Ausgelöscht
Thriller
Ein harter Fall für Smoky Barrett: Eine Frau, die seit sieben Jahren vermisst wird, bricht vor ihren Augen zusammen. Doch sie ist nur noch eine leblose Hülle. Jemand hat ihr Stahlnadeln ins Gehirn getrieben und ihre Nervenbahnen zerstört....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ausgelöscht “
Ein harter Fall für Smoky Barrett: Eine Frau, die seit sieben Jahren vermisst wird, bricht vor ihren Augen zusammen. Doch sie ist nur noch eine leblose Hülle. Jemand hat ihr Stahlnadeln ins Gehirn getrieben und ihre Nervenbahnen zerstört. Und sie wird nicht das letzte Opfer sein.
"McFadyens Fantasie stürzt sich auf alle nur erdenklichen Abgründe, in die die menschliche Seele abtauchen kann."
Kölner Stadtanzeiger
Klappentext zu „Ausgelöscht “
Ich hatte einmal ein Leben. Doch ich erinnere mich nicht mehr daran. Ich hatte eine Familie. Doch ich kenne sie nicht mehr. Ich hatte viele Erinnerungen. Doch jemand war in meinem Gehirn. Er hat alles ausgelöscht. Und ich wünschte, er hätte mich nicht am Leben gelassen.
Lese-Probe zu „Ausgelöscht “
Ausgelöscht von Cody McFadyenTeil 1
Die Sonne
KAPITEL 1 1974
»Ich werde das Leben sein«, sagte der Mann zu dem Jungen.
Der Junge deutete den Tonfall seines Vaters richtig und machte sich bereit.
»Ja, Vater.«
»Du wirst du sein, und ich werde das Leben sein.«
»Ja, Vater.« Es war ein Rollenspiel. Der Vater streckte die offene Hand aus. Es war eine große, harte Hand. Das wusste der Junge aus eigener Erfahrung, denn er hatte diese Hand häufig zu spüren bekommen.
»Gib mir einen Dollar«, verlangte der Vater.
»Ich habe keinen Dollar.«
Der Vater betrachtete den Jungen, und der Junge schaute seinen Vater an und wartete. Der Vater hatte ein derbes Gesicht, passend zu den Händen; sein ganzer Schädel war grob, als wäre er aus einem Betonblock oder aus Schlacke gehauen.
Seine Augen waren eisblau und eiskalt die Augen eines Philosophen und eines Mörders.
»Wird's bald«, sagte der Vater. Er blickte auf den Tisch, tippte mit einem seiner dicken Finger darauf. »Na los. Ich frage nur noch einmal.«
Er richtete den Blick wieder auf das Gesicht seines Sohnes.
»Gib mir einen Dollar.« Wieder streckte er die Hand aus, schloss und öffnete sie, um seine Forderung zu unterstreichen.
»Aber ich habe keinen Dollar, das habe ich doch schon gesagt. Das ändert sich auch nicht, wenn du mich zweimal fragst.«
Der Vater entgegnete die Bemerkung mit einem stechenden Blick. Was der Junge gerade getan hatte, war gefährlich gewesen, aber auch mutig, und vor allem der Mut zählte.
»Und ich sagte, ich werde das Leben sein«, sprach der Vater gefährlich leise. »Wenn das Leben einen Dollar von dir verlangt, solltest du ihm diesen Dollar geben, oder das Leben bestraft dich so lange, bis du es tust.«
Der Tisch war klein,
... mehr
und die Arme des Vaters waren lang. Seine Hand zuckte vor und traf mit furchtbarer Wucht die linke Gesichtshälfte des Jungen, dem augenblicklich schwarz vor Augen wurde. Als er zu sich kam, lag er bäuchlings auf dem Fußboden.
Der Stuhl war umgekippt, und die Handflächen des Jungen berührten den Boden dort, wo er seinen Sturz instinktiv abgefangen hatte. Ihm dröhnte der Schädel, und er schmeckte Blut.
»Steh auf, Sohn.« Dem Jungen wurde schwindlig. Er suchte nach Worten.
»Ja, Vater«, sagte er schließlich. Er war dankbar, so dankbar.
Der Junge war erst zehn, hatte aber schon ein bisschen von dem gelernt, wie die Welt funktionierte: Das Leben geht immer weiter und weiter mit dir, wenn du stark bist, und ohne dich, wenn du schwach bist. Sein Vater wollte, dass er stark war.
Konnte ein Vater seinem Sohn seine Liebe deutlicher zeigen? Der Junge mühte sich noch.
Er schwankte kurz, riss sich zusammen. Schwäche war das größte Vergehen, Feigheit das zweitgrößte.
»Du darfst niemals nur einstecken, Junge«, sagte sein Vater. »Du musst immer zurückschlagen. Immer. Wenn du einen Kampf zu verlieren drohst, lass den Gegner wenigstens für jeden Schlag, den er dir verpasst, teuer bezahlen.«
»Ja, Sir«, sagte der Junge artig. Er brachte die Fäuste hoch und staunte einmal mehr, wie klein seine Hände waren im Vergleich zu den riesigen Pranken seines Vaters.
»Das Leben will einen Dollar«, sagte der Vater und schlug zu. Der Junge versuchte sich zu wehren, konnte aber keinen einzigen Treffer landen. Er blieb still, als sein Vater ihn bewusstlos schlug, und vergoss keine Träne.
Der Junge kam in seinem Bett zu sich, zitternd und von Schmerzen geplagt. Er wollte stöhnen, verkniff es sich aber, denn sein Vater saß neben ihm auf dem Bettrand, ein Koloss im Dunkeln, versilbert vom Mondlicht, das durch die Vorhänge sickerte.
»Ich bin das Leben, und das Leben will einen Dollar, Sohn«, sagte er.
»Ich werde jede Woche nach diesem Dollar fragen, bis du ihn mir gibst. Hast du verstanden?«
»Ja, Sir«, sagte der Junge durch die aufgeplatzten Lippen und gab sich Mühe, seine Stimme kräftig und deutlich klingen zu lassen. Sein Vater schaute aus dem Fenster, betrachtete den Mond, als hätten sie beide etwas zu bedauern. Vielleicht war es ja auch so.
»Weißt du, was Freude ist, Sohn?«
»Nein, Sir.«
»Freude ist alles, was nach dem Überleben kommt.«
Der Junge prägte sich das ein, legte es dort ab, wo er die großen und bedeutsamen Wahrheiten aufbewahrte. Dann wartete er, denn sein Vater war noch nicht fertig; er konnte es sehen.
»Wir haben in diesem Leben nur ein Ziel, und das ist der nächste Atemzug. Alles andere sind bloß Lügen. Man braucht Essen, man braucht einen Unterschlupf, man braucht einen Platz zum Schlafen und ein Loch zum Scheißen.«
Der große, schwere Mann blickte den Jungen durchdringend an. Der Junge hatte nie wirklich Angst vor seinem Vater gehabt. Bei all den brutalen und schmerzhaften Lektionen hatte er nie bezweifelt, dass der Mann, der ihm das Leben geschenkt hatte, es auch bewahren würde. Bis jetzt.
Diesmal aber war es anders, und der Junge hielt den Atem an und die Zunge im Zaum und wartete, gebannt vom Blick zweier Augen, die so hell brannten wie sterbende Sterne.
»Warum will ich einen Dollar?«, sagte der Vater. »Weil Geld die Grundlage von allem ist. Das Leben will einen Dollar, Sohn. Es will ihn jeden Tag, von heute an, bis du unter die Erde kommst. Wenn du nicht zahlen kannst, dann kannst du auch nicht essen. Wenn du nicht essen kannst, kannst du nicht leben. So einfach ist das. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja, Sir.«
»Ich bin mir da nicht so sicher, aber wir werden ja sehen. Das ist eine Prüfung. Ich gebe dir ein paar Versuche. Aber wenn du nicht bald einen Dollar anschleppst, schlag ich dich zu Brei.«
Nach einer schier endlosen Minute wandte der Vater sich ab. Er sah durch das Fenster zum Mond hinauf, und es schien beinahe so, als würde er mit ihm in ein stummes Zwiegespräch verfallen.
»Es gibt keinen Gott, Junge«, sagte er irgendwann. »Es gibt auch keine Seele. Es gibt nur Blut, Fleisch und Knochen. Du wurdest nicht von einer höheren Macht auf diese Erde gestellt. Du bist hier, weil ich mein Ding in deine Mutter gesteckt habe und dein Fleisch in ihr gewachsen ist. Dieses Fleisch muss gefüttert werden, und dazu brauchst du Dollars, und das ist alles, was wir sind und was wir immer sein werden.«
Der große Mann stand auf und ging ohne ein weiteres Wort. Der Junge lag auf dem Bett, betrachtete den Mond und dachte darüber nach, was sein Vater ihm gesagt hatte. Er stellte die Lehren seines Vaters nicht infrage, niemals, und nahm ihm die Schmerzen nicht übel.
Das war seit langer Zeit vorbei.
Der Junge erinnerte sich, dass er früher wütend und traurig gewesen war, doch inzwischen kam es ihm eher wie ein Traum vor, nicht wie eine echte Erinnerung. Diese Schwäche hatte sein Vater ihm mit den Fäusten ausgetrieben, so wie ein Hammer die Beulen aus einem Blech treibt. Sein Vater war sein Gott, und sein Gott lehrte ihn, wie man überlebte.
Er brauchte einen Dollar. Wenn er keinen Dollar anschleppte, würde er sterben. Das war alles, was zählte; nur darauf konzentrierte er sich. Als er einschlief, hatte er einen Plan. Der Junge war gerade in die fünfte Klasse gekommen.
Sein Vater betrachtete die Schule als etwas Notwendiges.
»Du brauchst Wissen, um das Fleisch zu füttern, Sohn«, sagte er, »und die Schule kostet nichts. Nur ein Schwachkopf würde dieses Angebot ablehnen.«
Nun saß der Junge in seiner Klasse und wartete, dass die Schulglocke klingelte. Er hatte keine Freunde und wollte auch keine. Andere Menschen waren Gegner. Am besten, man blieb für sich, und daran hielt er sich.
Der Junge beobachtete Martin O'Brian, den Schulrowdy, maß ihn mit kritischem Blick. O'Brian war groß und ein brutaler Schläger. Er hatte ausdruckslose braune Augen und dünne braune Haare, die immer so aussahen, als wären sie ihm zu Hause geschnitten worden. Er trug ausgelatschte Schuhe, und seine Jeans hatten Löcher an den Knien. Manchmal kam er mit einem blauen Auge zur Schule oder zuckte bei jedem Schritt zusammen.
Das waren dann immer schreckliche Tage für die Schwachen, denn an solchen Tagen war Martin O'Brian wie ein Raubtier. Er wurde von allen gefürchtet, sogar von den älteren Sechstklässlern, denn er war gnadenlos. Man konnte nie sicher sein, wie weit er gehen würde. Darin lag das Geheimnis seiner Macht. Groß und kräftig waren viele, aber deshalb waren sie noch lange nicht furchterregend. Martin O'Brian jedoch legte eine Art von Brutalität an den Tag, die Eltern einem Zehnjährigen gar nicht zutrauten (oder, wie im Fall von O'Brians Eltern, lieber ignorierten, da sie den Ursprung dieser Gewalttätigkeit bei sich selbst vermuteten).
Von besiegten, schluchzenden Gegnern verlangte er, dass sie die eigene Mutter eine Hure nannten. Gehorchte man nicht, schlug und trat er weiter zu. Einem seiner Gegner hatte er sogar den Arm gebrochen. Und was war die Folge? O'Brian wurde von den Lehrern getadelt, musste nachsitzen oder wurde vorübergehend vom Unterricht ausgeschlossen, mehr aber auch nicht.
Das bedeutete, dass er sich weiter austoben konnte wie ein Elefant unter Pygmäen. Die Erwachsenen sahen das Dorf brennen, weigerten sich aber, den Rauch zu riechen. Der Junge aber roch ihn. Und mehr als einmal hatte er gesehen, wie ein seltsames Leuchten in O'Brians Augen trat, wenn er sich mit einem Gegner befasste. Es waren die Augen eines Wahnsinnigen, der genoss, was er tat. Und sein verzerrtes, fiebriges Lächeln ließ ahnen, dass er viel über Schmerz und Tränen wusste, aber nichts über Fröhlichkeit und Lachen. Das war Martin O'Brian.
Deshalb war er die Lösung für das Problem des Jungen. Als die Glocke schellte, ging der Junge zu seinem Spind. Er legte seine Schulbücher hinein und ließ sie da; er hatte seine Hausaufgaben während des Unterrichts gemacht, damit er die Hände frei hatte. Nun nahm er aus dem Spind, was er am Morgen hineingelegt hatte, und ging durchs Schultor, ohne sich umzudrehen. Ein Stück weiter setzte er sich auf den Bordstein und wartete. Es war ein schöner Tag.
Die Sonne wärmte ihm die Schultern. Ein ungeduldiger Wind wehte, fuhr durch das Laub der nahen Bäume und streifte die Wangen des Jungen mit einem Kuss, bevor er weiterzog. Fast zehn Minuten vergingen, bis Martin O'Brian erschien.
Er pfiff vor sich hin, lächelte gedankenverloren und ballte unbewusst die Fäuste in permanentem Zorn. Der Junge sah Martin vorbeigehen. Dann stand er auf und folgte ihm in einigem Abstand. Martin O'Brian blieb fünf Minuten auf der Straße, ehe er in eine Seitengasse abbog. Noch zwei Querstraßen, und O'Brian wäre zu Hause. Jetzt oder nie.
Der Junge rannte los, den Gegenstand aus seinem Spind fest in der Hand. Sein Herz schlug langsam und gleichmäßig. Nach zehn Schritten hatte er O'Brian eingeholt und schwenkte den Arm. Der Junge hatte den Besenstiel vor dem Unterricht durchgebrochen.
Nun schlug er damit zu, drosch ihn gegen O'Brians linke Niere. Der Rowdy erstarrte; dann schrie er vor Schmerzen. O'Brian ging in die Knie und rang nach Atem. Der nächste Hieb brach ihm die Nase, der übernächste kostete ihn ein paar Zähne. Der Junge zerschlug O'Brian methodisch und mit erschreckender Ruhe, doch ohne Freude oder gar Genuss. Er war kein Sadist.
Die Schläge waren Mittel zum Zweck, nicht mehr und nicht weniger. Sie waren nötig, um Martin O'Brian zu zerbrechen, und der Junge würde erst aufhören, wenn dieses Ziel erreicht war. O'Brian fiel hin und krümmte sich, schützte Gesicht und Kopf mit den Armen, versuchte, dem Angreifer möglichst wenig Körperfläche zu bieten. Der Besenstiel sauste weiter herab. Wieder und wieder und wieder.
Auf Arme, Beine, Rücken, Hintern. Nicht fest genug, um Knochenbrüche oder innere Verletzungen zu hinterlassen, aber so schmerzhaft, dass O'Brian in ein hilfloses Bündel verwandelt wurde. Der Junge hörte auf, als O'Brian zu wimmern anfing.
»Sieh mich an, Arschloch.« O'Brian sagte nichts, blieb zusammengekrümmt liegen, schluchzte, heulte und furzte hörbar, als er sich in die Hose machte.
»Wenn du mich nicht anschaust und mir nicht zuhörst, schlag ich dich tot«, sagte der Junge. Das wirkte. Der Rowdy hob den Kopf, wobei sein ganzer Körper vor Angst und Schmerz zuckte.
Seine Augen waren groß und weit aufgerissen, sein sonst so überheblicher Blick war furchtsam und unstet. Der Rotz lief ihm aus der Nase, vermischt mit Blut und Tränen. An einem Wangenknochen wuchs bereits eine Beule, die Lippen würden genäht werden müssen, und die abgebrochenen Zähne mussten raus. Sein Atem ging stoßweise, als er versuchte, seine Hysterie in den Griff zu bekommen. »Martin.« Die Stimme des Jungen war beinahe gelangweilt, sein Blick leer und ausdruckslos. Er atmete ganz ruhig.
»Du wirst etwas für mich tun. Wenn du gehorchst, passiert dir nichts. Gehorchst du nicht, muss ich dich bestrafen. Verstehst du?« O'Brian starrte seinen Angreifer an, ohne zu antworten. Der Junge hob den Besenstiel.
»Ja! Ja!«, kreischte O'Brian. »Ich hab verstanden!«
Der Junge ließ den Besenstiel sinken. »Gut. Du wirst mir drei Dollar die Woche besorgen. Das wird dir nicht schwerfallen, denn ich hab dich beobachtet. Ich weiß, dass du klaust. Essensgeld, Taschengeld und so.«
»J-ja ...«, wimmerte O'Brian, am ganzen Körper zitternd. »Du brauchst also nur das zu tun, was du sowieso tust. Der einzige Unterschied ist, dass du mir drei Dollar die Woche gibst. Kapiert?«
O'Brian nickte. Er konnte nicht mehr sprechen, denn er klapperte zu sehr mit den blutigen Zähnen. »Gut. Und was ich dir jetzt sage, ist besonders wichtig, also pass gut auf. Wenn du jemals einem erzählst, was ich mit dir gemacht habe, oder von den drei Dollar, oder wenn du mir das Geld nicht gibst, komme ich eines Nachts zu euch nach Hause, bringe zuerst deine Eltern um und dann dich. Und es wird lange dauern und verdammt wehtun.«
O'Brian hörte diese Worte, und die Zeit stand still. Etwas Seltsames geschah: Alles wurde deutlicher und unwirklich zugleich. O'Brian sah die Gegenwart und die Zukunft und wurde von einer Erregung erfasst, die alle Furcht wegfegte: Die Sonne steht am wolkenlosen Himmel. Das Pflaster auf dem Bürgersteig ist warm, aber nicht heiß, und er ist nur fünf Minuten von zu Hause entfernt. Gleich wird er durch die Tür gehen, wird sich eine Cola und eins von Moms Plätzchen mit in sein Zimmer nehmen. Er wird sich die Tennisschuhe von den Füßen treten und das neuste Batman-Comic lesen.
Später wird Mom ihn zum Essen rufen (wahrscheinlich Hackbraten).
Dad wird wieder nicht dabei sein, denn er ist unterwegs und verkauft Sachen, und das bedeutet, er und Mom würden DIE FäUSTE nicht spüren (so nannte O'Brian seinen Vater insgeheim). Vielleicht schauen sie sich später zusammen »Happy Days« an, und Mom wird vielleicht sogar lachen. Martin O'Brian dachte an das alles, und für einen Augenblick hörte es sich albern an, was sein Angreifer soeben gesagt hatte. Umbringen? Blödsinn. Sie waren erst zehn!
Die Sonne schien, und ... Der Junge starrte ihn an. Und als O'Brian in die Augen seines Bezwingers blickte, wurde ihn etwas bewusst mit einer Klarheit, wie er es nie zuvor erlebt hatte. O'Brian war nicht besonders schlau, aber klug genug, dass er wusste, was er von sich selbst zu halten hatte.
Er tat anderen weh, beklaute sie, terrorisierte sie. Er brachte sie zum Schluchzen und zum Flehen, und er genoss es. Es verschaffte ihm Erleichterung.
DIE FäUSTE konnten ihm nicht erklären, warum er sich manchmal so gut fühlte, wenn andere weinten. Er war eine miese Ratte, doch er akzeptierte seine Verderbtheit genauso wie seine Unfähigkeit, etwas daran zu ändern.
Doch die Augen, die nun auf ihn hinunterstarrten, gehörten jemandem, der auf einer völlig anderen Stufe des Bösen stand. Es waren leere Augen, in denen weder Trauer noch Freude zu sehen war, keine unvergossenen Tränen und kein Lachen, das auf einen Anlass wartete.
Das war kein Junge, der nach Hause ging, um Batman zu lesen, und seine Augen hatten noch nie eine Folge von »Happy Days« gesehen. Diese Augen musterten ihn nun von oben bis unten, warteten mit unerbittlicher Festigkeit. Und in diesem Moment wusste O'Brian, dass es keine Rolle spielte, ob die Sonne schien und ob sie erst zehn waren. Er wusste, dass jedes Wort des Jungen eine Drohung gewesen war, die er wahrmachen würde. »Ich hab verstanden«, flüsterte O'Brian.
Die Augen starrten ihn an, suchten nach der Wahrheit, während O'Brian jämmerlich zu schluchzen anfing und sich nichts anderes auf der Welt wünschte, als dass sein Bezwinger ihm glaubte. Irgendwann nickte der Junge und warf den abgebrochenen Besenstiel zur Seite. »Erste Zahlung diesen Freitag«, sagte er. Dann drehte er sich um und ging. Der Junge kam zufrieden nach Hause, doch er pfiff nicht oder lächelte vor sich hin. Wozu auch?
Es brachte nichts; es war völlig sinnlos. Doch der Junge war beruhigt: Er hatte sein Problem gelöst und sogar vorgesorgt. Denn was, wenn sein Vater demnächst mehr wollte als einen Dollar? Dieser Gedanke war dem Jungen in der Nacht zuvor gekommen, als er stumm die Schmerzen ertrug und nachdachte. Er war zu dem Schluss gelangt, dass es sehr gut möglich war: Wenn das Leben einen Dollar wollte, konnten es dann nicht auch zwei sein? Oder drei?
Das Einfachste war, von denen zu nehmen, die hatten. Das aber warf ein weiteres Problem auf: Wie konnte man vermeiden, dass man geschnappt wurde?
Alles hatte auf Martin O'Brian als Lösung des Problems hingedeutet: Er würde die Arbeit tun und den ärger mit der Polizei kriegen, wenn es dazu käme. Und wenn O'Brian den Bullen von einem kleineren Jungen erzählte, der ihn, den gefürchteten Schläger, erpresste wer würde ihm glauben? Der Rest war eine Rechenaufgabe. Wie viel Schmerzen, wie viel Angst brachten wie viel Sicherheit? Menschliches Kalkül war die einfachste Mathematik überhaupt, wenn man den Bogen raus hatte. Und der Junge hatte ihn raus, das hatte er an diesem Tag erfahren. Nicht alles Böse ist Zufall. Manches wächst in einem finsteren Keller unter einer finsteren Sonne heran, gehegt und gepflegt von einem finsteren Gärtner mit einer Hacke aus Knochen.
Übersetzung: Angela Koonen und Dietmar Schmidt
Copyright © 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Der Stuhl war umgekippt, und die Handflächen des Jungen berührten den Boden dort, wo er seinen Sturz instinktiv abgefangen hatte. Ihm dröhnte der Schädel, und er schmeckte Blut.
»Steh auf, Sohn.« Dem Jungen wurde schwindlig. Er suchte nach Worten.
»Ja, Vater«, sagte er schließlich. Er war dankbar, so dankbar.
Der Junge war erst zehn, hatte aber schon ein bisschen von dem gelernt, wie die Welt funktionierte: Das Leben geht immer weiter und weiter mit dir, wenn du stark bist, und ohne dich, wenn du schwach bist. Sein Vater wollte, dass er stark war.
Konnte ein Vater seinem Sohn seine Liebe deutlicher zeigen? Der Junge mühte sich noch.
Er schwankte kurz, riss sich zusammen. Schwäche war das größte Vergehen, Feigheit das zweitgrößte.
»Du darfst niemals nur einstecken, Junge«, sagte sein Vater. »Du musst immer zurückschlagen. Immer. Wenn du einen Kampf zu verlieren drohst, lass den Gegner wenigstens für jeden Schlag, den er dir verpasst, teuer bezahlen.«
»Ja, Sir«, sagte der Junge artig. Er brachte die Fäuste hoch und staunte einmal mehr, wie klein seine Hände waren im Vergleich zu den riesigen Pranken seines Vaters.
»Das Leben will einen Dollar«, sagte der Vater und schlug zu. Der Junge versuchte sich zu wehren, konnte aber keinen einzigen Treffer landen. Er blieb still, als sein Vater ihn bewusstlos schlug, und vergoss keine Träne.
Der Junge kam in seinem Bett zu sich, zitternd und von Schmerzen geplagt. Er wollte stöhnen, verkniff es sich aber, denn sein Vater saß neben ihm auf dem Bettrand, ein Koloss im Dunkeln, versilbert vom Mondlicht, das durch die Vorhänge sickerte.
»Ich bin das Leben, und das Leben will einen Dollar, Sohn«, sagte er.
»Ich werde jede Woche nach diesem Dollar fragen, bis du ihn mir gibst. Hast du verstanden?«
»Ja, Sir«, sagte der Junge durch die aufgeplatzten Lippen und gab sich Mühe, seine Stimme kräftig und deutlich klingen zu lassen. Sein Vater schaute aus dem Fenster, betrachtete den Mond, als hätten sie beide etwas zu bedauern. Vielleicht war es ja auch so.
»Weißt du, was Freude ist, Sohn?«
»Nein, Sir.«
»Freude ist alles, was nach dem Überleben kommt.«
Der Junge prägte sich das ein, legte es dort ab, wo er die großen und bedeutsamen Wahrheiten aufbewahrte. Dann wartete er, denn sein Vater war noch nicht fertig; er konnte es sehen.
»Wir haben in diesem Leben nur ein Ziel, und das ist der nächste Atemzug. Alles andere sind bloß Lügen. Man braucht Essen, man braucht einen Unterschlupf, man braucht einen Platz zum Schlafen und ein Loch zum Scheißen.«
Der große, schwere Mann blickte den Jungen durchdringend an. Der Junge hatte nie wirklich Angst vor seinem Vater gehabt. Bei all den brutalen und schmerzhaften Lektionen hatte er nie bezweifelt, dass der Mann, der ihm das Leben geschenkt hatte, es auch bewahren würde. Bis jetzt.
Diesmal aber war es anders, und der Junge hielt den Atem an und die Zunge im Zaum und wartete, gebannt vom Blick zweier Augen, die so hell brannten wie sterbende Sterne.
»Warum will ich einen Dollar?«, sagte der Vater. »Weil Geld die Grundlage von allem ist. Das Leben will einen Dollar, Sohn. Es will ihn jeden Tag, von heute an, bis du unter die Erde kommst. Wenn du nicht zahlen kannst, dann kannst du auch nicht essen. Wenn du nicht essen kannst, kannst du nicht leben. So einfach ist das. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja, Sir.«
»Ich bin mir da nicht so sicher, aber wir werden ja sehen. Das ist eine Prüfung. Ich gebe dir ein paar Versuche. Aber wenn du nicht bald einen Dollar anschleppst, schlag ich dich zu Brei.«
Nach einer schier endlosen Minute wandte der Vater sich ab. Er sah durch das Fenster zum Mond hinauf, und es schien beinahe so, als würde er mit ihm in ein stummes Zwiegespräch verfallen.
»Es gibt keinen Gott, Junge«, sagte er irgendwann. »Es gibt auch keine Seele. Es gibt nur Blut, Fleisch und Knochen. Du wurdest nicht von einer höheren Macht auf diese Erde gestellt. Du bist hier, weil ich mein Ding in deine Mutter gesteckt habe und dein Fleisch in ihr gewachsen ist. Dieses Fleisch muss gefüttert werden, und dazu brauchst du Dollars, und das ist alles, was wir sind und was wir immer sein werden.«
Der große Mann stand auf und ging ohne ein weiteres Wort. Der Junge lag auf dem Bett, betrachtete den Mond und dachte darüber nach, was sein Vater ihm gesagt hatte. Er stellte die Lehren seines Vaters nicht infrage, niemals, und nahm ihm die Schmerzen nicht übel.
Das war seit langer Zeit vorbei.
Der Junge erinnerte sich, dass er früher wütend und traurig gewesen war, doch inzwischen kam es ihm eher wie ein Traum vor, nicht wie eine echte Erinnerung. Diese Schwäche hatte sein Vater ihm mit den Fäusten ausgetrieben, so wie ein Hammer die Beulen aus einem Blech treibt. Sein Vater war sein Gott, und sein Gott lehrte ihn, wie man überlebte.
Er brauchte einen Dollar. Wenn er keinen Dollar anschleppte, würde er sterben. Das war alles, was zählte; nur darauf konzentrierte er sich. Als er einschlief, hatte er einen Plan. Der Junge war gerade in die fünfte Klasse gekommen.
Sein Vater betrachtete die Schule als etwas Notwendiges.
»Du brauchst Wissen, um das Fleisch zu füttern, Sohn«, sagte er, »und die Schule kostet nichts. Nur ein Schwachkopf würde dieses Angebot ablehnen.«
Nun saß der Junge in seiner Klasse und wartete, dass die Schulglocke klingelte. Er hatte keine Freunde und wollte auch keine. Andere Menschen waren Gegner. Am besten, man blieb für sich, und daran hielt er sich.
Der Junge beobachtete Martin O'Brian, den Schulrowdy, maß ihn mit kritischem Blick. O'Brian war groß und ein brutaler Schläger. Er hatte ausdruckslose braune Augen und dünne braune Haare, die immer so aussahen, als wären sie ihm zu Hause geschnitten worden. Er trug ausgelatschte Schuhe, und seine Jeans hatten Löcher an den Knien. Manchmal kam er mit einem blauen Auge zur Schule oder zuckte bei jedem Schritt zusammen.
Das waren dann immer schreckliche Tage für die Schwachen, denn an solchen Tagen war Martin O'Brian wie ein Raubtier. Er wurde von allen gefürchtet, sogar von den älteren Sechstklässlern, denn er war gnadenlos. Man konnte nie sicher sein, wie weit er gehen würde. Darin lag das Geheimnis seiner Macht. Groß und kräftig waren viele, aber deshalb waren sie noch lange nicht furchterregend. Martin O'Brian jedoch legte eine Art von Brutalität an den Tag, die Eltern einem Zehnjährigen gar nicht zutrauten (oder, wie im Fall von O'Brians Eltern, lieber ignorierten, da sie den Ursprung dieser Gewalttätigkeit bei sich selbst vermuteten).
Von besiegten, schluchzenden Gegnern verlangte er, dass sie die eigene Mutter eine Hure nannten. Gehorchte man nicht, schlug und trat er weiter zu. Einem seiner Gegner hatte er sogar den Arm gebrochen. Und was war die Folge? O'Brian wurde von den Lehrern getadelt, musste nachsitzen oder wurde vorübergehend vom Unterricht ausgeschlossen, mehr aber auch nicht.
Das bedeutete, dass er sich weiter austoben konnte wie ein Elefant unter Pygmäen. Die Erwachsenen sahen das Dorf brennen, weigerten sich aber, den Rauch zu riechen. Der Junge aber roch ihn. Und mehr als einmal hatte er gesehen, wie ein seltsames Leuchten in O'Brians Augen trat, wenn er sich mit einem Gegner befasste. Es waren die Augen eines Wahnsinnigen, der genoss, was er tat. Und sein verzerrtes, fiebriges Lächeln ließ ahnen, dass er viel über Schmerz und Tränen wusste, aber nichts über Fröhlichkeit und Lachen. Das war Martin O'Brian.
Deshalb war er die Lösung für das Problem des Jungen. Als die Glocke schellte, ging der Junge zu seinem Spind. Er legte seine Schulbücher hinein und ließ sie da; er hatte seine Hausaufgaben während des Unterrichts gemacht, damit er die Hände frei hatte. Nun nahm er aus dem Spind, was er am Morgen hineingelegt hatte, und ging durchs Schultor, ohne sich umzudrehen. Ein Stück weiter setzte er sich auf den Bordstein und wartete. Es war ein schöner Tag.
Die Sonne wärmte ihm die Schultern. Ein ungeduldiger Wind wehte, fuhr durch das Laub der nahen Bäume und streifte die Wangen des Jungen mit einem Kuss, bevor er weiterzog. Fast zehn Minuten vergingen, bis Martin O'Brian erschien.
Er pfiff vor sich hin, lächelte gedankenverloren und ballte unbewusst die Fäuste in permanentem Zorn. Der Junge sah Martin vorbeigehen. Dann stand er auf und folgte ihm in einigem Abstand. Martin O'Brian blieb fünf Minuten auf der Straße, ehe er in eine Seitengasse abbog. Noch zwei Querstraßen, und O'Brian wäre zu Hause. Jetzt oder nie.
Der Junge rannte los, den Gegenstand aus seinem Spind fest in der Hand. Sein Herz schlug langsam und gleichmäßig. Nach zehn Schritten hatte er O'Brian eingeholt und schwenkte den Arm. Der Junge hatte den Besenstiel vor dem Unterricht durchgebrochen.
Nun schlug er damit zu, drosch ihn gegen O'Brians linke Niere. Der Rowdy erstarrte; dann schrie er vor Schmerzen. O'Brian ging in die Knie und rang nach Atem. Der nächste Hieb brach ihm die Nase, der übernächste kostete ihn ein paar Zähne. Der Junge zerschlug O'Brian methodisch und mit erschreckender Ruhe, doch ohne Freude oder gar Genuss. Er war kein Sadist.
Die Schläge waren Mittel zum Zweck, nicht mehr und nicht weniger. Sie waren nötig, um Martin O'Brian zu zerbrechen, und der Junge würde erst aufhören, wenn dieses Ziel erreicht war. O'Brian fiel hin und krümmte sich, schützte Gesicht und Kopf mit den Armen, versuchte, dem Angreifer möglichst wenig Körperfläche zu bieten. Der Besenstiel sauste weiter herab. Wieder und wieder und wieder.
Auf Arme, Beine, Rücken, Hintern. Nicht fest genug, um Knochenbrüche oder innere Verletzungen zu hinterlassen, aber so schmerzhaft, dass O'Brian in ein hilfloses Bündel verwandelt wurde. Der Junge hörte auf, als O'Brian zu wimmern anfing.
»Sieh mich an, Arschloch.« O'Brian sagte nichts, blieb zusammengekrümmt liegen, schluchzte, heulte und furzte hörbar, als er sich in die Hose machte.
»Wenn du mich nicht anschaust und mir nicht zuhörst, schlag ich dich tot«, sagte der Junge. Das wirkte. Der Rowdy hob den Kopf, wobei sein ganzer Körper vor Angst und Schmerz zuckte.
Seine Augen waren groß und weit aufgerissen, sein sonst so überheblicher Blick war furchtsam und unstet. Der Rotz lief ihm aus der Nase, vermischt mit Blut und Tränen. An einem Wangenknochen wuchs bereits eine Beule, die Lippen würden genäht werden müssen, und die abgebrochenen Zähne mussten raus. Sein Atem ging stoßweise, als er versuchte, seine Hysterie in den Griff zu bekommen. »Martin.« Die Stimme des Jungen war beinahe gelangweilt, sein Blick leer und ausdruckslos. Er atmete ganz ruhig.
»Du wirst etwas für mich tun. Wenn du gehorchst, passiert dir nichts. Gehorchst du nicht, muss ich dich bestrafen. Verstehst du?« O'Brian starrte seinen Angreifer an, ohne zu antworten. Der Junge hob den Besenstiel.
»Ja! Ja!«, kreischte O'Brian. »Ich hab verstanden!«
Der Junge ließ den Besenstiel sinken. »Gut. Du wirst mir drei Dollar die Woche besorgen. Das wird dir nicht schwerfallen, denn ich hab dich beobachtet. Ich weiß, dass du klaust. Essensgeld, Taschengeld und so.«
»J-ja ...«, wimmerte O'Brian, am ganzen Körper zitternd. »Du brauchst also nur das zu tun, was du sowieso tust. Der einzige Unterschied ist, dass du mir drei Dollar die Woche gibst. Kapiert?«
O'Brian nickte. Er konnte nicht mehr sprechen, denn er klapperte zu sehr mit den blutigen Zähnen. »Gut. Und was ich dir jetzt sage, ist besonders wichtig, also pass gut auf. Wenn du jemals einem erzählst, was ich mit dir gemacht habe, oder von den drei Dollar, oder wenn du mir das Geld nicht gibst, komme ich eines Nachts zu euch nach Hause, bringe zuerst deine Eltern um und dann dich. Und es wird lange dauern und verdammt wehtun.«
O'Brian hörte diese Worte, und die Zeit stand still. Etwas Seltsames geschah: Alles wurde deutlicher und unwirklich zugleich. O'Brian sah die Gegenwart und die Zukunft und wurde von einer Erregung erfasst, die alle Furcht wegfegte: Die Sonne steht am wolkenlosen Himmel. Das Pflaster auf dem Bürgersteig ist warm, aber nicht heiß, und er ist nur fünf Minuten von zu Hause entfernt. Gleich wird er durch die Tür gehen, wird sich eine Cola und eins von Moms Plätzchen mit in sein Zimmer nehmen. Er wird sich die Tennisschuhe von den Füßen treten und das neuste Batman-Comic lesen.
Später wird Mom ihn zum Essen rufen (wahrscheinlich Hackbraten).
Dad wird wieder nicht dabei sein, denn er ist unterwegs und verkauft Sachen, und das bedeutet, er und Mom würden DIE FäUSTE nicht spüren (so nannte O'Brian seinen Vater insgeheim). Vielleicht schauen sie sich später zusammen »Happy Days« an, und Mom wird vielleicht sogar lachen. Martin O'Brian dachte an das alles, und für einen Augenblick hörte es sich albern an, was sein Angreifer soeben gesagt hatte. Umbringen? Blödsinn. Sie waren erst zehn!
Die Sonne schien, und ... Der Junge starrte ihn an. Und als O'Brian in die Augen seines Bezwingers blickte, wurde ihn etwas bewusst mit einer Klarheit, wie er es nie zuvor erlebt hatte. O'Brian war nicht besonders schlau, aber klug genug, dass er wusste, was er von sich selbst zu halten hatte.
Er tat anderen weh, beklaute sie, terrorisierte sie. Er brachte sie zum Schluchzen und zum Flehen, und er genoss es. Es verschaffte ihm Erleichterung.
DIE FäUSTE konnten ihm nicht erklären, warum er sich manchmal so gut fühlte, wenn andere weinten. Er war eine miese Ratte, doch er akzeptierte seine Verderbtheit genauso wie seine Unfähigkeit, etwas daran zu ändern.
Doch die Augen, die nun auf ihn hinunterstarrten, gehörten jemandem, der auf einer völlig anderen Stufe des Bösen stand. Es waren leere Augen, in denen weder Trauer noch Freude zu sehen war, keine unvergossenen Tränen und kein Lachen, das auf einen Anlass wartete.
Das war kein Junge, der nach Hause ging, um Batman zu lesen, und seine Augen hatten noch nie eine Folge von »Happy Days« gesehen. Diese Augen musterten ihn nun von oben bis unten, warteten mit unerbittlicher Festigkeit. Und in diesem Moment wusste O'Brian, dass es keine Rolle spielte, ob die Sonne schien und ob sie erst zehn waren. Er wusste, dass jedes Wort des Jungen eine Drohung gewesen war, die er wahrmachen würde. »Ich hab verstanden«, flüsterte O'Brian.
Die Augen starrten ihn an, suchten nach der Wahrheit, während O'Brian jämmerlich zu schluchzen anfing und sich nichts anderes auf der Welt wünschte, als dass sein Bezwinger ihm glaubte. Irgendwann nickte der Junge und warf den abgebrochenen Besenstiel zur Seite. »Erste Zahlung diesen Freitag«, sagte er. Dann drehte er sich um und ging. Der Junge kam zufrieden nach Hause, doch er pfiff nicht oder lächelte vor sich hin. Wozu auch?
Es brachte nichts; es war völlig sinnlos. Doch der Junge war beruhigt: Er hatte sein Problem gelöst und sogar vorgesorgt. Denn was, wenn sein Vater demnächst mehr wollte als einen Dollar? Dieser Gedanke war dem Jungen in der Nacht zuvor gekommen, als er stumm die Schmerzen ertrug und nachdachte. Er war zu dem Schluss gelangt, dass es sehr gut möglich war: Wenn das Leben einen Dollar wollte, konnten es dann nicht auch zwei sein? Oder drei?
Das Einfachste war, von denen zu nehmen, die hatten. Das aber warf ein weiteres Problem auf: Wie konnte man vermeiden, dass man geschnappt wurde?
Alles hatte auf Martin O'Brian als Lösung des Problems hingedeutet: Er würde die Arbeit tun und den ärger mit der Polizei kriegen, wenn es dazu käme. Und wenn O'Brian den Bullen von einem kleineren Jungen erzählte, der ihn, den gefürchteten Schläger, erpresste wer würde ihm glauben? Der Rest war eine Rechenaufgabe. Wie viel Schmerzen, wie viel Angst brachten wie viel Sicherheit? Menschliches Kalkül war die einfachste Mathematik überhaupt, wenn man den Bogen raus hatte. Und der Junge hatte ihn raus, das hatte er an diesem Tag erfahren. Nicht alles Böse ist Zufall. Manches wächst in einem finsteren Keller unter einer finsteren Sonne heran, gehegt und gepflegt von einem finsteren Gärtner mit einer Hacke aus Knochen.
Übersetzung: Angela Koonen und Dietmar Schmidt
Copyright © 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Cody McFadyen
Cody Mcfadyen, geboren 1968, unternahm als junger Mann mehrere Weltreisen und arbeitete danach in den unterschiedlichsten Branchen. Der Autor ist verheiratet, Vater einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Kalifornien. "Die Blutlinie" war sein erster Roman und sorgte weltweit für Aufsehen. In Deutschland war der Thriller wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Mit "Der Todeskünstler" hat er die außergewöhnliche Thriller-Reihe um Smoky Barrett fortgesetzt. "Das Böse in uns" ist sein dritter Roman mit der Protagonistin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Cody McFadyen
- 2010, 459 Seiten, Maße: 14,6 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Koonen, Angela; Schmidt, Dietmar
- Übersetzer: Angela Koonen, Dietmar Schmidt
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785723903
- ISBN-13: 9783785723906
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