In Todesangst
Seit ihre Eltern geschieden sind, lebt die 17-jährige Sydney bei ihrer Mutter am anderen Ende der Stadt. Diesen Sommer hat sie einen Ferienjob in einem Hotel angenommen und wohnt für ein paar Monate bei ihrem Vater Tim. Doch eines Abends kommt...
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Produktinformationen zu „In Todesangst “
Seit ihre Eltern geschieden sind, lebt die 17-jährige Sydney bei ihrer Mutter am anderen Ende der Stadt. Diesen Sommer hat sie einen Ferienjob in einem Hotel angenommen und wohnt für ein paar Monate bei ihrem Vater Tim. Doch eines Abends kommt Sydney nicht von ihrer Schicht im Hotel nach Hause. Ihr Handy. Nichts. Im Hotel. Nichts. Im Gegenteil: Tim ist schockiert, als er hört, dass man dort noch nie von einem Mädchen namens Sydney gehört hat. Verzweifelt und besessen beginnt er, nach Sydney zu suchen.
"Unglaublich fesselnd."
Tess Gerritsen
Lese-Probe zu „In Todesangst “
In Todesangst von Linwood BarclayIch stieg in meinen CR-V und fuhr zur Arbeit. Riverside Honda liegt unweit der Brücke, über die man nach Stratford gelangt, das am anderen Ufer des Housatonic liegt. Es war ein zäher Morgen – es kamen kaum Leute, so dass ich erst einmal Däumchen drehen musste. Kurz nach Mittag sah ein Rentnerpaar Ende sechzig herein, um sich einen viertürigen Accord anzusehen. Sie feilschten endlos mit mir herum – wir waren 700 Dollar auseinander. Ich entschuldigte mich mit den Worten, ich müsse kurz mit meinem Chef reden, ging aber stattdessen in die Werkstatt und aß erst einmal in aller Ruhe einen Schoko-Donut, ehe ich zu den beiden zurückkehrte und ihnen erklärte, dass ich zwar nicht weiter mit dem Preis heruntergehen könnte, wir die nächsten Tage aber einen Profi-Pinstriper zu Gast hätten, der ihnen den Accord gratis verzieren würde.
Die Augen des alten Herrn leuchteten, und kurz darauf war der Deal perfekt. Hinterher besorgte ich ein Pinstriping-Set für zehn Dollar und beauftragte einen unserer Lackierer, sich um die Zierleisten zu kümmern.
Am Nachmittag hatte ich einen Kunden, der seinen zehn Jahre alten Odyssey-Van gegen ein neues Modell in Zahlung geben wollte. Wie viel wir ihm noch für die alte Kiste geben würden? Solche Fragen beantwortet man als Kundenberater grundsätzlich erst, nachdem man selbst ein paar Fragen gestellt
hat.
»Läuft die Erstzulassung auf Ihren Namen?«, fragte ich. »Ist der Wagen scheckheftgepflegt?« Er antwortete, er habe den Van regelmäßig zur Inspektion gebracht. »War der Wagen irgendwann einmal in einen Unfall verwickelt?«
»Ja«, gab er zu. »Vor drei Jahren hatte ich einen Auffahrunfall. Die ganze Front musste gerichtet werden.«
Ich erklärte ihm, dass der Unfall den Wert des Wagens leider
... mehr
deutlich mindern würde. Er hielt dagegen, die erneuerten Teile würden den Wert des Vans ja wohl höchstens steigern, und war alles andere als zufrieden mit der Summe, die ich ihm anbot.
Zweimal rief ich die Büronummer meiner Exfrau in Stratford an – sie arbeitete in einem von Bobs Autosalons – und hinterließ ihr jeweils eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Beide Male fragte ich, wie es ihr gefallen würde, unsere Tochter demnächst auf einem heißen Kalender in der nächsten Reifenwerkstatt zu sehen.
Nach dem zweiten Anruf hatte ich wieder einen halbwegs klaren Kopf, und ich erkannte, dass es hier nicht allein um Sydney ging. Es ging um Susanne, um Bob, um das, was er ihr bieten konnte, darum, wie ich alles in den Sand gesetzt hatte.
Ich arbeitete als Autoverkäufer, seit ich zwanzig war. Ich beherrschte meinen Job aus dem Effeff, aber Susanne war der Überzeugung, ich könnte mehr aus meinem Talent machen. Sie sagte, ich solle mich selbständig machen. Mein eigener Herr sein. Ein eigenes Autohaus eröffnen. Dass wir unserem Leben die entscheidende Wende geben könnten. Wir würden Syd auf die besten Schulen schicken. Einer goldenen Zukunft ins Auge sehen.
Mein Vater war gestorben, als ich neunzehn gewesen war, und hatte meine Mutter gut versorgt zurückgelassen. Als meine Mutter ein paar Jahre später an einem Herzinfarkt starb, benutzte ich mein Erbe, um Susanne zu beweisen, dass ich der Mann sein konnte, den sie sich so sehnlich wünschte. Ich eröffnete mein eigenes Autohaus.
Und ging baden.
Ich war schlicht kein Unternehmer. Kundenberatung und Verkauf, das war meine Welt. Statt mich um die Organisation meiner Firma zu kümmern, zog ich es immer öfter vor, die Verkaufsgespräche selbst in die Hand zu nehmen. Management war einfach nicht mein Ding. Die wichtigen Entscheidungen überließ ich anderen, und zu allem Überfluss wurde ich auch noch von meinen Mitarbeitern hintergangen. Schließlich verlor ich alles.
Und zwar nicht nur meine Firma, nicht nur unser großes Haus mit Ausblick auf die Flussmündung. Ich verlor meine Familie. Susanne warf mir vor, alles vermasselt zu haben. Ich warf ihr vor, mich in etwas hineingedrängt zu haben, wofür ich nicht geschaffen war.
Während Syd sich mit Selbstvorwürfen quälte. Sie meinte, wenn wir sie wirklich liebhätten, würden wir auch zusammenbleiben. Zwar hatte unsere Trennung nichts mit Syd zu tun, aber das nahm sie uns nicht ab.
In Bob fand Susanne, was ich ihr nicht hatte geben können. Bob war stets darauf aus, die nächste Sprosse auf der Karriereleiter zu erklimmen. Wenn er Autos verkaufen konnte, konnte er auch ein Autohaus eröffnen, und wenn das lief, warum nicht gleich zwei, drei Filialen aus dem Boden stampfen? Ich hatte Susanne keine Corvette geschenkt, als wir miteinander ausgegangen waren – Bob schon. Weshalb es mich mit heimlicher Freude erfüllte, als ein Kolben den Geist aufgab und sie den Wagen schließlich verkaufte, weil sie nur ungern mit Schaltung fuhr.
Am Tag, an dem meine Tochter verschwand, ging ich um sechs nach Hause, wenn auch ein wenig zögernd; man weiß eben nie, ob nicht in letzter Sekunde noch ein Kunde mit gezücktem Scheckbuch auftaucht. Aber schließlich konnte ich nicht den ganzen Abend in der Firma verbringen. Irgendwann
muss man Feierabend machen.
Eigentlich hatte ich zum Abendessen Spaghetti machen wollen, beschloss dann aber doch, zwei Pizzen kommen zu lassen – als Friedensangebot sozusagen, nachdem ich ihr wegen der Sonnenbrille die Daumenschrauben angelegt hatte.
Um sieben war sie immer noch nicht da. Angerufen hatte sie auch nicht.
Vielleicht hatte sie für jemanden einspringen müssen, der krank geworden war. Normalerweise rief sie zwar an, wenn sie sich verspätete, aber nach unserem Zusammenstoß beim Frühstück konnte ich durchaus verstehen, dass sie heute über die üblichen Höflichkeitsregeln hinwegsah.
Als ich bis acht aber immer noch nichts von ihr gehört hatte, begann ich mir allmählich Sorgen zu machen. Im Fernsehen in der Küche liefen gerade die Nachrichten. Irgendetwas über ein Erdbeben in Asien, aber ich hörte nur mit einem Ohr hin, während ich überlegte, wo Syd stecken mochte.
Manchmal traf sie sich nach der Arbeit noch mit Patty oder einer ihrer anderen Freundinnen, meistens in der Post Mall, um einen Happen zu essen.
Ich rief auf ihrem Handy an. Es klingelte mehrmals, dann sprang die Voicemail an. »Ruf mich doch bitte kurz an, Schatz«, sagte ich. »Ich wollte uns Pizza bestellen, würde aber gern noch wissen, was du drauf haben willst.«
Dann wartete ich weitere zehn Minuten ab. Ich wollte gerade die Nummer des Hotels herauskramen, als das Telefon läutete. Ich hob ab, ohne einen Blick auf das Display zu werfen. »Hey«, sagte ich. »Also, was willst du auf die Pizza?«
»Bloß keine Sardellen.« Aber es war nicht Syd. Es war Susanne.
»Oh«, sagte ich. »Hi.«
»Ich habe eben meinen Anrufbeantworter abgehört. Hör bloß auf, den Moralapostel zu spielen.«
Ich holte tief Luft. »Wieso kapierst du’s nicht? Bob und Evan glotzen sich offenbar die Augen aus dem Kopf! Und reden unserer Tochter diesen Model-Mist ein!«
»Jetzt mach mal halblang, Tim«, sagte Susanne. »Sie waren bloß nett zu ihr, das ist alles.«
»Und dass Bobs Sohn quasi mit Sydney zusammengezogen ist, geht für dich auch völlig in Ordnung, oder was?«
»Sie sind wie Bruder und Schwester«, erwiderte sie.
»Vergiss es. Ich weiß genau, wie es war, als ich neunzehn …« Ein leises Piepen vermeldete, dass ich einen anderen Anrufer in der Leitung hatte. »Ich muss Schluss machen. Ich rufe zurück, okay?«
Susanne legte auf. Ich wechselte auf den anderen Anrufer.
»Hallo?«
»Mr Blake?«, sagte eine weibliche Stimme, die jedenfalls nicht meiner Tochter gehörte.
»Ja?« »Hier Fairfields Türen-und-Fenster-Service. Wir sind später bei Ihnen in der Gegend und würden gern …«
Ich legte auf, suchte die Nummer des Hotels heraus, wählte und ließ es bestimmt zwanzig Mal klingeln, bevor ich entnervt wieder auflegte.
Ich griff mir Jacke und Schlüssel und fuhr quer durch die Stadt zum Just Inn Time, parkte direkt vor dem Eingang und blickte mich nach Syds Civic um, doch der Wagen war nirgends zu sehen. Dann betrat ich das Hotel zum ersten Mal, seit Syd dort vor zwei Wochen angefangen hatte. Die Glastüren schlossen sich hinter mir, als ich die Lobby betrat. Ich hoffte, Syd hinter der Rezeption zu erblicken, doch stattdessen stand dort ein junger Typ von vielleicht Ende zwanzig, mit schmutzig blondem Haar und reichlich Aknenarben im Gesicht.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte er. Auf seinem Namensschild stand »Owen«.
»Ja«, sagte ich. »Ich suche nach Syd.«
»Wem? Wie heißt er denn mit Nachnamen?«
»Es ist eine Sie. Sydney. Sie ist meine Tochter.«
»Wissen Sie die Zimmernummer?«
»Nein, nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie arbeitet hier – hier an der Rezeption. Sie ist nicht zum Abendessen nach Hause gekommen, deshalb bin ich kurz vorbeigekommen, um nachzusehen, ob sie Überstunden macht.«
»Verstehe«, sagte Owen.
»Sie heißt Sydney Blake«, sagte ich. »Sie kennen sie bestimmt. «
Owen schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
»Sind Sie neu hier?«, fragte ich.
»Nein. Na ja, kommt drauf an.« Er grinste. »Sechs Monate sind auch nicht gerade ’ne lange Zeit, oder?«
»Sydney Blake«, wiederholte ich. »Sie arbeitet hier seit zwei Wochen. Siebzehn Jahre alt, blond.«
Abermals schüttelte Owen den Kopf.
»Vielleicht musste sie irgendwo einspringen«, sagte ich.
»Sie haben doch bestimmt einen Dienstplan oder so was. Können Sie nicht mal nachsehen?«
»Einen Moment bitte«, sagte Owen. »Ich hole den Duty Manager.«
Owen quetschte sich durch eine Schwingtür und kam kurz darauf mit einem hageren, gutaussehenden Mann Anfang vierzig zurück. Auf seinem Namensschild stand »Carter«, und seinem Akzent nach kam er aus den Südstaaten, wenn ich auch nicht hätte sagen können, woher genau.
»Ja, bitte?«, sagte er.
»Ich suche meine Tochter«, sagte ich. »Sie arbeitet hier.«
»Wie heißt sie denn?«
»Sydney Blake«, sagte ich. »Syd.«
»Sydney Blake?«, wiederholte er. »Den Namen habe ich noch nie gehört.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie arbeitet hier erst seit zwei Wochen. Ein Ferienjob, den Sommer über.«
Carter musterte mich ratlos. »Tut mir leid.«
Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte.
»Sehen Sie doch bitte mal auf den Dienstplan«, drängte ich ihn.
»Wozu?«, sagte er. »Ich weiß, wer hier arbeitet und wer nicht, und ich kenne keine Person dieses Namens.«
»Moment«, sagte ich. Ich griff nach meinem Portemonnaie, kramte in einem Fach hinter den Kreditkarten und förderte ein drei Jahre altes Highschool-Foto von Sydney zutage.
»Nicht mehr ganz neu, das Bild«, sagte ich. »Aber das ist sie.«
Beide begutachteten das Foto. Owen zog kurz die Augenbrauen hoch, anscheinend schwer beeindruckt von Syds Aussehen.
Dann reichte mir Carter das Bild zurück.
»Es tut mir wirklich leid, Mister …«
»Blake. Tim Blake.«
»Vielleicht arbeitet sie drüben im Howard Johnson’s.« Er deutete mit dem Kopf nach rechts.
»Nein«, sagte ich. »Sie hat gesagt, sie arbeitet hier.« Meine Gedanken überschlugen sich. »Wer ist denn für die Tagschicht zuständig?«
»Veronica.«
»Dann rufen Sie die Dame bitte an.«
Zögernd ging Carter zum Telefon, entschuldigte sich bei der Frau am anderen Ende der Leitung und reichte mir den Hörer. Ich erklärte Veronica, was geschehen war.
»Vielleicht hat sie Ihnen das falsche Hotel genannt«, sagte Veronica.
»Nein.«
Veronica bat mich um meine Nummer und versprach, sich bei mir zu melden, falls ihr etwas zu Ohren kam. Dann legte sie auf.
Auf dem Weg nach Hause überfuhr ich zwei rote Ampeln und hätte beinahe einen Toyota Yaris gerammt, während ich abwechselnd auf Syds Handy und bei uns zu Hause anrief. Als ich das Haus betrat, war alles totenstill. Syd kam an jenem Abend nicht nach Hause.
Und auch nicht am nächsten Abend.
Oder dem Abend darauf.
Zweimal rief ich die Büronummer meiner Exfrau in Stratford an – sie arbeitete in einem von Bobs Autosalons – und hinterließ ihr jeweils eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Beide Male fragte ich, wie es ihr gefallen würde, unsere Tochter demnächst auf einem heißen Kalender in der nächsten Reifenwerkstatt zu sehen.
Nach dem zweiten Anruf hatte ich wieder einen halbwegs klaren Kopf, und ich erkannte, dass es hier nicht allein um Sydney ging. Es ging um Susanne, um Bob, um das, was er ihr bieten konnte, darum, wie ich alles in den Sand gesetzt hatte.
Ich arbeitete als Autoverkäufer, seit ich zwanzig war. Ich beherrschte meinen Job aus dem Effeff, aber Susanne war der Überzeugung, ich könnte mehr aus meinem Talent machen. Sie sagte, ich solle mich selbständig machen. Mein eigener Herr sein. Ein eigenes Autohaus eröffnen. Dass wir unserem Leben die entscheidende Wende geben könnten. Wir würden Syd auf die besten Schulen schicken. Einer goldenen Zukunft ins Auge sehen.
Mein Vater war gestorben, als ich neunzehn gewesen war, und hatte meine Mutter gut versorgt zurückgelassen. Als meine Mutter ein paar Jahre später an einem Herzinfarkt starb, benutzte ich mein Erbe, um Susanne zu beweisen, dass ich der Mann sein konnte, den sie sich so sehnlich wünschte. Ich eröffnete mein eigenes Autohaus.
Und ging baden.
Ich war schlicht kein Unternehmer. Kundenberatung und Verkauf, das war meine Welt. Statt mich um die Organisation meiner Firma zu kümmern, zog ich es immer öfter vor, die Verkaufsgespräche selbst in die Hand zu nehmen. Management war einfach nicht mein Ding. Die wichtigen Entscheidungen überließ ich anderen, und zu allem Überfluss wurde ich auch noch von meinen Mitarbeitern hintergangen. Schließlich verlor ich alles.
Und zwar nicht nur meine Firma, nicht nur unser großes Haus mit Ausblick auf die Flussmündung. Ich verlor meine Familie. Susanne warf mir vor, alles vermasselt zu haben. Ich warf ihr vor, mich in etwas hineingedrängt zu haben, wofür ich nicht geschaffen war.
Während Syd sich mit Selbstvorwürfen quälte. Sie meinte, wenn wir sie wirklich liebhätten, würden wir auch zusammenbleiben. Zwar hatte unsere Trennung nichts mit Syd zu tun, aber das nahm sie uns nicht ab.
In Bob fand Susanne, was ich ihr nicht hatte geben können. Bob war stets darauf aus, die nächste Sprosse auf der Karriereleiter zu erklimmen. Wenn er Autos verkaufen konnte, konnte er auch ein Autohaus eröffnen, und wenn das lief, warum nicht gleich zwei, drei Filialen aus dem Boden stampfen? Ich hatte Susanne keine Corvette geschenkt, als wir miteinander ausgegangen waren – Bob schon. Weshalb es mich mit heimlicher Freude erfüllte, als ein Kolben den Geist aufgab und sie den Wagen schließlich verkaufte, weil sie nur ungern mit Schaltung fuhr.
Am Tag, an dem meine Tochter verschwand, ging ich um sechs nach Hause, wenn auch ein wenig zögernd; man weiß eben nie, ob nicht in letzter Sekunde noch ein Kunde mit gezücktem Scheckbuch auftaucht. Aber schließlich konnte ich nicht den ganzen Abend in der Firma verbringen. Irgendwann
muss man Feierabend machen.
Eigentlich hatte ich zum Abendessen Spaghetti machen wollen, beschloss dann aber doch, zwei Pizzen kommen zu lassen – als Friedensangebot sozusagen, nachdem ich ihr wegen der Sonnenbrille die Daumenschrauben angelegt hatte.
Um sieben war sie immer noch nicht da. Angerufen hatte sie auch nicht.
Vielleicht hatte sie für jemanden einspringen müssen, der krank geworden war. Normalerweise rief sie zwar an, wenn sie sich verspätete, aber nach unserem Zusammenstoß beim Frühstück konnte ich durchaus verstehen, dass sie heute über die üblichen Höflichkeitsregeln hinwegsah.
Als ich bis acht aber immer noch nichts von ihr gehört hatte, begann ich mir allmählich Sorgen zu machen. Im Fernsehen in der Küche liefen gerade die Nachrichten. Irgendetwas über ein Erdbeben in Asien, aber ich hörte nur mit einem Ohr hin, während ich überlegte, wo Syd stecken mochte.
Manchmal traf sie sich nach der Arbeit noch mit Patty oder einer ihrer anderen Freundinnen, meistens in der Post Mall, um einen Happen zu essen.
Ich rief auf ihrem Handy an. Es klingelte mehrmals, dann sprang die Voicemail an. »Ruf mich doch bitte kurz an, Schatz«, sagte ich. »Ich wollte uns Pizza bestellen, würde aber gern noch wissen, was du drauf haben willst.«
Dann wartete ich weitere zehn Minuten ab. Ich wollte gerade die Nummer des Hotels herauskramen, als das Telefon läutete. Ich hob ab, ohne einen Blick auf das Display zu werfen. »Hey«, sagte ich. »Also, was willst du auf die Pizza?«
»Bloß keine Sardellen.« Aber es war nicht Syd. Es war Susanne.
»Oh«, sagte ich. »Hi.«
»Ich habe eben meinen Anrufbeantworter abgehört. Hör bloß auf, den Moralapostel zu spielen.«
Ich holte tief Luft. »Wieso kapierst du’s nicht? Bob und Evan glotzen sich offenbar die Augen aus dem Kopf! Und reden unserer Tochter diesen Model-Mist ein!«
»Jetzt mach mal halblang, Tim«, sagte Susanne. »Sie waren bloß nett zu ihr, das ist alles.«
»Und dass Bobs Sohn quasi mit Sydney zusammengezogen ist, geht für dich auch völlig in Ordnung, oder was?«
»Sie sind wie Bruder und Schwester«, erwiderte sie.
»Vergiss es. Ich weiß genau, wie es war, als ich neunzehn …« Ein leises Piepen vermeldete, dass ich einen anderen Anrufer in der Leitung hatte. »Ich muss Schluss machen. Ich rufe zurück, okay?«
Susanne legte auf. Ich wechselte auf den anderen Anrufer.
»Hallo?«
»Mr Blake?«, sagte eine weibliche Stimme, die jedenfalls nicht meiner Tochter gehörte.
»Ja?« »Hier Fairfields Türen-und-Fenster-Service. Wir sind später bei Ihnen in der Gegend und würden gern …«
Ich legte auf, suchte die Nummer des Hotels heraus, wählte und ließ es bestimmt zwanzig Mal klingeln, bevor ich entnervt wieder auflegte.
Ich griff mir Jacke und Schlüssel und fuhr quer durch die Stadt zum Just Inn Time, parkte direkt vor dem Eingang und blickte mich nach Syds Civic um, doch der Wagen war nirgends zu sehen. Dann betrat ich das Hotel zum ersten Mal, seit Syd dort vor zwei Wochen angefangen hatte. Die Glastüren schlossen sich hinter mir, als ich die Lobby betrat. Ich hoffte, Syd hinter der Rezeption zu erblicken, doch stattdessen stand dort ein junger Typ von vielleicht Ende zwanzig, mit schmutzig blondem Haar und reichlich Aknenarben im Gesicht.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte er. Auf seinem Namensschild stand »Owen«.
»Ja«, sagte ich. »Ich suche nach Syd.«
»Wem? Wie heißt er denn mit Nachnamen?«
»Es ist eine Sie. Sydney. Sie ist meine Tochter.«
»Wissen Sie die Zimmernummer?«
»Nein, nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie arbeitet hier – hier an der Rezeption. Sie ist nicht zum Abendessen nach Hause gekommen, deshalb bin ich kurz vorbeigekommen, um nachzusehen, ob sie Überstunden macht.«
»Verstehe«, sagte Owen.
»Sie heißt Sydney Blake«, sagte ich. »Sie kennen sie bestimmt. «
Owen schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
»Sind Sie neu hier?«, fragte ich.
»Nein. Na ja, kommt drauf an.« Er grinste. »Sechs Monate sind auch nicht gerade ’ne lange Zeit, oder?«
»Sydney Blake«, wiederholte ich. »Sie arbeitet hier seit zwei Wochen. Siebzehn Jahre alt, blond.«
Abermals schüttelte Owen den Kopf.
»Vielleicht musste sie irgendwo einspringen«, sagte ich.
»Sie haben doch bestimmt einen Dienstplan oder so was. Können Sie nicht mal nachsehen?«
»Einen Moment bitte«, sagte Owen. »Ich hole den Duty Manager.«
Owen quetschte sich durch eine Schwingtür und kam kurz darauf mit einem hageren, gutaussehenden Mann Anfang vierzig zurück. Auf seinem Namensschild stand »Carter«, und seinem Akzent nach kam er aus den Südstaaten, wenn ich auch nicht hätte sagen können, woher genau.
»Ja, bitte?«, sagte er.
»Ich suche meine Tochter«, sagte ich. »Sie arbeitet hier.«
»Wie heißt sie denn?«
»Sydney Blake«, sagte ich. »Syd.«
»Sydney Blake?«, wiederholte er. »Den Namen habe ich noch nie gehört.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie arbeitet hier erst seit zwei Wochen. Ein Ferienjob, den Sommer über.«
Carter musterte mich ratlos. »Tut mir leid.«
Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte.
»Sehen Sie doch bitte mal auf den Dienstplan«, drängte ich ihn.
»Wozu?«, sagte er. »Ich weiß, wer hier arbeitet und wer nicht, und ich kenne keine Person dieses Namens.«
»Moment«, sagte ich. Ich griff nach meinem Portemonnaie, kramte in einem Fach hinter den Kreditkarten und förderte ein drei Jahre altes Highschool-Foto von Sydney zutage.
»Nicht mehr ganz neu, das Bild«, sagte ich. »Aber das ist sie.«
Beide begutachteten das Foto. Owen zog kurz die Augenbrauen hoch, anscheinend schwer beeindruckt von Syds Aussehen.
Dann reichte mir Carter das Bild zurück.
»Es tut mir wirklich leid, Mister …«
»Blake. Tim Blake.«
»Vielleicht arbeitet sie drüben im Howard Johnson’s.« Er deutete mit dem Kopf nach rechts.
»Nein«, sagte ich. »Sie hat gesagt, sie arbeitet hier.« Meine Gedanken überschlugen sich. »Wer ist denn für die Tagschicht zuständig?«
»Veronica.«
»Dann rufen Sie die Dame bitte an.«
Zögernd ging Carter zum Telefon, entschuldigte sich bei der Frau am anderen Ende der Leitung und reichte mir den Hörer. Ich erklärte Veronica, was geschehen war.
»Vielleicht hat sie Ihnen das falsche Hotel genannt«, sagte Veronica.
»Nein.«
Veronica bat mich um meine Nummer und versprach, sich bei mir zu melden, falls ihr etwas zu Ohren kam. Dann legte sie auf.
Auf dem Weg nach Hause überfuhr ich zwei rote Ampeln und hätte beinahe einen Toyota Yaris gerammt, während ich abwechselnd auf Syds Handy und bei uns zu Hause anrief. Als ich das Haus betrat, war alles totenstill. Syd kam an jenem Abend nicht nach Hause.
Und auch nicht am nächsten Abend.
Oder dem Abend darauf.
... weniger
Autoren-Porträt von Linwood Barclay
Bibliographische Angaben
- Autor: Linwood Barclay
- 2010, 1, 446 Seiten, Maße: 13,7 x 21,5 cm, Kartoniert (TB)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828995764
- ISBN-13: 9783828995765
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