"Nur wenn du mich liebst" und "Schlaf nicht, wenn es dunkel wird"
Zwei Romane in einem Band
Nur wenn du mich liebst:
Chris, Vicky, Barbara und Susan, alle Anfang dreißig, sind von Jugend an unzertrennlich. Sie würden füreinander durch die Hölle gehen - und genau das steht ihnen bevor, als eine von ihnen...
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Produktinformationen zu „"Nur wenn du mich liebst" und "Schlaf nicht, wenn es dunkel wird" “
Nur wenn du mich liebst:
Chris, Vicky, Barbara und Susan, alle Anfang dreißig, sind von Jugend an unzertrennlich. Sie würden füreinander durch die Hölle gehen - und genau das steht ihnen bevor, als eine von ihnen ermordet in ihrem Schlafzimmer gefunden wird.
Schlaf nicht, wenn es dunkel wird:
Terry vermietet ihr Gartenhäuschen an Alison. Die beiden Frauen verstehen sich prächtig. Doch als Terry ein Tagebuch von Alison entdeckt, beschleicht sie ein schrecklicher Verdacht: Ist sie das Opfer in einem tödlichen Spiel?
"Wenn man dieses Buch einmal in die Hand genommen hat, gibt es kein Entrinnen mehr."
The New York Times
Lese-Probe zu „"Nur wenn du mich liebst" und "Schlaf nicht, wenn es dunkel wird" “
Nur wenn du mich liebst von Joy Fielding Erster Teil1982-1985 Chris lag mit geschlossenen Augen in ihrem Messingbett, von den Zehen bis zum Kinn fest in das steife weiße Baumwolllaken gewickelt, die Arme wie gefesselt starr an ihren Körper gepresst. Sie stellte sich vor, sie wäre eine ägyptische Mumie, die einbalsamiert in einer antiken Pyramide lag, während Horden neugieriger Touristen in schmutzigen, ausgelatschten Sandalen über ihrem Kopf hin und her wanderten. Das würde zumindest meine Kopfschmerzen erklären, dachte sie und hätte beinahe gelacht, wenn da nicht das Pochen in ihren Schläfen gewesen wäre, das wie ein Echo ihres dumpfen Herzschlags klang. Wann hatte sie sich zum letzten Mal so ängstlich und verloren gefühlt?
Nein, Angst war ein zu starkes Wort, verbesserte sich Chris sofort, ihre Gedanken zensierend, noch bevor sie ganz ausformuliert waren. Es war keine Angst, die sie lähmte, sondern ein vages, beunruhigendes Unbehagen, das wie ein vergifteter Strom durch ihren Körper sickerte. Diese unbestimmte, vielleicht sogar undefinierbare Befindlichkeit war es, die sie die Augen fest geschlossen halten und die Arme starr an ihren Körper drücken ließ, als wäre sie im Schlaf gestorben.
... mehr
Spürten Tote dieses eindringende, alles durchdringende Gefühl des Unbehagens, fragte sie sich, bevor sie ihrer morbiden Gedanken überdrüssig wurde und die Geräusche des Morgens in ihren Kopf sickern ließ: Unten im Flur sang ihre sechsjährige Tochter Montana, der dreijährige Wyatt spielte mit der Spielzeugeisenbahn, die er zu Weihnachten bekommen hatte; und direkt unter ihr in der Küche öffnete Tony Schranktüren und schlug sie klappernd wieder zu. Nach einigen Minuten war die lähmende Angst zu bloßem Unbehagen geschrumpft, das sich besser in den Griff bekommen und letztendlich leichter ganz abtun ließ. Noch ein paar Minuten, und Chris konnte sich vielleicht einreden, dass das, was vergangene Nacht geschehen war, in Wahrheit ein böser Traum gewesen war, Produkt ihrer überhitzten - überreizten, wie Tony vielleicht sagen würde - Phantasie.
»It's a heartache!«, schmetterte Montana in ihrem Zimmer am Ende des Flurs.
»Tsch-tsch-tsch-tsch, tsch-tsch-tsch-tsch«, zischte Wyatt, das Geräusch einer Eisenbahn imitierend, laut.
Irgendwo unter ihr ging eine weitere Schranktür auf und klappernd wieder zu. Geschirr klirrte. »Nothing but a heartache!«
Chris schlug die Augen auf.
Ich habe ein Geheimnis, dachte sie.
Sie ließ ihren Blick durch das kleine Schlafzimmer wandern, ohne den Kopf von dem riesigen Daunenkopfkissen zu heben. Durch die schweren, bernsteinfarbenen Vorhänge fielen ein paar Sonnenstrahlen, die die hellblauen Wände gespenstisch blass erscheinen ließen und in deren Licht über ihrem Kopf kleine Staubpartikelchen tanzten. Der schwarze Rollkragenpullover, den Tony gestern Abend zum Essen getragen hatte, hing achtlos hingeworfen über der Lehne des kleinen blauen Stuhls in der Ecke, einen leeren Arm ausgestreckt zu dem breiten blauen Webteppich, der noch immer klebrig von vor langer Zeit verschüttetem Apfelsaft war. Die Tür zu dem kleinen, direkt angrenzenden Bad stand ebenso offen wie die oberste Schublade der Korbkommode. Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte 9.04 an.
Sie sollte wahrscheinlich aufstehen, sich anziehen und nach Wyatt und Montana sehen. Tony hatte ihnen offensichtlich Frühstück gemacht, was sie nicht überraschte. Sonntags stand er immer mit den Kindern auf. Außerdem war er nach einem großen Streit immer besonders nett zu ihr. Sie hatte gespürt, wie er beim ersten Gepolter aus Wyatts Zimmer leise aus dem Bett geschlüpft war, aber so getan, als würde sie schlafen, während er sich eilig angezogen hatte, und bevor er sich über sie gebeugt und ihr einen Kuss auf die Stirn gehaucht hatte. »Schlaf«, hatte sie ihn flüstern hören und seinen Atem beruhigend sanft auf ihrer Haut gespürt.
Sie hatte versucht, wieder einzudösen, doch es war ihr nicht gelungen, und als ihre Lider jetzt endlich gnädig schwer wurden, war es zu spät. Die Kinder würden sich jede Minute bei ihren einsamen Beschäftigungen langweilen, durch die Schlafzimmertür stürmen und ihre Aufmerksamkeit einfordern. Sie musste aufstehen, duschen und sich auf den vor ihr liegenden, anstrengenden Tag vorbereiten. Entschlossen schlug Chris das Laken zur Seite, schwang die Beine aus dem Bett und spürte unsichtbare Kekskrümel unter ihren nackten Füßen zerbrößeln, als sie in Richtung Bad tapste. »Oh, Gott«, sagte sie, als sie ihr geschwollenes Gesicht in dem Spiegel über dem Waschbecken sah. »Ich weiß, dass du irgendwo da drinnen steckst.« Vorsichtig tupfte sie über die Schwellung um ihre Augen. Wurde sie nicht langsam zu alt, um sich in den Schlaf zu weinen?
Außerdem hatte sie gar nicht geschlafen, die ganze Nacht lang keine Minute. »Chris«, hatte sie Tony in regelmäßigen Abständen in ihr Ohr flüstern hören, bevor er sich, als sie nicht geantwortet hatte, wieder auf seine Seite des Bettes zurückgezogen hatte. »Chris, bist du wach?«
Er hat also auch nicht geschlafen, dachte sie mit nicht geringer Befriedigung, als sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser benetzte, einen nassen Waschlappen auf ihre Augen drückte und spürte, wie ihre müde Haut langsam wieder auf Normalgröße schrumpfte. »Wer bist du?«, fragte sie sich nicht zum ersten Mal müde und strich sich ein paar Strähnen ihres strubbeligen blonden Haars aus dem Gesicht. »Weiß der Teufel«, antwortete ihr Spiegelbild mit Vickis Stimme, und Chris kicherte. Das Geräusch kratzte in ihrer Kehle wie eine Katze an einer Fliegengittertür.
»It's a heartache!«, sang Montana auf der anderen Seite der Badezimmerwand.
Das kann man laut sagen, dachte Chris, stieg unter die Dusche, drehte den Hahn auf und genoss den Schwall heißen Wassers auf ihren Armen und Beinen, spürte ihn wie tausend kleine Peitschenhiebe auf ihrem Rücken. Was gestern Nacht geschehen war, war ebenso sehr ihre Schuld wie Tonys, gestand sie sich ein. Sie stellte sich direkt unter den Strahl, sodass er ihr Haar in der Mitte teilte, bevor er sich über ihr Gesicht ergoss.
Hatten die Kinder sie streiten hören? Sie hörte über dem Rauschen des Wassers das entfernte Echo der Stimmen ihrer sich anschreienden Eltern, das drei Jahrzehnte später immer noch so laut und mächtig klang wie eh und je. Chris erinnerte sich, wie sie in ihrem Bett gelegen und gelauscht hatte, wenn ihre Eltern unten gestritten hatten. Ihre wütenden Worte waren ungeduldig im Flur gekreist und hatten an die Wände ihres Zimmers geklopft, als wollten sie sie unbedingt einbeziehen, bis sie schließlich durch die Bodenritzen in die Luft eingedrungen waren, die sie atmete. Sie hatte sich ihr kleines Kissen aufs Gesicht gedrückt, um das Gift nicht einzuatmen, hatte sich mit zitternden Händen die Ohren zugehalten und versucht, die hässlichen Geräusche zu dämpfen. Einmal war sie sogar aus dem Bett gekrabbelt und hatte sich in der hintersten Ecke des Kleiderschranks verkrochen, doch die Stimmen waren immer lauter geworden, bis sie das Gefühl hatte, dass jemand mit ihr im Schrank war. Als unsichtbare Finger von den Säumen der über ihr hängenden Kleider nach ihr tasteten und fremde Zungen ihre Wangen ableckten, war sie weinend zurück in ihr Bett gelaufen, hatte die Decke bis unters Kinn gezogen, die Arme fest an den Körper gepresst, die Augen zugekniffen und war bis zum Morgen so liegen geblieben.
Hatte sie vergangene Nacht nicht im Grunde dasselbe getan?
War sie kein bisschen erwachsen geworden?
Chris drehte das Wasser ab, trat aus der Dusche und wickelte ein weiches, blau-weiß gestreiftes Handtuch um ihren Kopf und ein zweites um ihren Körper, dankbar dafür, dass sie sich im beschlagenen Spiegel nur schemenhaft erkennen konnte. Sie öffnete die Badezimmertür und spürte die kalte Umarmung der Luft. Wie bin ich nur hier gelandet, fragte sie sich, als sie ins Schlafzimmer zurückschlurfte, mitten im Albtraum meiner Eltern.
»Hallo Schatz«, sagte Tony leise.
Chris nickte wortlos und blickte weiter zu Boden, während ihre Nase den Geruch frisch zubereiteter Pfannkuchen witterte.
»Ich habe dir Frühstück ans Bett gebracht«, sagte er.
Chris ließ sich aufs Bett sinken und lehnte sich gegen die Kissen, während wie von Zauberhand ein Tablett mit einem Teller voll Blaubeerpfannkuchen, einem Glas frisch gepressten Orangensafts und einer Kanne wunderbar duftenden Kaffees vor ihr auftauchte. Neben einer Butterdose aus Edelstahl standen ein kleiner weißer Keramikkrug mit echtem Ahornsirup und eine kleine gläserne Stielvase mit einer roten Butterblume aus Plastik. »Das musstest du doch nicht«, sagte Chris leise, den Blick weiterhin abgewandt. Das habe ich nicht verdient, dachte sie.
Tony saß am Fuß des Bettes. Sie spürte, wie er sie beobachtete, während sie ihre Pfannkuchen mit Butter bestrich und mit warmem Sirup beträufelte, bevor sie vorsichtig erst eine, dann eine weitere Gabel voll zum Mund führte. Paradoxerweise wurde sie mit jedem Bissen hungriger und mit jedem Schluck, den sie trank, durstiger. Binnen Minuten waren die Pfannkuchen verputzt, das Saftglas war leer und der Kaffee ausgetrunken. »Gut?«, fragte Tony erwartungsvoll, und sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören.
»Wundervoll«, antwortete sie, entschlossen, ihn nicht anzusehen, weil sie wusste, dass das Spiel dann vorüber war.
»Es tut mir so Leid, Chris.« »Nicht.«
»Du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe.« »Bitte…«
»Du weißt, wie sehr ich dich liebe.«
Chris spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen, und hasste sich dafür.
»Bitte, Tony…«
»Willst du mich nicht mal ansehen? Hasst du mich so sehr, dass du meinen Anblick nicht ertragen kannst?«
»Ich hasse dich nicht.« Chris hob kurz den Blick und verschlang ihren Mann mit den Augen.
Auch wenn man Tony nie als attraktiv bezeichnet hätte wie Barbaras Mann oder vornehm wie Vickis, nicht einmal gütig, das erste Wort, was einem in den Sinn kam, wenn man Susans Mann beschreiben sollte, gab es, wenn man sich erst einmal in seinem Blick verloren hatte, kein Zurück mehr. Ein Mann voller Geheimnisse, hatte Barbara verkündet; eine beeindruckende Persönlichkeit, hatte Susan vorgeschlagen; sexy, hatte Vicki knapp zusammengefasst. Ein Rohdiamant, waren sie sich alle einig gewesen. Mehr roh als glitzernd, dachte Chris jetzt, während sie beobachtete, wie ihr Mann Zentimeter für Zentimeter auf dem Bett nach oben rutschte und mit der Hand über ihre feuchten Beine strich, was ein Kribbeln wie einen verirrten Stromschlag bis zu ihrem Herz rasen ließ. Von nahem war er kleiner, als er auf den ersten Blick wirkte, allerdings auch muskulöser, als seine schmalen Schultern vermuten ließen. Er trug Jeans und den moosgrünen Pullover, den sie ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte, weil sie fand, dass der weichere Farbton der Wolle das harte Grün seiner Augen unterstrich. Sein Haar war bis auf eine weiße Strähne nahe seiner rechten Schläfe braun und dicht. Tony erzählte jedem, dass die Strähne die Folge eines Kindheitstraumas war, wobei das Trauma sich mit jedem Erzählen veränderte, genauso wie die Erklärung für die Narbe, die sich von seinem linken Ohrläppchen bis zu seinem Unterkiefer durch seine Haut schnitt. Im Laufe ihrer elfjährigen Ehe hatte Chris so viele Versionen darüber gehört, wie er sich diese Narbe zugezogen hatte, dass sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte, ob sie das Ergebnis eines beinahe tödlichen Sturzes in Kindertagen, die Folge eines Autounfalls, den er wie durch ein Wunder überlebt hatte, oder das Resultat einer Kneipenschlägerei war. Sie war sich sicher, dass der wahre Grund unendlich viel prosaischer als all diese Variationen war, obwohl sie Tonys Geschichten nie in Zweifel ziehen würde. Tony brauchte das Dramatische.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2001 by Joy Fielding
Copyright der deutschen Ausgabe © 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Übersetzung:»Kristian Lutze« Schlaf nicht, wenn es dunkel wird von Joy Fielding
Sie sagte, ihr Name sei Alison Simms.
Die Worte plätscherten zaghaft, beinahe träge über ihre Lippen, so wie Honig von der Schneide eines Messers tropft. Ihre Stimme war leise, zögernd und ein wenig mädchenhaft, obwohl sie einen festen Händedruck hatte und mir direkt in die Augen sah. Das mochte ich. Ich mochte sie, entschied ich beinahe spontan, auch wenn ich bereitwillig zugebe, dass es mit meiner Menschenkenntnis nicht besonders weit her ist. Trotzdem war mein erster Eindruck von dieser erstaunlich großen jungen Frau mit den schulterlangen rotblonden Locken, die im Wohnzimmer meines kleinen Hauses vor mir stand und fest meine Hand drückte, positiv. Und der erste Eindruck ist ein bleibender Eindruck, wie meine Mutter immer zu sagen pflegte.
»Das ist ein wirklich schönes Haus«, sagte Alison eifrig nickend, als wollte sie ihrer eigenen Einschätzung zustimmen, während ihre Blicke bewundernd zwischen dem aufgepolsterten Sofa, den beiden zierlichen Stühlen im Queen-Anne-Stil, den Raffgardinen und dem gemusterten Teppich auf dem hellen Holzboden hin und her wanderten. »Ich liebe Rosa und Malve zusammen. Es ist meine Lieblingsfarbkombination.« Sie verzog den Mund zu einem ungeheuer breiten, leicht dümmlichen Lächeln, das ich sofort erwidern wollte. »Ich wollte immer in Rosa und Malve heiraten.«
Ich musste lachen. Als Bemerkung gegenüber jemandem, den man gerade erst kennen gelernt hatte, erschienen mir ihre Worte herrlich absurd. Sie lachte mit mir, und ich wies mit der Hand auf das Sofa. Sofort ließ sie sich tief in die Daunenkissen sinken, sodass ihr blaues Sommerkleid fast in einem Strudel aus pink- und malvenfarbenen Blumenmustern versank, und schlug ihre langen schlanken Beine übereinander, während sie ihren übrigen Körper kunstvoll um ihr Knie drapierte und sich zu mir vorbeugte. Ich hockte auf der Kante des gestreiften Stuhls direkt gegenüber und dachte, dass sie mich an einen hübschen rosa Flamingo erinnerte, einen echten, nicht eines dieser schrecklichen Plastikdinger, die in manchen Vorgärten herumstehen. »Sie sind sehr groß«, bemerkte ich wenig originell und dachte, dass sie sich das wahrscheinlich schon ihr Leben lang anhörte.
»Ein Meter achtundsiebzig«, bestätigte sie höflich. »Aber ich sehe größer aus.«
»Ja, da haben Sie Recht«, stimmte ich ihr zu, obwohl mir mit meinen knapp eins dreiundsechzig Meter jeder groß vorkommt. »Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?«
»Achtundzwanzig.« Eine feine Röte huschte über ihre Wangen. »Aber ich sehe jünger aus.«
»Ja, da haben Sie Recht«, wiederholte ich mich. »Sie haben Glück. Ich habe immer so alt ausgesehen, wie ich bin.«
»Wie alt sind Sie denn? Das heißt, wenn Sie nichts dagegen haben …«
»Was schätzen Sie denn?«
Die unvermittelte Eindringlichkeit ihres Blickes erwischte mich unvorbereitet. Sie musterte mich, als wäre ich ein exotisches Exemplar in einem Labor, eingezwängt zwischen zwei kleinen Glasplättchen unter einem unsichtbaren Mikroskop. Der Blick aus ihren klaren grünen Augen bohrte sich tief in meine müden braunen Augen, bevor er über mein Gesicht wanderte, jede verräterische Falte registrierte und die Spuren meiner Jahre abwog. Ich mache mir keine großen Illusionen. Ich sah mich genauso, wie sie mich sehen musste: eine leidlich attraktive Frau mit ausgeprägten Wangenknochen, großen Brüsten, dazu noch nachlässig frisiert.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Vierzig?«
»Genau.« Ich lachte. »Hab ichs Ihnen nicht gesagt?«
Wir verstummten und erstarrten in der warmen Nachmittagssonne, die uns wie ein Scheinwerfer anstrahlte und in deren Licht kleine Staubkörnchen tanzten wie hunderte winziger Insekten. Sie lächelte, faltete ihre Hände im Schoß, wo die Finger der einen Hand achtlos mit denen der anderen spielten. Sie trug keinerlei Ringe und keinen Nagellack, aber ihre Nägel waren lang und gepflegt. Sie war sichtlich nervös. Sie wollte, dass ich sie mochte.
»Hatten Sie Schwierigkeiten herzufinden?«, fragte ich.
»Nein. Ihre Wegbeschreibung war klasse: die Atlanctic Avenue in östlicher Richtung, dann auf der 7th Avenue nach Süden, vorbei an der weißen Kirche, zwischen der 2nd und 3rd Street. Überhaupt kein Problem. Bis auf den Verkehr. Ich wusste gar nicht, dass Delray so belebt ist.«
»Nun, wir haben November«, erinnerte ich sie. »Langsam treffen die Zugvögel ein.«
»Die Zugvögel?«
»Die Touristen«, erklärte ich. »Sie sind offensichtlich noch nicht lange in Florida.«
Sie blickte auf ihre Sandalen. »Ich mag den Läufer. Ganz schön mutig von Ihnen, einen weißen Teppich ins Wohnzimmer zu legen.«
»Eigentlich nicht. Ich habe nur selten Besuch.«
»Ich nehme an, Sie sind beruflich ziemlich eingespannt. Ich dachte immer, dass es toll sein muss, als Krankenschwester zu arbeiten«, meinte sie. »Es ist bestimmt eine sehr dankbare Aufgabe.«
Ich lachte. »Dankbar würde mir nicht unbedingt als erstes Wort einfallen.«
»Welches Wort würde Ihnen denn einfallen?«
Sie wirkte ernsthaft neugierig, was ich sowohl erfrischend als auch liebenswert fand. Schon sehr, sehr lange hatte niemand mehr echtes Interesse an mir gezeigt, und so fühlte ich mich geschmeichelt. Gleichzeitig hatte die Frage etwas so rührend Naives, dass ich sie in den Arm nehmen wollte wie eine Mutter ihr Kind, ihr sagen wollte, dass alles in Ordnung war, dass sie sich nicht so anstrengen musste, weil das kleine Häuschen in meinem Garten schon ihres war. Die Entscheidung war in dem Moment gefallen, als sie über meine Schwelle trat.
»Mit welchem Wort ich den Beruf einer Krankenschwester beschreiben würde?«, wiederholte ich und grübelte über verschiedenen Möglichkeiten. »Strapaziös«, sagte ich schließlich. »Aufreibend. Aufreizend.«
»Gute Wörter.«
Ich lachte erneut, wie ich es in der kurzen Zeit, seit sie sich in meinem Haus aufhielt, anscheinend ziemlich häufig getan hatte. Ich weiß noch, dass ich dachte, es wäre nett, jemanden um mich zu haben, der mich zum Lachen bringt. »Was machen Sie beruflich?«, fragte ich.
Alison stand auf, ging zum Fenster und starrte auf die breite, von diversen Arten Schatten spendender Palmen gesäumte Straße. Bettye McCoy, dritte Frau von Richard McCoy und gut dreißig Jahre jünger als ihr Gatte, was im Süden Floridas keine Seltenheit ist, wurde von ihren beiden kleinen weißen Hunden über den Bürgersteig gezerrt. Sie trug von Kopf bis Fuß Armani in Creme und hielt in der freien Hand eine kleine weiße Plastiktüte mit Hundekacke, eine modische Ironie, die der dritten Mrs. McCoy offenbar komplett entging. »Oh, schauen Sie doch mal? Sind die nicht einfach süß? Was sind das, Pudel?«
»Bichons«, sagte ich und trat neben sie. Ich reichte ihr knapp bis ans Kinn. »Die dummen Püppchen der Hundewelt.«
Nun war es an Alison zu lachen, und der Klang erfüllte den Raum und tanzte zwischen uns wie die Staubkörnchen in der Sonne. »Aber niedlich sind sie schon. Finden Sie nicht?«
»Niedlich würde mir nicht unbedingt als Erstes einfallen«, erwiderte ich als bewusstes Echo meiner vorherigen Bemerkung.
Sie lächelte verschwörerisch. »Was würden Ihnen denn einfallen?«
»Lassen Sie mich überlegen.« Ich fand zunehmend Gefallen an dem Spiel. »Jaulig. Nervig. Destruktiv.«
»Destruktiv? Wie kann etwas so Süßes zerstörerisch sein?«
»Vor ein paar Monaten war einer ihrer Hunde in meinem Garten und hat meinen Hibiskus ausgegraben. Glauben Sie mir, das war weder süß noch niedlich.« Ich trat vom Fenster zurück. Dabei fiel mein Blick auf die Silhouette eines Mannes, der sich inmitten der zahlreichen Schatten auf der gegenüberliegenden Straßenecke verbarg. »Wartet jemand auf Sie?«
»Auf mich? Nein. Warum?«
Ich tastete mich vorsichtig wieder nach vorn, doch wenn der Mann je existiert hatte, war er samt seinem Schatten verschwunden. Ich blickte die Straße hinunter, doch es war niemand zu sehen.
»Ich dachte, ich hätte jemanden unter dem Baum da drüben stehen sehen«, sagte ich und wies mit dem Kinn in die Richtung.
»Ich hab nichts gesehen.«
»Nun, es war wahrscheinlich auch nichts. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Liebend gern.« Sie folgte mir durch den kleinen Essbereich, der im rechten Winkel an das Wohnzimmer angrenzte, in die vorwiegend in weiß gehaltene Küche auf der Rückseite des Hauses. »Oh, schau sich das einer an«, rief sie offensichtlich entzückt und steuerte mit ausgestreckten Armen und eifrig flatternden Fingern auf die Regale zu, die die Wand neben der kleinen Frühstücksecke zierten. »Was ist denn das? Woher haben Sie die?«
Mein Blick streifte die fünfundsechzig Porzellanköpfe, die von den fünf Holzregalen auf uns herabblickten. »Sie heißen Kopfvasen«, erklärte ich. »Meine Mutter hat sie gesammelt. Sie stammen aus den Fünfzigerjahren, hauptsächlich aus Japan. Sie haben Löcher im Kopf, für Blumen vermutlich, obwohl nicht viele hineinpassen. Als sie auf den Markt kamen, waren sie höchstens ein paar Dollar wert.«
»Und jetzt?«
»Angeblich sind sie mittlerweile ziemlich wertvoll. Man bezeichnet sie, glaube ich, als Sammlerstücke.«
»Und wie würden Sie sie bezeichnen?« Ein listiges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, während sie gespannt auf meine Antwort wartete.
Diesmal musste ich nicht lange überlegen. »Nippes«, sagte ich knapp.
»Ich finde sie toll«, protestierte sie. »Schauen Sie sich doch mal die Wimpern von dieser hier an. Oh, und die Ohrringe von dieser. Und die winzige Perlenkette. Oh, und sehen Sie mal die hier. Hat sie nicht einfach einen wunderbaren Gesichtsausdruck?« Behutsam nahm sie einen der Köpfe in die Hand. Die Porzellanfigur war etwa fünfzehn Zentimeter groß mit aufgemalten gewölbten Augenbrauen, geschürzten roten Lippen, hellbraunen Locken, die unter einem pinkweißen Turban hervorquollen, und einer rosafarbenen Rose am Hals. »Sie ist nicht so kunstvoll gestaltet wie einige der anderen, aber sie hat einen so überlegenen Ausdruck, wie eine hochnäsige Matrone der besseren Gesellschaft, die auf alle herabblickt.«
»Sie sieht aus wie meine Mutter«, sagte ich.
Um ein Haar wäre ihr der Porzellankopf aus den Händen geglitten. »O mein Gott, das tut mir Leid.« Rasch stellte sie die Vase wieder auf ihren Platz zwischen zwei rehäugige Mädchen mit Haarbändern. »Ich wollte nicht «
Ich lachte. »Interessant, dass Sie die ausgewählt haben. Es war ihr Lieblingsstück. Wie nehmen Sie Ihren Kaffee?«
»Mit Milch und drei Stücken Zucker?«, erwiderte sie, als ob sie sich nicht ganz sicher wäre, während ihre Augen weiter an den Porzellanköpfen hingen.
Ich goss uns beiden einen Becher Kaffee ein, den ich aufgesetzt hatte, als sie aus dem Krankenhaus angerufen und erklärt hatte, dass sie meine Anzeige am Schwarzen Brett neben einem der Schwesternzimmer entdeckt hätte und am liebsten sofort vorbeikommen würde.
»Sammelt Ihre Mutter immer noch?«
»Sie ist vor fünf Jahren gestorben.«
»Das tut mir sehr Leid.«
»Mir auch. Ich vermisse sie. Deshalb habe ich es bisher auch nicht übers Herz gebracht, eine ihrer Freundinnen zu verkaufen. Wie wärs mit einem Stück Kürbis-Preiselbeer-Kuchen?«, wechselte ich das Thema, um nicht trübsinnig zu werden. »Ich habe ihn erst heute Morgen gebacken.«
»Sie können backen? Jetzt bin ich echt beeindruckt. In der Küche bin ich ein hoffnungsloser Fall.«
»Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, wie man kocht?«
»Unser Verhältnis war nicht gerade das beste.« Alison lächelte, doch es wirkte im Gegensatz zu ihrem sonstigen Lächeln eher gezwungen. »Egal, ich nehme sehr gern ein Stück Kuchen. Preiselbeeren zählen zu meinen absoluten Lieblingssachen auf dieser Welt.«
Ich musste wieder lachen. »Ich glaube nicht, dass ich schon einmal einen Menschen getroffen habe, der so leidenschaftliche Gefühle für Preiselbeeren hegt. Könnten Sie mir ein Messer anreichen?« Ich wies auf den Messerblock, der am anderen Ende der weiß gekachelten Arbeitsplatte stand. Alison zog das erste Messer heraus, eine dreißig Zentimeter lange Monstrosität mit einer fünf Zentimeter breiten, spitz zulaufenden Schneide. »Wow«, sagte ich. »Das ist ein bisschen zu mörderisch, finden Sie nicht auch?«
Sie wendete das Messer langsam in der Hand und betrachtete ihr Spiegelbild in der scharfen Klinge, während sie behutsam und für einen Moment gedankenverloren mit einem Finger über die Schneide strich. Dann bemerkte sie meinen Blick, steckte das Messer eilig zurück, zog eines der kleineren heraus und beobachtete aufmerksam, wie es mühelos durch den großen Kuchen schnitt. Jetzt war es an mir zu staunen, wie sie ihr Stück Kuchen herunterschlang, während sie mir Komplimente über Konsistenz, Leichtigkeit und Geschmack desselben machte. Sie aß hastig und konzentrierte sich wie ein Kind vollständig auf ihren Teller.
Vielleicht hätte ich argwöhnischer sein sollen oder doch zumindest vorsichtiger, vor allem nach der Erfahrung mit meiner letzten Mieterin. Doch wahrscheinlich waren es genau jene Erfahrungen, die mich so empfänglich für Alisons mädchenhaften Charme machten. Ich wollte wirklich glauben, dass sie genau so war, wie sie sich präsentierte: eine ein wenig naive, liebenswerte, süße junge Frau.
Süß, denke ich heute.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2002 by Joy Fielding
Copyright der deutschen Ausgabe © 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Übersetzung:»Kristian Lutze«
»It's a heartache!«, schmetterte Montana in ihrem Zimmer am Ende des Flurs.
»Tsch-tsch-tsch-tsch, tsch-tsch-tsch-tsch«, zischte Wyatt, das Geräusch einer Eisenbahn imitierend, laut.
Irgendwo unter ihr ging eine weitere Schranktür auf und klappernd wieder zu. Geschirr klirrte. »Nothing but a heartache!«
Chris schlug die Augen auf.
Ich habe ein Geheimnis, dachte sie.
Sie ließ ihren Blick durch das kleine Schlafzimmer wandern, ohne den Kopf von dem riesigen Daunenkopfkissen zu heben. Durch die schweren, bernsteinfarbenen Vorhänge fielen ein paar Sonnenstrahlen, die die hellblauen Wände gespenstisch blass erscheinen ließen und in deren Licht über ihrem Kopf kleine Staubpartikelchen tanzten. Der schwarze Rollkragenpullover, den Tony gestern Abend zum Essen getragen hatte, hing achtlos hingeworfen über der Lehne des kleinen blauen Stuhls in der Ecke, einen leeren Arm ausgestreckt zu dem breiten blauen Webteppich, der noch immer klebrig von vor langer Zeit verschüttetem Apfelsaft war. Die Tür zu dem kleinen, direkt angrenzenden Bad stand ebenso offen wie die oberste Schublade der Korbkommode. Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte 9.04 an.
Sie sollte wahrscheinlich aufstehen, sich anziehen und nach Wyatt und Montana sehen. Tony hatte ihnen offensichtlich Frühstück gemacht, was sie nicht überraschte. Sonntags stand er immer mit den Kindern auf. Außerdem war er nach einem großen Streit immer besonders nett zu ihr. Sie hatte gespürt, wie er beim ersten Gepolter aus Wyatts Zimmer leise aus dem Bett geschlüpft war, aber so getan, als würde sie schlafen, während er sich eilig angezogen hatte, und bevor er sich über sie gebeugt und ihr einen Kuss auf die Stirn gehaucht hatte. »Schlaf«, hatte sie ihn flüstern hören und seinen Atem beruhigend sanft auf ihrer Haut gespürt.
Sie hatte versucht, wieder einzudösen, doch es war ihr nicht gelungen, und als ihre Lider jetzt endlich gnädig schwer wurden, war es zu spät. Die Kinder würden sich jede Minute bei ihren einsamen Beschäftigungen langweilen, durch die Schlafzimmertür stürmen und ihre Aufmerksamkeit einfordern. Sie musste aufstehen, duschen und sich auf den vor ihr liegenden, anstrengenden Tag vorbereiten. Entschlossen schlug Chris das Laken zur Seite, schwang die Beine aus dem Bett und spürte unsichtbare Kekskrümel unter ihren nackten Füßen zerbrößeln, als sie in Richtung Bad tapste. »Oh, Gott«, sagte sie, als sie ihr geschwollenes Gesicht in dem Spiegel über dem Waschbecken sah. »Ich weiß, dass du irgendwo da drinnen steckst.« Vorsichtig tupfte sie über die Schwellung um ihre Augen. Wurde sie nicht langsam zu alt, um sich in den Schlaf zu weinen?
Außerdem hatte sie gar nicht geschlafen, die ganze Nacht lang keine Minute. »Chris«, hatte sie Tony in regelmäßigen Abständen in ihr Ohr flüstern hören, bevor er sich, als sie nicht geantwortet hatte, wieder auf seine Seite des Bettes zurückgezogen hatte. »Chris, bist du wach?«
Er hat also auch nicht geschlafen, dachte sie mit nicht geringer Befriedigung, als sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser benetzte, einen nassen Waschlappen auf ihre Augen drückte und spürte, wie ihre müde Haut langsam wieder auf Normalgröße schrumpfte. »Wer bist du?«, fragte sie sich nicht zum ersten Mal müde und strich sich ein paar Strähnen ihres strubbeligen blonden Haars aus dem Gesicht. »Weiß der Teufel«, antwortete ihr Spiegelbild mit Vickis Stimme, und Chris kicherte. Das Geräusch kratzte in ihrer Kehle wie eine Katze an einer Fliegengittertür.
»It's a heartache!«, sang Montana auf der anderen Seite der Badezimmerwand.
Das kann man laut sagen, dachte Chris, stieg unter die Dusche, drehte den Hahn auf und genoss den Schwall heißen Wassers auf ihren Armen und Beinen, spürte ihn wie tausend kleine Peitschenhiebe auf ihrem Rücken. Was gestern Nacht geschehen war, war ebenso sehr ihre Schuld wie Tonys, gestand sie sich ein. Sie stellte sich direkt unter den Strahl, sodass er ihr Haar in der Mitte teilte, bevor er sich über ihr Gesicht ergoss.
Hatten die Kinder sie streiten hören? Sie hörte über dem Rauschen des Wassers das entfernte Echo der Stimmen ihrer sich anschreienden Eltern, das drei Jahrzehnte später immer noch so laut und mächtig klang wie eh und je. Chris erinnerte sich, wie sie in ihrem Bett gelegen und gelauscht hatte, wenn ihre Eltern unten gestritten hatten. Ihre wütenden Worte waren ungeduldig im Flur gekreist und hatten an die Wände ihres Zimmers geklopft, als wollten sie sie unbedingt einbeziehen, bis sie schließlich durch die Bodenritzen in die Luft eingedrungen waren, die sie atmete. Sie hatte sich ihr kleines Kissen aufs Gesicht gedrückt, um das Gift nicht einzuatmen, hatte sich mit zitternden Händen die Ohren zugehalten und versucht, die hässlichen Geräusche zu dämpfen. Einmal war sie sogar aus dem Bett gekrabbelt und hatte sich in der hintersten Ecke des Kleiderschranks verkrochen, doch die Stimmen waren immer lauter geworden, bis sie das Gefühl hatte, dass jemand mit ihr im Schrank war. Als unsichtbare Finger von den Säumen der über ihr hängenden Kleider nach ihr tasteten und fremde Zungen ihre Wangen ableckten, war sie weinend zurück in ihr Bett gelaufen, hatte die Decke bis unters Kinn gezogen, die Arme fest an den Körper gepresst, die Augen zugekniffen und war bis zum Morgen so liegen geblieben.
Hatte sie vergangene Nacht nicht im Grunde dasselbe getan?
War sie kein bisschen erwachsen geworden?
Chris drehte das Wasser ab, trat aus der Dusche und wickelte ein weiches, blau-weiß gestreiftes Handtuch um ihren Kopf und ein zweites um ihren Körper, dankbar dafür, dass sie sich im beschlagenen Spiegel nur schemenhaft erkennen konnte. Sie öffnete die Badezimmertür und spürte die kalte Umarmung der Luft. Wie bin ich nur hier gelandet, fragte sie sich, als sie ins Schlafzimmer zurückschlurfte, mitten im Albtraum meiner Eltern.
»Hallo Schatz«, sagte Tony leise.
Chris nickte wortlos und blickte weiter zu Boden, während ihre Nase den Geruch frisch zubereiteter Pfannkuchen witterte.
»Ich habe dir Frühstück ans Bett gebracht«, sagte er.
Chris ließ sich aufs Bett sinken und lehnte sich gegen die Kissen, während wie von Zauberhand ein Tablett mit einem Teller voll Blaubeerpfannkuchen, einem Glas frisch gepressten Orangensafts und einer Kanne wunderbar duftenden Kaffees vor ihr auftauchte. Neben einer Butterdose aus Edelstahl standen ein kleiner weißer Keramikkrug mit echtem Ahornsirup und eine kleine gläserne Stielvase mit einer roten Butterblume aus Plastik. »Das musstest du doch nicht«, sagte Chris leise, den Blick weiterhin abgewandt. Das habe ich nicht verdient, dachte sie.
Tony saß am Fuß des Bettes. Sie spürte, wie er sie beobachtete, während sie ihre Pfannkuchen mit Butter bestrich und mit warmem Sirup beträufelte, bevor sie vorsichtig erst eine, dann eine weitere Gabel voll zum Mund führte. Paradoxerweise wurde sie mit jedem Bissen hungriger und mit jedem Schluck, den sie trank, durstiger. Binnen Minuten waren die Pfannkuchen verputzt, das Saftglas war leer und der Kaffee ausgetrunken. »Gut?«, fragte Tony erwartungsvoll, und sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören.
»Wundervoll«, antwortete sie, entschlossen, ihn nicht anzusehen, weil sie wusste, dass das Spiel dann vorüber war.
»Es tut mir so Leid, Chris.« »Nicht.«
»Du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe.« »Bitte…«
»Du weißt, wie sehr ich dich liebe.«
Chris spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen, und hasste sich dafür.
»Bitte, Tony…«
»Willst du mich nicht mal ansehen? Hasst du mich so sehr, dass du meinen Anblick nicht ertragen kannst?«
»Ich hasse dich nicht.« Chris hob kurz den Blick und verschlang ihren Mann mit den Augen.
Auch wenn man Tony nie als attraktiv bezeichnet hätte wie Barbaras Mann oder vornehm wie Vickis, nicht einmal gütig, das erste Wort, was einem in den Sinn kam, wenn man Susans Mann beschreiben sollte, gab es, wenn man sich erst einmal in seinem Blick verloren hatte, kein Zurück mehr. Ein Mann voller Geheimnisse, hatte Barbara verkündet; eine beeindruckende Persönlichkeit, hatte Susan vorgeschlagen; sexy, hatte Vicki knapp zusammengefasst. Ein Rohdiamant, waren sie sich alle einig gewesen. Mehr roh als glitzernd, dachte Chris jetzt, während sie beobachtete, wie ihr Mann Zentimeter für Zentimeter auf dem Bett nach oben rutschte und mit der Hand über ihre feuchten Beine strich, was ein Kribbeln wie einen verirrten Stromschlag bis zu ihrem Herz rasen ließ. Von nahem war er kleiner, als er auf den ersten Blick wirkte, allerdings auch muskulöser, als seine schmalen Schultern vermuten ließen. Er trug Jeans und den moosgrünen Pullover, den sie ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte, weil sie fand, dass der weichere Farbton der Wolle das harte Grün seiner Augen unterstrich. Sein Haar war bis auf eine weiße Strähne nahe seiner rechten Schläfe braun und dicht. Tony erzählte jedem, dass die Strähne die Folge eines Kindheitstraumas war, wobei das Trauma sich mit jedem Erzählen veränderte, genauso wie die Erklärung für die Narbe, die sich von seinem linken Ohrläppchen bis zu seinem Unterkiefer durch seine Haut schnitt. Im Laufe ihrer elfjährigen Ehe hatte Chris so viele Versionen darüber gehört, wie er sich diese Narbe zugezogen hatte, dass sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte, ob sie das Ergebnis eines beinahe tödlichen Sturzes in Kindertagen, die Folge eines Autounfalls, den er wie durch ein Wunder überlebt hatte, oder das Resultat einer Kneipenschlägerei war. Sie war sich sicher, dass der wahre Grund unendlich viel prosaischer als all diese Variationen war, obwohl sie Tonys Geschichten nie in Zweifel ziehen würde. Tony brauchte das Dramatische.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2001 by Joy Fielding
Copyright der deutschen Ausgabe © 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Übersetzung:»Kristian Lutze« Schlaf nicht, wenn es dunkel wird von Joy Fielding
Sie sagte, ihr Name sei Alison Simms.
Die Worte plätscherten zaghaft, beinahe träge über ihre Lippen, so wie Honig von der Schneide eines Messers tropft. Ihre Stimme war leise, zögernd und ein wenig mädchenhaft, obwohl sie einen festen Händedruck hatte und mir direkt in die Augen sah. Das mochte ich. Ich mochte sie, entschied ich beinahe spontan, auch wenn ich bereitwillig zugebe, dass es mit meiner Menschenkenntnis nicht besonders weit her ist. Trotzdem war mein erster Eindruck von dieser erstaunlich großen jungen Frau mit den schulterlangen rotblonden Locken, die im Wohnzimmer meines kleinen Hauses vor mir stand und fest meine Hand drückte, positiv. Und der erste Eindruck ist ein bleibender Eindruck, wie meine Mutter immer zu sagen pflegte.
»Das ist ein wirklich schönes Haus«, sagte Alison eifrig nickend, als wollte sie ihrer eigenen Einschätzung zustimmen, während ihre Blicke bewundernd zwischen dem aufgepolsterten Sofa, den beiden zierlichen Stühlen im Queen-Anne-Stil, den Raffgardinen und dem gemusterten Teppich auf dem hellen Holzboden hin und her wanderten. »Ich liebe Rosa und Malve zusammen. Es ist meine Lieblingsfarbkombination.« Sie verzog den Mund zu einem ungeheuer breiten, leicht dümmlichen Lächeln, das ich sofort erwidern wollte. »Ich wollte immer in Rosa und Malve heiraten.«
Ich musste lachen. Als Bemerkung gegenüber jemandem, den man gerade erst kennen gelernt hatte, erschienen mir ihre Worte herrlich absurd. Sie lachte mit mir, und ich wies mit der Hand auf das Sofa. Sofort ließ sie sich tief in die Daunenkissen sinken, sodass ihr blaues Sommerkleid fast in einem Strudel aus pink- und malvenfarbenen Blumenmustern versank, und schlug ihre langen schlanken Beine übereinander, während sie ihren übrigen Körper kunstvoll um ihr Knie drapierte und sich zu mir vorbeugte. Ich hockte auf der Kante des gestreiften Stuhls direkt gegenüber und dachte, dass sie mich an einen hübschen rosa Flamingo erinnerte, einen echten, nicht eines dieser schrecklichen Plastikdinger, die in manchen Vorgärten herumstehen. »Sie sind sehr groß«, bemerkte ich wenig originell und dachte, dass sie sich das wahrscheinlich schon ihr Leben lang anhörte.
»Ein Meter achtundsiebzig«, bestätigte sie höflich. »Aber ich sehe größer aus.«
»Ja, da haben Sie Recht«, stimmte ich ihr zu, obwohl mir mit meinen knapp eins dreiundsechzig Meter jeder groß vorkommt. »Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?«
»Achtundzwanzig.« Eine feine Röte huschte über ihre Wangen. »Aber ich sehe jünger aus.«
»Ja, da haben Sie Recht«, wiederholte ich mich. »Sie haben Glück. Ich habe immer so alt ausgesehen, wie ich bin.«
»Wie alt sind Sie denn? Das heißt, wenn Sie nichts dagegen haben …«
»Was schätzen Sie denn?«
Die unvermittelte Eindringlichkeit ihres Blickes erwischte mich unvorbereitet. Sie musterte mich, als wäre ich ein exotisches Exemplar in einem Labor, eingezwängt zwischen zwei kleinen Glasplättchen unter einem unsichtbaren Mikroskop. Der Blick aus ihren klaren grünen Augen bohrte sich tief in meine müden braunen Augen, bevor er über mein Gesicht wanderte, jede verräterische Falte registrierte und die Spuren meiner Jahre abwog. Ich mache mir keine großen Illusionen. Ich sah mich genauso, wie sie mich sehen musste: eine leidlich attraktive Frau mit ausgeprägten Wangenknochen, großen Brüsten, dazu noch nachlässig frisiert.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Vierzig?«
»Genau.« Ich lachte. »Hab ichs Ihnen nicht gesagt?«
Wir verstummten und erstarrten in der warmen Nachmittagssonne, die uns wie ein Scheinwerfer anstrahlte und in deren Licht kleine Staubkörnchen tanzten wie hunderte winziger Insekten. Sie lächelte, faltete ihre Hände im Schoß, wo die Finger der einen Hand achtlos mit denen der anderen spielten. Sie trug keinerlei Ringe und keinen Nagellack, aber ihre Nägel waren lang und gepflegt. Sie war sichtlich nervös. Sie wollte, dass ich sie mochte.
»Hatten Sie Schwierigkeiten herzufinden?«, fragte ich.
»Nein. Ihre Wegbeschreibung war klasse: die Atlanctic Avenue in östlicher Richtung, dann auf der 7th Avenue nach Süden, vorbei an der weißen Kirche, zwischen der 2nd und 3rd Street. Überhaupt kein Problem. Bis auf den Verkehr. Ich wusste gar nicht, dass Delray so belebt ist.«
»Nun, wir haben November«, erinnerte ich sie. »Langsam treffen die Zugvögel ein.«
»Die Zugvögel?«
»Die Touristen«, erklärte ich. »Sie sind offensichtlich noch nicht lange in Florida.«
Sie blickte auf ihre Sandalen. »Ich mag den Läufer. Ganz schön mutig von Ihnen, einen weißen Teppich ins Wohnzimmer zu legen.«
»Eigentlich nicht. Ich habe nur selten Besuch.«
»Ich nehme an, Sie sind beruflich ziemlich eingespannt. Ich dachte immer, dass es toll sein muss, als Krankenschwester zu arbeiten«, meinte sie. »Es ist bestimmt eine sehr dankbare Aufgabe.«
Ich lachte. »Dankbar würde mir nicht unbedingt als erstes Wort einfallen.«
»Welches Wort würde Ihnen denn einfallen?«
Sie wirkte ernsthaft neugierig, was ich sowohl erfrischend als auch liebenswert fand. Schon sehr, sehr lange hatte niemand mehr echtes Interesse an mir gezeigt, und so fühlte ich mich geschmeichelt. Gleichzeitig hatte die Frage etwas so rührend Naives, dass ich sie in den Arm nehmen wollte wie eine Mutter ihr Kind, ihr sagen wollte, dass alles in Ordnung war, dass sie sich nicht so anstrengen musste, weil das kleine Häuschen in meinem Garten schon ihres war. Die Entscheidung war in dem Moment gefallen, als sie über meine Schwelle trat.
»Mit welchem Wort ich den Beruf einer Krankenschwester beschreiben würde?«, wiederholte ich und grübelte über verschiedenen Möglichkeiten. »Strapaziös«, sagte ich schließlich. »Aufreibend. Aufreizend.«
»Gute Wörter.«
Ich lachte erneut, wie ich es in der kurzen Zeit, seit sie sich in meinem Haus aufhielt, anscheinend ziemlich häufig getan hatte. Ich weiß noch, dass ich dachte, es wäre nett, jemanden um mich zu haben, der mich zum Lachen bringt. »Was machen Sie beruflich?«, fragte ich.
Alison stand auf, ging zum Fenster und starrte auf die breite, von diversen Arten Schatten spendender Palmen gesäumte Straße. Bettye McCoy, dritte Frau von Richard McCoy und gut dreißig Jahre jünger als ihr Gatte, was im Süden Floridas keine Seltenheit ist, wurde von ihren beiden kleinen weißen Hunden über den Bürgersteig gezerrt. Sie trug von Kopf bis Fuß Armani in Creme und hielt in der freien Hand eine kleine weiße Plastiktüte mit Hundekacke, eine modische Ironie, die der dritten Mrs. McCoy offenbar komplett entging. »Oh, schauen Sie doch mal? Sind die nicht einfach süß? Was sind das, Pudel?«
»Bichons«, sagte ich und trat neben sie. Ich reichte ihr knapp bis ans Kinn. »Die dummen Püppchen der Hundewelt.«
Nun war es an Alison zu lachen, und der Klang erfüllte den Raum und tanzte zwischen uns wie die Staubkörnchen in der Sonne. »Aber niedlich sind sie schon. Finden Sie nicht?«
»Niedlich würde mir nicht unbedingt als Erstes einfallen«, erwiderte ich als bewusstes Echo meiner vorherigen Bemerkung.
Sie lächelte verschwörerisch. »Was würden Ihnen denn einfallen?«
»Lassen Sie mich überlegen.« Ich fand zunehmend Gefallen an dem Spiel. »Jaulig. Nervig. Destruktiv.«
»Destruktiv? Wie kann etwas so Süßes zerstörerisch sein?«
»Vor ein paar Monaten war einer ihrer Hunde in meinem Garten und hat meinen Hibiskus ausgegraben. Glauben Sie mir, das war weder süß noch niedlich.« Ich trat vom Fenster zurück. Dabei fiel mein Blick auf die Silhouette eines Mannes, der sich inmitten der zahlreichen Schatten auf der gegenüberliegenden Straßenecke verbarg. »Wartet jemand auf Sie?«
»Auf mich? Nein. Warum?«
Ich tastete mich vorsichtig wieder nach vorn, doch wenn der Mann je existiert hatte, war er samt seinem Schatten verschwunden. Ich blickte die Straße hinunter, doch es war niemand zu sehen.
»Ich dachte, ich hätte jemanden unter dem Baum da drüben stehen sehen«, sagte ich und wies mit dem Kinn in die Richtung.
»Ich hab nichts gesehen.«
»Nun, es war wahrscheinlich auch nichts. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Liebend gern.« Sie folgte mir durch den kleinen Essbereich, der im rechten Winkel an das Wohnzimmer angrenzte, in die vorwiegend in weiß gehaltene Küche auf der Rückseite des Hauses. »Oh, schau sich das einer an«, rief sie offensichtlich entzückt und steuerte mit ausgestreckten Armen und eifrig flatternden Fingern auf die Regale zu, die die Wand neben der kleinen Frühstücksecke zierten. »Was ist denn das? Woher haben Sie die?«
Mein Blick streifte die fünfundsechzig Porzellanköpfe, die von den fünf Holzregalen auf uns herabblickten. »Sie heißen Kopfvasen«, erklärte ich. »Meine Mutter hat sie gesammelt. Sie stammen aus den Fünfzigerjahren, hauptsächlich aus Japan. Sie haben Löcher im Kopf, für Blumen vermutlich, obwohl nicht viele hineinpassen. Als sie auf den Markt kamen, waren sie höchstens ein paar Dollar wert.«
»Und jetzt?«
»Angeblich sind sie mittlerweile ziemlich wertvoll. Man bezeichnet sie, glaube ich, als Sammlerstücke.«
»Und wie würden Sie sie bezeichnen?« Ein listiges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, während sie gespannt auf meine Antwort wartete.
Diesmal musste ich nicht lange überlegen. »Nippes«, sagte ich knapp.
»Ich finde sie toll«, protestierte sie. »Schauen Sie sich doch mal die Wimpern von dieser hier an. Oh, und die Ohrringe von dieser. Und die winzige Perlenkette. Oh, und sehen Sie mal die hier. Hat sie nicht einfach einen wunderbaren Gesichtsausdruck?« Behutsam nahm sie einen der Köpfe in die Hand. Die Porzellanfigur war etwa fünfzehn Zentimeter groß mit aufgemalten gewölbten Augenbrauen, geschürzten roten Lippen, hellbraunen Locken, die unter einem pinkweißen Turban hervorquollen, und einer rosafarbenen Rose am Hals. »Sie ist nicht so kunstvoll gestaltet wie einige der anderen, aber sie hat einen so überlegenen Ausdruck, wie eine hochnäsige Matrone der besseren Gesellschaft, die auf alle herabblickt.«
»Sie sieht aus wie meine Mutter«, sagte ich.
Um ein Haar wäre ihr der Porzellankopf aus den Händen geglitten. »O mein Gott, das tut mir Leid.« Rasch stellte sie die Vase wieder auf ihren Platz zwischen zwei rehäugige Mädchen mit Haarbändern. »Ich wollte nicht «
Ich lachte. »Interessant, dass Sie die ausgewählt haben. Es war ihr Lieblingsstück. Wie nehmen Sie Ihren Kaffee?«
»Mit Milch und drei Stücken Zucker?«, erwiderte sie, als ob sie sich nicht ganz sicher wäre, während ihre Augen weiter an den Porzellanköpfen hingen.
Ich goss uns beiden einen Becher Kaffee ein, den ich aufgesetzt hatte, als sie aus dem Krankenhaus angerufen und erklärt hatte, dass sie meine Anzeige am Schwarzen Brett neben einem der Schwesternzimmer entdeckt hätte und am liebsten sofort vorbeikommen würde.
»Sammelt Ihre Mutter immer noch?«
»Sie ist vor fünf Jahren gestorben.«
»Das tut mir sehr Leid.«
»Mir auch. Ich vermisse sie. Deshalb habe ich es bisher auch nicht übers Herz gebracht, eine ihrer Freundinnen zu verkaufen. Wie wärs mit einem Stück Kürbis-Preiselbeer-Kuchen?«, wechselte ich das Thema, um nicht trübsinnig zu werden. »Ich habe ihn erst heute Morgen gebacken.«
»Sie können backen? Jetzt bin ich echt beeindruckt. In der Küche bin ich ein hoffnungsloser Fall.«
»Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, wie man kocht?«
»Unser Verhältnis war nicht gerade das beste.« Alison lächelte, doch es wirkte im Gegensatz zu ihrem sonstigen Lächeln eher gezwungen. »Egal, ich nehme sehr gern ein Stück Kuchen. Preiselbeeren zählen zu meinen absoluten Lieblingssachen auf dieser Welt.«
Ich musste wieder lachen. »Ich glaube nicht, dass ich schon einmal einen Menschen getroffen habe, der so leidenschaftliche Gefühle für Preiselbeeren hegt. Könnten Sie mir ein Messer anreichen?« Ich wies auf den Messerblock, der am anderen Ende der weiß gekachelten Arbeitsplatte stand. Alison zog das erste Messer heraus, eine dreißig Zentimeter lange Monstrosität mit einer fünf Zentimeter breiten, spitz zulaufenden Schneide. »Wow«, sagte ich. »Das ist ein bisschen zu mörderisch, finden Sie nicht auch?«
Sie wendete das Messer langsam in der Hand und betrachtete ihr Spiegelbild in der scharfen Klinge, während sie behutsam und für einen Moment gedankenverloren mit einem Finger über die Schneide strich. Dann bemerkte sie meinen Blick, steckte das Messer eilig zurück, zog eines der kleineren heraus und beobachtete aufmerksam, wie es mühelos durch den großen Kuchen schnitt. Jetzt war es an mir zu staunen, wie sie ihr Stück Kuchen herunterschlang, während sie mir Komplimente über Konsistenz, Leichtigkeit und Geschmack desselben machte. Sie aß hastig und konzentrierte sich wie ein Kind vollständig auf ihren Teller.
Vielleicht hätte ich argwöhnischer sein sollen oder doch zumindest vorsichtiger, vor allem nach der Erfahrung mit meiner letzten Mieterin. Doch wahrscheinlich waren es genau jene Erfahrungen, die mich so empfänglich für Alisons mädchenhaften Charme machten. Ich wollte wirklich glauben, dass sie genau so war, wie sie sich präsentierte: eine ein wenig naive, liebenswerte, süße junge Frau.
Süß, denke ich heute.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2002 by Joy Fielding
Copyright der deutschen Ausgabe © 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Übersetzung:»Kristian Lutze«
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Autoren-Porträt von Joy Fielding
Joy Fielding, geb. 1945 in Kanada, ist heute eine in Amerika sehr bekannte Autorin. Vor ihrem literarischen Durchbruch 1991 versuchte sie sich nach dem Studium erst in der Schauspielerei. Die Autorin lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Toronto/Kanada und Palm Beach/Florida.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joy Fielding
- 2010, 1, 832 Seiten, Maße: 13,5 x 20,9 cm, Soft-Cover (Weltbild Reader)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828995829
- ISBN-13: 9783828995826
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