Die Bibel & ich
Von einem, der auszog, das Buch der Bücher wörtlich zu nehmen
A.J. Jacobs hat es gewagt: Ein Jahr lang hat er nach den Gesetzen der Bibel gelebt. Dabei ist er nicht mal gläubig. Rund 800 fand er im ältesten aller Bücher - gar nicht so einfach, sie alle einzuhalten. Ein faszinierender Selbstversuch, an...
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Produktinformationen zu „Die Bibel & ich “
A.J. Jacobs hat es gewagt: Ein Jahr lang hat er nach den Gesetzen der Bibel gelebt. Dabei ist er nicht mal gläubig. Rund 800 fand er im ältesten aller Bücher - gar nicht so einfach, sie alle einzuhalten. Ein faszinierender Selbstversuch, an dessen Ende Toleranz und der Respekt vor anderen Menschen und ihren Überzeugungen stehen.
Klappentext zu „Die Bibel & ich “
'Was ist dran am Buch der Bücher? A. J. Jacobs hat sich entschlossen, der Bibel in einem Selbstversuch auf den Grund zu gehen. Ein Jahr lang will er die biblischen Gesetze so getreu wie möglich befolgen. Er lässt sich einen Bart wachsen, begrüßt den Beginn eines neuen Monats mit einer Widderhorn-Fanfare und versucht, im Central Park Ehebrecher mit Kieseln zu steinigen. Seine Frau Julie ist keineswegs begeistert, aber Jacobs lässt sich nicht beirren. Er trifft fundamentalistische Christen, tanzt mit chassidischen Juden und reist nach Israel. Die letzten Monate sind dem Neuen Testament gewidmet. Trotz vieler merkwürdiger Begegnungen und scheinbar absurder Gesetze versteht A.J. Jacobs allmählich, welcher Sinn hinter dem Buch der Bücher steht. Am Ende des biblischen Jahres ist er zwar nicht gläubig, aber auf jeden Fall klüger: Er ist ein toleranterer Mensch geworden, der sich und anderen mehr Respekt entgegenbringt.
Lese-Probe zu „Die Bibel & ich “
Die Bibel und ich von A. J. JacobsWährend ich dies schreibe, habe ich einen Bart, mit dem ich aussehe wie Moses. Oder wie Abe Lincoln. Oder wie der Unabomber Ted Kaczinsky. Verglichen hat man mich jedenfalls mit allen dreien. Es ist kein gepflegter, salonfähiger Bart. Sondern ein üppig sprießendes Gestrüpp, das meine Augen langsam, aber sicher zu überwuchern droht und mir inzwischen fast bis auf die Brust reicht. Da ich meine Gesichtsbehaarung bis dato noch nie ungehindert habe wachsen lassen, ist diese Erfahrung ebenso seltsam wie erhellend. Ich bin jetzt Mitglied in der geheimen Bruderschaft der Bärtigen – wir nicken uns im Vorbeigehen zu oder wechseln diskret ein verschwörerisches Lächeln. Manchmal tätscheln wildfremde Menschen mir den Bart, als wäre er ein Labrador-Retriever-Welpe oder der Bauch einer Schwangeren.
Ich habe für meinen Bart gelitten. Er hat sich in Jackenreißverschlüssen verfangen und die Tätlichkeiten meines erstaunlich kräftigen zweijährigen Sohnes über sich ergehen lassen müssen. Die Flughafensicherheit stellt mir regelmäßig reichlich unangenehme Fragen.
Aber das ist noch längst nicht alles: Mindestens drei Mal wöchentlich fällt todsicher der Name ZZ Top. Vor Kurzem hat auf der Straße jemand »He, Gandalf!« gerufen. Und auch mit Steven Seagal wurde ich schon verwechselt, was ich besonders kurios fand, trägt der doch bekanntlich keinen Bart.
Ich habe mit Juckreiz und Hitze gekämpft. Ich habe einen Wochenlohn in Wichse, Puder, Creme und Spülung investiert. Mein Bart hat Cappuccinoschaum und Linsensuppe großzügig Asyl gewährt. Und wirkt auf manche Leute regelrecht verstörend. Bislang sind zwei kleine Mädchen in Tränen ausgebrochen, und ein Junge hat hinter seiner Mutter Schutz gesucht.
Dabei will ich keinem Menschen
... mehr
etwas Böses. Die Gesichtsbehaarung ist lediglich das auffälligste körperliche Merkmal der spirituellen Reise, die ich vor etwas mehr als einem Jahr angetreten habe. Mein Ziel war es, streng nach der Bibel zu leben. Oder, besser, die Gesetze der Bibel möglichst wörtlich zu befolgen. Die Zehn Gebote einzuhalten. Fruchtbar zu sein und mich zu mehren. Meinen Nächsten zu lieben. Den Zehnten zu entrichten. Aber auch die häufig unterschlagenen Regeln zu beachten: keine Kleidung aus Mischgewebe zu tragen. EhebrecherInnen zu steinigen. Und natürlich meinen Bart nicht mehr zu stutzen (3. Mose 19,27). Ich versuche, sämtlichen Regeln und Vorschriften der Bibel zu gehorchen, ohne mir sozusagen nur die Rosinen herauszupicken.
Zum besseren Verständnis: Ich stamme aus einer ausgesprochen weltlichen New Yorker Familie. Von Haus aus bin ich zwar Jude, aber im Grunde bin ich so jüdisch, wie McDonald’s ein Gourmettempel ist. Mit anderen Worten: eigentlich gar nicht. Ich habe nie eine Jeschiwa besucht, nie Matzen gegessen. Unsere Beziehung zum Judentum erschöpfte sich in jenem paradoxen Klassiker der Assimilation: dem Davidstern als Christbaumspitze.
Nicht, dass meine Eltern alles Religiöse schlechtgeredet hätten. Religion war nur einfach nichts für uns. Wir lebten schließlich nicht umsonst im 20. Jahrhundert. Im Hause Jacobs war das Thema Spiritualität praktisch tabu; darüber wurde ebenso geschwiegen wie über das Gehalt meines Vaters oder die Nelkenzigaretten meiner Schwester.
Meine wenigen Berührungen mit der Bibel waren flüchtig und oberflächlich. So hatten wir zum Beispiel einen Nachbarn, einen netten lutherischen Pastor namens Reverend Schulze, der Thomas Jefferson wie aus dem Gesicht geschnitten war. (Sein Sohn wurde übrigens Schauspieler und verkörperte später sinnigerweise den schmierigen Priester in den Sopranos.) Reverend Schulze wusste tolle Geschichten über die College-Sit-ins der Sechzigerjahre zu erzählen, aber wenn er von Gott anfing, hätte er für meinen Geschmack genauso gut Chinesisch sprechen können.
Ich ging zu einer Handvoll Bar-Mizwas und döste entweder ein oder versuchte zu erraten, wer unter seiner Kippa kahl war. Ich ging zum Begräbnis meines Großvaters väterlicherseits, das zu meinem Erstaunen von einem Rabbi geleitet wurde. Wie konnte ein Rabbi die Grabrede auf jemanden halten, dem er nie begegnet war? Das irritierte mich.
Und damit ist die Liste meiner religiösen Kindheitserfahrungen auch schon mehr oder weniger komplett. Ich war Agnostiker, lange bevor ich wusste, was das Wort bedeutet.
Das hing unter anderem mit der Existenz des Bösen zusammen. Wenn es einen Gott gab, wie konnte er dann Kriege, Krankheiten und meine Klassenlehrerin Miss Barker zulassen, die uns im vierten Schuljahr zwang, bei einem Kuchenbasar zuckerfreies Backwerk zu verkaufen? Vor allem aber schien mir Gott vollkommen überflüssig. Wozu brauchten wir eine unsichtbare, unhörbare höhere Macht? Schon möglich, dass er existiert, aber das werden wir in diesem Leben nicht erfahren.
Das College trug wenig zu meiner spirituellen Entwicklung bei. Ich besuchte eine weltliche Universität, wo man der Semiotik von Wicca-Ritualen größere Bedeutung beimaß als der jüdisch-christlichen Tradition. Und wenn wir tatsächlich einmal die Bibel lasen, dann als Literatur, als ein uraltes, verstaubtes Buch, dessen Wahrheitsgehalt in etwa dem von Edmund Spensers Fairie Queene entsprach. Selbstverständlich studierten wir die Religionsgeschichte. Und lernten, dass die Menschheit der Bibel einige ihrer größten Errungenschaften verdankt: Mildtätigkeit, die Bürgerrechtsbewegung, die Abschaffung der Sklaverei. Und natürlich auch einige ihrer furchtbarsten:
Krieg, Völkermord und Unterdrückung.
Lange erschien mir die Religion trotz ihrer Vorzüge zu riskant für unsere moderne Welt. Ihr Missbrauchspotenzial war einfach zu hoch. Ich war davon überzeugt, dass sie, wie so viele andere archaische Mythen, nach und nach verschwinden würde. Die Wissenschaft war auf dem Vormarsch. Eines Tages, in nicht allzu ferner Zukunft, würden wir in einem gänzlich aufgeklärten Paradies leben, wo Entscheidungen allein auf der Grundlage eherner Logik à la Mr Spock getroffen wurden.
Wie Sie vielleicht bemerkt haben, lag ich mit meiner Einschätzung gründlich daneben. Der Einfluss der Bibel – und der Religion per se – ist immer noch gewaltig, vielleicht sogar stärker als in meinen Kindertagen. Und so ist mir die Religion in den vergangenen Jahren gleichsam zur fixen Idee geworden. Leidet die halbe Welt unter massiven Wahnvorstellungen? Oder zeugt meine Blindheit für spirituelle Dinge von einer schweren Persönlichkeitsstörung? Wer weiß, vielleicht entgeht mir ja ein wichtiger Aspekt des Menschseins, wie jemandem, der sein Lebtag weder verliebt war noch je Beethoven gehört hat? Vor allem aber habe ich jetzt einen kleinen Sohn – falls mein religiöses Defizit tatsächlich einen Makel darstellt, möchte ich diesen ungern an ihn weitergeben.
Ich wusste also, dass ich das Phänomen Religion unter die Lupe nehmen wollte. Ich wusste nur noch nicht, wie. Die Idee geht ursprünglich auf meinen Onkel Gil zurück. Meinen Ex-Onkel, um genau zu sein. Gil heiratete meine Tante, und obwohl sich die beiden schon nach ein paar Jahren wieder scheiden ließen, ist er bis heute das umstrittenste Mitglied der Familie. Die geistliche Armut meiner übrigen Verwandtschaft macht Gil durch seinen Glaubenseifer doppelt wett: Er ist der wahrscheinlich religiöseste Mensch der Welt. Und ein spiritueller Allesfresser. Er begann sein Leben als Jude, wurde Hindu, ernannte sich selbst zum Guru, saß acht Monate schweigend auf einer Parkbank in Manhattan, gründete nördlich von New York eine Hippiesekte, mutierte erst zum Wiedergeborenen Christen und dann, in seiner bislang letzten Inkarnation, zum orthodoxen Juden mit Wohnsitz Jerusalem. Kann sein, dass ich eine Phase übersprungen habe – wenn mich nicht alles täuscht, war er auch eine Weile auf dem Shinto-Trip. Aber Sie verstehen schon, was ich meine.
Auf einer seiner vielen spirituellen Irrfahrten beschloss Gil, die Bibel wörtlich zu nehmen. Wortwörtlich. Laut Bibel soll man Geld in seiner Hand zusammenbinden (5. Mose 14,25), also ging Gil zur Bank, hob dreihundert Dollar ab und befestigte die Scheine mit einem Stück Schnur an seiner Hand. Laut Bibel soll man sich Quasten machen an die Zipfel seiner Kleider (4. Mose 15,38), also ging Gil in ein Strickwarengeschäft und kaufte Garn, band es zu Quasten und nähte diese an seine Hemdkragen und -manschetten. Laut Bibel soll man Witwen und Waisen beschenken, also fragte er Passanten auf der Straße, ob sie Witwen oder Waisen seien, damit er ihnen Geld geben konnte.
Vor etwa anderthalb Jahren erzählte ich meinem Freund Paul beim Mittagessen in einem Sandwich-Shop von Gils bizarrem Werdegang, und plötzlich kam mir die Erleuchtung. Das ist es. Auch ich musste die Bibel wörtlich nehmen und streng nach ihren Gesetzen leben. Und das gleich aus mehreren Gründen.
Da die Bibel mir erstens gebietet, die Wahrheit zu sagen (Sprüche 26,28), muss ich gestehen, dass es mir nicht zuletzt darum ging, vorliegendes Buch zu schreiben. Vor ein paar Jahren habe ich ein Buch über die Encyclopaedia Britannica veröffentlicht, die ich komplett gelesen hatte, von A bis Z – oder, genauer, von A-ak (ostasiatische Musik) bis Zywiec (berühmte Bierstadt in Südpolen). Was sollte ich
dem folgen lassen? Das einzige intellektuelle Abenteuer, das da mithalten konnte, schien mir die Auseinandersetzung mit dem einflussreichsten Buch der Welt, dem Bestseller schlechthin, der Bibel. Zweitens würde dieses Projekt mein Schlüssel sein zur Welt der Spiritualität. Ich würde die Religion nicht nur studieren. Ich würde sie leben. Wenn in meinem Herzen eine Lücke klaffte, wo bei anderen Menschen Gott zu Hause war, würde mir diese Suche vielleicht helfen, sie zu füllen. Wenn ich eine verborgene mystische Seite hatte, würde sie im Laufe dieses Jahres mit Sicherheit zum Vorschein kommen. Wenn ich meine Ahnen und Urahnen verstehen wollte, würde ich ein Jahr lang so leben müssen wie sie, nur ohne Lepra. Und drittens würde mir dieses Projekt Gelegenheit verschaffen, das ebenso weite wie interessante Feld des sogenannten biblischen Literalismus zu beackern. Millionen von Amerikanern behaupten, die Bibel beim Wort zu nehmen. Nach einer Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2005 sind es an die 33, einer Erhebung der Zeitschrift Newsweek von 2004 zufolge sogar 55 Prozent. Eine wörtliche Auslegung der Bibel, von jüdischer und christlicher Seite, bestimmt die Haltung der amerikanischen Politik zu Themen wie Naher Osten, Homosexualität, Stammzellenforschung, Bildung, Abtreibung – bis hin zu der Frage, ob man sonntags Bier ausschenken darf.
Zum besseren Verständnis: Ich stamme aus einer ausgesprochen weltlichen New Yorker Familie. Von Haus aus bin ich zwar Jude, aber im Grunde bin ich so jüdisch, wie McDonald’s ein Gourmettempel ist. Mit anderen Worten: eigentlich gar nicht. Ich habe nie eine Jeschiwa besucht, nie Matzen gegessen. Unsere Beziehung zum Judentum erschöpfte sich in jenem paradoxen Klassiker der Assimilation: dem Davidstern als Christbaumspitze.
Nicht, dass meine Eltern alles Religiöse schlechtgeredet hätten. Religion war nur einfach nichts für uns. Wir lebten schließlich nicht umsonst im 20. Jahrhundert. Im Hause Jacobs war das Thema Spiritualität praktisch tabu; darüber wurde ebenso geschwiegen wie über das Gehalt meines Vaters oder die Nelkenzigaretten meiner Schwester.
Meine wenigen Berührungen mit der Bibel waren flüchtig und oberflächlich. So hatten wir zum Beispiel einen Nachbarn, einen netten lutherischen Pastor namens Reverend Schulze, der Thomas Jefferson wie aus dem Gesicht geschnitten war. (Sein Sohn wurde übrigens Schauspieler und verkörperte später sinnigerweise den schmierigen Priester in den Sopranos.) Reverend Schulze wusste tolle Geschichten über die College-Sit-ins der Sechzigerjahre zu erzählen, aber wenn er von Gott anfing, hätte er für meinen Geschmack genauso gut Chinesisch sprechen können.
Ich ging zu einer Handvoll Bar-Mizwas und döste entweder ein oder versuchte zu erraten, wer unter seiner Kippa kahl war. Ich ging zum Begräbnis meines Großvaters väterlicherseits, das zu meinem Erstaunen von einem Rabbi geleitet wurde. Wie konnte ein Rabbi die Grabrede auf jemanden halten, dem er nie begegnet war? Das irritierte mich.
Und damit ist die Liste meiner religiösen Kindheitserfahrungen auch schon mehr oder weniger komplett. Ich war Agnostiker, lange bevor ich wusste, was das Wort bedeutet.
Das hing unter anderem mit der Existenz des Bösen zusammen. Wenn es einen Gott gab, wie konnte er dann Kriege, Krankheiten und meine Klassenlehrerin Miss Barker zulassen, die uns im vierten Schuljahr zwang, bei einem Kuchenbasar zuckerfreies Backwerk zu verkaufen? Vor allem aber schien mir Gott vollkommen überflüssig. Wozu brauchten wir eine unsichtbare, unhörbare höhere Macht? Schon möglich, dass er existiert, aber das werden wir in diesem Leben nicht erfahren.
Das College trug wenig zu meiner spirituellen Entwicklung bei. Ich besuchte eine weltliche Universität, wo man der Semiotik von Wicca-Ritualen größere Bedeutung beimaß als der jüdisch-christlichen Tradition. Und wenn wir tatsächlich einmal die Bibel lasen, dann als Literatur, als ein uraltes, verstaubtes Buch, dessen Wahrheitsgehalt in etwa dem von Edmund Spensers Fairie Queene entsprach. Selbstverständlich studierten wir die Religionsgeschichte. Und lernten, dass die Menschheit der Bibel einige ihrer größten Errungenschaften verdankt: Mildtätigkeit, die Bürgerrechtsbewegung, die Abschaffung der Sklaverei. Und natürlich auch einige ihrer furchtbarsten:
Krieg, Völkermord und Unterdrückung.
Lange erschien mir die Religion trotz ihrer Vorzüge zu riskant für unsere moderne Welt. Ihr Missbrauchspotenzial war einfach zu hoch. Ich war davon überzeugt, dass sie, wie so viele andere archaische Mythen, nach und nach verschwinden würde. Die Wissenschaft war auf dem Vormarsch. Eines Tages, in nicht allzu ferner Zukunft, würden wir in einem gänzlich aufgeklärten Paradies leben, wo Entscheidungen allein auf der Grundlage eherner Logik à la Mr Spock getroffen wurden.
Wie Sie vielleicht bemerkt haben, lag ich mit meiner Einschätzung gründlich daneben. Der Einfluss der Bibel – und der Religion per se – ist immer noch gewaltig, vielleicht sogar stärker als in meinen Kindertagen. Und so ist mir die Religion in den vergangenen Jahren gleichsam zur fixen Idee geworden. Leidet die halbe Welt unter massiven Wahnvorstellungen? Oder zeugt meine Blindheit für spirituelle Dinge von einer schweren Persönlichkeitsstörung? Wer weiß, vielleicht entgeht mir ja ein wichtiger Aspekt des Menschseins, wie jemandem, der sein Lebtag weder verliebt war noch je Beethoven gehört hat? Vor allem aber habe ich jetzt einen kleinen Sohn – falls mein religiöses Defizit tatsächlich einen Makel darstellt, möchte ich diesen ungern an ihn weitergeben.
Ich wusste also, dass ich das Phänomen Religion unter die Lupe nehmen wollte. Ich wusste nur noch nicht, wie. Die Idee geht ursprünglich auf meinen Onkel Gil zurück. Meinen Ex-Onkel, um genau zu sein. Gil heiratete meine Tante, und obwohl sich die beiden schon nach ein paar Jahren wieder scheiden ließen, ist er bis heute das umstrittenste Mitglied der Familie. Die geistliche Armut meiner übrigen Verwandtschaft macht Gil durch seinen Glaubenseifer doppelt wett: Er ist der wahrscheinlich religiöseste Mensch der Welt. Und ein spiritueller Allesfresser. Er begann sein Leben als Jude, wurde Hindu, ernannte sich selbst zum Guru, saß acht Monate schweigend auf einer Parkbank in Manhattan, gründete nördlich von New York eine Hippiesekte, mutierte erst zum Wiedergeborenen Christen und dann, in seiner bislang letzten Inkarnation, zum orthodoxen Juden mit Wohnsitz Jerusalem. Kann sein, dass ich eine Phase übersprungen habe – wenn mich nicht alles täuscht, war er auch eine Weile auf dem Shinto-Trip. Aber Sie verstehen schon, was ich meine.
Auf einer seiner vielen spirituellen Irrfahrten beschloss Gil, die Bibel wörtlich zu nehmen. Wortwörtlich. Laut Bibel soll man Geld in seiner Hand zusammenbinden (5. Mose 14,25), also ging Gil zur Bank, hob dreihundert Dollar ab und befestigte die Scheine mit einem Stück Schnur an seiner Hand. Laut Bibel soll man sich Quasten machen an die Zipfel seiner Kleider (4. Mose 15,38), also ging Gil in ein Strickwarengeschäft und kaufte Garn, band es zu Quasten und nähte diese an seine Hemdkragen und -manschetten. Laut Bibel soll man Witwen und Waisen beschenken, also fragte er Passanten auf der Straße, ob sie Witwen oder Waisen seien, damit er ihnen Geld geben konnte.
Vor etwa anderthalb Jahren erzählte ich meinem Freund Paul beim Mittagessen in einem Sandwich-Shop von Gils bizarrem Werdegang, und plötzlich kam mir die Erleuchtung. Das ist es. Auch ich musste die Bibel wörtlich nehmen und streng nach ihren Gesetzen leben. Und das gleich aus mehreren Gründen.
Da die Bibel mir erstens gebietet, die Wahrheit zu sagen (Sprüche 26,28), muss ich gestehen, dass es mir nicht zuletzt darum ging, vorliegendes Buch zu schreiben. Vor ein paar Jahren habe ich ein Buch über die Encyclopaedia Britannica veröffentlicht, die ich komplett gelesen hatte, von A bis Z – oder, genauer, von A-ak (ostasiatische Musik) bis Zywiec (berühmte Bierstadt in Südpolen). Was sollte ich
dem folgen lassen? Das einzige intellektuelle Abenteuer, das da mithalten konnte, schien mir die Auseinandersetzung mit dem einflussreichsten Buch der Welt, dem Bestseller schlechthin, der Bibel. Zweitens würde dieses Projekt mein Schlüssel sein zur Welt der Spiritualität. Ich würde die Religion nicht nur studieren. Ich würde sie leben. Wenn in meinem Herzen eine Lücke klaffte, wo bei anderen Menschen Gott zu Hause war, würde mir diese Suche vielleicht helfen, sie zu füllen. Wenn ich eine verborgene mystische Seite hatte, würde sie im Laufe dieses Jahres mit Sicherheit zum Vorschein kommen. Wenn ich meine Ahnen und Urahnen verstehen wollte, würde ich ein Jahr lang so leben müssen wie sie, nur ohne Lepra. Und drittens würde mir dieses Projekt Gelegenheit verschaffen, das ebenso weite wie interessante Feld des sogenannten biblischen Literalismus zu beackern. Millionen von Amerikanern behaupten, die Bibel beim Wort zu nehmen. Nach einer Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2005 sind es an die 33, einer Erhebung der Zeitschrift Newsweek von 2004 zufolge sogar 55 Prozent. Eine wörtliche Auslegung der Bibel, von jüdischer und christlicher Seite, bestimmt die Haltung der amerikanischen Politik zu Themen wie Naher Osten, Homosexualität, Stammzellenforschung, Bildung, Abtreibung – bis hin zu der Frage, ob man sonntags Bier ausschenken darf.
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Autoren-Porträt von A. J. Jacobs
A. J. Jacobs ist leitender Redakteur beim "Esquire" und hat zahlreiche Artikel u. a. im "New Yorker", "Entertainment Weekly" und "The New York Times" veröffentlicht. Er lebt mit seiner Frau Julie und seinen Kindern in New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: A. J. Jacobs
- 2009, Ungek. Ausg., 432 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Mohr, Thomas
- Übersetzer: Thomas Mohr
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548609392
- ISBN-13: 9783548609393
Rezension zu „Die Bibel & ich “
»Wahnsinnig komisch und erhellend zugleich.« People »Ein anmutiges Buch voller Herzenswärme.« Los Angeles Times »Es ist ein sehr lustiges Buch geworden, zugleich ein aufschlussreiches und in seinem Verzicht auf Häme und Arroganz, in seiner Menschenfreundlichkeit ein äußerst sympatisches Buch.« SÜDDEUTSCHE ZEITUNG/Johan Schloemann/ 16.09.08 »Der Mann ist schmerzfrei - und eine Inspiration.« sueddeutsche.de/ 16.09.08/Jürgen Schmieder »Wie das alles in einen New Yorker Journalistenhaushalt passt, ist höchst amüsant zu lesen. Skurriler, aber durchaus respektvoller und lehrreicher Selbstversuch.« GONG/ 19.09.08 »Amüsant« FREUNDIN/ 24.09.08 »In dem 400-Seiten-Wälzer (reihen sich) witzige, aber auch erhellende Momente in schneller Folge aneinander. Jacobs schildert sie mit freundlicher Ironie und großer Herzenswärme.« RHEINISCHE POST Online/ 26.09.08/Philipp Stempel »Das Buch ... ist vor allem witzig - man merkt ihm in jedem Kapitel den Schalk von Jacobs an.« FR Online/ 30.09.08 »Jacobs meistert diese und andere Situationen, vor die ihn die biblischen Gebote stellen, mit der Selbstironie eines großen Komikers - ohne die geringste Scheu, sich lächerlich zu machen.« FRANKFURTER RUNDSCHAU/ 30.09.08/Sebastian Moll »Ohne bigott zu sein eine Sünde wert.« FHM/ 11/08 »In seinem Verzicht auf Häme und Arroganz ist ein sehr sympatisches, menschenfreundliches Buch dabei herausgekommen.« THEO/ 04/08 »Mitten hinein in die hierzulande oft verbissen und erdenschwer geführte Debatte zwischen Atheisten, Christen und Juden kommt Die Bibel und ich von A. J. Jacobs als eine amüsante Gesellschaftssatire, eine kluge Religionskritik und ein intellektuelles Lesevergnügen gerade rechtzeitig, finde ich.« DeutschlandRadio Kultur / 24.12.2008 / Andreas Malessa »...eine hochinteressante Exegese der Heiligen Schrift, die intime Einblicke ins Leben eines Neurotikers und Familienmenschen gibt.
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Gleichzeitig sind der Selbstversuch und die skurrilen Ereignisse und Bekanntschaften, die damit einhergehen, eine Art herzensgutes Plädoyer für religiöse Toleranz. Und das alles im Rahmen einer Satire. Ein humoristisches Bravourstück.« Format / 12.12.2008 / Manfred Gram »Unterhaltsame Sinnsuche« Badische Neueste Nachrichten / 05.01.2009
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