Nomadentochter
Fast 20 Jahre ist es her, seit Waris Dirie ihre Familie bei der Flucht aus Somalia zurücklassen musste. Und immer war sie im Ungewissen, ob Eltern und Geschwister in dem von Krieg und Hunger gepeinigten Land noch lebten. Der Besuch in ihrer Heimat...
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Fast 20 Jahre ist es her, seit Waris Dirie ihre Familie bei der Flucht aus Somalia zurücklassen musste. Und immer war sie im Ungewissen, ob Eltern und Geschwister in dem von Krieg und Hunger gepeinigten Land noch lebten. Der Besuch in ihrer Heimat wird für Waris zur Herausforderung.
Lange war es ihr nicht möglich, darüber zu sprechen, was ihr in jungen Jahren zugestoßen war. Doch nach und nach reifte in Waris Dirie der Entschluss, ihre Leiden vor der Öffentlichkeit nicht mehr länger zu verheimlichen. Sie schrieb ihr Aufsehen erregendes erstes Buch "Wüstenblume", das zu einem riesigen Bestseller in 21 Ländern wurde und auch in Deutschland über 100 Wochen auf der Bestsellerliste stand. Heute lebt sie mit ihrem kleinen Sohn in New York und engagiert sich als Sonderbotschafterin der UNO gegen die Beschneidung von Frauen, die noch heute in 28 Ländern der Welt praktiziert wird.
Die Nomadin, die zu den erfolgreichsten Models der Welt gehört, wurde zur Anwältin von Millionen schweigender Opfer.
Nomadentochter von Waris Dirie
LESEPROBE
In Somalia sindTeufel weiß. Wir nennen sie djinn, und sie lauern überall. Einfach überall! Siekriechen in Menschen und Tiere, verursachen Krankheiten, spielen ihnen Streicheund machen sie verrückt. Wenn du etwas irgendwo hinstellst und es ist aufeinmal nicht mehr da, dann weißt du, ein djinn steckt dahinter. Meine Mutterhat ihnen immer zugerufen: "He! Teufel! Geh von meinen Sachen weg! Siegehören dir nicht, du bist hier nicht erwünscht!" Dann hat sie mirgezeigt, dass man sich abwenden muss und am besten etwas anderes tut; wenn derdjinn weg ist, findet man das Verlorene bald schon wieder. Meine Mutter wusstealles über djinns und wie man sie loswird. Sie kannte viele Zaubersprüche undRezepte, mit welchen Blättern oder Rinden man den djinn vertreiben konnte, wennman krank war. Sie sammelte Pflanzen, kochte Wurzeln oder gab sie uns roh zuessen. Besondere Blätter und Pilze verwahrte sie in Lederbeuteln. Im Rauch undin den Sternen konnte sie lesen und wusste stets den richtigen Zeitpunkt. Wegenihrer magischen Kräfte wurde sie hoch geachtet, und die Leute brachten krankeTiere zu ihr - ich erinnere mich gut daran aus der Zeit, als ich ein kleinesMädchen war.
Ich wurde in der somalischen Wüste geboren, und ich weiß nicht, wie vieleKinder meine Mutter auf die Welt gebracht hat. Denn viele Babys starben gleichnach der Geburt. Wie die meisten Somalis besaßen wir Kamele und Ziegen undlebten von deren Milch. Traditionsgemäß hüteten meine Brüder eher die Kamele,und wir Mädchen kümmerten uns um die kleineren Tiere.
Eines Tages, als ich seit ungefähr acht gu, also Regenzeiten, auf der Welt war,hütete ich, nicht weit vom Lager meiner Familie entfernt, unsere Ziegen. Andiesem Morgen war ich über die steilen, sandigen Ufer des tuug, des trockenenFlussbetts, zu einem Platz geklettert, den ich am Tag zuvor entdeckt hatte.Dort gab es frisches Gras und ein paar Akazienbäume. Die größeren Ziegenrichteten sich auf den Hinterbeinen auf und zogen die Äste herunter, sodass siean den unteren Blättern knabbern konnten. In der Regenzeit weiden die Ziegenrings um das Lager, ohne dass man viel Scherereien mit ihnen hat; aber währendder Dürreperiode muss man Grasflecken finden und auf sie aufpassen, weil dannauch die anderen Tiere hungrig sind. An diesem heißen Nachmittag saß ich imSchatten, sang und spielte mit den Puppen, die ich mir aus Stöckchen gebastelthatte. Seit eh und je wusste ich, was ich werden wollte. Schon als kleines Kindhatte ich feste Vorstellungen. Auch mein künftiger Mann stand mir klar vorAugen. Ich spielte, dass ich ein Haus besaß. Kleine Steine waren meine Ziegenund größere waren Kamele und Rinder. Mein Haus war groß und rund. Mit nassemSand ging es am besten, weil ich es dann genauso formen konnte wie unsere Hütte- nur dass meines besser war, weil ich es selbst gestalten konnte. Meine Mutterbaute unser Haus aus Matten, die sie aus langen Gräsern flocht, sodass esschnell abgebaut und auf die Kamele verladen werden konnte, wenn wirweiterzogen. Mein Spielhaus war so sicher und schön wie ihres, mit einem Ehemannund Kindern. Wir lebten weit weg von meiner Familie.
Unter der Mittagssonne schien alles zu erstarren. Ich konnte in beideRichtungen des sandigen tuug schauen. Am Abend zuvor hatte ich auf dem Wegzurück ins Lager die bösen gelben Augen eines Hyänenrudels gesehen, die michund die Ziegen beobachteten. Obwohl mein Vater gesagt hatte, sie kämen nichtnäher, solange ich da wäre, hatte ich Angst. Sie sind gerissen, und wenn mansie nicht scharf im Auge behält, dann schnappen sie sich eine der Ziegen, währendman auf die anderen achtet. Man muss sich groß und furchtlos geben, denn wennsie Angst spüren, lassen sie einen nicht in Ruhe.
Whitey, die Lieblingsziege meiner Mutter, schaute hoch und witterte, deshalbsah auch ich mich um. Ein Mann kam am Rand des tuug entlang und zog an einemgeflochtenen Strick ein Kamel hinter sich her. Für gewöhnlich folgen Kameleeinem Leittier, das eine hölzerne Glocke trägt. Sie bimmelt hohl, und dieanderen gehen einfach einzeln hinterher, in einer Reihe wie Elefanten - wobeisie sich am Schwanz des Vorgängers festhalten. Dieses ulkige Kamel zuckte unddrehte sich auf eine merkwürdige Art zu einer Seite. Es wehrte sich nicht,sondern zitterte und hatte Schaum vor dem Maul. Ab und zu blieb es stehen. DasTier war zweifellos von einem djinn besessen, ein Teufel steckte in seinemLeib. Ich sah zu, wie der Mann das arme Ding am Hang entlang hinter sichherzerrte. Plötzlich brach es zusammen. Er schrie und brüllte es an, es sollewieder aufstehen. Wild schlug er mit einem Stock auf seinen Bauch ein, aber dasKamel lag nur heftig zuckend im Sand. Ich glaubte zu erkennen, dass es einehahl, ein schwangeres Weibchen war, ein wertvolles Tier. Der Mann setzte sichhin und barg den Kopf in den Händen. Es überraschte mich, einen erwachsenenMann im Schmutz sitzen zu sehen. Nomaden bleiben immer stehen, und wenn siesich ausruhen, heben sie einen Fuß an den anderen Schenkel und hängen die Armeüber einen Stock über den Schultern. Manchmal hocken wir Frauen uns hin, aberMänner sitzen niemals auf der Erde. Auch geschlagen hatte hier noch keiner einKamel. In meiner Familie erachtete man Kamele als wertvoll. Mein Vater undmeine Onkel waren streng mit unserer Herde; aber sie schlugen die Tiere nurwegen Eigensinn und Ungehorsam. Kamele können gemein sein, und ich hatte frühgelernt, mich vor ihren Tritten und Bissen in Acht zu nehmen.
Ich versteckte mich, damit er nicht merkte, dass ich ihn beobachtete.Vielleicht würde er auch mich schlagen. Am liebsten wäre ich nach Hause geranntund hätte es meiner Mutter erzählt; aber ich wagte es nicht, die Ziegen alleinzu lassen. Mein Vater würde außer sich sein vor Wut und mich verprügeln, wenndie Tiere davonliefen oder eine Hyäne sich eins schnappte. Also stand ich stillwie eine Babygazelle hinter einem Busch und wagte kaum zu atmen.
Schließlich hörte die hahl auf zu zittern. Sie blickte sich einen Moment um undschien erst jetzt zu merken, dass sie auf dem Boden lag. Zuckend zog sie ihreBeine unter den Bauch und erhob sich. Zwar war sie so anmutig wie die meistenKamele, aber Schaum und Geifer tropften ihr aus dem Maul. Auch der Fremde standauf - fast so, als hätte er das schon viele Male mitgemacht - und zerrte sieweiter. Sie schleppten sich den tuug hinunter und an der anderen Seite wiederhoch, auf unser Lager zu. Bestimmt machte er sich große Sorgen um sein krankesKamel; denn wenn es starb, würde er das Fohlen auch verlieren.
Länger als ich denken konnte, war es heiß und trocken gewesen. Ich wusste, dassmeine Eltern sich Sorgen machten, obwohl sie nichts sagten. Wir hatten nichtviel Wasser, weil auch die Wasserlöcher im tuug immer mehr austrockneten. Schonein paar Mal waren wir weitergezogen, um Wasser für die Tiere zu finden. In derNacht war ein neu geborenes Kamelfohlen gestorben. Mein jüngerer Bruder, denwir Alter Mann nannten, weil seine Haare sehr früh weiß wurden, hatte es amMorgen gefunden. Alter Mann schien immer alles vor den anderen zu wissen,obwohl er noch so klein war. Mein Vater stubste das winzige Ding an, das nuraus Beinen und Hals bestand, und blickte zum wolkenlosen Himmel. Wenn estrocken war, sah er immer zum Himmel und betete zu Allah um Regen. Wir konntendas Fleisch nicht essen - weil es für uns als Muslime unrein ist, ein Tier zuessen, das nicht auf die richtige Art geschlachtet wurde. Die Geier kreistenschon so niedrig, dass ihre langen Flügel Schatten warfen, wenn sie über unsereKöpfe flogen. Ich erinnere mich noch gut an das Geräusch des heißen Windes unddas leise Murmeln meiner Mutter, die betete.
Meine Mutter versäumte ihre täglichen Gebete nie, ganz gleich, wie verzweifeltdie Lage war. Wenn man krank ist, muss man nur dreimal am Tag beten stattfünfmal, und man muss sich auch nicht zu Boden werfen; aber meine Mutter beteteunbeirrt immer fünfmal. Bevor Moslems beten, waschen sie sich, damit sie sauberund rein sind, wenn sie mit Gott sprechen. Allah, möge diese Waschung meineSeele reinigen... Wir hatten kaum genug Wasser, um am Leben zu bleiben oder dieTiere zu tränken, also gab es keines zum Waschen. Wenn Mama kein Wasser fand,wusch sie sich mit Sand. Fünfmal am Tag grub sie den Sand unter einem Buschaus, an einer Stelle, über die noch niemand gelaufen war. Sie wusch sich damitdie Hände wie mit Wasser, rieb es sich durchs Gesicht und über die Füße. Dannrollte sie ihre gewebte Gebetsmatte nach Osten aus, in Richtung der heiligenStadt Mekka, kniete nieder und betete. Es gibt keinen Gott außer Allah, undMohammed ist sein Prophet... Da wir keine Uhr besaßen, teilten wir die Zeitdurch die täglichen fünf Gebete ein.
Wenn meine Mutter mit ihrer religiösen Verrichtung fertig war, rollte sie ihreMatte wieder ein und legte sie in unsere runde Hütte. Sie baute sie selbst mitden langen Wurzeln des galol-Baums. Die biegsamen Wurzeln grub sie aus und bogsie zu einer Kuppel. Darüber kamen die Matten, die sie aus Gräsern wob. MeineMutter war diejenige, die die ganze Arbeit in der Familie erledigte. Sie kochtedas Essen, nährte die Säuglinge, baute das Haus, wob die Matten, auf denen wirschliefen, und fertigte Körbe und Holzlöffel an. Sie war die Köchin, dieBaumeisterin, die Ärztin und meine einzige Lehrerin. Meine Mutter sagte nichtszu dem toten Kamelfohlen, sie fuhr einfach in ihrem Tagwerk fort. "Gotthelfe uns, dass die Ziegen heute Morgen Milch geben", sagte sie. Das tatsie jeden Tag, wenn wir die Ziegen und die Kamele molken. Meine Mutter konntegut mit Tieren umgehen - sie blieben ganz ruhig stehen, wenn sie sie berührte.Ich musste immer den Kopf des Tieres zwischen meine Beine in mein Kleid steckenund mich über seinen Rücken beugen, damit es nicht austrat oder in den Eimerschiss, wenn ich versuchte, es zu melken. Aber alle Tiere liebten es, neben ihrzu stehen und ihre seidigen Zitzen von ihr berühren zu lassen. Mutter war immerzu Scherzen aufgelegt und sang bei der Arbeit.
Whitey hatte an diesem Morgen die meiste Milch gegeben, und Mutter teilte siefür uns auf. Sie blickte meinem Vater direkt in die Augen, was sie selten tat,und als sie ihm ihre Schüssel Milch reichte, hielt sie seine Hände einen Momentlang fest. Mein Papa war so stark, dass er unsere größte Ziege hochhebenkonnte. Er war ein Darod. Die Darod sind der größte und stärkste Stamm in ganzSomalia. Mit Spitznamen heißen die Darod La'Bah, Löwen. Er war größer als jederandere Mann, den ich kannte, und seine Augen waren so scharf, dass er schon vonweitem eine weibliche Gazelle von einer männlichen unterscheiden konnte. Ichahnte, dass er gut aussah, denn die Frauen gaben sich immer große Mühe, seineAufmerksamkeit zu gewinnen.
Der Fremde führte das Kamel in unser Lager. Leider konnte ich ja die Ziegennicht allein lassen; aber ich wollte schrecklich gerne wissen, was mit demGriesgram und seinem merkwürdigen Kamel los war. Plötzlich sah ich Alter Mannam anderen Ufer des tuug entlangschlendern. Er sammelte Holz.
"Komm her, calli", rief ich ihm zu und winkte. Warum sammelte er wohljetzt Brennholz?
"Was ist los?", schrie ich.
"Mutter will ein größeres Feuer", erklärte er. "Ein Vetter hatein krankes Kamel gebracht, damit sie es wieder gesund macht." Alter Mannhatte ein süßes Gesicht unter seinen verblüffenden weißen Haaren, und mitseinen runden, weihrauchfarbenen Augen sah er aus wie meine Mutter, die immerdie Schönste in unserer Familie gewesen war. Allerdings durfte man das nie sagen;sobald man es aussprach, würde ihm etwas Schlimmes zustoßen.
"Alter Mann", schrie ich. "Komm her, du darfst auf die Ziegenaufpassen! Ich muss zu Mama." Mein Bruder zögerte, aber er wollte schonlängst alt genug sein, um auf die Ziegen aufpassen zu können. Bevor Jungen dieangesehenste Aufgabe übernehmen, die Kamele zu hüten, kümmern sie sich um dieZiegen und Schafe. Normalerweise ließ ich ihn nicht in ihre Nähe undbehauptete, er würde ihnen Angst einjagen. Aber heute wollte ich unbedingtwissen, was los war, und riskierte es sogar, verprügelt zu werden - falls AlterMann eine der Ziegen verlor.
Damit niemand merkte, dass ich die Ziegen im Stich gelassen hatte, schlich ichvorsichtig auf unsere Hütte zu. Es kümmerte sich jedoch keiner um ein weiteresmageres Kind, das herumlief. Ich roch den Rauch des Feuers und den Duft vonTee. Meine ältere Schwester schenkte ihn gerade in eins von unseren zweiGläsern. Sie hielt die Kanne hoch und goss den Tee in einem langen, dünnenStrahl ein, damit der heiße, würzige Duft in die Luft stieg. Dann servierte siedas Getränk meinem Vater und dem Fremden. Sie sah ihnen dabei nicht insGesicht, sondern blickte wie eine richtige Frau zu Boden. Ich fragte mich,warum nicht Mama den beiden Männern den Tee servierte.
Das trächtige Kamel stand neben unserer Hütte und begann schon wieder zu zuckenund zu zittern. Es hatte einen richtigen Anfall! Meine Mutter hockte daneben indem langen Nachmittagsschatten, den unsere Hütte warf, und beobachtete es. Sieverfolgte jede Bewegung so aufmerksam, als wolle sie das Kamel kaufen. SeinFell war hellbraun, wie eine Löwenmähne, und es hatte einen ganz dicken Bauch.Das Fell wies Risse auf, und die Knie waren blutig vom Hinfallen. Der Anblickschien Mama zu erschrecken, aber sie hatte keine Angst. Leise schlich ich michhinter sie. Ich wollte auch eine Heilerin werden und genau wissen, was sie tat.
Meine Mutter blickte zu den Männern hinüber, die Tee tranken. Der Fremdestellte sich als entfernter Vetter meines Vaters heraus. Er war nicht so groß wiemein Vater, hatte einen seltsam geformten Kopf und einen langen Hals wie einStrauß. Sie beobachtete ihn, wie er seinen Tee trank und mit meinem Vater überirgendeine politische Partei und die Kämpfe im äthiopischen Ogaden redete, umihn als Mensch einzuschätzen. Dann betrachtete Mutter das getrocknete Kamelblutund die Haare am Ende seines Stocks. Sie stand auf und trat langsam zu demKamel, wobei sie beruhigende Laute von sich gab. "Allah bah wain, Gott istgroß", murmelte sie. Sie legte ihre Hand an die Backe des Kamels und fuhrganz zart mit den Fingerspitzen über den langen Hals und die Schulter bis zumBauch. Das Kamel wich nicht zurück, aber es zuckte die ganze Zeit. Mama tasteteden Bauch ab, um das neue Leben zu spüren. Die Stute war so dünn, dass trotzder Trächtigkeit ihre Rippen hervorstanden. Jetzt legte Mama ihr Ohr an denBauch, um dem Herzschlag des Fohlens zu lauschen. Dann trat sie langsam zurückund zerrieb etwas von dem Schaum, der aus den schwarzen Lippen des Tierestroff, zwischen den Fingern. Sie öffnete das Maul des Kamels und sah sich diedicke Zunge und die Zähne an. Als das Tier pisste, nahm sie ein wenig von demnassen Sand und roch daran. Anschließend wartete sie auf den richtigenZeitpunkt, weil sie die Sonne beobachtete, die langsam hinter den fernen Hügelnversank. Sie kannte den Lauf der Sterne und wusste, wann die gu-Regen in diehagaa oder Trockenzeit übergingen. Immer wusste sie, wann etwas getan werdenmusste und wann es besser war, zu warten.
Mama ergriff den geflochtenen Strick und zog daran, um das Kamel zumfaardisimo, zum Hinsetzen, zu bewegen. Ich sah, wie sich die langen Ohren nachder Stimme meiner Mutter ausrichteten, als ob sich das Tier nach ihr sehnte.Schwerfällig setzte es sich hin. Zuerst kniete es sich auf die Vorderbeine,dann knickten die Hinterläufe ein, und es zog die Beine unter sich. Kamelenwird beigebracht, sich hinzuknien, weil sie zu hoch sind, um stehend beladen zuwerden. Mama hockte sich hin, sodass ihr Gesicht genau in Augenhöhe des Tiereswar.
Im Lager wurde es still. Die Männer hörten auf zu reden, die Frauen hörten auf,mit den Töpfen zu klappern. Selbst der Rauch des Feuers schien innezuhalten.Mama umschloss den Kopf des Kamels mit beiden Händen, als sei es ein Kind. Sieblickte ihm direkt in die Augen - dann gab sie ihm sanfte Klapse."Verschwinde, du Teufel, verschwinde von hier! Du bist nichterwünscht!" Irgendwie wusste sie genau, wie viele Klapse sie ihm gebenmusste und wie fest sie sein mussten, damit der djinn entwich. Dann nahm sie dasLederamulett mit den heiligen Worten des Koran, das sie um den Hals trug, undlegte es dem Tier an die Nase, dem Eingang zur Seele. Das Kamel hielt völligstill - plötzlich hörte das Zittern auf, und es käute wieder, wie alle Kamelees tun, wenn sie sich ausruhen.
Mama stand auf und bedeckte ihr Gesicht mit ihrem chalmut, dem Schal, bevor siezu meinem Vater und seinem Vetter trat. Mit gesenktem Blick sagte sie ihnen,ein böser Geist, ein djinn, sei in das Kamel gefahren und habe die Anfälleverursacht. "Sie wird bald ihr Fohlen zur Welt bringen", fuhr Mamafort, "noch bevor der Mond dunkel ist. Der djinn, der die Anfälleverursacht hat, ist jetzt weg - aber die Kamelstute braucht Ruhe undzusätzliches Futter und Wasser, bis sie geworfen hat. Das wird ihr helfen, dendjinn abzuwehren, wenn er zurückkommt."
©VERLAGSGRUPPE RANDOM HOUSE
Übersetzung:Theda Krohm-Linke
Autoren-Porträt von Waris Dirie
Waris Dirie wuchs in einer Nomadenfamilie in der somalischenWüste auf. Im Alter von fünf Jahren erlebte sie die Qualen der Beschneidung -ein Ritual, an dessen Folgen ihre Schwester und zwei Cousinen gestorben sind.Mit vierzehn floh sie zu Verwandten nach Mogadischu und arbeitete dann vierJahre als Hausmädchen bei ihrem Onkel in London. Mit achtzehn wurde Waris Dirie als Model entdeckt.Lange war es ihr nicht möglich, darüber zu sprechen, was ihr in jungen Jahrenzugestoßen war. Doch nach und nach reifte in Waris Dirie der Entschluss, ihre Leiden vor der Öffentlichkeitnicht mehr länger zu verheimlichen. Sie schrieb ihr Aufsehen erregendes erstesBuch Wüstenblume , das zu einem riesigen Bestseller in21 Ländern wurde und auch in Deutschland über 100 Wochen auf derBestsellerliste stand. Heute lebt sie mit ihrem kleinen Sohn in New York undengagiert sich als Sonderbotschafterin der UNO gegen die Beschneidung vonFrauen, die noch heute in 28 Ländern der Welt praktiziert wird.
Interview mit Waris Dirie
In Deutschland war"Wüstenblume" über 100 Wochen auf den Bestseller-Listen. Aber IhrBuch war mehr als ein Bestseller. Es hat die Menschen, die es gelesen haben,verändert. Hat es auch Sie verändert, während Sie daran gearbeitet haben?
Ja, dieArbeit an meinem Buch hat mich verändert. Ich habe immer stärker gefühlt, dasses meine Mission ist, gegen das schreiende Unrecht der weiblichenGenitalverstümmelung zu kämpfen.
Sie haben einige Zeit gebraucht fürdie Entscheidung, Ihre Erlebnisse niederzuschreiben. Gab es einen besonderenMoment oder ein bestimmtes Ereignis, wo Sie gedacht haben: "So jetzt macheich den Mund auf!"?
Ich habeoft daran gedacht, über mein Leben und über das, was mir als Kind angetanwurde, zu sprechen oder zu schreiben. Oft wollte ich es herausschreien, aberich konnte nicht. Eines Tages war ich bereit, über alles zu reden und meinerstes Buch zu schreiben.
Als Sonderbotschafterin derVereinten Nationen kämpfen Sie gegen die weibliche Genitalverstümmelung. GlaubenSie, dass sich durch Ihre Arbeit und Ihre Popularität als Autorin die Situationwenigstens ein bisschen verändert hat?
MeineBücher und meine Arbeit in den letzten sieben Jahren haben einiges verändert.In 14 Staaten, in denen die Genitalverstümmelung praktiziert wird (insgesamt28), wurde diese auf internationalen Druck per Gesetz verboten. Alle großenOrganisationen von UNO, UNESCO, UNICEF, ROTES KREUZ etc. haben mittlerweilezahlreiche Projekte gegen weibliche Genitalverstümmelung ins Leben gerufen. Esist allerdings noch ein langer Weg bevor alle Mädchen aus den betroffenenLändern vor diesem Verbrechen an Körper und Seele geschützt sein werden.
Mit gerade mal 13 Jahren haben Siealles hinter sich gelassen, weil Sie nicht den Mann heiraten wollten, den IhrVater für Sie ausgesucht hatte. Selbst in Ländern wie Deutschland ist es nichtungewöhnlich, dass zum Beispiel türkische Mädchen von ihren Eltern verheiratetwerden. Warum, glauben Sie, ist diese Tradition immer noch so stark?
Alle dieseTraditionen dienen doch nur zur Unterdrückung der Frauen - verschleiern,zwangsverheiraten, verkaufen, verstümmeln, versklaven. Durch die Immigrationwerden den Menschen in Europa diese Probleme erst richtig bewusst gemacht. Nunsind alle Menschen und die Politiker gefordert, durch sensibleAufklärungsarbeit die Rechte der Frauen zu stärken.
Leben Sie noch in New York? Undwürden Sie diese Stadt Ihr Zuhause nennen?
Ich lebenicht mehr in New York, sondern seit einiger Zeit in Wien, wo auch der Sitzmeiner Waris Dirie Foundation ist (Info: www.waris-dirie-foundation.com). AlsNomadin ist mein Zuhause immer dort, wo ich mich wohl fühle.
Die Fragen stellte Mathias Voigt,literaturtest.de
- Autoren: Waris Dirie , Jeanne d' Haem
- 17. Aufl., 287 Seiten, teilweise farbige Abbildungen, Maße: 11,4 x 18,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Dtsch. v. Theda Krohm-Linke
- Übersetzer: Theda Krohm-Linke
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442359821
- ISBN-13: 9783442359820
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