicht bin ich bald nimmer da.«
Falcking legte seinen Arm um die Schulter des massigen Mannes. »Du bist noch viele Jahre da. Hörst du?«
Der Dicke nickte, und die Muskeln um seinen Mund verkrampften sich. Er kämpfte mit den Tränen.
»Bernd - ich kümmer mich um deine Mädels. Das hab ich dir versprochen, und das halte ich«, sagte Falcking.
»Ich weiß. Bist a feiner Kerl.« Die Stimme des Mannes war belegt. Er wischte sich mit den Zeigefi ngern die Augen trocken.
Falcking zog seinen Schwiegervater an sich, gab ihm einen Klaps auf die Schulter und griff nach der Reisetasche. Der dicke Mann sollte sein Geld nie wiedersehen.
Zur gleichen Zeit ...
... wenige Kilometer entfernt im nächtlichen Mangfalltal. Die Temperatur fünf Grad kälter, Bodennebel in der Flusssenke. Aus dem Wirtshaus fi el Licht auf den Schotterplatz vor dem Haus. Dort standen zwei Motorräder, ein nachträglich mit Spoilern versehener Ford Escort aus den Achtzigerjahren sowie zwei weitere Altwagen. Einer davon auf Ziegelsteinen aufgebockt, verrostet, Fenster und Scheinwerfer fehlten. Schwaches Licht fi el auch auf einen Matratzenrost, zwei abgefahrene Traktorreifen, Bretter und alte Ziegelsteine, die ohne Sorgfalt neben einem Holzschuppen aufgeschichtet waren. Hinter dem Wirtshaus stapelten sich Getränkekisten, gelblich beleuchtet von einer Laterne mit zerbrochener Scheibe. Die Laterne hing über dem Hintereingang. Leises Schluchzen war zu hören, jemand weinte und zog die Nase hoch.
Im gelben Schein der Vierzig-Watt-Birne konnte man sehen, dass die Nase geschwollen und mit einem weißen Pfl aster überklebt war. Ebenso geschwollen war das linke Auge der jungen Frau. Susi reichte Kathrin ein Papiertaschentuch. Aber Kathrin wehrte ab. Sie konnte sich mit der gebrochenen Nase nicht schneuzen. Stattdessen zog sie den Rotz noch einmal hoch und spuckte das, was im Mund ankam, auf die Stufe vor dem Hintereingang. Es war rot. Susi hielt Kathrin eine Zigarette hin.
»Das wird schon wieder.« Susi lächelte. Es war aufmunternd gemeint, wirkte aber verzweifelt. Kathrin steckte sich die Zigarette zwischen die aufgeplatzten Lippen, ließ sich von Susi Feuer geben und inhalierte gierig. Den Rauch blies sie nach oben zu der ramponierten schmiedeeisernen Laterne und scheuchte die Motten für einen Augenblick vom Licht. Kathrin schüttelte den Kopf und wischte sich mit der freien Hand eine Träne aus dem Auge. »Der bringt mich um. Eines Tages bringt er mich um«, sagte sie. »Ich will nimmer.«
Der letzte Satz erschreckte Susi. »Was meinst'n damit - du willst nimmer?«
»Ich ... ich halt das nimmer aus. Es muss Schluss sein damit. Verstehst? Schluss. Endgültig.«
Susis Unruhe wurde stärker. »Willst den Stani verlassen?«
»Spinnst du?« Fassungslos versuchte Kathrin zu lachen, aber die Naht an der Nase und ihr geschwollenes Auge taten dabei weh. »Was glaubst, dass der mit mir macht, wenn ich ihn zum Teufel hau?«
Susi betrachtete Kathrin mit wachsender Sorge. Was hatte ihre Freundin im Sinn? Es musste etwas so Radikales sein, dass sich Susi nicht einmal vorstellen konnte, was es sein mochte. Mit Stani Schluss zu machen war ganz sicher keine Lösung - wo er Kathrin schon jetzt so zurichtete. Was würde er ihr antun, wenn sie ihn verließ? Stani hing an Kathrin wie an nichts an derem auf der Welt. Susi biss auf ihre Unterlippe und traute sich nicht, die Frage zu stellen, die so nahelag.
Im Halbdunkel an die Hauswand gelehnt stand Kathrins Fahrrad. Erst jetzt bemerkte Susi, dass neben dem Rad eine Reisetasche stand - prall gefüllt. »Du gehst weg?«
»Ja. Ich hau ab.« Kathrin nickte und sah in die Nacht hinaus.
»Wohin denn?«
»Berlin, London, Ibiza. Keine Ahnung. Nur weit weg, wo der Stani mich net fi ndet.«
»Aber man kann net einfach ... nach Berlin oder Ibiza gehen. Wie stellst dir das vor?«
»Es wird schon irgendwie gehen.«
Susi schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich tät sterben vor Heimweh. Ich mein - es ist ja kein Urlaub.«
»Was tätst denn vermissen? Deinen Vater? Oder deine depperten Brüder?«
Susi zuckte mit den Schultern. »Den Peter.«
»Dass er dich jede Woch grün und blau schlagt? Dass du dich gar nix mehr sagen traust, aus Angst, du fangst dir eine? Das tätst net vermissen. Glaub's mir.«
Susi zuckte noch einmal mit den Schultern und starrte vor sich hin. Dabei verfi ng sich ihr Blick an Kathrins Unterarm, der ein Stück aus ihrer Lederjacke ragte. Er war blau von Blutergüssen. Kathrin hatte versucht, die Schläge abzuwehren.
»Dich tät ich vermissen«, sagte Susi leise.
Kathrin sagte nichts darauf. Sie schwiegen eine Weile, und Kathrin blies Rauch in die gelbe Nacht.
»Ihr müsst ein bissl aufeinander zugehen. Dann geht das schon. Du liebst ihn doch.«
»Nein. Wer so was tut, den kannst du nicht lieben.« Etwas in Kathrin revoltierte plötzlich. »Schau mich an, was er mit mir gemacht hat! «, schrie sie auf Susi ein. »Siehst des net?!«
Susi schossen die Tränen in die Augen. »Ich weiß, aber ...« Sie fi ng an zu weinen. Kathrin nahm ihre Hand, drückte sie. Susi blickte zu Boden. Endlose Sekunden, ohne etwas zu sagen. Sie schien nicht einmal zu atmen. Nur ein leichtes Zucken ging durch ihren Oberkörper. Als sie wieder zu Kathrin aufsah, war deren Gesicht verzerrt von Schmerz und Wut. Susis Kinn zitterte, ihre Wangen waren nass. »Lass mich hier net allein«, flüsterte sie.
Kathrin nahm die Freundin in den Arm und drückte sie. Außer Kathrin hatte Susi niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Susis Vater und ihre Brüder sahen weg, wenn Peter sie verprügelte. Sie hatten Angst. Wenn Peter zuschlug, brachen Knochen. Er hatte übermenschliche Kräfte.
Vor nicht langer Zeit war Peter noch Susis Märchenprinz gewesen. Der Ritter, der sie aus ihrem Familiengefängnis befreit hatte. Zu dieser Zeit waren auch Kathrin und Stani zusammengekommen. Ein paar Monate lang waren sie zwei Traumpaare gewesen, hatten Händchen gehalten und sich so unentwegt geküsst und aneinandergeklammert, dass es den Freunden schon zu viel war. Doch schnell kam der Alltag. Mit ihm die ersten Grobheiten, dann die erste Ohrfeige. Ein Jahr später waren Kathrin und Susi immer noch mit ihren Burschen zusammen. Aber die hatten sich mittlerweile als unbeherrscht und gewalttätig herausgestellt und ihre Mädchen mehrfach so geschlagen, dass sie ärztlich behandelt werden mussten. »The fairytale gone bad«, wie es im Lied hieß.
»Komm mit«, sagte Kathrin.
Susi überlegte eine Weile. Dann schniefte sie und schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nie weiter als bis Sterzing gefahren.«
»Ja und? Du bist einundzwanzig. Dann machst mal was Neues.«
»Ich kann das net. Ich hab zu viel Angst.«
»Wovor?«
»Vor dem ... Unbekannten.«
»Ist das schlimmer, als vom Peter geschlagen werden?« »Ja«, sagte Susi mit Bestimmtheit und dachte an all das Unbekannte da draußen in der Welt, das ihr zustoßen konnte, und ihre Augen wurden ganz groß vor Entsetzen.
Kathrin ließ die Zigarette zu Boden fallen und drückte sie aus. »Weißt was?«
Susi schüttelte den Kopf.
»Ich hol dich nach, wenn ich in Berlin bin. Oder wo immer.«
Susi sah sie verunsichert an. »Dann gehst du wohin, wo du schon wen kennst. Dann ist es gar nimmer schlimm, verstehst?« Kathrin legte ihre Hände auf Susis Schultern, sah ihrer Freundin in die Augen und lächelte, soweit das die gebrochene Nase zuließ. Susi nickte schließlich.
»Ja. So machen wir's.« Die beiden Frauen umarmten sich.
»Kannst mir a Geld leihen?«, sagte Kathrin, als sie sich aus der Umarmung gelöst hatten.
»Ich hab mein Trinkgeld gespart. Das sind neunhundert Euro.«
»Ich geb's dir wieder, wenn du nach Berlin kommst. Okay?«
»Schon gut.«
Susi verschwand im Haus, wo ihr Freund Peter Zimbeck, der Inhaber der Gastwirtschaft, mit drei anderen Männern in der Wirtsstube Schafkopf spielte. Kathrin zündete sich noch eine Zigarette an. Ihre Nase pochte und begann stärker zu schmerzen. Die Wirkung des Mittels, das der Arzt ihr gegeben hatte, ließ nach. Als sie einen Augenblick innehielt und in die Nacht lauschte, meinte sie, ein Geräusch zu hören. Nur kurz, dann verschwand es und nur noch das Rauschen der Mang-fall kam aus der Dunkelheit. Kathrin blickte durch die offene Hintertür ins Wirtshaus, um zu sehen, wo ihre Freundin blieb. Da hörte sie es wieder - das Geräusch. Diesmal war es näher. Es klang wie ein röhrendes Tier im Wald. Vielfach gebrochen hallte es durch die Nacht. Kathrin krampfte sich der Magen zusammen. Sie kannte das Geräusch, hoffte aber inständig, sich zu irren. Sie ging vor bis zur Hausecke, um besser hören zu können, was sich dem Wirtshaus näherte. Jetzt war das Geräusch so laut und klar, dass nicht der geringste Zweifel blieb: Es war das Röhren eines alten Saab Cabrio. Der Saab Cabrio des Stanislaus Kummeder, der sich dem Wirtshaus näherte.
1. Kapitel
Der Wirt der Aueralm, in gleicher Person auch Senner der Alm, blickte auf zum Morgenhimmel, der
sich im Osten rosa färbte an diesem 4. Oktober des Jahres 2009. Abgesehen davon war der Himmel sehr blau und dunkel und ohne eine Wolke und kündigte einen dieser Tage an, wie es sie erst gab, seit sie die Ozonschicht kaputtgemacht hatten: mit so beißend klarem Licht und harten Farben, dass es einem vorkam, als habe jemand einen Filter vor die Landschaft gestellt, der alles Milde und Weiche aufzehrte und Schwarztöne zum Leben erweckte, wie die teuersten Plasmabildschirme sie nicht hervorbrachten. Im Norden hörte der blaue Himmel etwa auf der Höhe von Holzkirchen auf. Wie mit dem Lineal gezogen lauerte dort eine Wolkenwand darauf, nach Süden vorzustoßen. Weiter war der Föhn nicht gekommen, von dem der Senner hoffte, dass er stark genug sein und nicht im Verlauf des Tages zusammenbrechen und sich hinter die Grenze nach Tirol zurückziehen würde. Das hielten sie im Wetterbericht für möglich. Der Senner-Wirt sandte noch einen Blick in Richtung Hirschberghaus und Tegernseer Hütte. Auch dort würden sie jetzt Vorbereitungen treffen, um für den Ansturm gerüstet zu sein. Man würde Getränke einkühlen, Zapfanlagen prüfen, Vorräte zählen, Speisekarten schreiben und zum Herrgott beten, er möge die Bedienung bei Gesundheit erhalten - zumindest bis der Sonntag vorbei war.
Auf der anderen Seite des Sees, tief im morgendlichen Dämmer, joggte Polizeiobermeister Leonhard Kreuthner mit zähen Sprüngen den Weg zur Galaun hinauf. Der Weg knirschte unter den neuen Laufschuhen, kalte Herbstluft mit dem Aroma von Waldboden und harzigem Holz strömte in schnellen Zügen durch die Lungen, Schweiß netzte die Lippen und rann über die Augenbrauen. Oberschenkel und Waden waren geschwollen und hart, obwohl Kreuthner erst seit sieben Minuten unterwegs war. Der erste Anstieg gleich nach dem Parkplatz war der schlimmste Teil der Strecke. Hier musste man durchhalten. Ein Stechen in der Lunge und das kaltschweißige Gefühl auf der Stirn ließen Kreuthner das Tempo drosseln, wenngleich der Spielraum hierfür gering war. Noch ein wenig langsamer, und er würde auf der Stelle traben.
Kreuthner hatte sich hinreißen lassen, mit dem Sennleitner eine Wette abzumachen, derzufolge er, Kreuthner, innerhalb eines Jahres das Europäische Polizeileistungsabzeichen in Bronze machen musste, andernfalls hatte er nicht nur ein teures Entenessen in der Weißachalm auszurichten, er würde künftig auch bei der gesamten Polizei des Landkreises als Waschlappen dastehen. Der Abend, an dem man die Wette abgeschlossen hatte, war Kreuthner nur in Bruchstücken erinnerlich. Besonders der Teil nach dreiundzwanzig Uhr fehlte. Nicht hingegen fehlte es an Zeugen, deren Gedächtnis weitaus besser war, was möglicherweise damit zu tun hatte, dass alle an dem Abend Anwesenden auch beim Entenessen dabei sein sollten.
Er keuchte und verstand nicht, warum jede Bewegung schmerzte. Am Alkohol konnte es nicht liegen, denn Kreuthner hatte der leidigen Sauferei abgeschworen. Sechs Halbe am Abend und keinen Tropfen mehr! Da war er eisern. Vielleicht dauerte es einfach seine Zeit, bis sich die wohltätige Wirkung der Enthaltsamkeit dem Körper offenbarte. Nach dreizehn Minuten war Kreuthner am Limit. Doch jetzt wurde der Weg weniger steil, mit dem Versprechen, weiter abzufl achen. Dreizehn Minuten - so lange brauchten die Schnellsten vom Tegernseer Ruderclub, um ganz hinauf auf die Galaun zu rennen. Junge Burschen. Natürlich. Aber Kreuthner war auch erst siebenunddreißig und hatte nicht einmal die Hälfte des Weges hinter sich.
Als er nach achtundzwanzig Minuten am Wirtshaus ankam und sich eingestehen musste, dass er die Strecke mit einem zügigen Fußmarsch in ähnlicher Zeit zurückgelegt hätte, überkam Kreuthner Panik. Für das Abzeichen musste er dreitausend Meter im Gelände in weniger als fünfzehn Minuten laufen. Freilich, das Gelände würde flacher sein. Aber fünf Minuten für den Kilometer waren schon auf der Tartanbahn ein straffes Tempo und Kreuthner Lichtjahre davon entfernt. Er blickte zu dem kapellengekrönten Felsen auf, der sich hinter dem Wirtshaus hundertvierzig Meter in den Morgenhimmel erhob, und fasste den Entschluss, sich das Letzte abzuverlangen und noch auf den Riederstein hinaufzurennen. Rechts ging es auf einem Kreuzweg zur Kapelle.
Das erste Mal in seinem Leben vermochte er den Leidenspfad Jesu Christi mit Inbrunst nachzuempfi nden. Die Tafeln am Wegesrand gemahnten ihn an die eigene Passion, und nur die Aussicht auf ein Weißbier hielt ihn am Laufen. An der sechsten Station reichte die Veronika Jesu das Schweißtuch; Kreuthner wischte sich mit dem Sweatshirtärmel das Gesicht trocken. Als der Heiland an der neunten Station zum dritten Male strauchelte, brachte eine hölzerne Stufe auch Kreuthner, dessen Oberschenkel taub geworden waren, fast zu Fall. An der zwölften Station starb Jesus am Kreuz, und Kreuthner fasste Hoffnung. Nicht weil die Erlösung der sündigen Menschheit ihn erbaute, sondern weil er irrtümlich annahm, der Kreuzweg habe zwölf Stationen, und sich bereits am Ziel wähnte. Tatsächlich hatte er noch zwei Stationen bis zur Grablegung vor sich und fuhr damit noch gut. Denn in neuerer Zeit waren Kreuzwege mit fünfzehn Stationen in Mode geraten, wo sie noch die Auferstehung zeigen. Als Kreuthner, inzwischen nur mehr Fuß vor Fuß setzend, denn der Bergpfad war zur steilen Holztreppe geworden, nach vorn blickte und sah, dass sein Weg noch nicht zu Ende war, wurde ihm elend ums Herz und auch im Magen. Aber er schleppte sich weiter, heftete seinen Blick nur noch auf die im Waldboden eingelassenen Holzbohlen. Eine nach der anderen glitt vorbei, gelegentlich vom Schweiß besprenkelt, der von Kreuthners Nasenspitze tropfte. Mit einem Mal wurde es heller, und er wagte wieder aufzusehen. Er war am Ziel.
Vor ihm die kleine Gipfelkapelle des Riedersteins, neben der aus nicht sogleich ersichtlichen Gründen ein Zehn-Liter-Fass Bier stand. Um die Kapelle herum ein eisernes Geländer, dahinter, tief unten, der Tegernsee. Kreuthners schweißbrennende Augen konnten auf der anderen Seite des Sees das Hirschberghaus und die Aueralm erkennen. Die Hölle würde da los sein heute. Wie die Hunnen würden die Münchner einfallen und alles zusammensaufen, was man mühsam auf den Berg geschafft hatte. Das brachte Kreuthner darauf, dass ihn unten im Berggasthaus Galaun ein Weißbier erwartete. Die Aussicht auf das Weißbier erschien überraschenderweise gar nicht so verlockend. Ganz flau war ihm im Magen. Er musste sich auf das Geländer stützen. Aus dem Augenwinkel sah er einen Mann mit roter Baseballkappe und gelbem T-Shirt, auf das eine Art Batman aufgedruckt war, an der Kapelle stehen. Das musste der Besitzer des Bierfasses sein. Der Bursche war groß, blond und muskulös, und als er Kreuthner das Gesicht zuwandte, sah der, dass es Stanislaus Kummeder war, ein grober Bursche, der selbst nach Kreuthners Maß stäben unmäßig soff und Schlägereien nur aus dem Weg ging, wenn er wirklich keine Zeit hatte. Kreuthner schickte Kummeder ein erschöpftes Kopf nicken. Der andere nickte zurück.
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Autoren-Porträt von Andreas Föhr
Andreas Föhr, Jahrgang 1958, gelernter Jurist, arbeitete einige Jahre bei der Rundfunkaufsicht und als Anwalt. Seit 1991 verfasst er erfolgreich Drehbücher für das Fernsehen, mit Schwerpunkt im Bereich Krimi. Zusammen mit Thomas Letocha schrieb er u.a für 'SOKO 5113', 'Ein Fall für zwei' und 'Der Bulle von Tölz'. Für seinen Debütroman 'Der Prinzessinnenmörder' ist Andreas Föhr mit dem begehrten Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet worden.Andreas Föhr lebt bei Wasserburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andreas Föhr
- 2010, 447 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426663988
- ISBN-13: 9783426663981
Rezension zu „Schafkopf “
"[...] das macht den Charme des Krimis aus, dass die Charaktere gut geerdet und meist mit trockenem Humor ausgestattet sind. Föhr verschafft seinen Protagonisten mit wenigen Merkmalen eigene Persönlichkeiten, egal ob es sich um den ängstlichen Rechtsanwalt Jonas Falcking und seine miesen Tricksereien handelt oder um den liebenswürdigen Großvater Manfred, der mit jungen Frauen ausgeht und seinem Enkel gern Tipps für den Umgang mit Frauen gibt."Süddeutsche Zeitung, 05.11.2010
Kommentar zu "Schafkopf"
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