Das alte Kind
Thriller. Originalausgabe
Carla
Es sind nur wenige Tage, die Carla von ihrem Kind getrennt im Krankenhaus verbringt – Tage, die alles verändern. Als die Schwester ihr das Baby in die Arme legt, stellt Carla entsetzt fest: Das ist gar nicht ihr Kind! Doch...
Es sind nur wenige Tage, die Carla von ihrem Kind getrennt im Krankenhaus verbringt – Tage, die alles verändern. Als die Schwester ihr das Baby in die Arme legt, stellt Carla entsetzt fest: Das ist gar nicht ihr Kind! Doch...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das alte Kind “
Carla
Es sind nur wenige Tage, die Carla von ihrem Kind getrennt im Krankenhaus verbringt – Tage, die alles verändern. Als die Schwester ihr das Baby in die Arme legt, stellt Carla entsetzt fest: Das ist gar nicht ihr Kind! Doch niemand glaubt ihr.
Fiona
Fiona wacht in ihrer Badewanne auf. Kerzen stehen am Wannenrand, Blütenblätter schwimmen auf dem Wasser, das sich allmählich rot färbt – von ihrem Blut! Mit letzter Kraft schleppt sie sich zum Telefon. Im Krankenhaus behauptet sie, jemand hätte versucht, sie zu töten. Doch niemand glaubt ihr.
Es sind nur wenige Tage, die Carla von ihrem Kind getrennt im Krankenhaus verbringt – Tage, die alles verändern. Als die Schwester ihr das Baby in die Arme legt, stellt Carla entsetzt fest: Das ist gar nicht ihr Kind! Doch niemand glaubt ihr.
Fiona
Fiona wacht in ihrer Badewanne auf. Kerzen stehen am Wannenrand, Blütenblätter schwimmen auf dem Wasser, das sich allmählich rot färbt – von ihrem Blut! Mit letzter Kraft schleppt sie sich zum Telefon. Im Krankenhaus behauptet sie, jemand hätte versucht, sie zu töten. Doch niemand glaubt ihr.
Klappentext zu „Das alte Kind “
CarlaEs sind nur wenige Tage, die Carla von ihrem Kind getrennt im Krankenhaus verbringt - Tage, die alles verändern. Als die Schwester ihr das Baby in die Arme legt, stellt Carla entsetzt fest: Das ist gar nicht ihr Kind! Doch niemand glaubt ihr -
Fiona
Fiona wacht in ihrer Badewanne auf. Kerzen stehen am Wannenrand, Blütenblätter schwimmen auf dem Wasser, das sich allmählich rot färbt - von ihrem Blut! Mit letzter Kraft schleppt sie sich zum Telefon. Im Krankenhaus behauptet sie, jemand hätte versucht, sie zu töten. Doch niemand glaubt ihr -
Lese-Probe zu „Das alte Kind “
Das alte Kind von Zoë BeckBERLIN, SEPTEMBER 1978
Carla musste lachen. »Das ist nicht mein Kind«, sagte sie.
Die Schwester sah sie erschrocken an. »Ach Gott, das ist mir jetzt aber peinlich!« Sie nahm Carla den Säugling aus den Armen und beeilte sich, aus dem Zimmer zu kommen.
»Für manche sehen sie alle gleich aus«, sagte die Frau im Bett neben ihr. Schwere Neurodermitis. Carlas Gürtelrose war abgeheilt, sie durfte ihr Kind wiedersehen, und sie hatte sich über eine Woche auf diesen Tag gefreut.
»Haben Sie Kinder?«, fragte sie die Neurodermitis, deren Namen sie noch nicht wusste, weil sie erst heute ins Zimmer gekommen war. Die Frau war etwa in Carlas Alter, höchstens aber Mitte dreißig. Wie Carla schon vermutet hatte, schüttelte sie den Kopf.
»Habe keine, will keine, und ja, auch für mich sehen sie alle gleich aus.« Sie grinste.
»Ella Martinek.«
»Ella Martinek?« Carla setzte sich auf.
»Die Fotografin?« Ella nickte neugierig.
»Sie interessieren sich für Fotografie?«
»Carla Arnim«, stellte Carla sich vor, und Ella machte große Augen.
»Das gibt's doch nicht.« Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. »Und wir müssen uns ausgerechnet treffen, wenn ich so schlimm aussehe!«
Carla lachte. »Ich bin auch nicht frisiert und im Chanel-Kostüm. Nehmen Sie die Hände runter! So schlimm ist es gar nicht.«
Es war schlimm. Besonders für eine junge Frau, das war Carla klar. Die Neurodermitis zog sich quer über die linke Gesichtshälfte und fast den gesamten Hals. Die Arme konnte sie nicht sehen, Ella trug ein langärmeliges Pyjamaoberteil, aber die linke Hand war am schlimmsten betroffen.
Wahrscheinlich wollte sie deshalb keine Kinder. Weil sie fürchtete, die Krankheit
... mehr
zu vererben. Oder weil sie sich nicht auf eine feste Beziehung mit einem Mann einlassen wollte, aus Scham über die immer wiederkehrende Entstellung, aus Angst, die vielen Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte wären eine zu große Belastung für den Partner.
Sie kamen ins Plaudern. Über Ellas aktuelles Projekt; sie war eine Zeit lang in London gewesen und hatte dort Punkbands begleitet und porträtiert. Über die nächsten Auktionen, die Carla plante. Sie fachsimpelten über die im vergangenen Jahr verstorbene Lee Miller, fanden über sie schnell den Bogen zum Thema Hausfrauendasein und Depressionen, entdeckten gemeinsame Bekannte, fingen an, über diesen oder über jene zu lästern, hatten einen Riesenspaß, und Carla merkte gar nicht, wie die Zeit vergangen war.
Wie lange die Schwester brauchte, um Felicitas von der Säuglingsstation zu holen. Erst als der Arzt ins Zimmer trat, die Schwester mit großen Augen und einem Säugling im Arm hinter ihm, dachte sie: Das hat aber gedauert.
»Frau Arnim.« Der Arzt lächelte sie an. »Wir bringen Ihnen Ihre Tochter.« Die Schwester trat vor und legte ihr Felicitas in die Arme. Nur, dass es nicht Felicitas war. Immer noch nicht.
»Ist das dasselbe Kind wie vorhin?«, fragte Carla verwirrt.
»Das ist Ihre Felicitas«, sagte der Arzt und nickte der unsicher dreinblickenden Schwester zu.
»Ich erkenne doch meine eigene Tochter, und das hier ist nicht meine Tochter. Sie haben das Kind vertauscht.«
Carla wunderte sich selbst, wie ruhig sie das sagte. Der Arzt setzte sich ans Fußende ihres Betts, ohne sie zu fragen.
»Wir haben im Moment nur einen weiblichen Säugling im Alter von sechs Monaten auf der Station. Die Kinder bekommen ein kleines Bändchen, sehen Sie hier.«
Er beugte sich vor und nahm behutsam das linke Ärmchen des Säuglings in die Hand, um ihr das Bändchen zu zeigen. Carla hielt das fremde Kind ein gutes Stück von sich weg, hoffte, er würde es ihr abnehmen, aber das tat er nicht.
»Da steht der Name Ihrer Tochter«, sagte er ruhig und lächelte wieder. »Es ist alles in Ordnung. Wir haben Felicitas ganz sicher nicht verwechselt, es geht ihr gut, und sie war sehr brav. Natürlich hat sie Sie vermisst.«
Das Kind fing an zu weinen. Carla begann reflexartig, es zu schaukeln, doch dann hielt sie es wieder von sich weg.
»Nehmen Sie sie bitte, das ist nicht meine Tochter.« Sie versuchte, die Panik in sich zu ersticken. Als sie sah, wie der Blick des Arztes ernster wurde, wie die Schwester sich nervös von ihr wegdrehte und ans Fenster trat, konnte sie nicht mehr.
»Nehmen Sie mir doch endlich dieses Kind ab!«, rief sie und hielt den schreienden Säugling so weit von sich weg, wie sie konnte. Die Schwester stürzte auf sie zu und entriss ihr das Kind. Schützend nahm sie es auf den Arm und sprach auf das heulende Mädchen ein.
»Das da ist nicht mein Kind«, sagte Carla. Ihre Stimme bebte, und die Tränen ließen sich nicht mehr aufhalten. »Wo ist meine Tochter? Wollen Sie behaupten, dass Sie nicht wissen, wo sie ist? Sie können mir doch nicht einfach mein Kind wegnehmen!«
Nichts wie raus hier. Sie musste selbst nachsehen. Die Decke weg und rüber zur Säuglingsstation und nachsehen. Sie war so schnell aus dem Bett gesprungen, dass der Arzt sie nur mit Mühe aufhalten konnte.
»Frau Arnim, wir gehen gemeinsam, in Ordnung? Dann werden Sie sehen, dass wir Ihre Tochter nicht verwechselt haben. Versprechen Sie mir, sich wieder zu beruhigen? Soll ich Ihnen etwas geben?«
Sie glaubte zu begreifen, dass hier etwas passierte, das sie nicht mehr aufhalten konnte. Carla riss die Tür auf und rannte den Gang entlang, verlief sich, rannte zurück und fand sich endlich vor der großen Scheibe, hinter der die Neugeborenen lagen.
Der Arzt hatte sie eingeholt. »Frau Arnim. Wir sehen uns jetzt in Ruhe alle Kinder auf der Station an, einverstanden?«
Er legte seine Hand leicht auf ihren Ellenbogen und führte sie durch die Tür. Kein einziges Kind in Felicitas' Alter.
»Das ist nicht möglich«, sagte Carla und ging jedes einzelne Bettchen ab.
»Wo ist meine Tochter?« Die Schwester hatte sich mit dem Säugling zu ihnen gesellt. Das Kind war ruhig, die Schwester streichelte ihm den Rücken und sah Carla wieder aus riesigen, ängstlichen Augen an.
»Sie haben doch hier irgendeinen Mist gebaut, und jetzt wollen Sie mir ein falsches Kind unterjubeln, hab ich recht?«
»Bitte«, sagte der Arzt und legte diesmal seine Hand auf ihre Schulter. »Ich gebe Ihnen am besten eine kleine Spritze, und dann unterhalten wir uns im Behandlungszimmer. Einverstanden?«
Carla starrte ihn an. Sah noch einmal zu dem fremden Kind, das von der Schwester in sein Bettchen gelegt wurde, dann wieder zu ihm.
»Sie wollen mich ruhigstellen?«, fragte sie, nun ganz leise. »Die Spritzen der letzten Tage, damit haben Sie mich auch ruhiggestellt, richtig?«
Er hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Da verstehen Sie jetzt aber wirklich etwas ganz falsch. Wir haben ...«
»Sie haben mein Kind entführt!«, schrie sie. »Oder ist etwas passiert? Ist Felicitas gestorben, und Sie wollen es mir nicht sagen? Was haben Sie getan?«
Tränen strömten über ihr Gesicht. »Kommen Sie, wir gehen ins Behandlungszimmer.«
Jetzt packte der Arzt fester zu, schob sie aus dem Raum, schloss die Tür eilig hinter sich.
»Und schreien Sie bitte nicht so rum. Denken Sie an die Kinder!«
Sie schüttelte ihn ab. »Ich denke an mein Kind! Sie haben mir mein Kind weggenommen!« Ohne nachzudenken, fing sie an, auf den Mann einzuschlagen. Blind trat sie nach ihm, schlug immer weiter. Sie sah, wie er schützend die Arme hob, er konnte nicht fliehen, sie hatte ihn in eine Ecke zwischen der Umkleide und dem Untersuchungsstuhl gedrängt.
Sie erwischte seine Nase, landete einen Schlag auf seinen Mund, er blutete, bis jemand sie von hinten packte und von ihm wegzog. Zwei mussten es sein, sie hatte keine Chance, sich gegen sie zu wehren, sie sah sie nicht einmal. Carla schrie nach ihrer Tochter, sah den Arzt auf dem Boden liegen, das Gesicht voller Blut, sah die Schwester, die sich über ihn beugte und sich dann zu Carla umdrehte, Entsetzen im Blick.
Dann spürte sie eine Nadel in ihrem Fleisch, merkte, wie ihre Glieder schwer wurden, wie alles um sie herum verschwamm, wie ihre Stimme versagte, weil sie zu müde war, auch nur zu flüstern. Und jetzt war alles weich und schwarz und lautlos.
1.
Alles, was einem die Leute über Blut erzählten, war Quatsch. Von wegen ganz egal, wie oft man schon umgekippt war, weil andere irgendwas vollgeblutet hatten, sein eigenes Blut könnte man sich immer ansehen, kein Problem.
Dazu müsste man erst mal wissen, dass es das eigene Blut war. Fiona wusste nicht mal, dass es überhaupt Blut war. Sie dachte an Tinte, weil sich die dunkle Flüssigkeit gar nicht mit dem Wasser vermischte, sondern ganz nach dickem, dunklem Zigarettenrauch aussah, der sich in einem viel zu kleinen Raum verteilte. Eben wie Tinte in Wasser. Sie wäre fast wieder eingeschlafen.
Dann kapierte sie doch, dass sie eigentlich nicht in ihrer Badewanne schlief, wenn sie mit Wasser voll war, schon gar nicht in Unterwäsche, und überhaupt, was sollte das mit der Tinte, irgendwer hatte da wohl irgendwas total witzig gefunden und vergessen, es ihr zu sagen.
Sie blinzelte, bis sie klarer sehen konnte: Rosenblätter auf der Wasseroberfläche, Teelichte auf dem Wannenrand. Aus dem Radio in der Küche plätscherte kitschiger Romantikpop. Nicht ihre Welle, aber ihre Wanne. Sie spürte, wie an ihren nassen Händen etwas entlanglief, das wärmer war als das Wasser. Ihre Handgelenke juckten.
Sie wollte sich kratzen, aber sie sah, dass die Tinte aus ihren Unterarmen lief. Sie fühlte keinen Schmerz, keine Panik, dachte: Okay, ich war wohl etwas zugedröhnt, aber ein Krankenwagen könnte eine gute Idee sein. Dann machte es klick in ihrem Kopf, und sie kotzte über den Wannenrand. Sie konnte nämlich kein Blut sehen. Schon gar nicht ihr eigenes.
Bis zum Telefon schaffte sie es, auch wenn sie zweimal auf dem Weg dorthin umfiel, ihr Blut vom Bad über den Flur bis in die Küche verteilte, wo ihr immerhin einfiel, dass sie sich die Handgelenke besser abbinden könnte. Fiona nahm zwei Geschirrtücher, die seit Tagen auf dem Boden lagen, um einen Liter Cola aufzusaugen. Wahrscheinlich brachte das mit dem Abbinden nichts, denn sie schaffte es kaum, einen festen Knoten zu machen.
Am Boden zusammengekauert wählte sie die Notrufnummer. Sie konnte der freundlichen Dame am anderen Ende der Leitung zwar nicht genau sagen, was los war, weil sie eine schwere Zunge hatte, die außerdem komisch schmeckte, und das lenkte sie ab. Zum Glück aber erst, nachdem sie ihren Namen und ihre Adresse genannt hatte. Oder vielleicht hatte sie auch gar nichts gesagt, und die in der Notrufzentrale hatten rausgefunden, woher sie anrief.
Sie vertrieb sich die Zeit damit, einen anderen Sender im Küchenradio zu suchen. Dann fielen ihr die Augen zu, aber sie sang den Song mit, der gerade lief, um nicht einzuschlafen. (Falling about ... You took a left off Last Laugh Lane ...) Knappe zehn Minuten später trat jemand die Tür zu ihrer Wohnung ein und stürmte in die Küche. Und da fand sie, dass ein bisschen Schlaf nicht schaden könnte.
NEW YORK, BERLIN, SEPTEMBER 1978
Sie sagten es ihm erst, als er die Kadenz zum dritten Satz zu seiner Zufriedenheit eingespielt hatte. Vielleicht war es auch Zufall gewesen, und die Nachricht war erst in diesem Moment eingetroffen. So oder so, er war froh, es nicht vorher erfahren zu haben.
Lange genug hatte er an der Kadenz gearbeitet, damit sie nicht zu sehr nach Wilhelm Kempff klang, aber auch nicht zu sehr nach Brendel. Und schon gar nicht nach Buchbinder. Überhaupt, Buchbinder. Wo immer Frederik hinkam, Buchbinder war bereits dort gewesen.
Dabei war dieser nur wenige Jahre älter als Frederik. War ihm zum Beispiel zuvorgekommen mit der Gesamtaufnahme von Haydn.
Dieser Buchbinder ... Im Grunde spielte er so banal, dass es einem hochkam. Aber alle stürzten sich darauf. Frederik fragte sich nicht zum ersten Mal, ob er weg von den Klassikern sollte. Oder weg von den großen Konzertsälen, untertauchen, selbst komponieren ... Kammermusik vielleicht ... Eine Weile nicht der Mittelpunkt sein ... Er verwarf diese Gedanken, wie üblich. Er wollte ja im Mittelpunkt stehen. Brauchte es. Für ausverkaufte Konzerthäuser wollte er auch weiterhin sorgen.
Für hohe Verkaufszahlen bei seinen Schallplatten. Er wollte im Radio rauf und runter gespielt werden. Aber es fraß ihn langsam auf, dass er nicht wusste, wie er die absolute Spitze ein für alle Mal erreichen konnte. Exzentrik vielleicht? Wie Glenn Gould, der besessene Perfektionist, der barfuß aufgetreten war, bei den Aufnahmen mitsang und seine Verachtung für Mozarts Spätwerk öffentlich äußerte?
Mozart und Beethoven. Genau Buchbinders Kragenweite, nicht wahr? Buchbinders wie auch seine eigene. Wobei sich Frederik von Mozart fernhielt. Alle liebten Mozart, und nichts fiel ihm leichter, als Mozart zu spielen.
Aber sein Professor, sein größtes Vorbild, hatte gesagt: »Mozart ist was für Kinder und Anfänger. Mozart spielen wir nicht.«
Einmal gesagt, galt es für die Ewigkeit. Frederik hatte sich immer gewünscht, mehr von der Genialität dieses Mannes in sich zu haben, der Rachmaninow und Ravel mit einer nie gehörten Brillanz spielte, nachdem er sich die Noten nur einmal kurz angesehen hatte. Exzentrik, da war sie wieder: Er lebte einzig von Kaffee und Zigaretten, man munkelte, dass er nicht mehr auftrat, weil er ein Alkoholproblem hatte, es war bekannt, dass er bei seinem letzten Auftritt in den frühen 60er-Jahren schreiend zusammengebrochen war, weil jemand im Publikum raschelnd das Jackett ausgezogen hatte. Exzentrik. Frederik sehnte sich nach ihr.
Er blieb noch bei den gefälligen Komponisten hängen, spielte sie perfekt und sauber und genau so, wie alle es hören wollten. Im Grunde war er nicht viel anders als Buchbinder. Nur, dass dieser eben schon überall dort gewesen war, wo er hinkam.
Und er deshalb an den Haydn-Kadenzen herumschraubte, als hinge die Glückseligkeit des Planeten davon ab. Froh, die Aufnahme beendet zu haben, bat er den Tontechniker, ihm die Stelle noch einmal vorzuspielen, und erst dann nahm er die Nachricht entgegen und suchte sich ein Telefon. Wie gut, dass er da schon alles hinter sich hatte. Jetzt war ein guter Zeitpunkt, nach Deutschland zurückzufliegen.
Gestern noch wäre katastrophal gewesen. Es war nicht so, dass Frederik Arnim seine Frau nicht liebte oder sich keine Sorgen um sie machte. Es war vielmehr so, dass er es nicht gewohnt war, sich Sorgen zu machen. Sie war immer gesund und stark und selbstständig, sie ließ ihm den Freiraum, den er für seine Arbeit brauchte, weshalb er es sich überhaupt nur erlauben konnte, seit einem knappen halben Jahr in Kanada und den USA zu sein.
Und deshalb verstand er nicht recht, was ihm dieser Arzt am Telefon sagen wollte. Carla hatte einen Nervenzusammenbruch? Musste psychiatrisch betreut werden? Selbst als er im Flieger saß, konnte er nicht recht dran glauben. Etwas anderes steckte vielleicht dahinter. Eine Überraschung? Nein, so makaber war Carla nicht, ihn unter Vortäuschung einer Krankheit nach Hause zu locken. Andererseits ein Nervenzusammenbruch? Carla hatte keine Nervenzusammenbrüche. Sicher ging es um eine Überraschung. Alles war in Ordnung, und sie wusste genau, dass er sich nicht ängstigen würde, weil er wiederum genau wusste, dass Carla keine Nervenzusammenbrüche hatte. Carla hatte im Abitur gesteckt, er im Studium, als sie sich kennenlernten.
Ihre Eltern waren mit seinem Professor befreundet und hatten gefragt, ob er jemanden wüsste, um bei einem Gartenfest Klavier zu spielen. Sein Professor hatte ihn geschickt. Die Besitzer des bekannten Auktionshauses Mannheimer! Wie hätten sich seine Kommilitonen darüber gefreut! Er hingegen nahm nur an, weil er das Geld dringend brauchte. Nicht, weil er besonders scharf drauf war, im Wintergarten einer Dahlemer Villa zu sitzen und den ganzen Nachmittag Gershwin und Porter zu klimpern. Damals war sein Anspruch noch ein anderer gewesen.
Damals wollte er noch berühmt werden mit einem außergewöhnlichen Stil (den er jedoch nie bei sich fand). Mit unerhörtem Repertoire (das er sich dann doch nicht aneignete). Mit selbst komponierten Meisterwerken (die er nie schrieb). Er wurde zu einem der meistgebuchten und bestbezahlten Pianisten der Welt, seinen Namen kannte jeder, dem klassische Musik nicht ganz fremd war, man schätzte sein präzises, sauberes, eingängiges Spiel. Ging es noch langweiliger? Er hoffte es.
Er glaubte fest daran. Er klammerte sich an diesen Gedanken. Er konnte nicht der langweiligste Pianist der Welt sein.
Damals, als er noch Träume gehabt hatte, lernte er Carla Mannheimer kennen, verliebte sich in sie wie in keine andere Frau zuvor, rannte ihr hinterher, sodass er sich selbst kaum mehr wiedererkannte. Natürlich waren ihre Eltern nicht nur diskret skeptisch, sondern offen gegen ihn. Talent hin oder her, er kam zwar aus gutem Hause mit gutem Namen, aber ohne Vermögen.
Carla war das egal. Sie würde erben, als einziges Kind. Und natürlich beschloss Frederik, es ihnen zu zeigen. Vergaß seine Träume und tat, was er am besten konnte: Beethoven, Haydn, Chopin, Liszt. Ach, und Brahms, mit ihm hatte er auch Erfolge. Manchmal schob er es auf Carla und ihre Eltern, dass er nicht ein zweiter Glenn Gould war. Manchmal war er ehrlich mit sich selbst und gestand sich ein, dass er dazu niemals getaugt hätte, weil er eben nicht genial war. Nur begabt, aber nicht genial. Er war einfach zu spießig. Nicht exzentrisch genug.
Carla war bald schwanger geworden, aber sie hatte ihm weiter den Rücken freigehalten. Sie hatte Kind und Studium gemeistert, und weil noch vor ihrem Abschluss ihre Eltern kurz nacheinander starben, führte sie das Auktionshaus weiter. Mit Kind und Magisterarbeit und einem Mann, der den ganzen Tag am Klavier verbrachte, und das oft genug weit weg von Berlin.
Frederik erhöhte: Carla hatte ihm nicht nur den Rücken freigehalten, sondern gestärkt. Über Geld und Zeit hatte er nie nachdenken müssen. Er hatte, dank ihr, alle Möglichkeiten. Und bekam, dank ihr, Verbindungen in die besten Kreise, um dahin zu gelangen, wo er heute war.
Immer war sie stolz auf ihn gewesen. Nie hatte sie ihm in den Ohren gelegen, er möge doch mehr Zeit bei Frau und Kind verbringen. Durch die größte Krise seines Lebens hatte sie ihn manövriert.
Als seine Nerven nicht mehr mitzumachen drohten. Als seine Hände den Dienst verweigerten. Seine Frau war immer seine Stütze gewesen. Und diese Frau sollte nun einen Nervenzusammenbruch gehabt haben? Es war lächerlich. Sie hatte gerade ihr zweites Kind bekommen.
Sie hatte starke Nerven, doch. Sie war nicht ängstlich wie andere Mütter, von denen Frederik manchmal hörte. Nicht nur, weil es ihr zweites Kind war. Sie war schon bei Frederik Juniors Geburt gelöst und entspannt gewesen. Carla bekam keine Nervenzusammenbrüche.
Er war der Typ, der zusammenklappte. Nicht Carla. Als ihn am Flughafen in Berlin-Tegel niemand abholte, regten sich ernste Zweifel. Falls es eine Überraschung hätte geben sollen, hätte ihn jemand abholen müssen. Der Arzt hatte ihm die Adresse der Psychiatrischen Abteilung des Benjamin-Franklin-Krankenhauses gegeben.
Unwahrscheinlich, dass Carla mit einer Überraschung zu Hause auf ihn wartete. Es war also doch etwas passiert. Vielleicht mit den Kindern? Aber von seinem Sohn war nicht die Rede gewesen. Auch nicht von seiner Tochter. Für Frederik ergab all das keinen Sinn.
Er nahm sich ein Taxi und ließ sich zum Hindenburgdamm bringen. Fragte sich durch zu dem Arzt, der ihn angerufen hatte. Fand sich einem Psychiater gegenüber, der ihm erzählte, dass seine Frau einen Kollegen angegriffen hatte. Dass die Staatsanwaltschaft deshalb wegen Körperverletzung gegen sie ermittelte. Und dass sie sich weigerte, ihre sechs Monate alte Tochter anzuerkennen.
Der Arzt brachte ihn zu seiner Frau. Sie war in einem Einzelzimmer untergebracht, saß im Bett und blätterte in einem Ausstellungskatalog. Sie arbeitete. Wie konnte sie einen Nervenzusammenbruch gehabt haben, wenn sie schon wieder arbeitete?
Als sie ihn sah, legte sie den Katalog weg, sprang aus dem Bett und lief auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Er hielt sie fest, sie roch anders als sonst. Ein anderes Shampoo vielleicht. Der Psychiater blieb bei ihnen im Zimmer und hörte mit unbewegter Miene und verschränkten Armen zu, als sie ihm erzählte, dass Felicitas nicht Felicitas sei.
Dass es offenbar eine Verwechslung gegeben haben musste. Sie sprach mit ruhiger, fester Stimme und klang so vernünftig und rational wie immer. Oder fast. Er konnte unterdrückte Angst hören. Es war eine Klangfarbe, die er bisher noch nie bei ihr gehört hatte. Eine andere Frau hätte Felicitas, sagte sie. Diese andere Frau würde es bemerken, nicht wahr, und sie dann zurückbringen?
Frederik sah den Psychiater an. Der hob nicht einmal die Augenbrauen. Später zeigte er ihm Felicitas. Er hatte Carla versprochen, sie sich genau anzusehen, und das tat er auch. Ein Foto hatte er dabei, es zeigte Felicitas, als sie gerade zwei Wochen alt war. Da hatte er seine Tochter zum letzten Mal gesehen.
Frederik zeigte dem Arzt das Foto, der es sich ebenfalls genau ansah. Er reichte es einer Krankenschwester, die noch genauer hinsah, bis sich alle einig waren, dass das sechs Monate alte Kind, das hier vor ihnen in seinem Bettchen lag, kein anderes als Felicitas sein konnte.
Ganz so, wie es das Bändchen an ihrem Handgelenk bestätigte. Er suchte nach Familienähnlichkeit in ihrem Gesicht, fand durchaus Züge, die ihn an seine Mutter erinnerten, fand, dass es sich außerdem um ein reizendes, nettes Kind handelte, und sagte Carla genau das.
Da verlor sie alle Haltung und schrie ihn an. Zum ersten Mal in ihrer gemeinsamen Zeit schrie sie ihn an. Sie sprang sogar auf ihn zu, die Hände zu Fäusten geballt, und er konnte nicht anders, als sich umdrehen und das Zimmer verlassen, aus Angst, sie würde ihm etwas antun.
Auf dem Flur rieb er seine Handgelenke. Erst noch unbewusst, dann fiel es ihm schließlich auf, wahrscheinlich, weil der Psychiater, der ihm nach ein paar Minuten gefolgt war, ihn beobachtete. Keine Zwangsneurose, sagte Frederik, halb im Scherz, aber der Psychiater wusste, wer er war und wollte wissen, ob alles in Ordnung sei mit seinen Gelenken. Er wusste offenbar noch mehr, wusste von den Schmerzen, die er vor sechs Jahren gehabt hatte und die bis heute kein Arzt erklären konnte, denn Rheuma und Arthrose hatten sie ausschließen können.
Trotzdem hatte es zwölf lange Wochen gedauert, bis die Schmerzen vollständig abgeklungen waren, und nun tastete er an den Gelenken herum und horchte in sich hinein, ob sie zurückkommen würden, die Schmerzen, aber alles schien in Ordnung. Mit ihm jedenfalls.
Er wollte wissen, was mit seiner Frau war, und der Psychiater sagte etwas von einer postpartalen Depression. Die sei weit verbreitet, er habe viele solcher Patientinnen und wisse gut damit umzugehen. Ein paar Fragen musste er allerdings noch stellen. Sie gingen in sein Zimmer am Ende des Flurs, es war ein großes, helles Zimmer, und er hatte auch ein Vorzimmer mit einer Sekretärin, die sehr modisch gekleidet und frisiert war.
Der Psychiater stellte einfache Fragen, ob Felicitas ein Wunschkind war und ob sie sich lieber einen Jungen gewünscht hätten. Und er stellte Fragen nach sexueller Traumatisierung bei Carla, ob es darauf Hinweise gäbe. Frederik hatte keine Ahnung, worauf das alles hinauslaufen sollte. Ihn interessierte gerade viel mehr, wann er seine Frau zurückbekommen würde und was er mit den Kindern machen sollte, solange sie im Krankenhaus war.
Er sagte dem Psychiater, dass er ohne Carla nicht zurechtkäme, dass er sie dringend bräuchte und sie das auch wüsste. Dass er sich deshalb nicht vorstellen könnte, wie sie aus dem Nichts diesen Zusammenbruch bekäme, sie wüsste doch, dass sie geliebt und gebraucht würde, sie hätte noch nie jemanden im Stich gelassen.
Und dann sagte der Psychiater, ja, vielleicht ist das der Grund, warum sie hier ist. Irgendwann ist das Maß voll. Vielleicht hat sie einfach gesehen, wie es ist ohne Kinder, frei und ungezwungen.
Die Zeit nur für sich. Schließlich war sie über eine Woche in Quarantäne gewesen, wegen der Gürtelrose, damit sich Felicitas nicht anstecken konnte. Der Sohn bei Frederiks Eltern in Westdeutschland, der Mann in New York, die Tochter auf der Säuglingsstation, und Carla endlich mal für sich allein.
Die Frau, die mit ihr in einem Zimmer gelegen hatte, bevor das alles passiert war, hatte berichtet, dass sich Carla mit ihr über die Arbeit unterhalten wollte. Fehlte ihr die Arbeit? Frederik schüttelte den Kopf. Carla arbeitete schon längst wieder. Sie hatte nach Juniors Geburt ein Kindermädchen gehabt, sie würden wieder eins nehmen.
Sie wusste, dass sie von anderen Müttern schief angesehen wurde, dass sie sie heimlich als Rabenmutter beschimpften, aber sie sagte immer: Wenn die Großmutter bei uns im Haus wohnen würde, wäre es in Ordnung, aber wenn ich für eine Frau bezahle, die viel besser als jede Großmutter auf das Kind aufpasst, weil sie jünger ist und ihren Beruf gelernt hat und Kinder einfach gernhat, dann ist es schlecht?
Er erzählte dem Psychiater von seiner wunderbaren Carla, die immer alles im Griff hatte, die nie von etwas überfordert war, die jede Sekunde in ihrem Leben wusste, was richtig war, und das wusste sie dann nicht nur für sich, sondern gleich noch für alle, die ihr am Herzen lagen. Diese Frau hatte nicht irgendwelche Zusammenbrüche und Depressionen.
Aber der Psychiater schüttelte nur traurig den Kopf. Die Hormone, sagte er, die kann man nicht so einfach beeinflussen, da muss man sich Hilfe holen, und wir helfen Ihrer Frau. Wir sind hier sehr modern, sagte er. Und was konnte Frederik schon tun, er nickte und überlegte, wo Carla die Telefonnummer der Kinderfrau notiert haben könnte, denn in ein paar Tagen würde Junior aus Frankfurt am Main von den Großeltern kommen, und Felicitas konnte nicht ewig im Krankenhaus bleiben.
Bevor er ging, ließ er sich noch einmal Felicitas zeigen. Wieder hielt er das Foto, das er vor über fünf Monaten von ihr gemacht hatte, neben ihr Gesichtchen und horchte in sich hinein. Hörte nichts. Keine Dissonanzen, entschied er. Sicher ein gutes Zeichen.
Dann beugte er sich zu dem Kind und strich ihm vorsichtig über das Köpfchen. Meine Tochter, sagte er leise. Meine Tochter. Das nächste Mal nehm ich dich einfach mit auf die große Reise.
Copyright © 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Sie kamen ins Plaudern. Über Ellas aktuelles Projekt; sie war eine Zeit lang in London gewesen und hatte dort Punkbands begleitet und porträtiert. Über die nächsten Auktionen, die Carla plante. Sie fachsimpelten über die im vergangenen Jahr verstorbene Lee Miller, fanden über sie schnell den Bogen zum Thema Hausfrauendasein und Depressionen, entdeckten gemeinsame Bekannte, fingen an, über diesen oder über jene zu lästern, hatten einen Riesenspaß, und Carla merkte gar nicht, wie die Zeit vergangen war.
Wie lange die Schwester brauchte, um Felicitas von der Säuglingsstation zu holen. Erst als der Arzt ins Zimmer trat, die Schwester mit großen Augen und einem Säugling im Arm hinter ihm, dachte sie: Das hat aber gedauert.
»Frau Arnim.« Der Arzt lächelte sie an. »Wir bringen Ihnen Ihre Tochter.« Die Schwester trat vor und legte ihr Felicitas in die Arme. Nur, dass es nicht Felicitas war. Immer noch nicht.
»Ist das dasselbe Kind wie vorhin?«, fragte Carla verwirrt.
»Das ist Ihre Felicitas«, sagte der Arzt und nickte der unsicher dreinblickenden Schwester zu.
»Ich erkenne doch meine eigene Tochter, und das hier ist nicht meine Tochter. Sie haben das Kind vertauscht.«
Carla wunderte sich selbst, wie ruhig sie das sagte. Der Arzt setzte sich ans Fußende ihres Betts, ohne sie zu fragen.
»Wir haben im Moment nur einen weiblichen Säugling im Alter von sechs Monaten auf der Station. Die Kinder bekommen ein kleines Bändchen, sehen Sie hier.«
Er beugte sich vor und nahm behutsam das linke Ärmchen des Säuglings in die Hand, um ihr das Bändchen zu zeigen. Carla hielt das fremde Kind ein gutes Stück von sich weg, hoffte, er würde es ihr abnehmen, aber das tat er nicht.
»Da steht der Name Ihrer Tochter«, sagte er ruhig und lächelte wieder. »Es ist alles in Ordnung. Wir haben Felicitas ganz sicher nicht verwechselt, es geht ihr gut, und sie war sehr brav. Natürlich hat sie Sie vermisst.«
Das Kind fing an zu weinen. Carla begann reflexartig, es zu schaukeln, doch dann hielt sie es wieder von sich weg.
»Nehmen Sie sie bitte, das ist nicht meine Tochter.« Sie versuchte, die Panik in sich zu ersticken. Als sie sah, wie der Blick des Arztes ernster wurde, wie die Schwester sich nervös von ihr wegdrehte und ans Fenster trat, konnte sie nicht mehr.
»Nehmen Sie mir doch endlich dieses Kind ab!«, rief sie und hielt den schreienden Säugling so weit von sich weg, wie sie konnte. Die Schwester stürzte auf sie zu und entriss ihr das Kind. Schützend nahm sie es auf den Arm und sprach auf das heulende Mädchen ein.
»Das da ist nicht mein Kind«, sagte Carla. Ihre Stimme bebte, und die Tränen ließen sich nicht mehr aufhalten. »Wo ist meine Tochter? Wollen Sie behaupten, dass Sie nicht wissen, wo sie ist? Sie können mir doch nicht einfach mein Kind wegnehmen!«
Nichts wie raus hier. Sie musste selbst nachsehen. Die Decke weg und rüber zur Säuglingsstation und nachsehen. Sie war so schnell aus dem Bett gesprungen, dass der Arzt sie nur mit Mühe aufhalten konnte.
»Frau Arnim, wir gehen gemeinsam, in Ordnung? Dann werden Sie sehen, dass wir Ihre Tochter nicht verwechselt haben. Versprechen Sie mir, sich wieder zu beruhigen? Soll ich Ihnen etwas geben?«
Sie glaubte zu begreifen, dass hier etwas passierte, das sie nicht mehr aufhalten konnte. Carla riss die Tür auf und rannte den Gang entlang, verlief sich, rannte zurück und fand sich endlich vor der großen Scheibe, hinter der die Neugeborenen lagen.
Der Arzt hatte sie eingeholt. »Frau Arnim. Wir sehen uns jetzt in Ruhe alle Kinder auf der Station an, einverstanden?«
Er legte seine Hand leicht auf ihren Ellenbogen und führte sie durch die Tür. Kein einziges Kind in Felicitas' Alter.
»Das ist nicht möglich«, sagte Carla und ging jedes einzelne Bettchen ab.
»Wo ist meine Tochter?« Die Schwester hatte sich mit dem Säugling zu ihnen gesellt. Das Kind war ruhig, die Schwester streichelte ihm den Rücken und sah Carla wieder aus riesigen, ängstlichen Augen an.
»Sie haben doch hier irgendeinen Mist gebaut, und jetzt wollen Sie mir ein falsches Kind unterjubeln, hab ich recht?«
»Bitte«, sagte der Arzt und legte diesmal seine Hand auf ihre Schulter. »Ich gebe Ihnen am besten eine kleine Spritze, und dann unterhalten wir uns im Behandlungszimmer. Einverstanden?«
Carla starrte ihn an. Sah noch einmal zu dem fremden Kind, das von der Schwester in sein Bettchen gelegt wurde, dann wieder zu ihm.
»Sie wollen mich ruhigstellen?«, fragte sie, nun ganz leise. »Die Spritzen der letzten Tage, damit haben Sie mich auch ruhiggestellt, richtig?«
Er hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Da verstehen Sie jetzt aber wirklich etwas ganz falsch. Wir haben ...«
»Sie haben mein Kind entführt!«, schrie sie. »Oder ist etwas passiert? Ist Felicitas gestorben, und Sie wollen es mir nicht sagen? Was haben Sie getan?«
Tränen strömten über ihr Gesicht. »Kommen Sie, wir gehen ins Behandlungszimmer.«
Jetzt packte der Arzt fester zu, schob sie aus dem Raum, schloss die Tür eilig hinter sich.
»Und schreien Sie bitte nicht so rum. Denken Sie an die Kinder!«
Sie schüttelte ihn ab. »Ich denke an mein Kind! Sie haben mir mein Kind weggenommen!« Ohne nachzudenken, fing sie an, auf den Mann einzuschlagen. Blind trat sie nach ihm, schlug immer weiter. Sie sah, wie er schützend die Arme hob, er konnte nicht fliehen, sie hatte ihn in eine Ecke zwischen der Umkleide und dem Untersuchungsstuhl gedrängt.
Sie erwischte seine Nase, landete einen Schlag auf seinen Mund, er blutete, bis jemand sie von hinten packte und von ihm wegzog. Zwei mussten es sein, sie hatte keine Chance, sich gegen sie zu wehren, sie sah sie nicht einmal. Carla schrie nach ihrer Tochter, sah den Arzt auf dem Boden liegen, das Gesicht voller Blut, sah die Schwester, die sich über ihn beugte und sich dann zu Carla umdrehte, Entsetzen im Blick.
Dann spürte sie eine Nadel in ihrem Fleisch, merkte, wie ihre Glieder schwer wurden, wie alles um sie herum verschwamm, wie ihre Stimme versagte, weil sie zu müde war, auch nur zu flüstern. Und jetzt war alles weich und schwarz und lautlos.
1.
Alles, was einem die Leute über Blut erzählten, war Quatsch. Von wegen ganz egal, wie oft man schon umgekippt war, weil andere irgendwas vollgeblutet hatten, sein eigenes Blut könnte man sich immer ansehen, kein Problem.
Dazu müsste man erst mal wissen, dass es das eigene Blut war. Fiona wusste nicht mal, dass es überhaupt Blut war. Sie dachte an Tinte, weil sich die dunkle Flüssigkeit gar nicht mit dem Wasser vermischte, sondern ganz nach dickem, dunklem Zigarettenrauch aussah, der sich in einem viel zu kleinen Raum verteilte. Eben wie Tinte in Wasser. Sie wäre fast wieder eingeschlafen.
Dann kapierte sie doch, dass sie eigentlich nicht in ihrer Badewanne schlief, wenn sie mit Wasser voll war, schon gar nicht in Unterwäsche, und überhaupt, was sollte das mit der Tinte, irgendwer hatte da wohl irgendwas total witzig gefunden und vergessen, es ihr zu sagen.
Sie blinzelte, bis sie klarer sehen konnte: Rosenblätter auf der Wasseroberfläche, Teelichte auf dem Wannenrand. Aus dem Radio in der Küche plätscherte kitschiger Romantikpop. Nicht ihre Welle, aber ihre Wanne. Sie spürte, wie an ihren nassen Händen etwas entlanglief, das wärmer war als das Wasser. Ihre Handgelenke juckten.
Sie wollte sich kratzen, aber sie sah, dass die Tinte aus ihren Unterarmen lief. Sie fühlte keinen Schmerz, keine Panik, dachte: Okay, ich war wohl etwas zugedröhnt, aber ein Krankenwagen könnte eine gute Idee sein. Dann machte es klick in ihrem Kopf, und sie kotzte über den Wannenrand. Sie konnte nämlich kein Blut sehen. Schon gar nicht ihr eigenes.
Bis zum Telefon schaffte sie es, auch wenn sie zweimal auf dem Weg dorthin umfiel, ihr Blut vom Bad über den Flur bis in die Küche verteilte, wo ihr immerhin einfiel, dass sie sich die Handgelenke besser abbinden könnte. Fiona nahm zwei Geschirrtücher, die seit Tagen auf dem Boden lagen, um einen Liter Cola aufzusaugen. Wahrscheinlich brachte das mit dem Abbinden nichts, denn sie schaffte es kaum, einen festen Knoten zu machen.
Am Boden zusammengekauert wählte sie die Notrufnummer. Sie konnte der freundlichen Dame am anderen Ende der Leitung zwar nicht genau sagen, was los war, weil sie eine schwere Zunge hatte, die außerdem komisch schmeckte, und das lenkte sie ab. Zum Glück aber erst, nachdem sie ihren Namen und ihre Adresse genannt hatte. Oder vielleicht hatte sie auch gar nichts gesagt, und die in der Notrufzentrale hatten rausgefunden, woher sie anrief.
Sie vertrieb sich die Zeit damit, einen anderen Sender im Küchenradio zu suchen. Dann fielen ihr die Augen zu, aber sie sang den Song mit, der gerade lief, um nicht einzuschlafen. (Falling about ... You took a left off Last Laugh Lane ...) Knappe zehn Minuten später trat jemand die Tür zu ihrer Wohnung ein und stürmte in die Küche. Und da fand sie, dass ein bisschen Schlaf nicht schaden könnte.
NEW YORK, BERLIN, SEPTEMBER 1978
Sie sagten es ihm erst, als er die Kadenz zum dritten Satz zu seiner Zufriedenheit eingespielt hatte. Vielleicht war es auch Zufall gewesen, und die Nachricht war erst in diesem Moment eingetroffen. So oder so, er war froh, es nicht vorher erfahren zu haben.
Lange genug hatte er an der Kadenz gearbeitet, damit sie nicht zu sehr nach Wilhelm Kempff klang, aber auch nicht zu sehr nach Brendel. Und schon gar nicht nach Buchbinder. Überhaupt, Buchbinder. Wo immer Frederik hinkam, Buchbinder war bereits dort gewesen.
Dabei war dieser nur wenige Jahre älter als Frederik. War ihm zum Beispiel zuvorgekommen mit der Gesamtaufnahme von Haydn.
Dieser Buchbinder ... Im Grunde spielte er so banal, dass es einem hochkam. Aber alle stürzten sich darauf. Frederik fragte sich nicht zum ersten Mal, ob er weg von den Klassikern sollte. Oder weg von den großen Konzertsälen, untertauchen, selbst komponieren ... Kammermusik vielleicht ... Eine Weile nicht der Mittelpunkt sein ... Er verwarf diese Gedanken, wie üblich. Er wollte ja im Mittelpunkt stehen. Brauchte es. Für ausverkaufte Konzerthäuser wollte er auch weiterhin sorgen.
Für hohe Verkaufszahlen bei seinen Schallplatten. Er wollte im Radio rauf und runter gespielt werden. Aber es fraß ihn langsam auf, dass er nicht wusste, wie er die absolute Spitze ein für alle Mal erreichen konnte. Exzentrik vielleicht? Wie Glenn Gould, der besessene Perfektionist, der barfuß aufgetreten war, bei den Aufnahmen mitsang und seine Verachtung für Mozarts Spätwerk öffentlich äußerte?
Mozart und Beethoven. Genau Buchbinders Kragenweite, nicht wahr? Buchbinders wie auch seine eigene. Wobei sich Frederik von Mozart fernhielt. Alle liebten Mozart, und nichts fiel ihm leichter, als Mozart zu spielen.
Aber sein Professor, sein größtes Vorbild, hatte gesagt: »Mozart ist was für Kinder und Anfänger. Mozart spielen wir nicht.«
Einmal gesagt, galt es für die Ewigkeit. Frederik hatte sich immer gewünscht, mehr von der Genialität dieses Mannes in sich zu haben, der Rachmaninow und Ravel mit einer nie gehörten Brillanz spielte, nachdem er sich die Noten nur einmal kurz angesehen hatte. Exzentrik, da war sie wieder: Er lebte einzig von Kaffee und Zigaretten, man munkelte, dass er nicht mehr auftrat, weil er ein Alkoholproblem hatte, es war bekannt, dass er bei seinem letzten Auftritt in den frühen 60er-Jahren schreiend zusammengebrochen war, weil jemand im Publikum raschelnd das Jackett ausgezogen hatte. Exzentrik. Frederik sehnte sich nach ihr.
Er blieb noch bei den gefälligen Komponisten hängen, spielte sie perfekt und sauber und genau so, wie alle es hören wollten. Im Grunde war er nicht viel anders als Buchbinder. Nur, dass dieser eben schon überall dort gewesen war, wo er hinkam.
Und er deshalb an den Haydn-Kadenzen herumschraubte, als hinge die Glückseligkeit des Planeten davon ab. Froh, die Aufnahme beendet zu haben, bat er den Tontechniker, ihm die Stelle noch einmal vorzuspielen, und erst dann nahm er die Nachricht entgegen und suchte sich ein Telefon. Wie gut, dass er da schon alles hinter sich hatte. Jetzt war ein guter Zeitpunkt, nach Deutschland zurückzufliegen.
Gestern noch wäre katastrophal gewesen. Es war nicht so, dass Frederik Arnim seine Frau nicht liebte oder sich keine Sorgen um sie machte. Es war vielmehr so, dass er es nicht gewohnt war, sich Sorgen zu machen. Sie war immer gesund und stark und selbstständig, sie ließ ihm den Freiraum, den er für seine Arbeit brauchte, weshalb er es sich überhaupt nur erlauben konnte, seit einem knappen halben Jahr in Kanada und den USA zu sein.
Und deshalb verstand er nicht recht, was ihm dieser Arzt am Telefon sagen wollte. Carla hatte einen Nervenzusammenbruch? Musste psychiatrisch betreut werden? Selbst als er im Flieger saß, konnte er nicht recht dran glauben. Etwas anderes steckte vielleicht dahinter. Eine Überraschung? Nein, so makaber war Carla nicht, ihn unter Vortäuschung einer Krankheit nach Hause zu locken. Andererseits ein Nervenzusammenbruch? Carla hatte keine Nervenzusammenbrüche. Sicher ging es um eine Überraschung. Alles war in Ordnung, und sie wusste genau, dass er sich nicht ängstigen würde, weil er wiederum genau wusste, dass Carla keine Nervenzusammenbrüche hatte. Carla hatte im Abitur gesteckt, er im Studium, als sie sich kennenlernten.
Ihre Eltern waren mit seinem Professor befreundet und hatten gefragt, ob er jemanden wüsste, um bei einem Gartenfest Klavier zu spielen. Sein Professor hatte ihn geschickt. Die Besitzer des bekannten Auktionshauses Mannheimer! Wie hätten sich seine Kommilitonen darüber gefreut! Er hingegen nahm nur an, weil er das Geld dringend brauchte. Nicht, weil er besonders scharf drauf war, im Wintergarten einer Dahlemer Villa zu sitzen und den ganzen Nachmittag Gershwin und Porter zu klimpern. Damals war sein Anspruch noch ein anderer gewesen.
Damals wollte er noch berühmt werden mit einem außergewöhnlichen Stil (den er jedoch nie bei sich fand). Mit unerhörtem Repertoire (das er sich dann doch nicht aneignete). Mit selbst komponierten Meisterwerken (die er nie schrieb). Er wurde zu einem der meistgebuchten und bestbezahlten Pianisten der Welt, seinen Namen kannte jeder, dem klassische Musik nicht ganz fremd war, man schätzte sein präzises, sauberes, eingängiges Spiel. Ging es noch langweiliger? Er hoffte es.
Er glaubte fest daran. Er klammerte sich an diesen Gedanken. Er konnte nicht der langweiligste Pianist der Welt sein.
Damals, als er noch Träume gehabt hatte, lernte er Carla Mannheimer kennen, verliebte sich in sie wie in keine andere Frau zuvor, rannte ihr hinterher, sodass er sich selbst kaum mehr wiedererkannte. Natürlich waren ihre Eltern nicht nur diskret skeptisch, sondern offen gegen ihn. Talent hin oder her, er kam zwar aus gutem Hause mit gutem Namen, aber ohne Vermögen.
Carla war das egal. Sie würde erben, als einziges Kind. Und natürlich beschloss Frederik, es ihnen zu zeigen. Vergaß seine Träume und tat, was er am besten konnte: Beethoven, Haydn, Chopin, Liszt. Ach, und Brahms, mit ihm hatte er auch Erfolge. Manchmal schob er es auf Carla und ihre Eltern, dass er nicht ein zweiter Glenn Gould war. Manchmal war er ehrlich mit sich selbst und gestand sich ein, dass er dazu niemals getaugt hätte, weil er eben nicht genial war. Nur begabt, aber nicht genial. Er war einfach zu spießig. Nicht exzentrisch genug.
Carla war bald schwanger geworden, aber sie hatte ihm weiter den Rücken freigehalten. Sie hatte Kind und Studium gemeistert, und weil noch vor ihrem Abschluss ihre Eltern kurz nacheinander starben, führte sie das Auktionshaus weiter. Mit Kind und Magisterarbeit und einem Mann, der den ganzen Tag am Klavier verbrachte, und das oft genug weit weg von Berlin.
Frederik erhöhte: Carla hatte ihm nicht nur den Rücken freigehalten, sondern gestärkt. Über Geld und Zeit hatte er nie nachdenken müssen. Er hatte, dank ihr, alle Möglichkeiten. Und bekam, dank ihr, Verbindungen in die besten Kreise, um dahin zu gelangen, wo er heute war.
Immer war sie stolz auf ihn gewesen. Nie hatte sie ihm in den Ohren gelegen, er möge doch mehr Zeit bei Frau und Kind verbringen. Durch die größte Krise seines Lebens hatte sie ihn manövriert.
Als seine Nerven nicht mehr mitzumachen drohten. Als seine Hände den Dienst verweigerten. Seine Frau war immer seine Stütze gewesen. Und diese Frau sollte nun einen Nervenzusammenbruch gehabt haben? Es war lächerlich. Sie hatte gerade ihr zweites Kind bekommen.
Sie hatte starke Nerven, doch. Sie war nicht ängstlich wie andere Mütter, von denen Frederik manchmal hörte. Nicht nur, weil es ihr zweites Kind war. Sie war schon bei Frederik Juniors Geburt gelöst und entspannt gewesen. Carla bekam keine Nervenzusammenbrüche.
Er war der Typ, der zusammenklappte. Nicht Carla. Als ihn am Flughafen in Berlin-Tegel niemand abholte, regten sich ernste Zweifel. Falls es eine Überraschung hätte geben sollen, hätte ihn jemand abholen müssen. Der Arzt hatte ihm die Adresse der Psychiatrischen Abteilung des Benjamin-Franklin-Krankenhauses gegeben.
Unwahrscheinlich, dass Carla mit einer Überraschung zu Hause auf ihn wartete. Es war also doch etwas passiert. Vielleicht mit den Kindern? Aber von seinem Sohn war nicht die Rede gewesen. Auch nicht von seiner Tochter. Für Frederik ergab all das keinen Sinn.
Er nahm sich ein Taxi und ließ sich zum Hindenburgdamm bringen. Fragte sich durch zu dem Arzt, der ihn angerufen hatte. Fand sich einem Psychiater gegenüber, der ihm erzählte, dass seine Frau einen Kollegen angegriffen hatte. Dass die Staatsanwaltschaft deshalb wegen Körperverletzung gegen sie ermittelte. Und dass sie sich weigerte, ihre sechs Monate alte Tochter anzuerkennen.
Der Arzt brachte ihn zu seiner Frau. Sie war in einem Einzelzimmer untergebracht, saß im Bett und blätterte in einem Ausstellungskatalog. Sie arbeitete. Wie konnte sie einen Nervenzusammenbruch gehabt haben, wenn sie schon wieder arbeitete?
Als sie ihn sah, legte sie den Katalog weg, sprang aus dem Bett und lief auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Er hielt sie fest, sie roch anders als sonst. Ein anderes Shampoo vielleicht. Der Psychiater blieb bei ihnen im Zimmer und hörte mit unbewegter Miene und verschränkten Armen zu, als sie ihm erzählte, dass Felicitas nicht Felicitas sei.
Dass es offenbar eine Verwechslung gegeben haben musste. Sie sprach mit ruhiger, fester Stimme und klang so vernünftig und rational wie immer. Oder fast. Er konnte unterdrückte Angst hören. Es war eine Klangfarbe, die er bisher noch nie bei ihr gehört hatte. Eine andere Frau hätte Felicitas, sagte sie. Diese andere Frau würde es bemerken, nicht wahr, und sie dann zurückbringen?
Frederik sah den Psychiater an. Der hob nicht einmal die Augenbrauen. Später zeigte er ihm Felicitas. Er hatte Carla versprochen, sie sich genau anzusehen, und das tat er auch. Ein Foto hatte er dabei, es zeigte Felicitas, als sie gerade zwei Wochen alt war. Da hatte er seine Tochter zum letzten Mal gesehen.
Frederik zeigte dem Arzt das Foto, der es sich ebenfalls genau ansah. Er reichte es einer Krankenschwester, die noch genauer hinsah, bis sich alle einig waren, dass das sechs Monate alte Kind, das hier vor ihnen in seinem Bettchen lag, kein anderes als Felicitas sein konnte.
Ganz so, wie es das Bändchen an ihrem Handgelenk bestätigte. Er suchte nach Familienähnlichkeit in ihrem Gesicht, fand durchaus Züge, die ihn an seine Mutter erinnerten, fand, dass es sich außerdem um ein reizendes, nettes Kind handelte, und sagte Carla genau das.
Da verlor sie alle Haltung und schrie ihn an. Zum ersten Mal in ihrer gemeinsamen Zeit schrie sie ihn an. Sie sprang sogar auf ihn zu, die Hände zu Fäusten geballt, und er konnte nicht anders, als sich umdrehen und das Zimmer verlassen, aus Angst, sie würde ihm etwas antun.
Auf dem Flur rieb er seine Handgelenke. Erst noch unbewusst, dann fiel es ihm schließlich auf, wahrscheinlich, weil der Psychiater, der ihm nach ein paar Minuten gefolgt war, ihn beobachtete. Keine Zwangsneurose, sagte Frederik, halb im Scherz, aber der Psychiater wusste, wer er war und wollte wissen, ob alles in Ordnung sei mit seinen Gelenken. Er wusste offenbar noch mehr, wusste von den Schmerzen, die er vor sechs Jahren gehabt hatte und die bis heute kein Arzt erklären konnte, denn Rheuma und Arthrose hatten sie ausschließen können.
Trotzdem hatte es zwölf lange Wochen gedauert, bis die Schmerzen vollständig abgeklungen waren, und nun tastete er an den Gelenken herum und horchte in sich hinein, ob sie zurückkommen würden, die Schmerzen, aber alles schien in Ordnung. Mit ihm jedenfalls.
Er wollte wissen, was mit seiner Frau war, und der Psychiater sagte etwas von einer postpartalen Depression. Die sei weit verbreitet, er habe viele solcher Patientinnen und wisse gut damit umzugehen. Ein paar Fragen musste er allerdings noch stellen. Sie gingen in sein Zimmer am Ende des Flurs, es war ein großes, helles Zimmer, und er hatte auch ein Vorzimmer mit einer Sekretärin, die sehr modisch gekleidet und frisiert war.
Der Psychiater stellte einfache Fragen, ob Felicitas ein Wunschkind war und ob sie sich lieber einen Jungen gewünscht hätten. Und er stellte Fragen nach sexueller Traumatisierung bei Carla, ob es darauf Hinweise gäbe. Frederik hatte keine Ahnung, worauf das alles hinauslaufen sollte. Ihn interessierte gerade viel mehr, wann er seine Frau zurückbekommen würde und was er mit den Kindern machen sollte, solange sie im Krankenhaus war.
Er sagte dem Psychiater, dass er ohne Carla nicht zurechtkäme, dass er sie dringend bräuchte und sie das auch wüsste. Dass er sich deshalb nicht vorstellen könnte, wie sie aus dem Nichts diesen Zusammenbruch bekäme, sie wüsste doch, dass sie geliebt und gebraucht würde, sie hätte noch nie jemanden im Stich gelassen.
Und dann sagte der Psychiater, ja, vielleicht ist das der Grund, warum sie hier ist. Irgendwann ist das Maß voll. Vielleicht hat sie einfach gesehen, wie es ist ohne Kinder, frei und ungezwungen.
Die Zeit nur für sich. Schließlich war sie über eine Woche in Quarantäne gewesen, wegen der Gürtelrose, damit sich Felicitas nicht anstecken konnte. Der Sohn bei Frederiks Eltern in Westdeutschland, der Mann in New York, die Tochter auf der Säuglingsstation, und Carla endlich mal für sich allein.
Die Frau, die mit ihr in einem Zimmer gelegen hatte, bevor das alles passiert war, hatte berichtet, dass sich Carla mit ihr über die Arbeit unterhalten wollte. Fehlte ihr die Arbeit? Frederik schüttelte den Kopf. Carla arbeitete schon längst wieder. Sie hatte nach Juniors Geburt ein Kindermädchen gehabt, sie würden wieder eins nehmen.
Sie wusste, dass sie von anderen Müttern schief angesehen wurde, dass sie sie heimlich als Rabenmutter beschimpften, aber sie sagte immer: Wenn die Großmutter bei uns im Haus wohnen würde, wäre es in Ordnung, aber wenn ich für eine Frau bezahle, die viel besser als jede Großmutter auf das Kind aufpasst, weil sie jünger ist und ihren Beruf gelernt hat und Kinder einfach gernhat, dann ist es schlecht?
Er erzählte dem Psychiater von seiner wunderbaren Carla, die immer alles im Griff hatte, die nie von etwas überfordert war, die jede Sekunde in ihrem Leben wusste, was richtig war, und das wusste sie dann nicht nur für sich, sondern gleich noch für alle, die ihr am Herzen lagen. Diese Frau hatte nicht irgendwelche Zusammenbrüche und Depressionen.
Aber der Psychiater schüttelte nur traurig den Kopf. Die Hormone, sagte er, die kann man nicht so einfach beeinflussen, da muss man sich Hilfe holen, und wir helfen Ihrer Frau. Wir sind hier sehr modern, sagte er. Und was konnte Frederik schon tun, er nickte und überlegte, wo Carla die Telefonnummer der Kinderfrau notiert haben könnte, denn in ein paar Tagen würde Junior aus Frankfurt am Main von den Großeltern kommen, und Felicitas konnte nicht ewig im Krankenhaus bleiben.
Bevor er ging, ließ er sich noch einmal Felicitas zeigen. Wieder hielt er das Foto, das er vor über fünf Monaten von ihr gemacht hatte, neben ihr Gesichtchen und horchte in sich hinein. Hörte nichts. Keine Dissonanzen, entschied er. Sicher ein gutes Zeichen.
Dann beugte er sich zu dem Kind und strich ihm vorsichtig über das Köpfchen. Meine Tochter, sagte er leise. Meine Tochter. Das nächste Mal nehm ich dich einfach mit auf die große Reise.
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Autoren-Porträt von Zoë Beck
Zoë Beck, geboren 1975, wuchs zweisprachig auf und pendelt zwischen Großbritannien und Deutschland. Ihre große Liebe neben der Literatur ist die Musik. Heute arbeitet sie als freie Autorin, Redakteurin und Übersetzerin. Für ihre Romane und Kurzgeschichten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedrich-Glauser-Preis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Zoë Beck
- 2010, 2. Aufl., 300 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404164431
- ISBN-13: 9783404164431
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