Dewey und ich
Die wahre Geschichte des berühmtesten Katers der Welt
Wie ein flauschiger Kater die Welt um sich herum verzaubert.
Eines Tages findet die Bibliothekarin Vicki zwischen Büchern ein ausgehungertes Kätzchen. Sie nennt den Kater Dewey und von nun an lebt er in der Bibliothek mit....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Dewey und ich “
Wie ein flauschiger Kater die Welt um sich herum verzaubert.
Eines Tages findet die Bibliothekarin Vicki zwischen Büchern ein ausgehungertes Kätzchen. Sie nennt den Kater Dewey und von nun an lebt er in der Bibliothek mit. Bald zeigt sich: Er ist etwas ganz Besonderes.
Lese-Probe zu „Dewey und ich “
Dewey und ich von Vicki MyronEINLEITUNG
Willkommen in Iowa
... mehr
Mitten in Amerika, zwischen dem Mississippi im Osten und den Wüsten im Westen, erstreckt sich
eine tausend Quadratkilometer große Ebene. Dort gibt es keine Berge, aber Hügellandschaften. Es gibt Flüsse und Bäche und ein paar große Seen. Der Wind hat die Felszungen bearbeitet und zuerst Staub aus ihnen gemacht, dann Erde, danach Ackerboden und schließlich gutes, schwarzes Farmland. Hier draußen verlaufen die Straßen gerade, erstrecken sich in langen, durchgehenden Linien bis zum Horizont. Es gibt keine Biegungen, nur gelegentliche, kaum merkliche Kurven. Das Land wurde für die Farmen unter die Lupe genommen und kartiert; die Kurven dienen als leichte Korrekturen. Ausnahmslos jeder Kilometer, jede Straße wird von einer anderen, fast völlig geraden Straße durchschnitten. Dazwischen befindet sich ein Quadratkilometer Ackerland. Man nehme eine Million dieser Quadratkilometer, reihe sie aneinander und schaffe auf diese Weise eine der bedeutendsten landwirtschaftlichen Regionen weltweit. Die Great Plains, der Brotkorb, das Herzland. Oder, wie es von Vielen genannt wird, die Gegend, die man auf
dem Weg irgendwo anders hin überfliegt. Sollen sie ihre Ozeane und Alpen, ihre Strände und Skidomizile haben. Ich habe Iowa.
Im Winter in Nordwest-Iowa schluckt der Himmel förmlich die Farmhäuser. An kalten Tagen, wenn die dunklen Wolken über die Ebene hinwegfegen, scheinen sie die Erde unter sich regelrecht umzupflügen. Im Frühling, wenn alles eben und verlassen ist und die gekappten Maisstrunke in dem braunen Boden darauf warten, untergepflügt zu werden, sind Himmel und Erde perfekt austariert, wie ein Teller auf einem Stock. Aber im Spätsommer könnte man schwören, der Boden würde sich in die Höhe schrauben und den Himmel geradezu aus dem Gesichtsfeld schieben. Der Mais steht drei Meter hoch, leuchtend grüne Blätter mit golden schimmernden Quasten an der Spitze. Meist verschwindet man darin und ist inmitten dieser Maiswände verloren. Aber wenn man sich auf eine kleine Erhöhung der Straße stellt, eine Steigung von nur einem Meter, kann man die endlosen Felder überblicken, Gold auf Grün, Seidenfäden, die in der Sonne glänzen. Diese Fäden sind die weiblichen Blüten des Maises, die den Pollen einfangen, wenn sie einen Monat lang goldgelb im Wind wehen und anschließend unter der hartnäckigen Sonne langsam austrocknen und braun werden.
Das liebe ich so an Nordwest-Iowa: Es ist immer anders. Nicht so, wie sich Vorstädte ändern, in denen ein Kettenrestaurant vom nächsten abgelöst wird, oder wie sich Städte ändern, in denen sich die Häuser immer dichter drängen und höher aufragen, sondern so, wie sich das Land ändert, in sanftem Takt gemächlich hin und her, der jedoch stets nach vorn strebt, nie besonders schnell. Hier draußen gibt es nicht viele Geschäfte. Keine Heimwerkermärkte. Keine Farmermärkte. Die Gehöfte, die von Jahr zu Jahr weniger werden, säumen die Straße. Die Städte tauchen plötzlich auf, mit Schildern wie »Das Juwel in der Krone von Iowa« oder »Die goldene Schnalle des Maisgürtels«, und sind ebenso schnell wieder verschwunden. Zwei Minuten, und schon sind sie weg. Ein Getreidesilo oder eine Aufbereitungsanlage, vielleicht ein Stadtkern mit einem Mini-Market, ein Esslokal. Etwa alle fünfzehn Kilometer gibt es einen Friedhof an der Straße, schlichte Markierungen hinter niedrigen Steinmauern. Es handelt sich um die Parzellen der Pioniere, die zu Familiengräbern und gelegentlich zu städtischen Friedhöfen erweitert wurden. Niemand möchte weit weg von zu Hause beerdigt werden, und niemand möchte viel Land verschwenden. Nimm das, was du hast. Kein Aufwand. Bleibe deiner Heimat treu.
Dann, wenn man sich treiben lässt und in seinem Wohlbehagen schwelgt wie eine Reihe Maispflanzen auf der abfallenden Seite einer Anhöhe, dann wird die Straße breiter, und man kommt an einer Ladenzeile vorbei: »Matt Furniture«, das »Iron Horse Hotel«, das »Prime Rib Restaurant«, aber auch ein Wal-Mart, ein McDonald's, ein Motel 6. Biegt man an der Ampel nordwärts ab, die erste Abzweigung nach fünfzig Kilometern, egal, welche Richtung man vorher eingeschlagen hatte, von der ersten Ampel gar nicht zu reden, hat man binnen einer Minute die Ladenketten hinter sich gelassen und
überquert die hübsche, niedrige Brücke, die über den Little-Sioux-Fluss direkt in das Herz von Spencer, Iowa, führt, in eine Stadt, die sich seit 1931 kaum verändert hat.
Das Zentrum von Spencer ist eine amerikanische Postkarten-Kleinstadtidylle: Geschäfte, die zwei- und dreistöckige Gebäude miteinander verbinden, die Einwohner parken ihre Autos am Bordstein, steigen aus und schlendern an den Schaufenstern entlang. »White Drug«, »Eddie Quinn's Men's Clothing« und »Steffen Furniture« gibt es schon seit Jahrzehnten. Das »Hen House« verkauft den Frauen der Farmer und gelegentlichen Touristen auf der Durchreise zum fünfundzwanzig Kilometer entfernten Iowa Lake Country ländliche Dekoration für das Wohnzimmer. Es gibt ein Spielzeuggeschäft, das sich auf Modellflugzeuge spezialisiert hat, einen Card Shop und einen Laden, der Sauerstofftanks und Rollstühle vermietet. Ein Geschäft für Staubsauger, eine Kunsthandlung. Das alte Lichtspielhaus ist noch immer in Betrieb, obwohl es keine aktuellen Filme zeigt, seitdem auf der Südseite der Brücke ein Cinemaxx mit sieben Sälen aufgemacht hat.
Das Zentrum endet acht Häuserblöcke von der Brücke entfernt am Hotel. Das Hotel. So heißt es tatsächlich. Ende der Zwanzigerjahre war es unter dem Namen »The Tagney« bekannt und fungierte als beste Adresse, Busdepot, Bahnhof und einziges Restaurant mit Sitzmöglichkeit. Am Ende der Weltwirtschaftskrise war es zu einer Absteige verkommen und hatte den Gerüchten zufolge als Stadtbordell gedient. Das fünfstöckige Gebäude aus schlichtem, rotem Backstein, gebaut für die Ewigkeit, stand zeitweise leer, wurde in den Siebzigern renoviert, aber dann hatte sich das eigentliche Treiben fünf Blöcke die Grand Avenue hinunter ins »Sister's Main Street Café« verlagert, ein profaner Imbiss mit Resopaltischen, Filterkaffee und verrauchten Toiletten. Drei verschiedene Männercliquen kamen allmorgendlich im Sister's zusammen: die alten Männer, die älteren Männer und die richtig alten Männer. Sie haben in Spencer in den vergangenen sechzig Jahren das Sagen gehabt.
Biegt man bei Sister's Café um die Ecke, steht hinter einer kleinen Parkbucht, nur einen halben Block von der Grand Avenue entfernt, ein flaches, graues Betongebäude: die Stadtbibliothek von Spencer. Mein Name ist Vicki Myron, und ich arbeite seit fünfundzwanzig Jahren in dieser Bibliothek, die letzten zwanzig davon als Direktorin. Ich habe die Einführung des ersten Computers sowie die Erweiterung des Lesesaals zu verantworten. Ich habe Kinder älter werden und fortziehen sehen, jedoch nur, um sie zehn Jahre später mit ihren eigenen Kindern wieder durch die Tür treten zu sehen. Die Stadtbibliothek von Spencer mag nicht sonderlich spektakulär aussehen, jedenfalls nicht auf den ersten Blick, aber sie ist das Kernstück, die Mitte, das Herz dieser Herzlandgeschichte. Alles, was ich Ihnen über Spencer erzählen werde - und über die umliegenden Farmen, die nahe gelegenen Seen, die katholische Kirche in Hartley, die Schule in Moneta, die Kartonfabrik und das wunderschöne alte weiße Riesenrad im Arnold's Park -, das alles führt schlussendlich zu diesem kleinen grauen Gebäude und dem Kater zurück, der hier über neunzehn Jahre gelebt hat.
Was kann ein Tier bewirken? Wie viele Menschen kann ein Kater emotional berühren? Wie ist es einem ausgesetzten Kater möglich, eine kleine Bibliothek in einen Treffpunkt und eine Touristenattraktion zu verwandeln, eine klassische amerikanische Stadt zu inspirieren, eine ganze Region zusammenzuschweißen und schließlich weltweit berühmt zu werden? Sie können diese Fragen erst dann beantworten, wenn Sie die Geschichte von Dewey-lies-mehr-Bücher, dem geliebten Bibliothekskater von Spencer, Iowa, gehört haben.
EINS
Der kälteste Morgen
Der 18. Januar 1988 war ein bitterkalter Iowa-Montag. In der Nacht war die Temperatur auf minus
fünfzehn Grad gesunken, ganz zu schweigen von dem Wind, der unter den Mantel pfiff und bis in jeden Knochen drang. Es herrschte ein mörderischer Frost von der Art, die einem das Atmen fast unmöglich machte. Wie ganz Iowa weiß, besteht bei Ebenen das Problem, dass Unwetter durch nichts aufgehalten werden. Sie fegen von Kanada über Nord- und Süd-Dakota hinweg direkt in unsere Stadt. Die erste Brücke in Spencer, die über den Little Sioux führte und Ende des 18. Jahrhunderts errichtet worden war, musste wieder entfernt werden, weil der Fluss so viel Eis mitbrachte, dass alle befürchteten, die Pfeiler würden einbrechen. Als 1893 der Wasserturm der Stadt abbrannte - die Strohballen, die die Leitungsrohre vor Frost schützen sollten, fingen Feuer und sämtliche Hydranten der Umgebung waren gefroren -, löste sich ein runder Eisklotz, einen halben Meter dick und mit einem Durchmesser von drei Metern, aus dem Tank, zerstörte das Freizeitzentrum und legte die halbe Grand Avenue in Schutt und Asche. So sieht der Winter in Spencer aus.
Ich bin noch nie ein Morgenmensch gewesen, schon gar nicht an einem dunklen, bewölkten Januartag, aber ich bin immer sehr zielstrebig gewesen. Um halb acht gab es kaum Autos auf den Straßen, als ich an den zehn Häuserblöcken vorbei zur Arbeit fuhr. Wie meistens war mein Auto das Erste auf dem Parkplatz. Auf der anderen Straßenseite lag die Stadtbibliothek von Spencer im Dunkeln - kein Licht, keine Regung, kein Geräusch, bis ich den Lichtschalter betätigte und sie zum Leben erweckte. Die Heizung schaltete sich nachts automatisch ein, aber die Bibliothek glich morgens immer noch einer Kühltruhe. Wessen Idee war es, in Nord-Iowa ein Gebäude aus Beton und Glas zu bauen? Ich brauchte meinen Kaffee.
Zuerst betrat ich den Personalraum - nichts außer einer Kochnische mit einer Mikrowelle und einer Spüle, einem Kühlschrank, für den Geschmack der meisten zu versifft, ein paar Stühlen und einem Telefon für private Gespräche -, hängte meinen Mantel auf und schaltete die Kaffeemaschine ein. Dann überflog ich die Sonntagszeitung. Die Lokalmeldungen betrafen zum Großteil die Bibliothek oder waren durch sie bedingt. Die Lokalzeitung, The Spencer Daily Reporter, erschien weder sonntags noch montags, sodass der Montagmorgen ganz im Zeichen der Meldungen vom Wochenende stand.
»Guten Morgen, Vicki«, sagte Jean Hollins Clark, meine Assistentin, und legte Schal und Fausthandschuhe ab. »Das ist wirklich kein Vergnügen draußen.«
»Guten Morgen, Jean«, erwiderte ich und faltete die Zeitung zusammen.
In der Mitte des Personalraums war an der hinteren Wand eine große Metallkiste mit einer Klappe angebracht. Die Kiste war einen halben Meter hoch und eineinhalb Meter breit, etwa so groß wie ein Küchentisch für zwei Personen, wenn man die Tischbeine in zwei Hälften zersägte. Oben aus der Box ragte eine Schütte aus Metall und verschwand in der Wand. An ihrem anderen Ende, in der Straße hinter dem Haus, befand sich ein metallener Einwurfschlitz: die Buchrückgabe außerhalb der Öffnungszeiten.
In einem solchen Einwurfkasten kann alles Mögliche landen - Müll, Steine, Schneebälle, Getränkedosen. Die Bibliothekare reden nicht darüber, denn dann kommen die Leute erst recht auf Ideen, aber alle Bibliotheken haben mit diesem Problem zu kämpfen. Videogeschäfte haben vermutlich dasselbe Problem. Kaum lässt man einen Schlitz in eine Wand einbauen, hat man Schwierigkeiten, besonders dann, wenn der Schlitz, so wie bei der Stadtbibliothek von Spencer, auf eine Seitenstraße zeigt und gegenüber die Realschule liegt. Wir haben uns schon mehrmals mitten am Nachmittag wegen eines lauten Knalls aus der Rückgabebox erschrocken und dann darin einen Knallfrosch gefunden.
Nach jedem Wochenende war der Einwurfkasten randvoll mit Büchern, die ich jeden Montag auf einen der Bücherwagen lud, damit einer der Angestellten sie später ins Regal zurückstellen konnte. Als ich an jenem besagten Montag mit dem Wagen kam, stand Jean stumm mitten im Raum.
»Ich habe ein Geräusch gehört.«
»Was für eins?«
»Aus dem Einwurfkasten. Ich glaube, es ist ein Tier.« »Ein was?«
»Ein Tier. Ich glaube, in der Box ist ein Tier.«
Da hörte ich es auch, ein gedämpftes Rumoren hinter der Metallklappe. Es klang jedoch nicht nach einem Tier, sondern eher wie ein alter Mann, der sich zu räuspern versucht. Aber ich bezweifelte, dass es sich um einen alten Mann handelte. Die Öffnung am oberen Ende der Schütte war nur etwa zehn Zentimeter breit, es muss sich also regelrecht hindurchgequetscht haben. Es war ein Tier, da war ich ziemlich sicher, aber was für eines? Ich kniete mich auf den Boden, griff nach der Klappe und hoffte auf ein Streifenhörnchen.
Zuerst spürte ich einen eiskalten Luftzug. Jemand hatte ein Buch so in den Rückgabeschlitz gesteckt, dass es sich verkeilt hatte und der Schlitz nicht mehr zuklappen konnte. In dem Kasten war es genauso kalt wie draußen, vielleicht noch kälter, da er mit Metall ausgekleidet war. Man hätte dort gefrorenes Fleisch lagern können. Ich hielt noch immer den Atem an, als ich das Kätzchen entdeckte.
Es kauerte in der vorderen linken Ecke der Box, den Kopf gesenkt, die Beine eingeknickt, um sich so klein wie möglich zu machen. Die Bücher türmten sich wild durcheinander bis zum Rand der Kiste und verdeckten zum Teil die Sicht auf das Tier. Ich hob behutsam ein Buch hoch, um besser sehen zu können. Das Kätzchen wandte mir langsam seinen Blick zu und sah mich aus traurigen Augen an. Dann senkte es den Kopf und verschwand wieder hinter den Büchern. Es versuchte nicht, unverwüstlich auszusehen, es versuchte auch nicht, sich zu verstecken. Ich glaube, es hatte nicht einmal Angst. Es hoffte nur, gerettet zu werden.
Ich weiß, dass ein weiches Herz ein Klischee sein kann, aber ich denke, genau das ist mir in jenem Augenblick passiert: Ich habe meine eigenen Knochen nicht mehr gespürt. Ich bin nicht so zart besaitet. Ich bin eine alleinerziehende Mutter und ein Farmermädchen, die so manche Tiefschläge in ihrem Leben eingesteckt hat, aber das hier kam so ... unerwartet.
Ich hob das Kätzchen aus dem Kasten. Es verschwand förmlich in meinen Händen. Später erfuhren wir, dass es acht Wochen alt war, aber es sah aus wie acht Tage. Es war so dünn, dass man jede Rippe sehen konnte. Ich spürte sein Herz schlagen und wie die Lungen sich mit Luft füllten. Das arme Kätzchen war so schwach, dass es kaum seinen Kopf selbst halten konnte, und es zitterte am ganzen Körper. Es öffnete sein kleines Maul, aber der Laut, den es zwei Sekunden später ausstieß, klang schwach und gebrochen.
Und es war kalt. Daran erinnere ich mich besonders gut, denn ich konnte nicht glauben, dass ein lebendiges Wesen so kalt sein konnte. Es fühlte sich so an, als wäre alle Körperwärme verschwunden. Also wiegte ich das Katzenjunge in meinen Armen, um ihm Wärme zu spenden. Es wehrte sich nicht. Stattdessen schmiegte es sich an meine Brust und legte seinen Kopf an mein Herz.
»Herrjemine«, entfuhr es Jean.
»Armes Kleines«, sagte ich und drückte es an mich. »Es ist so süß.«
Dann schwiegen wir eine Weile und blickten das Kätzchen einfach nur an. Schließlich fragte Jean: »Was glaubst du, wie es da reingekommen ist?«
Ich dachte jedoch nicht an die gestrige Nacht. Ich dachte nur an jetzt. Es war zu früh, um den Tierarzt zu rufen, denn er würde erst in einer Stunde seine Praxis aufmachen. Aber das Kätzchen war so kalt. Sogar in der Wärme auf meinem Arm konnte ich spüren, wie es zitterte.
»Wir müssen etwas unternehmen«, entschied ich. Jean griff nach einem Handtuch, und wir wickelten den kleinen Kerl darin ein, bis nur noch seine Nase herausschaute und seine großen Augen uns ungläubig anblickten.
»Wir sollten ihm ein warmes Bad machen«, schlug ich vor. »Vielleicht hört er dann auf zu frieren.«
Ich ließ warmes Wasser in die Spüle ein und testete mit meinem Ellbogen die Temperatur, das Kätzchen noch immer auf meinem Arm. Es glitt wie ein Eisklotz ins Wasser. Jean förderte eine Flasche Shampoo aus dem Schrank zutage und ich schäumte das Katzenjunge langsam und behutsam ein, als würde ich es streicheln. Während das Wasser sich immer grauer und grauer färbte, wurde das Schlottern des Kätzchens durch leises Schnurren abgelöst. Ich lächelte. Dieses Tier war zäh. Aber es war noch so unglaublich klein. Als ich es schließlich wieder aus der Spüle hob, sah es wie ein Neugeborenes aus: Große, runde Augen und große Ohren standen von einem kleinen Kopf und einem noch kleineren Körper ab. Nass, wehrlos und zaghaft nach seiner Mutter miauend.
Wir trockneten es mit dem Fön, mit dem wir sonst in der Bastelstunde Klebstoff trockneten. Nach wenigen Sekunden hatte ich eine hübsche, langhaarige, oran
gefarbene Tigerkatze in den Händen. Das Fell war so schmutzig gewesen, dass wir dachten, das Kätzchen wäre grau.
Mittlerweile waren auch Doris Armstrong und Kim Peterson eingetroffen, sodass sich nun vier Kollegen im Personalraum befanden und wie die Kinder das Katzenjunge liebkosten. Acht Hände berührten es, und das gleichzeitig, schien es. Die anderen drei Mitarbeiter fielen sich gegenseitig ins Wort, während ich stumm blieb, das Kätzchen in meinen Armen wiegte und von einem Fuß auf den anderen trat.
»Wo kommt der arme Wicht denn her?«
»Aus der Rückgabebox.«
»Nein!«
»Ist es ein Kater oder eine Katze?«
Ich blickte auf. Alle sahen mich an. »Ein Kater«, sagte ich.
»Er ist wunderschön.«
»Wie alt ist er?«
»Wie ist er in den Kasten reingekommen?«
Ich hörte nicht zu, ich hatte nur Augen für den Kleinen. »Es ist so kalt.«
»Bitterkalt.«
»Der kälteste Morgen in diesem Jahr.«
Und nach einer Pause: »Jemand muss ihn in die Box gesteckt haben.«
»Das ist ja furchtbar.«
»Vielleicht wollte ihn jemand vor der Kälte retten.« »Ich weiß nicht ... er ist so hilflos.«
»Er ist so winzig.«
Übersetzung: Nike Karen Müller
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
86167 Augsburg
Mitten in Amerika, zwischen dem Mississippi im Osten und den Wüsten im Westen, erstreckt sich
eine tausend Quadratkilometer große Ebene. Dort gibt es keine Berge, aber Hügellandschaften. Es gibt Flüsse und Bäche und ein paar große Seen. Der Wind hat die Felszungen bearbeitet und zuerst Staub aus ihnen gemacht, dann Erde, danach Ackerboden und schließlich gutes, schwarzes Farmland. Hier draußen verlaufen die Straßen gerade, erstrecken sich in langen, durchgehenden Linien bis zum Horizont. Es gibt keine Biegungen, nur gelegentliche, kaum merkliche Kurven. Das Land wurde für die Farmen unter die Lupe genommen und kartiert; die Kurven dienen als leichte Korrekturen. Ausnahmslos jeder Kilometer, jede Straße wird von einer anderen, fast völlig geraden Straße durchschnitten. Dazwischen befindet sich ein Quadratkilometer Ackerland. Man nehme eine Million dieser Quadratkilometer, reihe sie aneinander und schaffe auf diese Weise eine der bedeutendsten landwirtschaftlichen Regionen weltweit. Die Great Plains, der Brotkorb, das Herzland. Oder, wie es von Vielen genannt wird, die Gegend, die man auf
dem Weg irgendwo anders hin überfliegt. Sollen sie ihre Ozeane und Alpen, ihre Strände und Skidomizile haben. Ich habe Iowa.
Im Winter in Nordwest-Iowa schluckt der Himmel förmlich die Farmhäuser. An kalten Tagen, wenn die dunklen Wolken über die Ebene hinwegfegen, scheinen sie die Erde unter sich regelrecht umzupflügen. Im Frühling, wenn alles eben und verlassen ist und die gekappten Maisstrunke in dem braunen Boden darauf warten, untergepflügt zu werden, sind Himmel und Erde perfekt austariert, wie ein Teller auf einem Stock. Aber im Spätsommer könnte man schwören, der Boden würde sich in die Höhe schrauben und den Himmel geradezu aus dem Gesichtsfeld schieben. Der Mais steht drei Meter hoch, leuchtend grüne Blätter mit golden schimmernden Quasten an der Spitze. Meist verschwindet man darin und ist inmitten dieser Maiswände verloren. Aber wenn man sich auf eine kleine Erhöhung der Straße stellt, eine Steigung von nur einem Meter, kann man die endlosen Felder überblicken, Gold auf Grün, Seidenfäden, die in der Sonne glänzen. Diese Fäden sind die weiblichen Blüten des Maises, die den Pollen einfangen, wenn sie einen Monat lang goldgelb im Wind wehen und anschließend unter der hartnäckigen Sonne langsam austrocknen und braun werden.
Das liebe ich so an Nordwest-Iowa: Es ist immer anders. Nicht so, wie sich Vorstädte ändern, in denen ein Kettenrestaurant vom nächsten abgelöst wird, oder wie sich Städte ändern, in denen sich die Häuser immer dichter drängen und höher aufragen, sondern so, wie sich das Land ändert, in sanftem Takt gemächlich hin und her, der jedoch stets nach vorn strebt, nie besonders schnell. Hier draußen gibt es nicht viele Geschäfte. Keine Heimwerkermärkte. Keine Farmermärkte. Die Gehöfte, die von Jahr zu Jahr weniger werden, säumen die Straße. Die Städte tauchen plötzlich auf, mit Schildern wie »Das Juwel in der Krone von Iowa« oder »Die goldene Schnalle des Maisgürtels«, und sind ebenso schnell wieder verschwunden. Zwei Minuten, und schon sind sie weg. Ein Getreidesilo oder eine Aufbereitungsanlage, vielleicht ein Stadtkern mit einem Mini-Market, ein Esslokal. Etwa alle fünfzehn Kilometer gibt es einen Friedhof an der Straße, schlichte Markierungen hinter niedrigen Steinmauern. Es handelt sich um die Parzellen der Pioniere, die zu Familiengräbern und gelegentlich zu städtischen Friedhöfen erweitert wurden. Niemand möchte weit weg von zu Hause beerdigt werden, und niemand möchte viel Land verschwenden. Nimm das, was du hast. Kein Aufwand. Bleibe deiner Heimat treu.
Dann, wenn man sich treiben lässt und in seinem Wohlbehagen schwelgt wie eine Reihe Maispflanzen auf der abfallenden Seite einer Anhöhe, dann wird die Straße breiter, und man kommt an einer Ladenzeile vorbei: »Matt Furniture«, das »Iron Horse Hotel«, das »Prime Rib Restaurant«, aber auch ein Wal-Mart, ein McDonald's, ein Motel 6. Biegt man an der Ampel nordwärts ab, die erste Abzweigung nach fünfzig Kilometern, egal, welche Richtung man vorher eingeschlagen hatte, von der ersten Ampel gar nicht zu reden, hat man binnen einer Minute die Ladenketten hinter sich gelassen und
überquert die hübsche, niedrige Brücke, die über den Little-Sioux-Fluss direkt in das Herz von Spencer, Iowa, führt, in eine Stadt, die sich seit 1931 kaum verändert hat.
Das Zentrum von Spencer ist eine amerikanische Postkarten-Kleinstadtidylle: Geschäfte, die zwei- und dreistöckige Gebäude miteinander verbinden, die Einwohner parken ihre Autos am Bordstein, steigen aus und schlendern an den Schaufenstern entlang. »White Drug«, »Eddie Quinn's Men's Clothing« und »Steffen Furniture« gibt es schon seit Jahrzehnten. Das »Hen House« verkauft den Frauen der Farmer und gelegentlichen Touristen auf der Durchreise zum fünfundzwanzig Kilometer entfernten Iowa Lake Country ländliche Dekoration für das Wohnzimmer. Es gibt ein Spielzeuggeschäft, das sich auf Modellflugzeuge spezialisiert hat, einen Card Shop und einen Laden, der Sauerstofftanks und Rollstühle vermietet. Ein Geschäft für Staubsauger, eine Kunsthandlung. Das alte Lichtspielhaus ist noch immer in Betrieb, obwohl es keine aktuellen Filme zeigt, seitdem auf der Südseite der Brücke ein Cinemaxx mit sieben Sälen aufgemacht hat.
Das Zentrum endet acht Häuserblöcke von der Brücke entfernt am Hotel. Das Hotel. So heißt es tatsächlich. Ende der Zwanzigerjahre war es unter dem Namen »The Tagney« bekannt und fungierte als beste Adresse, Busdepot, Bahnhof und einziges Restaurant mit Sitzmöglichkeit. Am Ende der Weltwirtschaftskrise war es zu einer Absteige verkommen und hatte den Gerüchten zufolge als Stadtbordell gedient. Das fünfstöckige Gebäude aus schlichtem, rotem Backstein, gebaut für die Ewigkeit, stand zeitweise leer, wurde in den Siebzigern renoviert, aber dann hatte sich das eigentliche Treiben fünf Blöcke die Grand Avenue hinunter ins »Sister's Main Street Café« verlagert, ein profaner Imbiss mit Resopaltischen, Filterkaffee und verrauchten Toiletten. Drei verschiedene Männercliquen kamen allmorgendlich im Sister's zusammen: die alten Männer, die älteren Männer und die richtig alten Männer. Sie haben in Spencer in den vergangenen sechzig Jahren das Sagen gehabt.
Biegt man bei Sister's Café um die Ecke, steht hinter einer kleinen Parkbucht, nur einen halben Block von der Grand Avenue entfernt, ein flaches, graues Betongebäude: die Stadtbibliothek von Spencer. Mein Name ist Vicki Myron, und ich arbeite seit fünfundzwanzig Jahren in dieser Bibliothek, die letzten zwanzig davon als Direktorin. Ich habe die Einführung des ersten Computers sowie die Erweiterung des Lesesaals zu verantworten. Ich habe Kinder älter werden und fortziehen sehen, jedoch nur, um sie zehn Jahre später mit ihren eigenen Kindern wieder durch die Tür treten zu sehen. Die Stadtbibliothek von Spencer mag nicht sonderlich spektakulär aussehen, jedenfalls nicht auf den ersten Blick, aber sie ist das Kernstück, die Mitte, das Herz dieser Herzlandgeschichte. Alles, was ich Ihnen über Spencer erzählen werde - und über die umliegenden Farmen, die nahe gelegenen Seen, die katholische Kirche in Hartley, die Schule in Moneta, die Kartonfabrik und das wunderschöne alte weiße Riesenrad im Arnold's Park -, das alles führt schlussendlich zu diesem kleinen grauen Gebäude und dem Kater zurück, der hier über neunzehn Jahre gelebt hat.
Was kann ein Tier bewirken? Wie viele Menschen kann ein Kater emotional berühren? Wie ist es einem ausgesetzten Kater möglich, eine kleine Bibliothek in einen Treffpunkt und eine Touristenattraktion zu verwandeln, eine klassische amerikanische Stadt zu inspirieren, eine ganze Region zusammenzuschweißen und schließlich weltweit berühmt zu werden? Sie können diese Fragen erst dann beantworten, wenn Sie die Geschichte von Dewey-lies-mehr-Bücher, dem geliebten Bibliothekskater von Spencer, Iowa, gehört haben.
EINS
Der kälteste Morgen
Der 18. Januar 1988 war ein bitterkalter Iowa-Montag. In der Nacht war die Temperatur auf minus
fünfzehn Grad gesunken, ganz zu schweigen von dem Wind, der unter den Mantel pfiff und bis in jeden Knochen drang. Es herrschte ein mörderischer Frost von der Art, die einem das Atmen fast unmöglich machte. Wie ganz Iowa weiß, besteht bei Ebenen das Problem, dass Unwetter durch nichts aufgehalten werden. Sie fegen von Kanada über Nord- und Süd-Dakota hinweg direkt in unsere Stadt. Die erste Brücke in Spencer, die über den Little Sioux führte und Ende des 18. Jahrhunderts errichtet worden war, musste wieder entfernt werden, weil der Fluss so viel Eis mitbrachte, dass alle befürchteten, die Pfeiler würden einbrechen. Als 1893 der Wasserturm der Stadt abbrannte - die Strohballen, die die Leitungsrohre vor Frost schützen sollten, fingen Feuer und sämtliche Hydranten der Umgebung waren gefroren -, löste sich ein runder Eisklotz, einen halben Meter dick und mit einem Durchmesser von drei Metern, aus dem Tank, zerstörte das Freizeitzentrum und legte die halbe Grand Avenue in Schutt und Asche. So sieht der Winter in Spencer aus.
Ich bin noch nie ein Morgenmensch gewesen, schon gar nicht an einem dunklen, bewölkten Januartag, aber ich bin immer sehr zielstrebig gewesen. Um halb acht gab es kaum Autos auf den Straßen, als ich an den zehn Häuserblöcken vorbei zur Arbeit fuhr. Wie meistens war mein Auto das Erste auf dem Parkplatz. Auf der anderen Straßenseite lag die Stadtbibliothek von Spencer im Dunkeln - kein Licht, keine Regung, kein Geräusch, bis ich den Lichtschalter betätigte und sie zum Leben erweckte. Die Heizung schaltete sich nachts automatisch ein, aber die Bibliothek glich morgens immer noch einer Kühltruhe. Wessen Idee war es, in Nord-Iowa ein Gebäude aus Beton und Glas zu bauen? Ich brauchte meinen Kaffee.
Zuerst betrat ich den Personalraum - nichts außer einer Kochnische mit einer Mikrowelle und einer Spüle, einem Kühlschrank, für den Geschmack der meisten zu versifft, ein paar Stühlen und einem Telefon für private Gespräche -, hängte meinen Mantel auf und schaltete die Kaffeemaschine ein. Dann überflog ich die Sonntagszeitung. Die Lokalmeldungen betrafen zum Großteil die Bibliothek oder waren durch sie bedingt. Die Lokalzeitung, The Spencer Daily Reporter, erschien weder sonntags noch montags, sodass der Montagmorgen ganz im Zeichen der Meldungen vom Wochenende stand.
»Guten Morgen, Vicki«, sagte Jean Hollins Clark, meine Assistentin, und legte Schal und Fausthandschuhe ab. »Das ist wirklich kein Vergnügen draußen.«
»Guten Morgen, Jean«, erwiderte ich und faltete die Zeitung zusammen.
In der Mitte des Personalraums war an der hinteren Wand eine große Metallkiste mit einer Klappe angebracht. Die Kiste war einen halben Meter hoch und eineinhalb Meter breit, etwa so groß wie ein Küchentisch für zwei Personen, wenn man die Tischbeine in zwei Hälften zersägte. Oben aus der Box ragte eine Schütte aus Metall und verschwand in der Wand. An ihrem anderen Ende, in der Straße hinter dem Haus, befand sich ein metallener Einwurfschlitz: die Buchrückgabe außerhalb der Öffnungszeiten.
In einem solchen Einwurfkasten kann alles Mögliche landen - Müll, Steine, Schneebälle, Getränkedosen. Die Bibliothekare reden nicht darüber, denn dann kommen die Leute erst recht auf Ideen, aber alle Bibliotheken haben mit diesem Problem zu kämpfen. Videogeschäfte haben vermutlich dasselbe Problem. Kaum lässt man einen Schlitz in eine Wand einbauen, hat man Schwierigkeiten, besonders dann, wenn der Schlitz, so wie bei der Stadtbibliothek von Spencer, auf eine Seitenstraße zeigt und gegenüber die Realschule liegt. Wir haben uns schon mehrmals mitten am Nachmittag wegen eines lauten Knalls aus der Rückgabebox erschrocken und dann darin einen Knallfrosch gefunden.
Nach jedem Wochenende war der Einwurfkasten randvoll mit Büchern, die ich jeden Montag auf einen der Bücherwagen lud, damit einer der Angestellten sie später ins Regal zurückstellen konnte. Als ich an jenem besagten Montag mit dem Wagen kam, stand Jean stumm mitten im Raum.
»Ich habe ein Geräusch gehört.«
»Was für eins?«
»Aus dem Einwurfkasten. Ich glaube, es ist ein Tier.« »Ein was?«
»Ein Tier. Ich glaube, in der Box ist ein Tier.«
Da hörte ich es auch, ein gedämpftes Rumoren hinter der Metallklappe. Es klang jedoch nicht nach einem Tier, sondern eher wie ein alter Mann, der sich zu räuspern versucht. Aber ich bezweifelte, dass es sich um einen alten Mann handelte. Die Öffnung am oberen Ende der Schütte war nur etwa zehn Zentimeter breit, es muss sich also regelrecht hindurchgequetscht haben. Es war ein Tier, da war ich ziemlich sicher, aber was für eines? Ich kniete mich auf den Boden, griff nach der Klappe und hoffte auf ein Streifenhörnchen.
Zuerst spürte ich einen eiskalten Luftzug. Jemand hatte ein Buch so in den Rückgabeschlitz gesteckt, dass es sich verkeilt hatte und der Schlitz nicht mehr zuklappen konnte. In dem Kasten war es genauso kalt wie draußen, vielleicht noch kälter, da er mit Metall ausgekleidet war. Man hätte dort gefrorenes Fleisch lagern können. Ich hielt noch immer den Atem an, als ich das Kätzchen entdeckte.
Es kauerte in der vorderen linken Ecke der Box, den Kopf gesenkt, die Beine eingeknickt, um sich so klein wie möglich zu machen. Die Bücher türmten sich wild durcheinander bis zum Rand der Kiste und verdeckten zum Teil die Sicht auf das Tier. Ich hob behutsam ein Buch hoch, um besser sehen zu können. Das Kätzchen wandte mir langsam seinen Blick zu und sah mich aus traurigen Augen an. Dann senkte es den Kopf und verschwand wieder hinter den Büchern. Es versuchte nicht, unverwüstlich auszusehen, es versuchte auch nicht, sich zu verstecken. Ich glaube, es hatte nicht einmal Angst. Es hoffte nur, gerettet zu werden.
Ich weiß, dass ein weiches Herz ein Klischee sein kann, aber ich denke, genau das ist mir in jenem Augenblick passiert: Ich habe meine eigenen Knochen nicht mehr gespürt. Ich bin nicht so zart besaitet. Ich bin eine alleinerziehende Mutter und ein Farmermädchen, die so manche Tiefschläge in ihrem Leben eingesteckt hat, aber das hier kam so ... unerwartet.
Ich hob das Kätzchen aus dem Kasten. Es verschwand förmlich in meinen Händen. Später erfuhren wir, dass es acht Wochen alt war, aber es sah aus wie acht Tage. Es war so dünn, dass man jede Rippe sehen konnte. Ich spürte sein Herz schlagen und wie die Lungen sich mit Luft füllten. Das arme Kätzchen war so schwach, dass es kaum seinen Kopf selbst halten konnte, und es zitterte am ganzen Körper. Es öffnete sein kleines Maul, aber der Laut, den es zwei Sekunden später ausstieß, klang schwach und gebrochen.
Und es war kalt. Daran erinnere ich mich besonders gut, denn ich konnte nicht glauben, dass ein lebendiges Wesen so kalt sein konnte. Es fühlte sich so an, als wäre alle Körperwärme verschwunden. Also wiegte ich das Katzenjunge in meinen Armen, um ihm Wärme zu spenden. Es wehrte sich nicht. Stattdessen schmiegte es sich an meine Brust und legte seinen Kopf an mein Herz.
»Herrjemine«, entfuhr es Jean.
»Armes Kleines«, sagte ich und drückte es an mich. »Es ist so süß.«
Dann schwiegen wir eine Weile und blickten das Kätzchen einfach nur an. Schließlich fragte Jean: »Was glaubst du, wie es da reingekommen ist?«
Ich dachte jedoch nicht an die gestrige Nacht. Ich dachte nur an jetzt. Es war zu früh, um den Tierarzt zu rufen, denn er würde erst in einer Stunde seine Praxis aufmachen. Aber das Kätzchen war so kalt. Sogar in der Wärme auf meinem Arm konnte ich spüren, wie es zitterte.
»Wir müssen etwas unternehmen«, entschied ich. Jean griff nach einem Handtuch, und wir wickelten den kleinen Kerl darin ein, bis nur noch seine Nase herausschaute und seine großen Augen uns ungläubig anblickten.
»Wir sollten ihm ein warmes Bad machen«, schlug ich vor. »Vielleicht hört er dann auf zu frieren.«
Ich ließ warmes Wasser in die Spüle ein und testete mit meinem Ellbogen die Temperatur, das Kätzchen noch immer auf meinem Arm. Es glitt wie ein Eisklotz ins Wasser. Jean förderte eine Flasche Shampoo aus dem Schrank zutage und ich schäumte das Katzenjunge langsam und behutsam ein, als würde ich es streicheln. Während das Wasser sich immer grauer und grauer färbte, wurde das Schlottern des Kätzchens durch leises Schnurren abgelöst. Ich lächelte. Dieses Tier war zäh. Aber es war noch so unglaublich klein. Als ich es schließlich wieder aus der Spüle hob, sah es wie ein Neugeborenes aus: Große, runde Augen und große Ohren standen von einem kleinen Kopf und einem noch kleineren Körper ab. Nass, wehrlos und zaghaft nach seiner Mutter miauend.
Wir trockneten es mit dem Fön, mit dem wir sonst in der Bastelstunde Klebstoff trockneten. Nach wenigen Sekunden hatte ich eine hübsche, langhaarige, oran
gefarbene Tigerkatze in den Händen. Das Fell war so schmutzig gewesen, dass wir dachten, das Kätzchen wäre grau.
Mittlerweile waren auch Doris Armstrong und Kim Peterson eingetroffen, sodass sich nun vier Kollegen im Personalraum befanden und wie die Kinder das Katzenjunge liebkosten. Acht Hände berührten es, und das gleichzeitig, schien es. Die anderen drei Mitarbeiter fielen sich gegenseitig ins Wort, während ich stumm blieb, das Kätzchen in meinen Armen wiegte und von einem Fuß auf den anderen trat.
»Wo kommt der arme Wicht denn her?«
»Aus der Rückgabebox.«
»Nein!«
»Ist es ein Kater oder eine Katze?«
Ich blickte auf. Alle sahen mich an. »Ein Kater«, sagte ich.
»Er ist wunderschön.«
»Wie alt ist er?«
»Wie ist er in den Kasten reingekommen?«
Ich hörte nicht zu, ich hatte nur Augen für den Kleinen. »Es ist so kalt.«
»Bitterkalt.«
»Der kälteste Morgen in diesem Jahr.«
Und nach einer Pause: »Jemand muss ihn in die Box gesteckt haben.«
»Das ist ja furchtbar.«
»Vielleicht wollte ihn jemand vor der Kälte retten.« »Ich weiß nicht ... er ist so hilflos.«
»Er ist so winzig.«
Übersetzung: Nike Karen Müller
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Bret Witter, Vicki Myron
Bibliographische Angaben
- Autoren: Bret Witter , Vicki Myron
- 2011, 379 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828996949
- ISBN-13: 9783828996946
Rezension zu „Dewey und ich “
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