"Totenmontag" und "Totgeglaubte leben länger"
Totenmontag:
Was könnte frostiger sein als ein kanadischer Dezembersturm? Tempe Brennan wird eines Morgens zu einem Fundort gerufen, der ihr das Blut in den Adern gefrieren lässt. In einem Kellergewölbe wurden die...
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Produktinformationen zu „"Totenmontag" und "Totgeglaubte leben länger" “
Totenmontag:
Was könnte frostiger sein als ein kanadischer Dezembersturm? Tempe Brennan wird eines Morgens zu einem Fundort gerufen, der ihr das Blut in den Adern gefrieren lässt. In einem Kellergewölbe wurden die Leichen dreier junger Frauen verscharrt. Es gibt absolut keine Anhaltspunkte, wann und warum diese Mädchen sterben mussten.
Totgeglaubte leben länger:
Die Leiche eines zwielichtigen Importeurs bereitet Tempe Brennan Kopfzerbrechen. Die Schußwunde am Kopf deutet auf Selbstmord hin - oder doch etwa Mord?
"Liebe, Hass, Lügen, Gewalt alles verschmilzt zu einem atemberaubenden Thriller."
Petra
Lese-Probe zu „"Totenmontag" und "Totgeglaubte leben länger" “
Totenmontag von Kathy ReichsMonday, Monday …
Can’t trust that day …
Diese Melodie spielte eben in meinem Kopf, als in dem engen unterirdischen Raum, in dem ich mich befand, ein Schuss knallte.Mit weit aufgerissenen Augen sah ich, wie nur einen Meter von mir entfernt Muskeln, Knochen und Eingeweide gegen Fels klatschten.
Einen Augenblick lang wirkte der verstümmelte Körper wie festgeklebt und glitt dann, eine Spur aus Blut und Haaren hinter sich her ziehend, nach unten. Obwohl ich noch immer kauerte, wirbelte ich herum. »Assez!« Das reicht! Sergeant-détective Luc Claudels Brauen zogen sich zu einem V zusammen.Er senkte seine Neun-Millimeter, steckte sie aber nicht in den Halfter. »Ratten. Diese Teufelsbrut.« Claudels Französisch war abgehackt und nasal, was seine Herkunft aus einem Ort ein Stückchen flussaufwärts verriet.»Werfen Sie Steine«, blaffte ich. »Dieser Mistkerl war groß genug, um sie zurückzuwerfen.« Das stundenlange Kauern in Kälte und Feuchtigkeit an einem Dezembermontag in Montreal forderte jetzt seinen Tribut. Meine Knie protestierten, als ich mich aufrichtete.
»Wo ist Charbonneau?«, fragte ich, während ich zuerst einen gestiefelten Fuß drehte und dann den anderen. »Befragt den Besitzer. Ich wünsche ihm viel Glück. Der Trottel hat den IQ von Erbsensuppe.« »Der Besitzer hat das hier entdeckt?« Ich deutete auf den Boden hinter mir. »Non. Le plombier.« »Was hatte der Klempner denn im Keller zu tun?« »Das Genie hat neben der Kloschüssel eine Falltür entdeckt und beschlossen, eine Expedition in den Untergrund zu starten, um sich mit den Abwasserrohren vertraut zu machen.«Ich dachte an meinen eigenen Abstieg über die wackelige Treppe und fragte mich, warum jemand dieses Risiko auf sich nehmen
... mehr
sollte. »Die Knochen lagen auf der Erde?« »Er sagte, er sei über etwas gestolpert, das aus dem Boden ragte. Dort.« Claudel deutete mit dem Kinn auf eine flache Senke direkt vor der Südwand. »Hat es rausgezogen. Und dem Besitzer gezeigt. Und gemeinsam waren sie dann in der örtlichen Bücherei, um in der Anatomiesammlung nachzuschauen, ob der Knochen von einem Menschen stammen könnte. Haben sich ein Buch mit schönen bunten Bildern geholt, vermutlich weil sie nicht lesen können.«
Ich wollte eben weiter nachfragen, als über uns etwas klickte. Claudel und ich schauten hoch, weil wir seinen Partner erwarteten. Anstelle von Charbonneau sahen wir eine Vogelscheuche von einem Mann in einem knielangen Pullover, ausgebeulten Jeans und schmutzig blauen Nikes. Ringelschwänzchen quollen unter einem roten Kopftuch hervor. Der Mann kauerte in der Tür und zielte mit einer Wegwerf-Kodak auf mich.
Claudels V wurde noch tiefer und seine Papageiennase noch dunkelroter. »Tabernac!« Es klickte noch zweimal, dann krabbelte der Mann mit dem Kopftuch zur Seite.
Claudel steckte seine Halbautomatik in den Halfter und legte die Hand auf das hölzerne Geländer. »Bis die SIJ kommt, werfen Sie Steine.« SIJ – Section d’Identité Judiciaire. So nennt man in Quebec die Spurensicherung. Ich sah zu, wie Claudels perfekt gewandeter Hintern durch die kleine rechteckige Öffnung verschwand. Obwohl es mich reizte, warf ich keinen einzigen Stein.
Oben gedämpfte Stimmen, das Poltern von Stiefeln. Hier unten nur das Summen des Generators für die Scheinwerfer. Mit angehaltenem Atem lauschte ich den Schatten um mich herum. Kein Quieken. Kein Scharren. Kein Pfotengetrippel. Ich schaute mich schnell um. Keine Knopfaugen. Keine nackten, schuppigen Schwänze. Die kleinen Mistkerle formierten sich wahrscheinlich gerade für eine weitere Offensive.
Auch wenn ich Claudels Problemlösungsstrategie nicht guthieß, in einer Sache stimmte ich mit ihm überein. Ich konnte gut ohne die Nager auskommen. Froh, dass ich für den Augenblick allein war, konzentrierte ich mich wieder auf die modrige Kiste zu meinen Füßen. „Dr. Energy’s Power Tonic. Todmüde? Dr. Energy’s bringt deine Knochen zum Tanzen“. Diese Knochen nicht mehr, Doc. Ich starrte den grausigen Inhalt der Kiste an. Der Großteil des Skeletts war zwar noch mit Dreck verkrustet, doch einige Knochen waren bereits sauber gebürstet. Ihre Oberfläche wirkte im harten Licht der Strahler kastanienbraun. Ein Schlüsselbein. Rippen. Ein Becken. Ein menschlicher Schädel. Verdammt.
Auch wenn ich es schon ein halbes Dutzend Mal gesagt hatte, konnte eine Wiederholung nicht schaden. Ich war einen Tag früher von Charlotte nach Montreal gekommen, um mich auf eine Gerichtsverhandlung am Dienstag vorzubereiten. Ein Mann war angeklagt, seine Frau ermordet und zerstückelt zu haben. Ich sollte die Sägespurenanalyse erläutern, die ich an ihrem Skelett vorgenommen hatte. Die Materie war kompliziert, und ich hatte meine Unterlagen noch einmal durchgehen wollen. Stattdessen fror ich mir hier im Keller einer Pizzabäckerei den Arsch ab.
Schon früh an diesem Morgen hatte Pierre LaManche mich in meinem Büro besucht. Ich kannte diese Miene und wusste daher sofort, was auf mich zukam.
Im Keller eines Pizza-Straßenverkaufs habe man Knochen gefunden, sagte mein Chef. Der Besitzer habe die Polizei gerufen. Die Polizei habe den Coroner gerufen, den Leichenbeschauer also. Der Coroner habe das Gerichtsmedizinische Institut angerufen. LaManche wollte, dass ich der Sache nachging.
»Heute?« »S’il vous plaît.« »Ich muss morgen in den Zeugenstand.« »Der Pétit-Prozess?« Ich nickte. »Die Überreste sind wahrscheinlich die eines Tiers«, sagte LaManche in seinem präzisen Pariser Französisch. »Es sollte nicht lange dauern.« »Wo?« Ich griff nach einem Notizblock. LaManche las die Adresse von dem Zettel in seiner Hand ab. Rue Ste. Catherine, einige Blocks östlich des Centre-ville. CUM-Revier. Claudel.
Der Gedanke, mit Claudel arbeiten zu müssen, war der Grund für das erste »Verdammt« dieses Vormittags gewesen. Es gibt einige kleinstädtische Dienststellen in der Umgebung der Inselstadt Montreal, aber die beiden Hauptakteure bei der Strafverfolgung sind die SQ und die CUM. La Sûreté du Québec ist die Provinzbehörde. Die SQ hat auf dem flachen Land das Sagen und in Orten, die keine eigene städtische Dienststelle haben. Die Police de la Communauté Urbaine de Montreal, oder CUM, ist die Großstadtpolizei. Die Insel gehört der CUM.
Luc Claudel und Michel Charbonneau sind Detectives bei der Abteilung Schwerverbrechen der CUM. Als forensische Anthropologin für die Provinz Quebec habe ich im Lauf der Jahre mit beiden gearbeitet. Mit Charbonneau war es immer ein Vergnügen. Luc Claudel ist zwar ein guter Polizist, hat aber die Geduld eines Knallfrosches, das Einfühlungsvermögen von Vlad dem Pfähler und eine beharrliche Skepsis, was den Wert der forensischen Anthropologie angeht.
Schicke Garderobe, zugegeben. Dr. Energy’s Kiste war bereits voller Knochen gewesen, als ich zwei Stunden zuvor hier im Keller angekommen war. Obwohl Claudel mir viele Details erst noch liefern musste, nahm ich an, dass der Besitzer der Knochensammler gewesen war, vielleicht mit der Unterstützung des glücklosen Klempners. Meine Aufgabe war es gewesen, zu bestimmen, ob die Überreste menschlichen Ursprungs waren. Sie waren es.
Diese Feststellung hatte zum zweiten »Verdammt« dieses Morgens geführt. Meine nächste Aufgabe war es gewesen, herauszufinden, ob in der Ruhestätte unter dem Kellerboden sonst noch jemand lag. Dazu hatte ich drei Erkundungstechniken benutzt.
Ein schräges Ableuchten des Kellerbodens mit einer Taschenlampe hatte Vertiefungen im Erdreich gezeigt. Behutsames Stochern mit einer Sonde hatte Widerstände unter jeder Vertiefung ergeben, was auf Objekte unter der Oberfläche hindeutete. Versuchsgrabungen hatten menschliche Knochen an den Tag gebracht. Das hatte die Aussichten auf ein entspanntes Durchsehen der Pétit-Akten dramatisch verschlechtert.
Claudel und Charbonneau hatten mit »Verdammt« Nummer drei bis fünf reagiert, als sie meine Einschätzung hörten. Zur Verstärkung hatten sie noch ein paar Quebecer Flüche hinzugefügt. Wir hatten die SIJ gerufen. Die Spurensicherungsroutine lief an. Scheinwerfer wurden aufgestellt. Fotos wurden geschossen. Während Claudel und Charbonneau den Besitzer und seinen Gehilfen befragten, wurde ein Bodendurchdringungsradar durch den Keller gezogen. Das BDR zeigte Störungen, die in etwa zehn Zentimeter Tiefe in jeder der beiden Senken begannen. Ansonsten war der Keller sauber.
Während Claudel mit seiner Halbautomatik den Rattenfänger spielte, machten die SIJ-Techniker Pause, und ich baute zwei simple, quadratische Gitternetze. Ich band eben die letzte Schnur an den letzten Pflock, als Claudel seine Rambo-Nummer mit den Ratten abzog. Und jetzt? Warten, bis die Spurensicherung zurückkommt? Bestimmt.
Mit der Foto- und Videoausrüstung der SIJ fotografierte und filmte ich. Dann rieb ich mir Durchblutung in die Hände, zog meine Handschuhe wieder an und begann, im Planquadrat 1-A mit einer Kelle Erde abzutragen. Beim Graben überkam mich die gewohnte Tatortanspannung. Die geschärften Sinne. Die intensive Neugier. Was, wenn es nichts ist? Was, wenn es doch etwas ist? Die Ängstlichkeit.
Was, wenn ich grundlegend wichtiges Material zu Krümeln trete? Ich dachte an andere Ausgrabungen. Andere Tote. Ein Möchtegern-Heiliger in einer ausgebrannten Kirche. Ein kopfloser Teenager in einer Biker-Bude. Von Kugeln durchsiebte Junkies in einem Grab an einem Bachufer. Ich weiß nicht, wie lange ich schon grub, als das Spurensicherungsteam zurückkehrte. Der Größere der beiden hatte einen Styroporbecher in der Hand. Ich versuchte, mich an seinen Namen zu erinnern. Wurzel. Racine. Lang und dünn wie eine Wurzel. Meine Eselsbrücken funktionierten. René Racine. Netter Kerl. Wir hatten schon eine Hand voll Tatorte miteinander bearbeitet. Sein kleinerer Partner war Pierre Gilbert. Ich kannte ihn schon ein Jahrzehnt.
Während ich an lauwarmem Kaffee nippte, erläuterte ich, was ich in ihrer Abwesenheit getan hatte. Dann bat ich Gilbert, zu filmen und den Abraum in Eimern wegzutragen, und Racine, zu sieben. Zurück zum Gitternetz. Nachdem ich in 1-A gut sieben Zentimeter abgetragen hatte, wandte ich mich 1-B zu. Dann 1-C und 1-D. Nichts als Erde. Okay. Das BDR zeigte eine Abweichung, die in zehn Zentimeter Tiefe begann. Ich grub weiter. Meine Finger und Zehen wurden taub. Ich fror bis ins Mark. Ich verlor jedes Zeitgefühl.
Gilbert trug Eimer mit Erde von meinem Gitternetz zum Sieb. Racine warf die Erde durch die Maschen. Hin und wieder machte Gilbert ein Foto. Als ich das gesamte erste Gitternetz etwa sieben Zentimeter tief abgetragen hatte, fing ich wieder bei Planquadrat 1-A an. Bei einer Tiefe von fünfzehn Zentimetern wechselte ich zum nächsten Planquadrat. Ich hatte gerade zweimal in Planquadrat 1-B gekratzt, als mir eine farbliche Veränderung des Erdreichs auffiel. Ich bat Gilbert, einen Scheinwerfer neu auszurichten.
Ein Blick, und mein Blutdruck schnellte in die Höhe. »Bingo.« Gilbert kauerte sich neben mich. Racine kam ebenfalls dazu. »Quoi?«, fragte Gilbert. Was? Ich fuhr mit der Spitze meiner Kelle um den Klecks, der in 1-B einsickerte. »Die Erde ist dunkler«, bemerkte Racine. »Verfärbung deutet auf Zersetzung hin«, erläuterte ich. Beide Techniker starrten mich an. Ich zeigte auf die Planquadrate 1-C und 1-D. »Irgendjemand oder irgendetwas geht dort unten den Weg alles Irdischen.« »Soll ich Claudel Bescheid sagen?«, fragte Gilbert. »Der freut sich bestimmt.«
Vier Stunden später waren meine Hände und Füße steif gefroren. Obwohl ich eine Zipfelmütze auf dem Kopf und einen Schal um den Hals hatte, zitterte ich in meinem superabsorbierenden, isolierbeschichteten Mikrofaser-Parka, für den Kanuk eigentlich Schutz bis zu einer Temperatur von minus vierzig Grad garantierte.
Gilbert ging im Keller herum und fotografierte und filmte aus verschiedenen Blickwinkeln. Racine schaute zu, die behandschuhten Hände unter die Achseln geklemmt. Beide schienen sich in ihren arktistauglichen Overalls ziemlich behaglich zu fühlen.
Die beiden Detectives, Claudel und Charbonneau, standen nebeneinander, die Füße gespreizt, die Hände vor den Genitalien gefaltet. Beide trugen schwarze Wollmäntel und schwarze Lederhandschuhe. Aber keiner machte ein fröhliches Gesicht.
Acht tote Ratten zierten die Wände. Die Grube des Klempners und die beiden Vertiefungen waren bis zu einer Tiefe von sechzig Zentimetern abgegraben. Erstere hatte noch einige verstreute Knochen preisgegeben, die der Klempner und der Besitzer übersehen hatten. Die beiden anderen Löcher erzählten eine ganz andere Geschichte.
Das Skelett unter Gitternetz eins lag in Fötalhaltung da. Es war unbekleidet, im Sieb war kein einziges Artefakt aufgetaucht. Die Person unter Gitternetz zwei war vor dem Vergraben eingewickelt und verschnürt worden. Die Teile, die wir sehen konnten, wirkten ebenfalls völlig skelettiert.
Nachdem ich die letzten Erdpartikel von dem Bündel gebürstet hatte, legte ich meinen Pinsel weg, stand auf und stampfte mit den Füßen, um sie aufzutauen.
»Ist das eine Decke?« Charbonneaus Stimme klang heiser vor Kälte. »Sieht eher aus wie Leder«, sagte ich. Er deutete mit dem Daumen auf Dr. Energy’s Patienten. »Ist das der Rest von dem Kerl in der Kiste?« Sergeant-détective Michel Charbonneau stammte aus Chicoutimi, einer Stadt sechs Stunden den St. Lawrence flussaufwärts in einer Region, die als Saguenay bekannt war. Bevor er zur CUM kam, hatte er mehrere Jahre auf den Ölfeldern im westlichen Texas gearbeitet. Stolz auf seine Cowboy-Jugend, sprach Charbonneau mit mir immer in meiner Muttersprache. Sein Englisch war gut, auch wenn er manchmal die falschen Silben betonte und seine Formulierungen so mit Slang durchsetzt waren, dass man einen Zehn-Gallonen-Stetson damit hätte füllen können.
»Wollen wir’s hoffen.« »Sie hoffen es?« Eine kleine Atemwolke wehte aus Claudels Mund. »Ja, Monsieur Claudel. Ich hoffe es.« Claudel kniff die Lippen zusammen, blieb aber stumm. Als Gilbert genügend Fotos von den verpackten Überresten geschossen hatte, kniete ich mich hin und zupfte an einer Ecke des Leders. Es riss.
Ich ersetzte meine warmen Wollfäustlinge durch Gummihandschuhe, beugte mich wieder über das Bündel und machte mich daran, eine Ecke abzulösen, dann behutsam die Schichten zu trennen, anzuheben und aufzurollen. Nachdem ich die obere Schicht komplett nach links abgewickelt hatte, machte ich mich an die untere. An einigen Stellen hafteten Fasern am Knochen. Vor Kälte und Nervosität zitternd, löste ich mit dem Skalpell verfaultes Leder vom darunter liegenden Knochen.
»Was ist das weiße Zeug?«, fragte Racine. »Adipocire.« »Adipocire?«, wiederholte er. »Leichenwachs«, antwortete ich, obwohl ich nicht in der Stimmung für eine Chemiestunde war. »Fettsäuren und Kalziumseifen aus Muskel- oder Fettgewebe, die eine chemische Veränderung durchmachen, normalerweise nach einer langen Verweildauer in der Erde oder im Wasser.« »Warum ist das nicht auch auf dem anderen Skelett?« »Weiß ich nicht.«
Ich hörte, wie Claudel Luft durch die Lippen blies. Ich ignorierte ihn. Fünfzehn Minuten später hatte ich die untere Schicht vollständig abgelöst und ausgebreitet, und das Skelett lag nun frei vor uns. Der Schädel war zwar beschädigt, aber unübersehbar vorhanden.
»Drei Köpfe, drei Personen.« Charbonneau stellte das Offensichtliche fest. »Tabernouche«, sagte Claudel. »Verdammt«, sagte ich. Gilbert und Racine blieben stumm. »Irgendeine Idee, was wir hier haben, Doc?«, fragte Charbonneau. Ich richtete mich ächzend auf. Acht Augen folgten mir zu Dr. Energy’s Kiste.
Nacheinander holte ich die beiden Beckenhälften und den Schädel heraus und untersuchte sie. Dann ging ich zum ersten Loch, kniete mich hin und entnahm und untersuchte dieselben Skelettteile. O Gott.
Ich legte diese Knochen wieder zurück, kroch zum zweiten Loch, kniete mich darüber und betrachtete die Schädelfragmente. Nein. Nicht schon wieder. Die universellen Opfer. Behutsam löste ich die rechte Beckenhälfte. Atemwolken blähten sich vor fünf Gesichtern. Ich ging in die Hocke und bürstete Erde von der Schambeinfuge. Und spürte, wie es kalt wurde in meiner Brust. Drei Frauen. Fast noch Mädchen.
Als ich am Dienstagmorgen zum Wetterbericht aufwachte, wusste ich, dass mich eine mörderische Kälte erwartete. Nicht die feucht-kühlen zehn Grad plus, über die wir in North Carolina im Januar gelegentlich jammern. Ich meine arktische Kälte im zweistelligen Minusbereich. Kälte nach dem Motto: Hör auf, dich zu bewegen, und du stirbst und wirst von Wölfen gefressen.
Ich liebe Montreal. Ich liebe den gut zweihundertfünfzig Meter hohen Berg, den alten Hafen, Little Italy, Chinatown, das Schwulenviertel, die Stahl- und Glaswolkenkratzer des Centre-ville, die verwinkelten Viertel mit ihren Gassen und Steinhäusern und unmöglichen Treppen. Montreal ist ein schizoider Raufbold, der beständig mit sich selbst über Kreuz ist. Anglophon gegen frankophon. Separatistisch gegen föderalistisch. Katholisch gegen protestantisch. Alt gegen neu. Ich genieße den kulinarischen Multikulturalismus der Stadt: Empanada, Falafel, Poutin, Kong Pao. Hurley’s Irish Pub, Katsura, L’Express, Fairmont Bagel, Trattoria Trastevere.
Ich nehme teil an der endlosen Reihe von Festivals in dieser Stadt, Le Festival International de Jazz, Les Fêtes Gourmandes Internationales, Le Festival des Films du Monde, das Käferkosten-Festival im Insektarium. Ich kaufe ein in den Läden an der Ste. Catherine, auf den Freiluftmärkten an der Jean-Talon und der Atwater, in den Antiquitätenläden an der Notre-Dame. Ich besuche Museen, mache Picknicks in den Parks, fahre auf den Wegen am Canal Lachine Fahrrad. Ich genieße das alles. Was ich nicht genieße, ist das Klima von November bis Mai. Eins muss ich zugeben. Ich habe zu lange im Süden gelebt. Ich friere nicht gern. Ich habe keine Geduld mit Eis und Schnee. Behaltet eure Stiefel und euer Labello und die Eishotels. Was ich brauche, sind Shorts und Sandalen und Lichtschutzfaktor dreißig.
Mein Kater, Birdie, teilt diese Meinung. Als ich mich aufsetzte, stand auch er auf, machte einen Buckel und vergrub sich dann wieder unter der Decke. Mit einem Lächeln sah ich, wie sein Körper sich zu einer dichten, runden Masse zusammenrollte. Birdie, mein einziger und treuer Zimmergenosse.»Ich kann dich gut verstehen, Bird«, sagte ich und schaltete den Radiowecker aus. Der Kater rollte sich noch enger zusammen.
© Blanvalet Verlag
Übersetzung: Klaus Berr
Ich wollte eben weiter nachfragen, als über uns etwas klickte. Claudel und ich schauten hoch, weil wir seinen Partner erwarteten. Anstelle von Charbonneau sahen wir eine Vogelscheuche von einem Mann in einem knielangen Pullover, ausgebeulten Jeans und schmutzig blauen Nikes. Ringelschwänzchen quollen unter einem roten Kopftuch hervor. Der Mann kauerte in der Tür und zielte mit einer Wegwerf-Kodak auf mich.
Claudels V wurde noch tiefer und seine Papageiennase noch dunkelroter. »Tabernac!« Es klickte noch zweimal, dann krabbelte der Mann mit dem Kopftuch zur Seite.
Claudel steckte seine Halbautomatik in den Halfter und legte die Hand auf das hölzerne Geländer. »Bis die SIJ kommt, werfen Sie Steine.« SIJ – Section d’Identité Judiciaire. So nennt man in Quebec die Spurensicherung. Ich sah zu, wie Claudels perfekt gewandeter Hintern durch die kleine rechteckige Öffnung verschwand. Obwohl es mich reizte, warf ich keinen einzigen Stein.
Oben gedämpfte Stimmen, das Poltern von Stiefeln. Hier unten nur das Summen des Generators für die Scheinwerfer. Mit angehaltenem Atem lauschte ich den Schatten um mich herum. Kein Quieken. Kein Scharren. Kein Pfotengetrippel. Ich schaute mich schnell um. Keine Knopfaugen. Keine nackten, schuppigen Schwänze. Die kleinen Mistkerle formierten sich wahrscheinlich gerade für eine weitere Offensive.
Auch wenn ich Claudels Problemlösungsstrategie nicht guthieß, in einer Sache stimmte ich mit ihm überein. Ich konnte gut ohne die Nager auskommen. Froh, dass ich für den Augenblick allein war, konzentrierte ich mich wieder auf die modrige Kiste zu meinen Füßen. „Dr. Energy’s Power Tonic. Todmüde? Dr. Energy’s bringt deine Knochen zum Tanzen“. Diese Knochen nicht mehr, Doc. Ich starrte den grausigen Inhalt der Kiste an. Der Großteil des Skeletts war zwar noch mit Dreck verkrustet, doch einige Knochen waren bereits sauber gebürstet. Ihre Oberfläche wirkte im harten Licht der Strahler kastanienbraun. Ein Schlüsselbein. Rippen. Ein Becken. Ein menschlicher Schädel. Verdammt.
Auch wenn ich es schon ein halbes Dutzend Mal gesagt hatte, konnte eine Wiederholung nicht schaden. Ich war einen Tag früher von Charlotte nach Montreal gekommen, um mich auf eine Gerichtsverhandlung am Dienstag vorzubereiten. Ein Mann war angeklagt, seine Frau ermordet und zerstückelt zu haben. Ich sollte die Sägespurenanalyse erläutern, die ich an ihrem Skelett vorgenommen hatte. Die Materie war kompliziert, und ich hatte meine Unterlagen noch einmal durchgehen wollen. Stattdessen fror ich mir hier im Keller einer Pizzabäckerei den Arsch ab.
Schon früh an diesem Morgen hatte Pierre LaManche mich in meinem Büro besucht. Ich kannte diese Miene und wusste daher sofort, was auf mich zukam.
Im Keller eines Pizza-Straßenverkaufs habe man Knochen gefunden, sagte mein Chef. Der Besitzer habe die Polizei gerufen. Die Polizei habe den Coroner gerufen, den Leichenbeschauer also. Der Coroner habe das Gerichtsmedizinische Institut angerufen. LaManche wollte, dass ich der Sache nachging.
»Heute?« »S’il vous plaît.« »Ich muss morgen in den Zeugenstand.« »Der Pétit-Prozess?« Ich nickte. »Die Überreste sind wahrscheinlich die eines Tiers«, sagte LaManche in seinem präzisen Pariser Französisch. »Es sollte nicht lange dauern.« »Wo?« Ich griff nach einem Notizblock. LaManche las die Adresse von dem Zettel in seiner Hand ab. Rue Ste. Catherine, einige Blocks östlich des Centre-ville. CUM-Revier. Claudel.
Der Gedanke, mit Claudel arbeiten zu müssen, war der Grund für das erste »Verdammt« dieses Vormittags gewesen. Es gibt einige kleinstädtische Dienststellen in der Umgebung der Inselstadt Montreal, aber die beiden Hauptakteure bei der Strafverfolgung sind die SQ und die CUM. La Sûreté du Québec ist die Provinzbehörde. Die SQ hat auf dem flachen Land das Sagen und in Orten, die keine eigene städtische Dienststelle haben. Die Police de la Communauté Urbaine de Montreal, oder CUM, ist die Großstadtpolizei. Die Insel gehört der CUM.
Luc Claudel und Michel Charbonneau sind Detectives bei der Abteilung Schwerverbrechen der CUM. Als forensische Anthropologin für die Provinz Quebec habe ich im Lauf der Jahre mit beiden gearbeitet. Mit Charbonneau war es immer ein Vergnügen. Luc Claudel ist zwar ein guter Polizist, hat aber die Geduld eines Knallfrosches, das Einfühlungsvermögen von Vlad dem Pfähler und eine beharrliche Skepsis, was den Wert der forensischen Anthropologie angeht.
Schicke Garderobe, zugegeben. Dr. Energy’s Kiste war bereits voller Knochen gewesen, als ich zwei Stunden zuvor hier im Keller angekommen war. Obwohl Claudel mir viele Details erst noch liefern musste, nahm ich an, dass der Besitzer der Knochensammler gewesen war, vielleicht mit der Unterstützung des glücklosen Klempners. Meine Aufgabe war es gewesen, zu bestimmen, ob die Überreste menschlichen Ursprungs waren. Sie waren es.
Diese Feststellung hatte zum zweiten »Verdammt« dieses Morgens geführt. Meine nächste Aufgabe war es gewesen, herauszufinden, ob in der Ruhestätte unter dem Kellerboden sonst noch jemand lag. Dazu hatte ich drei Erkundungstechniken benutzt.
Ein schräges Ableuchten des Kellerbodens mit einer Taschenlampe hatte Vertiefungen im Erdreich gezeigt. Behutsames Stochern mit einer Sonde hatte Widerstände unter jeder Vertiefung ergeben, was auf Objekte unter der Oberfläche hindeutete. Versuchsgrabungen hatten menschliche Knochen an den Tag gebracht. Das hatte die Aussichten auf ein entspanntes Durchsehen der Pétit-Akten dramatisch verschlechtert.
Claudel und Charbonneau hatten mit »Verdammt« Nummer drei bis fünf reagiert, als sie meine Einschätzung hörten. Zur Verstärkung hatten sie noch ein paar Quebecer Flüche hinzugefügt. Wir hatten die SIJ gerufen. Die Spurensicherungsroutine lief an. Scheinwerfer wurden aufgestellt. Fotos wurden geschossen. Während Claudel und Charbonneau den Besitzer und seinen Gehilfen befragten, wurde ein Bodendurchdringungsradar durch den Keller gezogen. Das BDR zeigte Störungen, die in etwa zehn Zentimeter Tiefe in jeder der beiden Senken begannen. Ansonsten war der Keller sauber.
Während Claudel mit seiner Halbautomatik den Rattenfänger spielte, machten die SIJ-Techniker Pause, und ich baute zwei simple, quadratische Gitternetze. Ich band eben die letzte Schnur an den letzten Pflock, als Claudel seine Rambo-Nummer mit den Ratten abzog. Und jetzt? Warten, bis die Spurensicherung zurückkommt? Bestimmt.
Mit der Foto- und Videoausrüstung der SIJ fotografierte und filmte ich. Dann rieb ich mir Durchblutung in die Hände, zog meine Handschuhe wieder an und begann, im Planquadrat 1-A mit einer Kelle Erde abzutragen. Beim Graben überkam mich die gewohnte Tatortanspannung. Die geschärften Sinne. Die intensive Neugier. Was, wenn es nichts ist? Was, wenn es doch etwas ist? Die Ängstlichkeit.
Was, wenn ich grundlegend wichtiges Material zu Krümeln trete? Ich dachte an andere Ausgrabungen. Andere Tote. Ein Möchtegern-Heiliger in einer ausgebrannten Kirche. Ein kopfloser Teenager in einer Biker-Bude. Von Kugeln durchsiebte Junkies in einem Grab an einem Bachufer. Ich weiß nicht, wie lange ich schon grub, als das Spurensicherungsteam zurückkehrte. Der Größere der beiden hatte einen Styroporbecher in der Hand. Ich versuchte, mich an seinen Namen zu erinnern. Wurzel. Racine. Lang und dünn wie eine Wurzel. Meine Eselsbrücken funktionierten. René Racine. Netter Kerl. Wir hatten schon eine Hand voll Tatorte miteinander bearbeitet. Sein kleinerer Partner war Pierre Gilbert. Ich kannte ihn schon ein Jahrzehnt.
Während ich an lauwarmem Kaffee nippte, erläuterte ich, was ich in ihrer Abwesenheit getan hatte. Dann bat ich Gilbert, zu filmen und den Abraum in Eimern wegzutragen, und Racine, zu sieben. Zurück zum Gitternetz. Nachdem ich in 1-A gut sieben Zentimeter abgetragen hatte, wandte ich mich 1-B zu. Dann 1-C und 1-D. Nichts als Erde. Okay. Das BDR zeigte eine Abweichung, die in zehn Zentimeter Tiefe begann. Ich grub weiter. Meine Finger und Zehen wurden taub. Ich fror bis ins Mark. Ich verlor jedes Zeitgefühl.
Gilbert trug Eimer mit Erde von meinem Gitternetz zum Sieb. Racine warf die Erde durch die Maschen. Hin und wieder machte Gilbert ein Foto. Als ich das gesamte erste Gitternetz etwa sieben Zentimeter tief abgetragen hatte, fing ich wieder bei Planquadrat 1-A an. Bei einer Tiefe von fünfzehn Zentimetern wechselte ich zum nächsten Planquadrat. Ich hatte gerade zweimal in Planquadrat 1-B gekratzt, als mir eine farbliche Veränderung des Erdreichs auffiel. Ich bat Gilbert, einen Scheinwerfer neu auszurichten.
Ein Blick, und mein Blutdruck schnellte in die Höhe. »Bingo.« Gilbert kauerte sich neben mich. Racine kam ebenfalls dazu. »Quoi?«, fragte Gilbert. Was? Ich fuhr mit der Spitze meiner Kelle um den Klecks, der in 1-B einsickerte. »Die Erde ist dunkler«, bemerkte Racine. »Verfärbung deutet auf Zersetzung hin«, erläuterte ich. Beide Techniker starrten mich an. Ich zeigte auf die Planquadrate 1-C und 1-D. »Irgendjemand oder irgendetwas geht dort unten den Weg alles Irdischen.« »Soll ich Claudel Bescheid sagen?«, fragte Gilbert. »Der freut sich bestimmt.«
Vier Stunden später waren meine Hände und Füße steif gefroren. Obwohl ich eine Zipfelmütze auf dem Kopf und einen Schal um den Hals hatte, zitterte ich in meinem superabsorbierenden, isolierbeschichteten Mikrofaser-Parka, für den Kanuk eigentlich Schutz bis zu einer Temperatur von minus vierzig Grad garantierte.
Gilbert ging im Keller herum und fotografierte und filmte aus verschiedenen Blickwinkeln. Racine schaute zu, die behandschuhten Hände unter die Achseln geklemmt. Beide schienen sich in ihren arktistauglichen Overalls ziemlich behaglich zu fühlen.
Die beiden Detectives, Claudel und Charbonneau, standen nebeneinander, die Füße gespreizt, die Hände vor den Genitalien gefaltet. Beide trugen schwarze Wollmäntel und schwarze Lederhandschuhe. Aber keiner machte ein fröhliches Gesicht.
Acht tote Ratten zierten die Wände. Die Grube des Klempners und die beiden Vertiefungen waren bis zu einer Tiefe von sechzig Zentimetern abgegraben. Erstere hatte noch einige verstreute Knochen preisgegeben, die der Klempner und der Besitzer übersehen hatten. Die beiden anderen Löcher erzählten eine ganz andere Geschichte.
Das Skelett unter Gitternetz eins lag in Fötalhaltung da. Es war unbekleidet, im Sieb war kein einziges Artefakt aufgetaucht. Die Person unter Gitternetz zwei war vor dem Vergraben eingewickelt und verschnürt worden. Die Teile, die wir sehen konnten, wirkten ebenfalls völlig skelettiert.
Nachdem ich die letzten Erdpartikel von dem Bündel gebürstet hatte, legte ich meinen Pinsel weg, stand auf und stampfte mit den Füßen, um sie aufzutauen.
»Ist das eine Decke?« Charbonneaus Stimme klang heiser vor Kälte. »Sieht eher aus wie Leder«, sagte ich. Er deutete mit dem Daumen auf Dr. Energy’s Patienten. »Ist das der Rest von dem Kerl in der Kiste?« Sergeant-détective Michel Charbonneau stammte aus Chicoutimi, einer Stadt sechs Stunden den St. Lawrence flussaufwärts in einer Region, die als Saguenay bekannt war. Bevor er zur CUM kam, hatte er mehrere Jahre auf den Ölfeldern im westlichen Texas gearbeitet. Stolz auf seine Cowboy-Jugend, sprach Charbonneau mit mir immer in meiner Muttersprache. Sein Englisch war gut, auch wenn er manchmal die falschen Silben betonte und seine Formulierungen so mit Slang durchsetzt waren, dass man einen Zehn-Gallonen-Stetson damit hätte füllen können.
»Wollen wir’s hoffen.« »Sie hoffen es?« Eine kleine Atemwolke wehte aus Claudels Mund. »Ja, Monsieur Claudel. Ich hoffe es.« Claudel kniff die Lippen zusammen, blieb aber stumm. Als Gilbert genügend Fotos von den verpackten Überresten geschossen hatte, kniete ich mich hin und zupfte an einer Ecke des Leders. Es riss.
Ich ersetzte meine warmen Wollfäustlinge durch Gummihandschuhe, beugte mich wieder über das Bündel und machte mich daran, eine Ecke abzulösen, dann behutsam die Schichten zu trennen, anzuheben und aufzurollen. Nachdem ich die obere Schicht komplett nach links abgewickelt hatte, machte ich mich an die untere. An einigen Stellen hafteten Fasern am Knochen. Vor Kälte und Nervosität zitternd, löste ich mit dem Skalpell verfaultes Leder vom darunter liegenden Knochen.
»Was ist das weiße Zeug?«, fragte Racine. »Adipocire.« »Adipocire?«, wiederholte er. »Leichenwachs«, antwortete ich, obwohl ich nicht in der Stimmung für eine Chemiestunde war. »Fettsäuren und Kalziumseifen aus Muskel- oder Fettgewebe, die eine chemische Veränderung durchmachen, normalerweise nach einer langen Verweildauer in der Erde oder im Wasser.« »Warum ist das nicht auch auf dem anderen Skelett?« »Weiß ich nicht.«
Ich hörte, wie Claudel Luft durch die Lippen blies. Ich ignorierte ihn. Fünfzehn Minuten später hatte ich die untere Schicht vollständig abgelöst und ausgebreitet, und das Skelett lag nun frei vor uns. Der Schädel war zwar beschädigt, aber unübersehbar vorhanden.
»Drei Köpfe, drei Personen.« Charbonneau stellte das Offensichtliche fest. »Tabernouche«, sagte Claudel. »Verdammt«, sagte ich. Gilbert und Racine blieben stumm. »Irgendeine Idee, was wir hier haben, Doc?«, fragte Charbonneau. Ich richtete mich ächzend auf. Acht Augen folgten mir zu Dr. Energy’s Kiste.
Nacheinander holte ich die beiden Beckenhälften und den Schädel heraus und untersuchte sie. Dann ging ich zum ersten Loch, kniete mich hin und entnahm und untersuchte dieselben Skelettteile. O Gott.
Ich legte diese Knochen wieder zurück, kroch zum zweiten Loch, kniete mich darüber und betrachtete die Schädelfragmente. Nein. Nicht schon wieder. Die universellen Opfer. Behutsam löste ich die rechte Beckenhälfte. Atemwolken blähten sich vor fünf Gesichtern. Ich ging in die Hocke und bürstete Erde von der Schambeinfuge. Und spürte, wie es kalt wurde in meiner Brust. Drei Frauen. Fast noch Mädchen.
Als ich am Dienstagmorgen zum Wetterbericht aufwachte, wusste ich, dass mich eine mörderische Kälte erwartete. Nicht die feucht-kühlen zehn Grad plus, über die wir in North Carolina im Januar gelegentlich jammern. Ich meine arktische Kälte im zweistelligen Minusbereich. Kälte nach dem Motto: Hör auf, dich zu bewegen, und du stirbst und wirst von Wölfen gefressen.
Ich liebe Montreal. Ich liebe den gut zweihundertfünfzig Meter hohen Berg, den alten Hafen, Little Italy, Chinatown, das Schwulenviertel, die Stahl- und Glaswolkenkratzer des Centre-ville, die verwinkelten Viertel mit ihren Gassen und Steinhäusern und unmöglichen Treppen. Montreal ist ein schizoider Raufbold, der beständig mit sich selbst über Kreuz ist. Anglophon gegen frankophon. Separatistisch gegen föderalistisch. Katholisch gegen protestantisch. Alt gegen neu. Ich genieße den kulinarischen Multikulturalismus der Stadt: Empanada, Falafel, Poutin, Kong Pao. Hurley’s Irish Pub, Katsura, L’Express, Fairmont Bagel, Trattoria Trastevere.
Ich nehme teil an der endlosen Reihe von Festivals in dieser Stadt, Le Festival International de Jazz, Les Fêtes Gourmandes Internationales, Le Festival des Films du Monde, das Käferkosten-Festival im Insektarium. Ich kaufe ein in den Läden an der Ste. Catherine, auf den Freiluftmärkten an der Jean-Talon und der Atwater, in den Antiquitätenläden an der Notre-Dame. Ich besuche Museen, mache Picknicks in den Parks, fahre auf den Wegen am Canal Lachine Fahrrad. Ich genieße das alles. Was ich nicht genieße, ist das Klima von November bis Mai. Eins muss ich zugeben. Ich habe zu lange im Süden gelebt. Ich friere nicht gern. Ich habe keine Geduld mit Eis und Schnee. Behaltet eure Stiefel und euer Labello und die Eishotels. Was ich brauche, sind Shorts und Sandalen und Lichtschutzfaktor dreißig.
Mein Kater, Birdie, teilt diese Meinung. Als ich mich aufsetzte, stand auch er auf, machte einen Buckel und vergrub sich dann wieder unter der Decke. Mit einem Lächeln sah ich, wie sein Körper sich zu einer dichten, runden Masse zusammenrollte. Birdie, mein einziger und treuer Zimmergenosse.»Ich kann dich gut verstehen, Bird«, sagte ich und schaltete den Radiowecker aus. Der Kater rollte sich noch enger zusammen.
© Blanvalet Verlag
Übersetzung: Klaus Berr
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Autoren-Porträt von Kathy Reichs
Kathy Reichs, geboren in Chicago, ist Professorin für Soziologie und Anthropologie und unter anderem als forensische Anthropologin für das gerichtsmedizinische Institut der Provinz Quebec tätig. Romanveröffentlichungen. Die Autorin lebt in Charlotte und Montreal.Klaus Berr, geb. 1957 in Schongau, Studium der Germanistik und Anglistik in München, einjähriger Aufenthalt in Wales als "Assistant Teacher", ist der Übersetzer von u.a. Lawrence Ferlinghetti, Tony Parsons, William Owen Roberts, Will Self, Kathy Reich.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kathy Reichs
- 2010, 1, 797 Seiten, Maße: 13,4 x 21 cm, Soft-Cover (Weltbild Reader)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004092
- ISBN-13: 9783868004090
Rezension zu „"Totenmontag" und "Totgeglaubte leben länger" “
"Liebe, Hass, Lügen und Gewalt - alles verschmilzt zu einem atemberaubenden Thriller"
Kommentar zu ""Totenmontag" und "Totgeglaubte leben länger""
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