Winter im Herzen
Meine Kindheit zwischen Hoffnung und Heim
Nachkriegsdeutschland. Nachdem ihre Mutter gestorben ist, wächst die kleine Marianne mit ihren beiden Brüdern bei ihrer Schwester Lilo auf. Doch Lilo ist völig überfordert und misshandelt die Geschwister. Marianne flieht in Angst zu...
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Produktinformationen zu „Winter im Herzen “
Nachkriegsdeutschland. Nachdem ihre Mutter gestorben ist, wächst die kleine Marianne mit ihren beiden Brüdern bei ihrer Schwester Lilo auf. Doch Lilo ist völig überfordert und misshandelt die Geschwister. Marianne flieht in Angst zu ihrem Vater. Und auch dort findet sie keinen Trost denn der Vater bringt sie in ein Heim. Hier beginnt für Marianne eine Zeit des Leids, der Demütigung und der Angst. Für kleinste Vergehen wird sie geschlagen und eingesperrt. Und die Heimleiter bringen den Kindern nichts anderes als Kälte, Strenge und Gleichgültigkeit entgegen.
Marianne Döring schildert in diesem Buch auf eindringliche Weise ihre Kindheit im Heim.
Im Oktober 2008 hörte Marianne Döring zufällig vom Aufruf der hannoverschen Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann, die ehemalige Heimkinder aus den Jahren 1950/60 bat, sich bei ihr zu melden. Nach einigem Überlegen entschloss sich Marianne Döring, mit der Geschichte ihrer eigenen Heim-Kindheit in der Nachkriegszeit an die Öffentlichkeit zu gehen. Zu ihrem Buch "Winter im Herzen" schrieb Dr. Margot Käßmann das Vorwort: (Auszug)
"Schlimmes Leid und Unrecht bestimmte die Erziehungsmethoden der 50er und 60er-Jahre nicht nur in den Heimen, sondern auch in der Familie, wie das Buch "Winter im Herzen" von Marianne Döring zeigt. Mein Respekt gilt allen, die so offen darüber sprechen wie Marianne Döring, um sich den Schrecken der Vergangenheit zu stellen. Wir müssen die Betroffenen ernst nehmen."
Lese-Probe zu „Winter im Herzen “
Winter im Herzen von Marianne Döring VORWORT von Dr. Margot Käßmann
In der Vergangenheit habe ich viele Heimkinder kennengelernt, die von Willkürmaßnahmen der Erzieher, von Demütigungen, Schlägen und Misshandlungen in Kinder- und Jugendheimen berichten. Es ist ein erschreckendes Bild, das der Runde Tisch und diese persönlichen Berichte zur Situation in Heimen der Jugendfürsorge in den 50er- und 60er-Jahren entstehen lassen. Schlimmes Leid und Unrecht bestimmte die Erziehungsmethoden der 50er- und 60er-Jahre nicht nur in den Heimen, sondern auch in der Familie, wie das Buch »Winter im Herzen« von Marianne Döring zeigt. Ihr Beispiel macht deutlich, dass in dieser Zeit nicht nur Gewaltanwendung gegen Kinder an der Tagesordnung war, sondern auch, wie massiver psychischer Druck den Willen eines Kindes brechen kann, wie das Recht auf Selbstbestimmung und die menschliche Würde verletzt wurden.
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Darüber hinaus teilt Marianne Döring das Schicksal vieler Heimkinder, die in den Erziehungsanstalten und in der Familie nicht individuell gefördert und pädagogisch und psychisch vernachlässigt wurden. Dies ist kein Problem, das in nur der Vergangenheit liegt: Kinder brauchen starke, verlässliche Beziehungen. Alle, denen Kinder anvertraut sind, erleben, dass sie bei besonderer Förderung und liebevoller Zuneigung aufblühen und beginnen, an sich selbst zu glauben. Aus dieser Kraft schöpfen sie ihr gesamtes Leben über. Wer jedoch als Kind ständig erfährt, dass er nichts wert ist, wer auf diese Weise psychisch misshandelt wird, dessen gesamte Entwicklung ist davon beeinflusst, und er wird seinen Wert als Mensch auch als Erwachsener immer wieder aufs Stärkste in Frage stellen. Im Evangelium nimmt Jesus Kinder besonders ernst. Er stellt sie in die Mitte, verweist darauf, dass sie ihr eigenes Recht haben. »Lasset die Kinder zu mir kommen«, sagt er. Deswegen berühren mich besonders die Demütigungen, die Kinder in Heimen kirchlicher Trägerschaft erfahren mussten. Dass ständig gesagt wurde: Du bist nichts wert, du wirst im Leben nichts schaffen, entspricht in keiner Weise der theologischen Grundüberzeugung, dass jeder Mensch einen eigenen Wert hat als Geschöpf Gottes, dass jeder Mensch eine angesehene Person ist, weil Gott ihn ansieht. Mein Respekt gilt allen, die so offen darüber sprechen wie Marianne Döring, um sich den Schrecken der Vergangenheit zu stellen. Wir müssen die Betroffenen ernst nehmen. Denn Versöhnung mit der Vergangenheit ist nur möglich, wenn die Opfer gehört werden und die Täter Schuld bekennen. Auch wenn im Kontext der Zeit gesehen Gewalt in der Pädagogik in Schulen und Elternhäusern leider nur allzu üblich waren, müssen wir heute den Mut aufbringen, uns der Verantwortung zu stellen. Viele verstecken ihr damaliges Leid heute, verdrängen diesen Abschnitt in ihrem Leben und sprechen nicht einmal mit ihren nächsten Angehörigen darüber. Doch genau das Gegenteil wäre nötig, um ihr Leid zu lindern: Die Betroffenen sollten therapeutische und seelsorgliche Begleitung erhalten, wenn sie das wünschen. Eine offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kann für Gegenwart und Zukunft unserer Gesellschaft einen Weg weisen, auf dem einfühlsam und achtsam miteinander umgegangen wird und in der Erziehung ohne Gewalt in einem respektvollen Umgang miteinander möglich ist. Dr. Margot Käßmann
Landesbischöfin Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers
Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland VORWORT
Auf einer Geburtstagsfeier im Oktober 2008 hörte ich zufällig von dem Aufruf der hannoverschen Landesbischöfin Margot Käßmann: Alle ehemaligen Heimkinder aus den Jahren 1950/1960 sollten sich bei ihr melden.
Das betraf mich direkt, denn ich hatte von 1952 bis 1957 im »Evangelischen Kinderheim am Schölerberg« in Osnabrück gelebt und gelitten.
Ich überlegte zwei oder drei Wochen, ob ich mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit treten sollte, dann meldete ich mich in Hannover. Ich hörte vom Verein ehemaliger Heimkinder (VEH), von Querelen dort, von einem geplanten Runden Tisch in Berlin mit ehemaligen Heimkindern, Vertretern von Bund, Ländern, Kirchen und der Jugendhilfe sowie der ehemaligen Vizepräsidentin des Bundestages Antje Vollmer als Vorsitzende. Es ging darum, wie sich diese Vertreter der öffentlichen Institutionen zu den aufgedeckten, meistens sehr schlimmen Ereignissen verhalten sollten und wollten, um eine adäquate Entschuldigung bei den Betroffenen und um die Frage, ob eine Entschädigung möglich sei.
Von diesem Augenblick an las ich viele Zeitungsartikel zum Thema, fand Berichte im Internet, nahm selbst Kontakt zu ehemaligen Heimkindern auf und lernte Menschen mit furchtbaren Schicksalen kennen.
Ich stellte fest, dass eine ganze Generation von Heimkindern, etwa eine halbe Million Menschen, ein ähnliches Schicksal erfahren hatte und noch heute an den Spuren trägt. Und doch waren die Erlebnisse für jeden von uns auf andere Weise schrecklich. Wir sprachen darüber, was am meisten schmerzte, welche seelischen und körperlichen Folgen zurückgeblieben waren, uns noch heute quälen und nicht wiedergutzumachen sind. Wir fragten uns, wie wir bis heute »damit« gelebt haben? Welche Träume wir hatten von der Welt und was daraus geworden ist?
Manche von uns haben bis heute gar nicht über ihre Heimzeit sprechen können und werden es auch nie. Ich selbst verspürte mehr und mehr das Bedürfnis, zu reden, zu schreiben; ich wollte alles ganz genau erzählen, bis ins letzte Detail. Aber ich hatte auch die Zeit und den Abstand gebraucht. Ich musste erst fünfzig Jahre in mich gehen und 67 Jahre alt werden, bevor ich mich dem Kind in mir annähern konnte. Es ehrlich ansehen konnte.
Jetzt wollte ich endlich Zeugnis ablegen. Ich musste es aufschreiben.
All dies belastete mich persönlich mehr, als ich es anfangs zugeben mochte. Meine eigene Geschichte ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ich begann in meinen alten Tagebüchern zu lesen, und alles war wieder lebendig. Alle Tränen von damals, die geweinten und die ungeweinten, brachen sich Bahn. Es war, als wäre es gestern erst geschehen. Die Zeit hat auch bei mir tiefe Spuren hinterlassen. Nicht nur die Heimzeit selbst, sondern besonders, was davor und auch danach geschehen war. Ich wurde wieder zu dem kleinen Mädchen Marianne, durchlitt alles noch einmal, was sie durchlitten hatte und wurde endlich frei. Das hatte bisher keine Therapie geschafft.
Ich finde es für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft relevant und wichtig, dass unsere Heimschicksale erzählt werden; sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Ich hoffe, dass der Runde Tisch in Berlin und die vielen regionalen Runden Tische ein gutes Gremium zur Aufarbeitung und Klärung darstellen, wenn sie denn ehrlich daran interessiert sind.
Meine Lebensgeschichte habe ich dennoch aus ganz persönlicher Sicht geschrieben. Nicht, wie die Welt die Dinge sieht, sondern meine eigene Sichtweise war der Maßstab. Dabei zählte die Perspektive des Kindes in mir, das damals alles durchlebt hat. Beim Schreiben war ich bemüht, die Menschen von damals sachlich und fair zu beschreiben. Meine Schwester Lilo, die wenig einfühlsam war und mich so sehr verprügelt hat, war damals, als unsere Mutter starb, eine junge Frau von 21 Jahren. Sie musste plötzlich die Verantwortung für drei Geschwister übernehmen, die im Krieg alle Schreckliches gesehen und erlebt hatten und davon geprägt waren.
Darüber hinaus musste sie für unseren Lebensunterhalt aufkommen und sehr hart arbeiten. Unser Vater unterstützte sie viel zu wenig, er beutete sie aus. Lilo hatte den Krieg erlebt, den Zusammenbruch des ganzen Landes und den Einmarsch der Alliierten. Sie war jung, sie wollte endlich leben, wollte ihr Überleben genießen, wenn auch alles rundherum in Trümmern lag. Lange Zeit hatte sie keine Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Erst viel später lernte ich auch andere Seiten an meiner Schwester kennen, obwohl ihre Härte immer blieb. Damals waren die meisten Menschen geprägt von den Ideen des Dritten Reiches und von den Kriegserlebnissen. Sie nahmen nur wahr, was sie ertragen konnten.
Ich blicke nicht im Zorn zurück, denn ich habe meinen Weg trotz allem gefunden. Zwar sind Spuren meiner schlimmen Kindheit geblieben, aber ich habe Vieles inzwischen verarbeitet und überwunden. Jedes von uns ehemaligen Heimkindern muss mit diesen Spuren leben, nicht alle schaffen es.
Ich kann wohl sagen, ich hatte Glück; das Glück, 47 Jahre lang als Kinderpflegerin, Erzieherin und Vorklassenleiterin mit Kindern zu arbeiten. Unter anderem habe ich auch eine der ersten rein türkischen »Kinderbetreuungsstuben« in Berlin-Wedding mit vierzig Kindern geleitet. Später eine Kinderkrippe in Kreuzberg mit insgesamt 23 Nationalitäten und sechzig Kindern. Meine Erzieherausbildung habe ich während dieser Zeit berufsbegleitend am sozialpädagogischen Institut der Arbeiterwohlfahrt gemacht und nebenbei als alleinerziehende Mutter für meine beiden eigenen Kinder gesorgt.
Mein Leitgedanke war immer, dass keines der Kinder, die mir anvertraut waren, jemals so traurig, so einsam, so hilflos, so verlassen und verzweifelt sein sollte, wie ich es war. Und dennoch meine Kinder, die ich nach der Scheidung alleine großgezogen habe, hatten es mit einer Mutter wie mir nicht leicht. Sie sind inzwischen 40 und 44 Jahre alt, und wir setzen uns immer noch über Grundsätze, Werte und Fragen der Moral und des Lebens auseinander.
Doch bei allen Fehlern, die ich vermutlich während ihrer Erziehung gemacht habe, konnten sie sich immer ganz sicher sein, dass ich sie gewollt, gewünscht, geliebt und bis heute niemals alleingelassen habe. Dieses Wissen hat sie stark gemacht und zu wunderbaren Menschen.
Für mein Buch wünsche ich mir, dass es in die Hände vieler Mütter und Väter, Brüder und Schwestern, Lehrer, Erzieher, einfach aller Menschen gelangt, die Verantwortung für Kinder übernehmen. Und dass es darauf hinweist, wie wertvoll jedes einzelne Kinderleben ist und wie zerbrechlich.
Ein großer Wunsch ist geblieben. Ich würde so gerne etwas von meiner damaligen Beschützerin und Freundin Regina Schafer hören. 1962/63 arbeitete sie in Veyvey in der Schweiz am Genfer See in einem Rudolf-Steiner-Heim für behinderte Kinder. Dann verlor sich unser Kontakt.
MEINE WURZELN (1942-1945)
Auf die Welt kam ich in Danzig, am 10. April 1942. Ich war das vierte Kind des Kaufmanns Ernst Döring und seiner Frau Paula Döring, geborene Kaschner. Auch meine Eltern stammten aus Danzig. Während mein Vater Jahrgang 1896 war, war meine Mutter 1902 in ein neues, schicksalhaftes Jahrhundert hineingeboren worden.
Sie selbst brachte 1928 meine Schwester Lilo zur Welt und 1932 und 1936 meine Brüder Konrad und Axel. Meine Geschwister waren es, die mir viele Jahre später von den Geschehnissen während meiner ersten Lebensjahre berichteten. Ich selbst habe an diese Zeit nur eine bruchstückhafte Erinnerung. Wie weit ihre Versionen unserer Familiengeschichte der Wahrheit entsprechen, kann ich nicht sagen. Manchmal denke ich, dass ihre Erinnerungen von den schlimmen Erfahrungen, die sie im Krieg hatten machen müssen, überschattet und beeinträchtigt wurden.
Was ich von ihnen weiß, ist Folgendes: Im Gegensatz zu meinem Vater kam meine Mutter, Paula Döring, aus einer wohlhabenden, großbürgerlichen Familie. Sie war in den Genuss einer guten Schulbildung gekommen und arbeitete sogar bis zur Heirat als leitende Angestellte einer Bank. Mein Vater dagegen kam aus einfachsten Verhältnissen. Mein Großvater väterlicherseits war Maurer, meine Großmutter arbeitete als Waschfrau in den Häusern reicher Leute. Als kleiner Junge hatte er seine Mutter begleitet und sich mit eigenen Augen davon überzeugen können, in welchem Wohlstand andere Menschen lebten. Das musste seinen Ehrgeiz geweckt haben.
Mein Vater hatte sieben Brüder, die jedoch alle früh verstarben. Er, als Jüngster übrig geblieben, war eifrig und klug und leitete bereits mit 24 Jahren eine große Import/ExportFirma als Prokurist. So konnten meine Eltern es sich leisten, nach ihrer Heirat eine Villa in dem gepflegten Danziger Vorort Langfuhr zu bewohnen. Ein Standard, an den meine Mutter gewöhnt war und den mein Vater seit seiner Kindheit angestrebt hatte. Heute weiß ich, ebenfalls von meinen älteren Geschwistern, dass mein Vater aufgrund seines Handels ein »kriegswichtiger Mann« war. Er gehörte zwar zur Heimwehr, musste aber zu seinem Glück nicht an die Front, denn er hatte bereits im Ersten Weltkrieg gedient. Meine Geschwister haben mir zudem erzählt, dass er um die 160 Zwangsarbeiter beschäftigt haben soll, vorwiegend Russen, Polen und Jugoslawen, denen er aus eigener Initative akzeptable Unterkünfte und eine relativ gute Versorgung geboten hat. Zudem erlaubte er diesen handwerklich sehr begabten Arbeitern Holzspielzeug herzustellen, das er für sie verkaufte. Den Gewinn soll er ihnen überlassen haben. Zwar weiß ich das alles ebenfalls nur aus zweiter Hand, aber immerhin haben sich diese Menschen beim Einmarsch der Russen für meinen Vater eingesetzt mit Erfolg.
Ja, mein Vater war ein Nazi. Wenn auch sicherlich wie viele seiner Zeitgenossen eher ein Mitläufer. Einer, der den Weg des geringsten Widerstands ging, um so seine Geschäfte am Laufen zu halten und seine Familie zu schützen. Es hieß, er habe guten Kontakt zum zuständigen Gauleiter. Gleichzeitig versteckte er über mehrere Jahre einen jüdischen Arzt und Freund, Dr. Albrecht, bei uns zu Hause. Auch eine junge Russin, die beim Einmarsch in Danzig als Marketenderin, wie das damals hieß, mit dem Soldatentross in die Stadt kam, ließ er in einem kleinen Zimmer in unserem Haus wohnen und verhalf ihr zu einem besseren Leben.
Die Geschäfte unseres Vaters gingen sehr gut während des Krieges oder gerade wegen des Krieges. In der Garage standen zwei Autos, ein kleiner Fiat »Turpolino« und eine Limousine, der »Wanderer«. In Danzig Oliva, in einem Stall der SS, wurden seine drei Pferde gepflegt. Zu Hause hatten wir »Personal«, wie man so schön sagt. Unseren großen, parkähnlichen Garten pflegte ein polnischer Gärtner namens Lengerski, wir Kinder wurden von einem freundlichen Kindermädchen, Ella, betreut. Später hatten wir eine Gouvernante sowie eine Klavierlehrerin für die beiden Ältesten, die bereits das Gymnasium besuchten. Auch sonst hat unsere Familie bis zum Kriegsende niemals etwas entbehren müssen, im Gegenteil. Es gab die besten Lebensmittel, selbst verbotene Dinge wie Bohnenkaffee, Südfrüchte, Butter oder englischen Tee. Ermöglicht wurde uns all dies durch das Import-/Exportgeschäft meines Vaters. Während des Krieges unterstanden ihm zwei Tender-Schiffe, die Militärschiffe in der Ostsee zu begleiten hatten. Über diesen Weg gelangten wohl auch die kostbaren Waren bis zu uns nach Hause.
Unser Vater hat wahrscheinlich noch lange an den Endsieg geglaubt, während unsere Mutter dem Nazi-Regime stets kritisch gegenüberstand. Dennoch hatte mein Vater im Garten für seine Familie einen eigenen Bunker bauen lassen.
Als im März 1945 die Russen in Danzig einmarschierten, wurde es für meinen Vater gefährlich. Doch er hatte Glück im Unglück: Wie schon gesagt, sprachen sich die vorwiegend russischen Zwangsarbeiter für Ernst Döring aus und retteten ihm damit das Leben. Er wurde sogar in Schutzhaft genommen, um ihn als Deutschen vor der verständlichen Wut nachrückender polnischer und russischer Truppen zu bewahren. Später übergaben ihn die Russen an die Polen, mit der Forderung nach einem fairen Prozess für meinen Vater. Und tatsächlich sprachen ihn die Polen schon im Mai 1945 wieder frei.
Erstaunlicherweise bekam er sogar eine Abfindung von 150.000 Zloty was damals allerdings gerade für drei Brote und drei Kilogramm Butter reichte. Allerdings wurde er nur mit der Auflage entlassen, für zwei Jahre nach Wismar zu gehen, um sich dort um Schifffahrtsangelegenheiten in der Ostsee zu kümmern. Mein Vater zog es jedoch vor, dieser Sache nicht nachzukommen, er tauchte unter, versteckte sich irgendwo in Danzig und beschwor damit für seine Frau und seine Familie großes Unglück herauf...
Meiner Mutter hatte man zunächst die polnische Staatsangehörigkeit für sich und alle vier Kinder angeboten. Sie sollte im eigenen Haus bleiben und weiterhin alle Annehmlichkeiten genießen können. Dies lehnte sie jedoch entschieden ab. Unsere Mutter war eine selbstbewusste, emanzipierte Frau, diese andere Nationalität anzunehmen, das war für sie unvorstellbar. Daraufhin schlug die wohlwollende Stimmung ins Gegenteil um. Es war eben Krieg. Unsere Mutter wurde gefoltert und vor den Augen von uns Kindern gedemütigt. Man zog sie splitternackt aus und band sie auf unseren Esstisch. Sie wurde ausgepeitscht, beschimpft, bespuckt und anschließend mit unserer damals siebzehnjährigen Schwester in den Heizungskeller gesperrt. Über das, was dort geschah, wurde niemals gesprochen. Während der grausamen Szene, die wir Kinder miterleben mussten, rannte mein jüngerer Bruder Axel plötzlich los. Er wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als unseren Vater in seinem Danziger Versteck aufzusuchen. Im Gegensatz zu uns anderen wusste er, wo dieser sich aufhielt. Die Soldaten ließen ihn rennen, sie hatten vielleicht sogar genau so ein Verhalten bei uns Kindern auslösen wollen. Bald darauf tauchte Axel tatsächlich wieder auf mit unserem Vater. Was dann genau mit ihm geschah, weiß ich nicht. Letztlich kam er in russische Gefangenschaft.
Wenig später erfolgte dann die Ausweisung unserer Mutter samt uns vier Kindern Richtung Westen. Wir wurden mit siebzig anderen Menschen in einen Viehwaggon gesperrt, der zunächst drei Tage lang auf einem Gleis abgestellt wurde. Es gab weder Wasser noch Nahrung, nur einen kleinen Luftschacht. Am Boden des Waggons klebte noch der Dung der Kühe, die vorher in dem Wagen transportiert worden waren. An Flucht war nicht zu denken, der Zug wurde von bewaffneten Soldaten scharf bewacht.
Nachdem wir nach zwölf dramatischen Tagen endlich in Berlin ankamen, waren viele Kinder und alte Menschen gestorben, denn es gab auch unterwegs nur einmal einen kurzen Stopp, bei dem die Menschen von katholischen Ordensschwestern notdürftig mit etwas Brot und Wasser versorgt wurden. Halb verhungert, völlig geschwächt und voller Ungeziefer wurden wir in Berlin im Auffanglager Marienfelde untergebracht. Die Stadt war von Flüchtlingen und Vertriebenen überfüllt, weshalb alle nur für drei Tage eine Aufenthaltsgenehmigung bekamen. Man musste eine Adresse von Verwandten oder Bekannten außerhalb Berlins angeben, dorthin wurde man dann geschickt.
Paula Döring gab ein Dorf in Thüringen an, Kaltennordheim. Sie hatte gehört, dass der jüdische Arzt, Dr. Albrecht, den unsere Eltern seinerzeit in unserem Danziger Haus versteckt hatten, sich dort aufhalten sollte. Das stellte sich später allerdings als Irrtum heraus. Außerdem gehörte dieses Dorf damals noch zum amerikanischen Sektor. Aber auch das sollte sich sehr bald ändern, denn die Amerikaner waren mit der russischen Besatzungsmacht einen Tauschhandel eingegangen: ein Stück Berlin gegen ein Stück Thüringen.
Als wir in Kaltennordheim ankamen, war unsere Mutter bereits schwer krank.
KALTENNORDHEIM Ein kaltes Dorf in Nachkriegsdeutschland (19451949)
Kaltennordheim, das kleine Dorf in der Rhön. Diesem im wahrsten Sinne des Wortes kalten Dorf im russischen Sektor gelten meine frühsten Kindheitserinnerungen. Erst hier nimmt meine Lebensgeschichte, die ich in chronologischen Stationen beschreiben will, für mich selbst Gestalt an. Als wir in Kaltennordheim ankamen, litt unsere Mutter bereits an Krebs und zudem unter schweren Gallenkoliken und Rheuma. Unser Vater war noch in Kriegsgefangenschaft. Mein Bruder Axel, der sechs Jahre älter ist als ich, war damals zehn Jahre, Konrad, der zehn Jahre vor mir geboren worden war, war 13, und meine Schwester Lilo, die fast fünfzehn Jahre älter war als ich, 17 Jahre alt. Ich selbst war fast vier.
Man hatte uns in einem Haus in der Brunnenstraße zwei Zimmer zugewiesen und gleich deutlich spüren lassen, dass Fremde hier unerwünscht waren und Flüchtlinge sowieso. Die brachten doch nur Unruhe und Ärger. Und mussten versorgt werden, obwohl man selbst nicht viel hatte. Nachbarschaftshilfe war in diesen schlimmen Zeiten kaum zu erwarten.
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Landesbischöfin Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers
Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland VORWORT
Auf einer Geburtstagsfeier im Oktober 2008 hörte ich zufällig von dem Aufruf der hannoverschen Landesbischöfin Margot Käßmann: Alle ehemaligen Heimkinder aus den Jahren 1950/1960 sollten sich bei ihr melden.
Das betraf mich direkt, denn ich hatte von 1952 bis 1957 im »Evangelischen Kinderheim am Schölerberg« in Osnabrück gelebt und gelitten.
Ich überlegte zwei oder drei Wochen, ob ich mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit treten sollte, dann meldete ich mich in Hannover. Ich hörte vom Verein ehemaliger Heimkinder (VEH), von Querelen dort, von einem geplanten Runden Tisch in Berlin mit ehemaligen Heimkindern, Vertretern von Bund, Ländern, Kirchen und der Jugendhilfe sowie der ehemaligen Vizepräsidentin des Bundestages Antje Vollmer als Vorsitzende. Es ging darum, wie sich diese Vertreter der öffentlichen Institutionen zu den aufgedeckten, meistens sehr schlimmen Ereignissen verhalten sollten und wollten, um eine adäquate Entschuldigung bei den Betroffenen und um die Frage, ob eine Entschädigung möglich sei.
Von diesem Augenblick an las ich viele Zeitungsartikel zum Thema, fand Berichte im Internet, nahm selbst Kontakt zu ehemaligen Heimkindern auf und lernte Menschen mit furchtbaren Schicksalen kennen.
Ich stellte fest, dass eine ganze Generation von Heimkindern, etwa eine halbe Million Menschen, ein ähnliches Schicksal erfahren hatte und noch heute an den Spuren trägt. Und doch waren die Erlebnisse für jeden von uns auf andere Weise schrecklich. Wir sprachen darüber, was am meisten schmerzte, welche seelischen und körperlichen Folgen zurückgeblieben waren, uns noch heute quälen und nicht wiedergutzumachen sind. Wir fragten uns, wie wir bis heute »damit« gelebt haben? Welche Träume wir hatten von der Welt und was daraus geworden ist?
Manche von uns haben bis heute gar nicht über ihre Heimzeit sprechen können und werden es auch nie. Ich selbst verspürte mehr und mehr das Bedürfnis, zu reden, zu schreiben; ich wollte alles ganz genau erzählen, bis ins letzte Detail. Aber ich hatte auch die Zeit und den Abstand gebraucht. Ich musste erst fünfzig Jahre in mich gehen und 67 Jahre alt werden, bevor ich mich dem Kind in mir annähern konnte. Es ehrlich ansehen konnte.
Jetzt wollte ich endlich Zeugnis ablegen. Ich musste es aufschreiben.
All dies belastete mich persönlich mehr, als ich es anfangs zugeben mochte. Meine eigene Geschichte ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ich begann in meinen alten Tagebüchern zu lesen, und alles war wieder lebendig. Alle Tränen von damals, die geweinten und die ungeweinten, brachen sich Bahn. Es war, als wäre es gestern erst geschehen. Die Zeit hat auch bei mir tiefe Spuren hinterlassen. Nicht nur die Heimzeit selbst, sondern besonders, was davor und auch danach geschehen war. Ich wurde wieder zu dem kleinen Mädchen Marianne, durchlitt alles noch einmal, was sie durchlitten hatte und wurde endlich frei. Das hatte bisher keine Therapie geschafft.
Ich finde es für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft relevant und wichtig, dass unsere Heimschicksale erzählt werden; sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Ich hoffe, dass der Runde Tisch in Berlin und die vielen regionalen Runden Tische ein gutes Gremium zur Aufarbeitung und Klärung darstellen, wenn sie denn ehrlich daran interessiert sind.
Meine Lebensgeschichte habe ich dennoch aus ganz persönlicher Sicht geschrieben. Nicht, wie die Welt die Dinge sieht, sondern meine eigene Sichtweise war der Maßstab. Dabei zählte die Perspektive des Kindes in mir, das damals alles durchlebt hat. Beim Schreiben war ich bemüht, die Menschen von damals sachlich und fair zu beschreiben. Meine Schwester Lilo, die wenig einfühlsam war und mich so sehr verprügelt hat, war damals, als unsere Mutter starb, eine junge Frau von 21 Jahren. Sie musste plötzlich die Verantwortung für drei Geschwister übernehmen, die im Krieg alle Schreckliches gesehen und erlebt hatten und davon geprägt waren.
Darüber hinaus musste sie für unseren Lebensunterhalt aufkommen und sehr hart arbeiten. Unser Vater unterstützte sie viel zu wenig, er beutete sie aus. Lilo hatte den Krieg erlebt, den Zusammenbruch des ganzen Landes und den Einmarsch der Alliierten. Sie war jung, sie wollte endlich leben, wollte ihr Überleben genießen, wenn auch alles rundherum in Trümmern lag. Lange Zeit hatte sie keine Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Erst viel später lernte ich auch andere Seiten an meiner Schwester kennen, obwohl ihre Härte immer blieb. Damals waren die meisten Menschen geprägt von den Ideen des Dritten Reiches und von den Kriegserlebnissen. Sie nahmen nur wahr, was sie ertragen konnten.
Ich blicke nicht im Zorn zurück, denn ich habe meinen Weg trotz allem gefunden. Zwar sind Spuren meiner schlimmen Kindheit geblieben, aber ich habe Vieles inzwischen verarbeitet und überwunden. Jedes von uns ehemaligen Heimkindern muss mit diesen Spuren leben, nicht alle schaffen es.
Ich kann wohl sagen, ich hatte Glück; das Glück, 47 Jahre lang als Kinderpflegerin, Erzieherin und Vorklassenleiterin mit Kindern zu arbeiten. Unter anderem habe ich auch eine der ersten rein türkischen »Kinderbetreuungsstuben« in Berlin-Wedding mit vierzig Kindern geleitet. Später eine Kinderkrippe in Kreuzberg mit insgesamt 23 Nationalitäten und sechzig Kindern. Meine Erzieherausbildung habe ich während dieser Zeit berufsbegleitend am sozialpädagogischen Institut der Arbeiterwohlfahrt gemacht und nebenbei als alleinerziehende Mutter für meine beiden eigenen Kinder gesorgt.
Mein Leitgedanke war immer, dass keines der Kinder, die mir anvertraut waren, jemals so traurig, so einsam, so hilflos, so verlassen und verzweifelt sein sollte, wie ich es war. Und dennoch meine Kinder, die ich nach der Scheidung alleine großgezogen habe, hatten es mit einer Mutter wie mir nicht leicht. Sie sind inzwischen 40 und 44 Jahre alt, und wir setzen uns immer noch über Grundsätze, Werte und Fragen der Moral und des Lebens auseinander.
Doch bei allen Fehlern, die ich vermutlich während ihrer Erziehung gemacht habe, konnten sie sich immer ganz sicher sein, dass ich sie gewollt, gewünscht, geliebt und bis heute niemals alleingelassen habe. Dieses Wissen hat sie stark gemacht und zu wunderbaren Menschen.
Für mein Buch wünsche ich mir, dass es in die Hände vieler Mütter und Väter, Brüder und Schwestern, Lehrer, Erzieher, einfach aller Menschen gelangt, die Verantwortung für Kinder übernehmen. Und dass es darauf hinweist, wie wertvoll jedes einzelne Kinderleben ist und wie zerbrechlich.
Ein großer Wunsch ist geblieben. Ich würde so gerne etwas von meiner damaligen Beschützerin und Freundin Regina Schafer hören. 1962/63 arbeitete sie in Veyvey in der Schweiz am Genfer See in einem Rudolf-Steiner-Heim für behinderte Kinder. Dann verlor sich unser Kontakt.
MEINE WURZELN (1942-1945)
Auf die Welt kam ich in Danzig, am 10. April 1942. Ich war das vierte Kind des Kaufmanns Ernst Döring und seiner Frau Paula Döring, geborene Kaschner. Auch meine Eltern stammten aus Danzig. Während mein Vater Jahrgang 1896 war, war meine Mutter 1902 in ein neues, schicksalhaftes Jahrhundert hineingeboren worden.
Sie selbst brachte 1928 meine Schwester Lilo zur Welt und 1932 und 1936 meine Brüder Konrad und Axel. Meine Geschwister waren es, die mir viele Jahre später von den Geschehnissen während meiner ersten Lebensjahre berichteten. Ich selbst habe an diese Zeit nur eine bruchstückhafte Erinnerung. Wie weit ihre Versionen unserer Familiengeschichte der Wahrheit entsprechen, kann ich nicht sagen. Manchmal denke ich, dass ihre Erinnerungen von den schlimmen Erfahrungen, die sie im Krieg hatten machen müssen, überschattet und beeinträchtigt wurden.
Was ich von ihnen weiß, ist Folgendes: Im Gegensatz zu meinem Vater kam meine Mutter, Paula Döring, aus einer wohlhabenden, großbürgerlichen Familie. Sie war in den Genuss einer guten Schulbildung gekommen und arbeitete sogar bis zur Heirat als leitende Angestellte einer Bank. Mein Vater dagegen kam aus einfachsten Verhältnissen. Mein Großvater väterlicherseits war Maurer, meine Großmutter arbeitete als Waschfrau in den Häusern reicher Leute. Als kleiner Junge hatte er seine Mutter begleitet und sich mit eigenen Augen davon überzeugen können, in welchem Wohlstand andere Menschen lebten. Das musste seinen Ehrgeiz geweckt haben.
Mein Vater hatte sieben Brüder, die jedoch alle früh verstarben. Er, als Jüngster übrig geblieben, war eifrig und klug und leitete bereits mit 24 Jahren eine große Import/ExportFirma als Prokurist. So konnten meine Eltern es sich leisten, nach ihrer Heirat eine Villa in dem gepflegten Danziger Vorort Langfuhr zu bewohnen. Ein Standard, an den meine Mutter gewöhnt war und den mein Vater seit seiner Kindheit angestrebt hatte. Heute weiß ich, ebenfalls von meinen älteren Geschwistern, dass mein Vater aufgrund seines Handels ein »kriegswichtiger Mann« war. Er gehörte zwar zur Heimwehr, musste aber zu seinem Glück nicht an die Front, denn er hatte bereits im Ersten Weltkrieg gedient. Meine Geschwister haben mir zudem erzählt, dass er um die 160 Zwangsarbeiter beschäftigt haben soll, vorwiegend Russen, Polen und Jugoslawen, denen er aus eigener Initative akzeptable Unterkünfte und eine relativ gute Versorgung geboten hat. Zudem erlaubte er diesen handwerklich sehr begabten Arbeitern Holzspielzeug herzustellen, das er für sie verkaufte. Den Gewinn soll er ihnen überlassen haben. Zwar weiß ich das alles ebenfalls nur aus zweiter Hand, aber immerhin haben sich diese Menschen beim Einmarsch der Russen für meinen Vater eingesetzt mit Erfolg.
Ja, mein Vater war ein Nazi. Wenn auch sicherlich wie viele seiner Zeitgenossen eher ein Mitläufer. Einer, der den Weg des geringsten Widerstands ging, um so seine Geschäfte am Laufen zu halten und seine Familie zu schützen. Es hieß, er habe guten Kontakt zum zuständigen Gauleiter. Gleichzeitig versteckte er über mehrere Jahre einen jüdischen Arzt und Freund, Dr. Albrecht, bei uns zu Hause. Auch eine junge Russin, die beim Einmarsch in Danzig als Marketenderin, wie das damals hieß, mit dem Soldatentross in die Stadt kam, ließ er in einem kleinen Zimmer in unserem Haus wohnen und verhalf ihr zu einem besseren Leben.
Die Geschäfte unseres Vaters gingen sehr gut während des Krieges oder gerade wegen des Krieges. In der Garage standen zwei Autos, ein kleiner Fiat »Turpolino« und eine Limousine, der »Wanderer«. In Danzig Oliva, in einem Stall der SS, wurden seine drei Pferde gepflegt. Zu Hause hatten wir »Personal«, wie man so schön sagt. Unseren großen, parkähnlichen Garten pflegte ein polnischer Gärtner namens Lengerski, wir Kinder wurden von einem freundlichen Kindermädchen, Ella, betreut. Später hatten wir eine Gouvernante sowie eine Klavierlehrerin für die beiden Ältesten, die bereits das Gymnasium besuchten. Auch sonst hat unsere Familie bis zum Kriegsende niemals etwas entbehren müssen, im Gegenteil. Es gab die besten Lebensmittel, selbst verbotene Dinge wie Bohnenkaffee, Südfrüchte, Butter oder englischen Tee. Ermöglicht wurde uns all dies durch das Import-/Exportgeschäft meines Vaters. Während des Krieges unterstanden ihm zwei Tender-Schiffe, die Militärschiffe in der Ostsee zu begleiten hatten. Über diesen Weg gelangten wohl auch die kostbaren Waren bis zu uns nach Hause.
Unser Vater hat wahrscheinlich noch lange an den Endsieg geglaubt, während unsere Mutter dem Nazi-Regime stets kritisch gegenüberstand. Dennoch hatte mein Vater im Garten für seine Familie einen eigenen Bunker bauen lassen.
Als im März 1945 die Russen in Danzig einmarschierten, wurde es für meinen Vater gefährlich. Doch er hatte Glück im Unglück: Wie schon gesagt, sprachen sich die vorwiegend russischen Zwangsarbeiter für Ernst Döring aus und retteten ihm damit das Leben. Er wurde sogar in Schutzhaft genommen, um ihn als Deutschen vor der verständlichen Wut nachrückender polnischer und russischer Truppen zu bewahren. Später übergaben ihn die Russen an die Polen, mit der Forderung nach einem fairen Prozess für meinen Vater. Und tatsächlich sprachen ihn die Polen schon im Mai 1945 wieder frei.
Erstaunlicherweise bekam er sogar eine Abfindung von 150.000 Zloty was damals allerdings gerade für drei Brote und drei Kilogramm Butter reichte. Allerdings wurde er nur mit der Auflage entlassen, für zwei Jahre nach Wismar zu gehen, um sich dort um Schifffahrtsangelegenheiten in der Ostsee zu kümmern. Mein Vater zog es jedoch vor, dieser Sache nicht nachzukommen, er tauchte unter, versteckte sich irgendwo in Danzig und beschwor damit für seine Frau und seine Familie großes Unglück herauf...
Meiner Mutter hatte man zunächst die polnische Staatsangehörigkeit für sich und alle vier Kinder angeboten. Sie sollte im eigenen Haus bleiben und weiterhin alle Annehmlichkeiten genießen können. Dies lehnte sie jedoch entschieden ab. Unsere Mutter war eine selbstbewusste, emanzipierte Frau, diese andere Nationalität anzunehmen, das war für sie unvorstellbar. Daraufhin schlug die wohlwollende Stimmung ins Gegenteil um. Es war eben Krieg. Unsere Mutter wurde gefoltert und vor den Augen von uns Kindern gedemütigt. Man zog sie splitternackt aus und band sie auf unseren Esstisch. Sie wurde ausgepeitscht, beschimpft, bespuckt und anschließend mit unserer damals siebzehnjährigen Schwester in den Heizungskeller gesperrt. Über das, was dort geschah, wurde niemals gesprochen. Während der grausamen Szene, die wir Kinder miterleben mussten, rannte mein jüngerer Bruder Axel plötzlich los. Er wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als unseren Vater in seinem Danziger Versteck aufzusuchen. Im Gegensatz zu uns anderen wusste er, wo dieser sich aufhielt. Die Soldaten ließen ihn rennen, sie hatten vielleicht sogar genau so ein Verhalten bei uns Kindern auslösen wollen. Bald darauf tauchte Axel tatsächlich wieder auf mit unserem Vater. Was dann genau mit ihm geschah, weiß ich nicht. Letztlich kam er in russische Gefangenschaft.
Wenig später erfolgte dann die Ausweisung unserer Mutter samt uns vier Kindern Richtung Westen. Wir wurden mit siebzig anderen Menschen in einen Viehwaggon gesperrt, der zunächst drei Tage lang auf einem Gleis abgestellt wurde. Es gab weder Wasser noch Nahrung, nur einen kleinen Luftschacht. Am Boden des Waggons klebte noch der Dung der Kühe, die vorher in dem Wagen transportiert worden waren. An Flucht war nicht zu denken, der Zug wurde von bewaffneten Soldaten scharf bewacht.
Nachdem wir nach zwölf dramatischen Tagen endlich in Berlin ankamen, waren viele Kinder und alte Menschen gestorben, denn es gab auch unterwegs nur einmal einen kurzen Stopp, bei dem die Menschen von katholischen Ordensschwestern notdürftig mit etwas Brot und Wasser versorgt wurden. Halb verhungert, völlig geschwächt und voller Ungeziefer wurden wir in Berlin im Auffanglager Marienfelde untergebracht. Die Stadt war von Flüchtlingen und Vertriebenen überfüllt, weshalb alle nur für drei Tage eine Aufenthaltsgenehmigung bekamen. Man musste eine Adresse von Verwandten oder Bekannten außerhalb Berlins angeben, dorthin wurde man dann geschickt.
Paula Döring gab ein Dorf in Thüringen an, Kaltennordheim. Sie hatte gehört, dass der jüdische Arzt, Dr. Albrecht, den unsere Eltern seinerzeit in unserem Danziger Haus versteckt hatten, sich dort aufhalten sollte. Das stellte sich später allerdings als Irrtum heraus. Außerdem gehörte dieses Dorf damals noch zum amerikanischen Sektor. Aber auch das sollte sich sehr bald ändern, denn die Amerikaner waren mit der russischen Besatzungsmacht einen Tauschhandel eingegangen: ein Stück Berlin gegen ein Stück Thüringen.
Als wir in Kaltennordheim ankamen, war unsere Mutter bereits schwer krank.
KALTENNORDHEIM Ein kaltes Dorf in Nachkriegsdeutschland (19451949)
Kaltennordheim, das kleine Dorf in der Rhön. Diesem im wahrsten Sinne des Wortes kalten Dorf im russischen Sektor gelten meine frühsten Kindheitserinnerungen. Erst hier nimmt meine Lebensgeschichte, die ich in chronologischen Stationen beschreiben will, für mich selbst Gestalt an. Als wir in Kaltennordheim ankamen, litt unsere Mutter bereits an Krebs und zudem unter schweren Gallenkoliken und Rheuma. Unser Vater war noch in Kriegsgefangenschaft. Mein Bruder Axel, der sechs Jahre älter ist als ich, war damals zehn Jahre, Konrad, der zehn Jahre vor mir geboren worden war, war 13, und meine Schwester Lilo, die fast fünfzehn Jahre älter war als ich, 17 Jahre alt. Ich selbst war fast vier.
Man hatte uns in einem Haus in der Brunnenstraße zwei Zimmer zugewiesen und gleich deutlich spüren lassen, dass Fremde hier unerwünscht waren und Flüchtlinge sowieso. Die brachten doch nur Unruhe und Ärger. Und mussten versorgt werden, obwohl man selbst nicht viel hatte. Nachbarschaftshilfe war in diesen schlimmen Zeiten kaum zu erwarten.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Marianne Döring
- 332 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 14,2 x 21,9 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003657
- ISBN-13: 9783868003659
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