Ein Traum von Afrika
Tanganjika, 1913: Als die junge Elisabeth den Pflanzer Max heiratet, verspricht er ihr ein Paradies unter Palmen. Doch die Realität sieht anders aus. Als einzige Frau ist sie im Busch den Launen ihres Mannes ausgeliefert. Trotzdem ist sie von Afrika...
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Produktinformationen zu „Ein Traum von Afrika “
Tanganjika, 1913: Als die junge Elisabeth den Pflanzer Max heiratet, verspricht er ihr ein Paradies unter Palmen. Doch die Realität sieht anders aus. Als einzige Frau ist sie im Busch den Launen ihres Mannes ausgeliefert. Trotzdem ist sie von Afrika fasziniert. Doch dann passiert etwas, womit sie nicht gerechnet hat.
Lese-Probe zu „Ein Traum von Afrika “
Ein Traum von Afrika von Ray MüllerProlog
Auf einem Hügel im Herzen Afrikas stehen zwei Kreuze. Das Holz ist vermodert, es trägt keine Namen mehr. Sie stehen so schief, dass sie längst umgefallen sein müssten. Manchmal schleichen Löwen um die Kreuze herum oder ruhen gelassen am Fuß des Hügels, als würden sie die Grabstätte bewachen. Elefanten, die über den Hügel wandern, machen einen Bogen um sie, oder sie streichen mit dem Rüssel über das Holz, doch so vorsichtig, dass sie die fragilen Teile nicht berühren. Affen und Schlangen meiden den Platz, und auch die Ameisen weichen den Kreuzen aus, sie führen ihre Straßen auf Umwegen an ihnen vorbei. Nur einzelne Vögel haben sich früher auf sie gesetzt, doch seit sie so schief stehen, scheinen sie daran kein Vergnügen mehr zu haben. In der Regenzeit müssten die Fluten, die vom Himmel stürzen, sie längst zu Boden gezwungen haben. Doch die Kreuze stehen noch immer, seit fast hundert Jahren. Und wie jedes Kreuz haben auch sie ihre Geschichte.
Kapitel 1
Die Sonne steht tief über der Savanne, zu tief, denn die gleißenden Strahlen blenden ihn, das ist nicht gut. Aber jetzt kann er nicht mehr zurück. Max Leitner kämpft sich weiter durch das dicke Elefantengras. Er ist so gut wie unsichtbar, aber das gilt auch für den Löwen. Max hofft, schnell genug zu sein, wenn der Angriff kommt. Mehr als einen Schuss wird er vielleicht nicht anbringen können. Die Sicht beträgt zwei bis drei Meter, eine Strecke, die ein Löwe mit einem Satz zurücklegt. Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals, doch er zwingt sich, weiterzugehen. Die drei Schwarzen, die der Häuptling mitgeschickt hat, sind längst weit zurückgefallen, ihre Gesichter nur noch dunkle Flecken im Gras, dessen schilfartige Spitzen leise im Wind rascheln. Max
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bleibt stehen. Er hört den eigenen Pulsschlag, das Keuchen seines Atems. Wahrscheinlich hat die Raubkatze längst die Geräusche des Menschen vernommen. Regungslos und vollkommen still liegt sie da, wohl wissend, dass ihr die hagere, weiße Gestalt in wenigen Minuten direkt vor die Pranken laufen wird. Der Jäger wischt sich den Schweiß von der Stirn. Sterben in Afrika, im Maul eines Löwen, mit fünfundzwanzig Jahren, das passt nicht in seinen Plan. Das Elefantengras, durch das er sich so mühsam vorarbeitet, ist jetzt über drei Meter hoch. Max hält den Atem an. Ein einzelner Moskito schwirrt vor seinen Augen und landet auf seiner schweißnassen Stirn. Er hebt die Hand und holt zum Schlag aus. In diesem Augenblick vernimmt er ein leises Rascheln. Sein Körper erstarrt, bewegt sich keinen Millimeter. Doch dann ist alles wieder still, zu still. Mit dem Lauf des Karabiners schiebt Max die Grashalme vor seinen Augen zur Seite. Nichts zu sehen. Wenn das Tier tatsächlich in der Nähe ist, verhält es sich wie ein perfekter Jäger. Es wartet, lautlos und geduldig, auf den besten Moment. Löwen töten schnell. Ein Biss ins Genick, ein Knacken, und alles ist vorbei. Doch Max ist entschlossen, nicht zu sterben. Nicht heute, nicht in diesem verdammten Gras der Gongwe-Berge. Ein kurzer Blick nach hinten zeigt ihm, dass die Schwarzen noch weiter zurückgeblieben sind. Zwar tragen sie nur Speere, aber es wäre gut, jetzt Menschen an seiner Seite zu spüren. Es ist besser, nicht alleine zu sterben. Max beißt sich auf die Lippen. Erstaunlich, welche Gedanken ihm plötzlich im Kopf herumgehen. Gedanken, die er jetzt nicht brauchen kann. Entschlossen geht er weiter vor. Ein Ast knackt. Abrupt bleibt er stehen und hält den Atem an. Wieder wandert sein Blick durch das undurchdringlich hohe Gras. Etwas bewegt sich. In der nächsten Sekunde schlägt ihm ein wütendes Fauchen entgegen, dann bricht eine riesige, braune Masse durch die Grashalme. Max erstarrt. Sein Gehirn setzt aus, Reflexe übernehmen die Kontrolle. Arme reißen das Gewehr hoch, es feuert. Sein Körper macht einen Satz zur Seite, fällt über eine Wurzel und stürzt zu Boden. Noch im Fallen reißt seine Hand den Repetierbolzen zurück und stößt eine neue Kugel in den Lauf. Ein markerschütterndes Brüllen lässt ihn zusammenfahren, den Tatzenhieb, der sein rechtes Bein trifft, nimmt er nicht mehr wahr. Er registriert nur noch einzelne Bilder, die vor seinen Augen ablaufen. Eine Pranke, die durch die Luft zuckt, Reißzähne, die in der Sonne blitzen, ein warmer, modriger Geruch, der ihm den Atem raubt. Dann ein Gewehrlauf, der sich in ein weit aufgerissenes Maul rammt. Dann der Schuss. Das Echo der Detonation kippt den Schädel des Tieres wie in Zeitlupe aus dem Bildfenster seiner Wahrnehmung. Nun ist es wieder still. Max blickt hoch in den tiefblauen Himmel, eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Er stützt sich ab und will aufstehen. Der Rückstoß des schweren Kalibers hat ihm den Knöchel des Mittelfingers gestaucht. Vorsichtig bewegt er das rechte Bein, kein Schmerz. Nun streckt er den anderen Fuß aus, wieder kein Schmerz. Langsam erkennt er, dass er nirgendwo ernsthaft verletzt wurde. Die Pranke des Löwen hat die Hose zerfetzt und ist dann an den Stiefeln abgeglitten. Doch da war das Tier wahrscheinlich schon tot. Max hebt den Kopf. Noch immer ist es still. Der Hall der Schüsse hat sein Ohr taub gemacht. Wie durch einen Filter nimmt er gedämpft die Schreie der Schwarzen wahr, die durch das Gras brechen. Er stützt er sich auf den Karabiner, richtet sich vorsichtig auf, nichts ist gebrochen. Sein Herz rast noch immer. So nah hat er dem Tod noch nie ins Auge gesehen. Nun fährt sich Max mit der Hand über das Gesicht. Die Haut blutet, doch nur von den scharfen Kanten der Gräser. Noch einmal blickt er hoch zum Himmel. Wenn es da oben einen Gott gibt, dann hat er nicht gewollt, dass der junge Pflanzer heute in der Savanne stirbt. Schrille Schreie reißen den Jäger aus seinen Gedanken. Die Schwarzen haben ihn eingeholt, wie entfesselt tanzen sie um den toten Löwen herum, die Krieger schwingen ihre Speere, als müssten sie die Seele des toten Tieres beschwören. Immer wieder stoßen sie ihre spitzen Kriegsschreie aus und klopfen dem weißen Jäger begeistert auf die Schulter. Der Bwana hat den Löwen getötet. Er ist ein großer Krieger. Max lächelt, seine Hände zittern immer noch.
Ein seltsames Gefolge marschierte durch die Savanne Ostafrikas. Voraus schritt eine große, tiefschwarze Gestalt, die in eine blaue Toga gehüllt war. Der weiße Bart wucherte über das faltige Gesicht. Auf der Brust trug der Mann eine Kette aus Leopardenzähnen, um die schmalen Schultern ein Leopardenfell, das Zeichen des Häuptlings. Seine rechte Hand hielt den Redestab, einen Stock aus Holz mit reich verziertem silbernen Griff, das Symbol regionaler Macht. Hinter ihm marschierten fünfzehn Krieger mit Speeren und Schilden, sie sangen einen monotonen Gesang, den zwei Musiker auf umgehängten Trommeln rhythmisch unterstützten. Dahinter folgten fünf Frauen in bunten Gewändern. Das Ende der Gruppe bildeten zwei junge Männer, die ein Löwenfell trugen. Obwohl die Sonne fast im Zenit stand, kamen die Schwarzen schnell voran, ihre bloßen Füße fanden mühelos einen Pfad durch die Dornenbüsche. Max saß im Arbeitszimmer seiner Schamba. Er liebte dieses Wort, denn es ist weicher als der Begriff »Pflanzung«. Diese beiden deutschen Silben klangen hart wie ein Befehl, Schamba hingegen sanft wie eine Melodie oder der Kosename einer Frau. Sein Blick wanderte über die Zahlenreihe vor seinen Augen. Die Betriebsausgaben machten ihm Sorgen. Er würde den Kredit bei der Kolonialbank verlängern müssen, doch der Direktor war in letzter Zeit nicht besonders umgänglich gewesen. Er verlangte zusätzliche Sicherheiten, und es war Max unangenehm, den Vater zu Hause aufs Neue belästigen zu müssen. Er wollte endlich unabhängig sein, frei, wie er es sich immer erträumt hatte. Doch vor der ersten Ernte war daran nicht zu denken. Der monotone Rhythmus der Trommeln beendete seine Überlegungen. Max legte den Bleistift weg und stand auf. Ein Blick auf Hassim, seinem Boy, zeigte ihm, dass etwas Ungewöhnliches im Gange war. Der Junge war zum Fenster gelaufen und warf einen neugierigen Blick ins Freie. Dann winkte er aufgeregt. Eine Reaktion, die nicht alltäglich war bei dem Somali, der sonst allen Vorfällen mit stoischem Gleichmut begegnete. Max schob das Rechnungsbuch beiseite und ging hinaus. Die Gruppe der Besucher hatte sich inzwischen im Hof formiert. Der Häuptling stand würdevoll in der Mitte seiner Krieger, hinter ihm hatten sich die Frauen und Musiker aufgestellt. Als Max in der Tür erschien, ertönte ein letzter Trommelwirbel, dann wurde es still. Der Häuptling stieß seinen Stab auf die Erde. »Jambo Bwana!« »Jambo sana!« Max wusste, mehr Worte würden sie auf Suaheli nicht wechseln, denn der Häuptling sprach den Dialekt der Stämme nördlich des Kisingatta-Flusses. Max gab Hassim ein Zeichen. Der Boy lief über den Platz und begann mit dem Häuptling ein ausführliches Palaver, so ausführlich, wie es Max befürchtet hatte. Im afrikanischen Busch hatte das Ritual der Höflichkeit seine eigenen Gesetze. Die Sonne brannte gnadenlos auf den staubigen Vorhof. Max fiel auf, dass sich sogar die Hühner und Schweine, die sonst frei herumliefen, in den Schatten geflüchtet hatten. Endlich kehrte Hassim zurück. »Häuptling Usua dankt dem Bwana, dass er Simba besiegt hat. Dieser Simba hat schon zwölf Tiere aus der Herde des Häuptlings getötet.« »Sag dem Häuptling, ich bin sein Freund. Was ihm schadet, schadet auch mir.« Hassim übersetzte die Botschaft, wodurch diese an Länge um ein Vielfaches zunahm. Der Häuptling nickte würdevoll. Auf sein Zeichen traten die beiden Jungen vor und breiteten das Löwenfell vor Max auf dem Boden aus. Dann nahm der Häuptling seine Rede wieder auf. Max spürte, dass Hassim diesmal nur zögernd übersetzte. »Häuptling Usua will wissen, warum sein weißer Freund, dieser große Krieger, keine Bibi hat.« »Keine was?« »Keine Frauen.« Max musste zugeben, dies war eine Frage, die er bisher verdrängt hatte. Als er vor zwei Jahren in Tanganjika, der deutschen Kolonie in Ostafrika, an Land gegangen war, war er einer der Ersten gewesen, die den Antrag für eine Pflanzung im Hinterland gestellt hatten. Die Gegend in den Gongwe-Bergen war so abgelegen, dass es keine Frau dort ausgehalten hätte. Vor allem nicht am Anfang, als er jeden Tag vierzehn Stunden härteste Pionierarbeit leisten musste, unter Bedingungen, die einer weißen Frau nicht zuzumuten gewesen wären. Von den Problemen mit den Schwarzen ganz zu schweigen. Seine Gedanken wurden unterbrochen, denn nun trat der Häuptling einen Schritt vor und fuchtelte mit den Händen. Hassim übersetzte kurz und sachlich: »Er sagt, Mann ohne Bibi nicht gut. Häuptling sagt, er hat dreißig Bibi.« Max verbeugte sich. Der Häuptling sprach weiter, dabei hob er die rechte Hand mit dem Stab. Hassim flüsterte: »Häuptling Usua will seinem Freund, dem Löwentöter, ein Geschenk machen.« Der Stab zeigte auf die Frauen in den bunten Tüchern und wanderte dann hinüber zu Max. Hinter dieser Geste verbarg sich anscheinend ein Befehl, denn die schwarzen Frauen liefen kichernd nach vorn und setzten sich auf das Löwenfell. Zuerst blickten sie scheu zu Boden, doch dann starrten sie den Fremden mit großen Augen an. Und jetzt? Max wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er wusste, er musste reagieren, doch er wusste auch, dass eine falsche Geste fatale Folgen haben könnte. Als er die Frauen zu seinen Füßen genauer betrachtete, hatte er nicht den Eindruck, dass der Häuptling sein Geschenk besonders großzügig ausgewählt hatte. Die Kriterien für Schönheit in diesem Land würden einem Europäer wohl ewig verschlossen bleiben, wie so vieles in Afrika. Max trat einen Schritt vor, verbeugte sich und flüsterte Hassim ins Ohr: »Sag ihm, dass das nicht geht.« Der Boy schüttelte den Kopf. »Geschenk von Häuptling große Ehre. Niemand kann zurückgeben.« »Doch, ich. Ich will sie nämlich nicht.« Hassim verdrehte die Augen. »Bwana muss wollen. Geschenk ist wie Regen, er fällt und ist da. Kann der Bwana Wasser zurückschicken zum Himmel?« Nein, das konnte er nicht. Leider. Das musste Hassim geahnt haben, denn er murmelte etwas, das Max nicht verstand, und verbeugte sich vor dem Häuptling. »Was hast du ihm jetzt gesagt?« »Dass der Bwana sehr glücklich ist über das Geschenk.« Max schüttelte den Kopf, doch seine Reaktion kam zu spät. Der Häuptling und seine Krieger brachen in ein wildes Geheul aus. Sekunden später tanzten sie um den Europäer und seine schwarzen Frauen im Kreis, als wäre deren Schicksal besiegelt. Wie jeden Tag senkte sich gegen sechs Uhr unvermittelt die laue Dunkelheit über das Land. Vor der Schamba flackerten offene Feuerstellen, in den Hütten der Schwarzen wurde gekocht, palavert, gestritten. Im Haus des deutschen Pflanzers brannte eine Petroleumlampe. Max schlug die lederne Kladde des Wirtschaftsbuchs auf, in das er seine Haushaltsausgaben eintrug. Die Sache mit den Frauen hatte er schon wieder vergessen. Sie würden sich in der Hütte, die er ihnen zugewiesen hatte, bald langweilen und dann verschwinden. Vielleicht würden sie von seinen Kikuyu freundlich aufgenommen werden, vielleicht auch nicht. Dieser Stamm stellte das Gros seiner hundert Arbeiter. Zwar würden sich diese mit den Damen nicht verständigen können, aber wenn man im Busch eine Frau brauchte, ließen sich solche Probleme lösen. Max drehte den Docht der Petroleumlampe höher, denn er konnte kaum noch die eigene Schrift erkennen. Die Liste der Ausgaben war heute erfreulich kurz: zweihundert Kilo Baumwollsamen zu 1,30 Mark. Teurer durfte das Saatgut nicht werden, sonst würden ihm die Inder Konkurrenz machen. Aber daran wollte Max heute nicht denken, mehr als arbeiten konnte er nicht. Letzte Woche hatte er drei Kilometer lange Wege gebaut und gestern mit der zusätzlichen Rodung von fünfzig Hektar Urwald begonnen, das sollte ihm erst mal einer nachmachen. War da nicht ein eigenartiges Geräusch? Er hob den Kopf. Ein verhaltenes Kichern, ein Schaben auf dem Boden, ein leises Poltern? Er legte den Bleistift weg und öffnete die Tür zum Nebenraum. Die Frauen des Häuptlings kauerten auf seinem Bett, sie waren jetzt nackt. Jede hatte eine Holzschale mit Reis und Gemüse vor sich. Sie aßen mit den Fingern, schmatzten und kicherten. Neben der offenen Tür saß Hassim und verzog keine Miene. Max blieb nur eine Schrecksekunde, um die Szene in sich aufzunehmen. Denn schon sprangen die Frauen auf, zeigten auf ihn, fuchtelten mit den Armen und keiften schrill. Es sah aus, als würden sie im nächsten Moment alle übereinander herfallen. Max tat, was er selten tat, er brüllte. »Ruhe!« Es wurde tatsächlich still. »Was zum Teufel ist hier los?« Hassim erhob sich und stand stramm. »Die Frauen des Bwana möchten wissen, mit welcher der weiße Krieger heute Nacht schlafen wird. Ich schlage vor, mit jeder, Bwana.« Max musterte die schwarzen Grazien, die ihn verführerisch anlächelten und stolz ihre Brüste zeigten. Ihm wurde klar, wenn Usua ein wirklicher Freund war, überließ er ihm seine Lieblingsfrauen. Wenn er ein Schlitzohr war, also ein richtiger Häuptling, saßen hier die Konkubinen, die er schon lange loswerden wollte. Max musste nicht lange überlegen, Usua war ein richtiger Häuptling. Diese Frauen waren der handgreifliche Beweis für die unvorhersehbaren Launen der Natur. Eine war klein und fett, die andere alt und runzlig. Die Dritte schielte, bei einer weiteren zog sich eine Narbe quer über das Gesicht. Nur die Jüngere war halbwegs ansehnlich, litt aber an einer Augenkrankheit, die ihren koketten Blick deutlich trübte. Max packte Hassim am Ärmel und zerrte ihn aus dem Zimmer. »Erstens: Die Frauen verschwinden, sofort. Zweitens: Du erklärst Häuptling Usua, dass ich sein Geschenk nicht zurückweise, sondern dass meine Religion es verbietet, zusätzliche Frauen zu haben.« Hassim warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Aber der Bwana hat doch keine Bibi.« Da hatte er in der Tat einen wunden Punkt getroffen. Doch Max spürte, dass jetzt etwas Entscheidendes passieren musste. »Doch. Ich habe eine Frau. Sie wird bald da sein.« Hassim starrte seinen Herrn ungläubig an, dann huschte er aus dem Zimmer. Max wusste, dass das eine Lüge war, aber er hatte keine Wahl. Im Grunde war seine Behauptung reine Notwehr. Er ging zu seinem Schreibpult, nahm den Schlüssel aus der Schublade und schloss das untere Fach auf. Dort hatte er eine Flasche Weinbrand versteckt, für alle Fälle. Heute war so ein Fall, deshalb genehmigte er sich einen großzügigen Schluck. Während die brennende Schärfe in ihn eindrang, setzte er sich auf den Holzschemel und blickte hinaus in die Nacht. Das Konzert der Ochsenfrösche hatte eingesetzt, sie gurrten so unverschämt laut, als läge eine ganze Armee dieser Tiere auf der Lauer, mit der Absicht, jeden Augenblick zum Angriff überzugehen. Die Intensität dieses monotonen Orchesters faszinierte ihn immer wieder. Er öffnete die eingeschweißte Blechdose, in der die Zigarren lagen. Es war nur noch eine übrig. Als vor seinen Augen die ersten Rauchfäden hochstiegen, kam ihm ein verrückter Gedanke, der sich überraschend schnell in seinem Gehirn festsetzte.
Kapitel 2
Der Dampfer »Wilhelm« hatte Tanger vor drei Tagen hinter sich gelassen und befand sich jetzt auf der Höhe von Alexandria. Elisabeth Angerer stand an der Reling und blickte hinaus auf die rollende See. Es war der 27. Juni 1913. Das Datum wusste sie deshalb so genau, weil sie jeden Tag zählte, seit sie Bremerhaven vor einer Woche verlassen hatte. Die endlose Weite des Meeres, das sie dort zum ersten Mal gesehen hatte, faszinierte sie jeden Morgen aufs Neue. Seit Tagen war der Himmel wolkenlos, er schien viel größer zu sein als der Himmel zu Hause. So stellte sie sich Afrika vor, ein Land, in dem der Horizont nie aufhörte. Afrika dieses Wort hatte eine Magie, die sie auf geheimnisvolle Weise erregte. Die laue Luft an Deck streichelte ihr Gesicht, sie war eine Vorbotin des großen Unbekannten, das auf sie zukam und dem sie sich mit Leib und Seele ausliefern würde. Dazu war sie fest entschlossen. Das junge Mädchen strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Zum ersten Mal in ihrem Leben trug sie die Haare offen, so, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Zu Hause waren ihr eigene Wünsche nur selten gestattet gewesen, ihr war nur die unerfüllte Sehnsucht im Verborgenen geblieben. Das schwere Schiff schlingerte in der Dünung. Elisabeths Hände klammerten sich an die hölzernen Planken der Reling. Was hinter ihr lag, war unendlich weit weg, und das war auch gut so. Eine endlose Serie von Kämpfen, schmerzlichen Niederlagen, kleinen Siegen und Momenten völliger Verzweiflung hatte ihr das Leben in den letzten Monaten zur Hölle gemacht. Doch je hartnäckiger sie mit dem Kopf gegen die Mauer des väterlichen Starrsinns angerannt war, desto stärker war in ihr eine geheimnisvolle Kraft gewachsen, von der sie bis dahin nichts geahnt hatte. Und am Ende hatte sie sich durchgesetzt. Der schwankende Boden unter ihren Füßen, der Geruch von Maschinenöl und nassem Holz, die mächtigen Rauchschwaden der Schornsteine, die sich schnell am Horizont auflösten, gaben ihr jeden Augenblick die Gewissheit, die Vergangenheit endgültig abgeschüttelt zu haben. Jetzt wollte sie nach vorne schauen und nie mehr zurück. Um diesen Entschluss zur Not auch gegen sich selbst durchzusetzen, hatte Elisabeth auf der Höhe von Lissabon ein Stück Papier ins Meer geworfen. Es war das Billett für die Rückpassage gewesen, das ihr die Mutter beim Abschied heimlich zugesteckt hatte. Noch lange hatte der braune Umschlag auf den Schaumkronen des Wellenteppichs getanzt, den die Schraube am Heck des Schiffes aufwirbelte. Ihr Herz hatte bis zum Hals geklopft, denn sie wusste, durch diesen Akt tollkühner Unvernunft war ihr Entschluss unwiderruflich geworden. Umso besser. Elisabeth atmete tief durch. Seit das Schiff Gibraltar passiert hatte, wurde es unter den Sonnensegeln richtig heiß. Heiß wie in Afrika. Sie fühlte sich wie ein Engel, dem Flügel gewachsen waren. Wie verschlungen die Wege des Schicksals doch manchmal waren. Die Chance, ihre geheimsten Träume zu verwirklichen, war buchstäblich vom Himmel gefallen. Am schrecklichsten Tag ihres bisherigen Lebens hatten ihr die Götter eine Karte zugespielt, mit der sie eigentlich nur gewinnen konnte.
Ein kalter Wind fegte durch die Gassen der Altstadt. Elisabeth beschleunigte ihren Schritt, gleich würde es wieder zu regnen beginnen. Der Herbst in Deutschland war endgültig vorbei. Um das Papier vor der Nässe zu schützen, drückte sie die Zeitung, die sie eben gekauft hatte, eng an ihre Brust. Es war elf Uhr vormittags, doch sie war schon auf dem Weg nach Hause. Um diese Zeit arbeitete sie normalerweise in der Kanzlei, aber heute war kein normaler Tag. Eine Droschke rollte an ihr vorbei, die Hufe des alten Gauls trotteten monoton über das Kopfsteinpflaster, monoton wie ihre eigenen Schritte. Elisabeth war ein zierliches, hübsches Mädchen, zu alt für die blonden Zöpfe, die trotzig im Wind baumelten. Im Grunde war sie längst eine junge Frau, doch das hatte sie nie bemerkt. Bis heute. Jetzt fielen die ersten Regentropfen auf ihr Gesicht. Während sie den Kragen hochschlug und sich das Kopftuch umband, kam ihr wieder in den Sinn, wie ungeheuer ereignislos ihr Dasein bisher gewesen war. Das einzig Bemerkenswerte in letzter Zeit war der Vorfall von heute Morgen gewesen, und der war alles andere als erfreulich. Meist kam ihr das Leben eintönig und grau vor, grau wie ihr Mantel und der Himmel über Straubing im November. Das Mädchen bog in die Bäckergasse ein und ging auf das Elternhaus zu. Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um nicht umzukehren. Bevor sie die schwere Eichentür aufstieß, schob sie die Zeitung in den Ärmel ihres Mantels. Es wäre ungehörig gewesen, sich für die Nachrichten des Tages zu interessieren, die standen zuerst dem Herrn des Hauses zu, ihrem Vater, dem Oberschulrat. Als die Standuhr unten in der Küche zwölf Uhr schlug, stand Elisabeth an dem kleinen Giebelfenster unter dem Dachboden und starrte hinaus in den Regen. Wieder tauchte die Szene, die sie an diesem Morgen erlebt hatte, vor ihren Augen auf. So schrecklich diese auch gewesen war, ihr war dabei klar geworden, dass sie heute zum ersten Mal in ihrem Leben selbstständig gehandelt hatte. Und dieses Gefühl tat ihr gut, so gut, dass sie Lust bekommen hatte, es so bald wie möglich wieder zu spüren.
Sie solle die Tür hinter sich zumachen, hatte der Advokat gesagt. Seine Hand griff zur Flasche. Der kleine dickliche Mann stand neben dem Bücherregal, das bis zur Decke mit ledergebundenen Bänden gefüllt war, die alle gleich aussahen. Die schweren Möbel aus Eichenholz verliehen dem Raum eine düstere Würde. Das Mädchen betrat ihn nur ungern, doch jetzt hatte er sie gerufen. Sie blieb stehen, der Advokat genehmigte sich einen weiteren Schluck Cognac. Sein rundes, etwas aufgedunsenes Gesicht war von Schweißperlen übersät. Sie stand ihm gegenüber, mit dem Rücken zur Tür, und wartete. Die junge Anwaltsgehilfin trug ein langes, graues Kleid in der schlichten Tracht der Mennoniten, die Haare hatte sie hochgesteckt, in den Armen hielt sie zwei Aktenordner. Elisabeth war unschlüssig, wo sie diese ablegen sollte, denn in einem solchen Zustand hatte sie Dr. Kunz noch nie gesehen. Dieser streifte das Jackett ab, warf es über den Sessel und lockerte die Krawatte. Sie solle jetzt endlich herkommen, sagte er. Sein Zeigefinger deutete auf den Schreibtisch. Dahin. Elisabeth trat vor und legte die Akten ab. Jetzt zu mir. Der Advokat wischte sich die Lippen ab und starrte das Mädchen lüstern an. Als Elisabeth zögerte, zeigte der Mann mit der Hand vor sich auf den Boden, als würde er einen Hund rufen. Da her. Elisabeth kam näher, bis sie vor ihm stand. Er streckte sein Hand nach ihr aus, seine dicken Finger strichen über ihr Haar. Sie wollte zurückweichen, doch er hielt sie fest. Er wisse, dass sie nicht viel verdiene, sagte er. Er könne schon etwas drauflegen, aber sie müsse halt auch was dafür tun. Sein starrer Blick wanderte über ihr bis oben geschlossenes Kleid, dann zog er sie mit einem Ruck zu sich heran. Sein alkoholgetränkter Atem fuhr ihr ins Gesicht. Sie versuchte, ihn wegzudrücken, doch er hielt sie fest. Er möge das lassen, sagte sie und wandte sich ab. Er lachte. Seine Hand packte sie am Kinn. Sie solle nicht so unschuldig tun, keuchte er, während seine andere Hand über ihre Brüste strich. Elisabeth zerrte die Hand weg. Er müsse sie jetzt gehen lassen, sagte sie. Der Advokat versuchte, seinen Mund auf den ihren zu drücken. Sie stieß ihm die Fäuste gegen die Brust und konnte sich losreißen. Atemlos lief sie zur Tür, doch ihr Gegner war schneller. Er drehte den Schlüssel um, sein mächtiger Körper versperrte den Ausgang. Das Vöglein flattere jetzt im Käfig, sagte er, nun solle es schön singen. Elisabeth wich zurück, doch der Advokat kam näher, immer näher. Sie wisse doch, sagte er, dass sie einen verborgenen Schatz hätte. Wie alle Mädchen. Manche würden ihn nicht kennen, obwohl sie darauf sitzen. Ein wildes Lachen verzerrte sein Gesicht. Er packte Elisabeth an beiden Armen, presste seinen verschwitzten Körper gegen ihren Leib und drückte ihr seine Lippen auf den Mund. Sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, doch schon zerrten kräftige Arme ihren Körper auf das Ledersofa hinter dem Schreibtisch. Eine kalte, fleischige Hand schob ihr Kleid hoch und fuhr ihr zwischen die Beine. Sie wollte schreien, erstickte aber fast unter dem schleimigen Mund, der ihr den Atem nahm. Mit aller Kraft zerrte sie an dem Arm, der sich um ihren Nacken geschlungen hatte und ihren Hals festklemmte. Der Arm bewegte sich nicht. Schon blieb ihr die Luft weg, sie spürte, ihr wurde schwindlig. In diesem Augenblick biss sie zu. Der Mann schrie auf, der Griff lockerte sich. Elisabeth riss sich los und verpasste dem Advokaten eine schallende Ohrfeige. Dr. Kunz stand bewegungslos da. Aus seiner Oberlippe quoll Blut. Entgeistert starrte Elisabeth auf ihre Hand, als wundere sie sich über das, was diese eben getan hatte. Der Advokat wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und betrachtete das Blut auf seinen Fingern. Dann machte er einen Satz auf sie zu. Elisabeth stieß ihm den Sessel gegen die Beine und lief los. Im nächsten Augenblick war sie an der Tür, sie sperrte das Schloss auf und raste hinaus. Keine Sekunde zu früh, denn schon stand ihr Verfolger auf der Schwelle. Sie sei ein verdammtes Miststück, brüllte ihr der Advokat hinterher, so laut, dass seine Worte bis in die hintersten Räume der Kanzlei dröhnten. Sie werde schon sehen, wie weit sie damit komme. Er werde sich das jedenfalls nicht bieten lassen. Nicht von einer, wie sie eine war. Erschrocken blickten die Angestellten auf den tobenden Anwalt. Doch da war Elisabeth schon im Treppenhaus. Sie war auf die Straße hinausgelaufen, ohne zu wissen, was sie tat. Erst nach einer Weile kam ihr keuchender Atem zur Ruhe. Zum ersten Mal hatte sie gewagt, ihrem Instinkt zu folgen. Darauf war sie stolz. Ihre spontane Reaktion hatte ihr Mut gemacht und diesen würde sie jetzt brauchen, mehr als je zuvor. Der Regen hatte nicht nachgelassen. Wieder spürte sie die dumpfe Angst in ihrem Inneren. Aber auch die Wut, die ihr heute Morgen die Kraft gegeben hatte, das Unmögliche zu tun. Elisabeth wusste, was ihr bevorstand. Das gemeinsame Mittagessen war ein Ritual, dem sie nicht entkam, vor allem nicht heute. Sie betrat das Esszimmer als Letzte, die Geschwister saßen bereits um den großen Eichentisch und warteten. Es war aufgedeckt, wie immer: neun Teller, neun Löffel, neun Servietten. Die Mutter kam aus der Küche, warf Elisabeth einen kurzen Blick zu und stellte den dampfenden Suppentopf ab. Dann nahm sie die Brille ab und putzte die Gläser, eine Geste, die ihr verhärmtes Gesicht noch deutlicher zur Geltung brachte. Niemand sprach. Am Ende des Tisches stand ein leerer Stuhl. Er wirkte unheimlich, wie eine Drohung. Einen Augenblick später ging die Tür zum Arbeitszimmer auf, der Vater betrat den Raum. Schweigend musterte er die versammelte Runde. Dann blickte er auf die Standuhr und zog eine Taschenuhr aus der Weste. »Geht zwei Minuten nach.« Das blasse Gesicht dieses großen, knochigen Mannes war ernst. Ein Scheitel ordnete das dünne Haar, auf der spitzen Nase klemmte ein Zwicker. Der Vater nahm ihn ab, legte ihn in ein silbernes Etui und setzte sich auf den leeren Stuhl. »Also?« Der Jüngste faltete die Hände, die anderen Geschwister senkten den Kopf. »Gott Vater, wir bitten dich: Segne, was du uns bescheret hast. Amen.« Die Kinder legten die Hände auf den Tisch und warteten. Erst als der Vater zu essen begann, wagten auch sie, ihre Suppe anzurühren. Elisabeth blieb regungslos sitzen. Die Geräusche der schlürfenden Münder und klappernden Löffel erschienen ihr heute lauter als sonst, dennoch herrschte eine eigenartige Stille im Raum. Die Mutter warf dem Vater einen ängstlichen Blick zu. Dieser hob den Kopf und bemerkte, dass Elisabeth ihre Suppe nicht anrührte. »Was ist?« Elisabeth antwortete nicht. Der Vater warf einen Blick in die Runde, die Kinder löffelten stumm ihre Suppe, sie sahen ihn nicht an. Die Sekunden dehnten sich, bis es die Mutter nicht mehr aushielt. »Die Liesl hat ihre Stellung verloren.« Der Vater legte den Löffel weg und sah seine Tochter an, als würde er ihre Anwesenheit erst jetzt bemerken. Obwohl ihr die Angst das Atmen schwer machte, hielt Elisabeth seinem Blick stand. Es war ein kühler Blick, so als würde ein Arzt einen Patienten mustern, dem nicht mehr zu helfen ist. »Ich bin weggegangen«, sagte sie. Der Vater beugte sich vor, seine Stimme wurde ganz leise. »Du hast deinen Arbeitsplatz verlassen? Du wagst es, mir das zu sagen?« Elisabeth senkte den Blick und starrte auf ihren Teller. »Weil er mich angefasst hat.« Der Vater sprang hoch und stieß den Stuhl zurück. »Du lügst. Das sind bessere Leut'!« Jetzt sprang auch Elisabeth auf. »Frag ihn doch. Widerlich ist er gewesen, von Anfang an.« Ihre Worte hatten nun einen scharfen Tonfall, der sie selbst erstaunte. »Ein Luder bist. Aber nicht in meinem Haus.« Mit zwei Schritten war der Vater an der Küchenvitrine. Dort hing ein dicker Lederriemen. Er riss ihn vom Haken und ging auf Elisabeth zu. Die Mutter sprang auf und fiel ihm in den Arm. »Lass sie in Ruhe. Wenn's vielleicht doch wahr ist.« Der Vater stieß sie zur Seite und ließ den Riemen mit voller Wucht auf den Tisch knallen. Zwei Gläser fielen um, Limonade rann über das Tischtuch und tropfte auf die Dielen. Die Kinder starrten ängstlich zu Boden, niemand bewegte sich. »Kein Wort mehr.« Der Vater baute sich dicht vor Elisabeth auf, auf seiner Stirn glänzte der kalte Schweiß der Wut, den sie so gut kannte. »Und du, knie dich hin.« Drohend schnalzte das Leder durch die Luft. »Nein.« Elisabeth zitterte, doch sie bewegte sich nicht. Ihr Entschluss stand fest. Diesem Ungetüm, das vor ihr stand, würde sie sich nie wieder ausliefern. Es war dunkel im Haus. Die Turmuhr der Kirche schlug ein Uhr morgens. Elisabeth lag noch wach in ihrer Kammer. Ihr Gesicht war geschwollen, über die Stirn zogen sich rote Striemen. Das Stockbett, das sie mit ihren Geschwistern teilte, war ihr heute zu eng. Sie konnte nicht schlafen. Nicht wegen der Schmerzen, sondern aufgrund einer inneren Erregung, die sie spüren ließ, dass in ihrem Leben eine entscheidende Wendung bevorstand. Ihre Hand tastete nach den Streichhölzern. Vorsichtig zündete sie die Kerze an, holte die sorgsam zusammengefaltete Zeitung unter dem Kopfkissen hervor und hielt sie in das trübe Licht. Die halbe Nacht lang hatte sie sich in den Annoncenteil vertieft. Eine kleine Notiz am unteren Ende der Seite war ihr aufgefallen, den Text hatte sie mit Bleistift fett eingerahmt: PARADIES IN AFRIKA: Pflanzer sucht tüchtige junge Frau. Traumhafte Zukunft in deutscher Kolonie.
Alle im Roman vorkommenden Personen sind in ihrer Gestaltung fiktiv. Paul von Lettow-Vorbeck, Carl Schillings und Frederick Selous sind historische Gestalten, doch ihre hier vorgenommene Charakterisierung ist frei erfunden.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der Originalausgabe © 2007 by Langen Müller in der F.A.Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Umschlaggestaltung: Alexandra Dohse, www.grafikkiosk.de, München Umschlagmotiv: Bildmontage unter Verwendung von Bildern von Mauritius Images, Die Bildagentur, Mittenwald Gesamtherstellung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice Printed in the EU ISBN 978-3-8289-9714-1 2013 2012 2011 2010 Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
Ein seltsames Gefolge marschierte durch die Savanne Ostafrikas. Voraus schritt eine große, tiefschwarze Gestalt, die in eine blaue Toga gehüllt war. Der weiße Bart wucherte über das faltige Gesicht. Auf der Brust trug der Mann eine Kette aus Leopardenzähnen, um die schmalen Schultern ein Leopardenfell, das Zeichen des Häuptlings. Seine rechte Hand hielt den Redestab, einen Stock aus Holz mit reich verziertem silbernen Griff, das Symbol regionaler Macht. Hinter ihm marschierten fünfzehn Krieger mit Speeren und Schilden, sie sangen einen monotonen Gesang, den zwei Musiker auf umgehängten Trommeln rhythmisch unterstützten. Dahinter folgten fünf Frauen in bunten Gewändern. Das Ende der Gruppe bildeten zwei junge Männer, die ein Löwenfell trugen. Obwohl die Sonne fast im Zenit stand, kamen die Schwarzen schnell voran, ihre bloßen Füße fanden mühelos einen Pfad durch die Dornenbüsche. Max saß im Arbeitszimmer seiner Schamba. Er liebte dieses Wort, denn es ist weicher als der Begriff »Pflanzung«. Diese beiden deutschen Silben klangen hart wie ein Befehl, Schamba hingegen sanft wie eine Melodie oder der Kosename einer Frau. Sein Blick wanderte über die Zahlenreihe vor seinen Augen. Die Betriebsausgaben machten ihm Sorgen. Er würde den Kredit bei der Kolonialbank verlängern müssen, doch der Direktor war in letzter Zeit nicht besonders umgänglich gewesen. Er verlangte zusätzliche Sicherheiten, und es war Max unangenehm, den Vater zu Hause aufs Neue belästigen zu müssen. Er wollte endlich unabhängig sein, frei, wie er es sich immer erträumt hatte. Doch vor der ersten Ernte war daran nicht zu denken. Der monotone Rhythmus der Trommeln beendete seine Überlegungen. Max legte den Bleistift weg und stand auf. Ein Blick auf Hassim, seinem Boy, zeigte ihm, dass etwas Ungewöhnliches im Gange war. Der Junge war zum Fenster gelaufen und warf einen neugierigen Blick ins Freie. Dann winkte er aufgeregt. Eine Reaktion, die nicht alltäglich war bei dem Somali, der sonst allen Vorfällen mit stoischem Gleichmut begegnete. Max schob das Rechnungsbuch beiseite und ging hinaus. Die Gruppe der Besucher hatte sich inzwischen im Hof formiert. Der Häuptling stand würdevoll in der Mitte seiner Krieger, hinter ihm hatten sich die Frauen und Musiker aufgestellt. Als Max in der Tür erschien, ertönte ein letzter Trommelwirbel, dann wurde es still. Der Häuptling stieß seinen Stab auf die Erde. »Jambo Bwana!« »Jambo sana!« Max wusste, mehr Worte würden sie auf Suaheli nicht wechseln, denn der Häuptling sprach den Dialekt der Stämme nördlich des Kisingatta-Flusses. Max gab Hassim ein Zeichen. Der Boy lief über den Platz und begann mit dem Häuptling ein ausführliches Palaver, so ausführlich, wie es Max befürchtet hatte. Im afrikanischen Busch hatte das Ritual der Höflichkeit seine eigenen Gesetze. Die Sonne brannte gnadenlos auf den staubigen Vorhof. Max fiel auf, dass sich sogar die Hühner und Schweine, die sonst frei herumliefen, in den Schatten geflüchtet hatten. Endlich kehrte Hassim zurück. »Häuptling Usua dankt dem Bwana, dass er Simba besiegt hat. Dieser Simba hat schon zwölf Tiere aus der Herde des Häuptlings getötet.« »Sag dem Häuptling, ich bin sein Freund. Was ihm schadet, schadet auch mir.« Hassim übersetzte die Botschaft, wodurch diese an Länge um ein Vielfaches zunahm. Der Häuptling nickte würdevoll. Auf sein Zeichen traten die beiden Jungen vor und breiteten das Löwenfell vor Max auf dem Boden aus. Dann nahm der Häuptling seine Rede wieder auf. Max spürte, dass Hassim diesmal nur zögernd übersetzte. »Häuptling Usua will wissen, warum sein weißer Freund, dieser große Krieger, keine Bibi hat.« »Keine was?« »Keine Frauen.« Max musste zugeben, dies war eine Frage, die er bisher verdrängt hatte. Als er vor zwei Jahren in Tanganjika, der deutschen Kolonie in Ostafrika, an Land gegangen war, war er einer der Ersten gewesen, die den Antrag für eine Pflanzung im Hinterland gestellt hatten. Die Gegend in den Gongwe-Bergen war so abgelegen, dass es keine Frau dort ausgehalten hätte. Vor allem nicht am Anfang, als er jeden Tag vierzehn Stunden härteste Pionierarbeit leisten musste, unter Bedingungen, die einer weißen Frau nicht zuzumuten gewesen wären. Von den Problemen mit den Schwarzen ganz zu schweigen. Seine Gedanken wurden unterbrochen, denn nun trat der Häuptling einen Schritt vor und fuchtelte mit den Händen. Hassim übersetzte kurz und sachlich: »Er sagt, Mann ohne Bibi nicht gut. Häuptling sagt, er hat dreißig Bibi.« Max verbeugte sich. Der Häuptling sprach weiter, dabei hob er die rechte Hand mit dem Stab. Hassim flüsterte: »Häuptling Usua will seinem Freund, dem Löwentöter, ein Geschenk machen.« Der Stab zeigte auf die Frauen in den bunten Tüchern und wanderte dann hinüber zu Max. Hinter dieser Geste verbarg sich anscheinend ein Befehl, denn die schwarzen Frauen liefen kichernd nach vorn und setzten sich auf das Löwenfell. Zuerst blickten sie scheu zu Boden, doch dann starrten sie den Fremden mit großen Augen an. Und jetzt? Max wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er wusste, er musste reagieren, doch er wusste auch, dass eine falsche Geste fatale Folgen haben könnte. Als er die Frauen zu seinen Füßen genauer betrachtete, hatte er nicht den Eindruck, dass der Häuptling sein Geschenk besonders großzügig ausgewählt hatte. Die Kriterien für Schönheit in diesem Land würden einem Europäer wohl ewig verschlossen bleiben, wie so vieles in Afrika. Max trat einen Schritt vor, verbeugte sich und flüsterte Hassim ins Ohr: »Sag ihm, dass das nicht geht.« Der Boy schüttelte den Kopf. »Geschenk von Häuptling große Ehre. Niemand kann zurückgeben.« »Doch, ich. Ich will sie nämlich nicht.« Hassim verdrehte die Augen. »Bwana muss wollen. Geschenk ist wie Regen, er fällt und ist da. Kann der Bwana Wasser zurückschicken zum Himmel?« Nein, das konnte er nicht. Leider. Das musste Hassim geahnt haben, denn er murmelte etwas, das Max nicht verstand, und verbeugte sich vor dem Häuptling. »Was hast du ihm jetzt gesagt?« »Dass der Bwana sehr glücklich ist über das Geschenk.« Max schüttelte den Kopf, doch seine Reaktion kam zu spät. Der Häuptling und seine Krieger brachen in ein wildes Geheul aus. Sekunden später tanzten sie um den Europäer und seine schwarzen Frauen im Kreis, als wäre deren Schicksal besiegelt. Wie jeden Tag senkte sich gegen sechs Uhr unvermittelt die laue Dunkelheit über das Land. Vor der Schamba flackerten offene Feuerstellen, in den Hütten der Schwarzen wurde gekocht, palavert, gestritten. Im Haus des deutschen Pflanzers brannte eine Petroleumlampe. Max schlug die lederne Kladde des Wirtschaftsbuchs auf, in das er seine Haushaltsausgaben eintrug. Die Sache mit den Frauen hatte er schon wieder vergessen. Sie würden sich in der Hütte, die er ihnen zugewiesen hatte, bald langweilen und dann verschwinden. Vielleicht würden sie von seinen Kikuyu freundlich aufgenommen werden, vielleicht auch nicht. Dieser Stamm stellte das Gros seiner hundert Arbeiter. Zwar würden sich diese mit den Damen nicht verständigen können, aber wenn man im Busch eine Frau brauchte, ließen sich solche Probleme lösen. Max drehte den Docht der Petroleumlampe höher, denn er konnte kaum noch die eigene Schrift erkennen. Die Liste der Ausgaben war heute erfreulich kurz: zweihundert Kilo Baumwollsamen zu 1,30 Mark. Teurer durfte das Saatgut nicht werden, sonst würden ihm die Inder Konkurrenz machen. Aber daran wollte Max heute nicht denken, mehr als arbeiten konnte er nicht. Letzte Woche hatte er drei Kilometer lange Wege gebaut und gestern mit der zusätzlichen Rodung von fünfzig Hektar Urwald begonnen, das sollte ihm erst mal einer nachmachen. War da nicht ein eigenartiges Geräusch? Er hob den Kopf. Ein verhaltenes Kichern, ein Schaben auf dem Boden, ein leises Poltern? Er legte den Bleistift weg und öffnete die Tür zum Nebenraum. Die Frauen des Häuptlings kauerten auf seinem Bett, sie waren jetzt nackt. Jede hatte eine Holzschale mit Reis und Gemüse vor sich. Sie aßen mit den Fingern, schmatzten und kicherten. Neben der offenen Tür saß Hassim und verzog keine Miene. Max blieb nur eine Schrecksekunde, um die Szene in sich aufzunehmen. Denn schon sprangen die Frauen auf, zeigten auf ihn, fuchtelten mit den Armen und keiften schrill. Es sah aus, als würden sie im nächsten Moment alle übereinander herfallen. Max tat, was er selten tat, er brüllte. »Ruhe!« Es wurde tatsächlich still. »Was zum Teufel ist hier los?« Hassim erhob sich und stand stramm. »Die Frauen des Bwana möchten wissen, mit welcher der weiße Krieger heute Nacht schlafen wird. Ich schlage vor, mit jeder, Bwana.« Max musterte die schwarzen Grazien, die ihn verführerisch anlächelten und stolz ihre Brüste zeigten. Ihm wurde klar, wenn Usua ein wirklicher Freund war, überließ er ihm seine Lieblingsfrauen. Wenn er ein Schlitzohr war, also ein richtiger Häuptling, saßen hier die Konkubinen, die er schon lange loswerden wollte. Max musste nicht lange überlegen, Usua war ein richtiger Häuptling. Diese Frauen waren der handgreifliche Beweis für die unvorhersehbaren Launen der Natur. Eine war klein und fett, die andere alt und runzlig. Die Dritte schielte, bei einer weiteren zog sich eine Narbe quer über das Gesicht. Nur die Jüngere war halbwegs ansehnlich, litt aber an einer Augenkrankheit, die ihren koketten Blick deutlich trübte. Max packte Hassim am Ärmel und zerrte ihn aus dem Zimmer. »Erstens: Die Frauen verschwinden, sofort. Zweitens: Du erklärst Häuptling Usua, dass ich sein Geschenk nicht zurückweise, sondern dass meine Religion es verbietet, zusätzliche Frauen zu haben.« Hassim warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Aber der Bwana hat doch keine Bibi.« Da hatte er in der Tat einen wunden Punkt getroffen. Doch Max spürte, dass jetzt etwas Entscheidendes passieren musste. »Doch. Ich habe eine Frau. Sie wird bald da sein.« Hassim starrte seinen Herrn ungläubig an, dann huschte er aus dem Zimmer. Max wusste, dass das eine Lüge war, aber er hatte keine Wahl. Im Grunde war seine Behauptung reine Notwehr. Er ging zu seinem Schreibpult, nahm den Schlüssel aus der Schublade und schloss das untere Fach auf. Dort hatte er eine Flasche Weinbrand versteckt, für alle Fälle. Heute war so ein Fall, deshalb genehmigte er sich einen großzügigen Schluck. Während die brennende Schärfe in ihn eindrang, setzte er sich auf den Holzschemel und blickte hinaus in die Nacht. Das Konzert der Ochsenfrösche hatte eingesetzt, sie gurrten so unverschämt laut, als läge eine ganze Armee dieser Tiere auf der Lauer, mit der Absicht, jeden Augenblick zum Angriff überzugehen. Die Intensität dieses monotonen Orchesters faszinierte ihn immer wieder. Er öffnete die eingeschweißte Blechdose, in der die Zigarren lagen. Es war nur noch eine übrig. Als vor seinen Augen die ersten Rauchfäden hochstiegen, kam ihm ein verrückter Gedanke, der sich überraschend schnell in seinem Gehirn festsetzte.
Kapitel 2
Der Dampfer »Wilhelm« hatte Tanger vor drei Tagen hinter sich gelassen und befand sich jetzt auf der Höhe von Alexandria. Elisabeth Angerer stand an der Reling und blickte hinaus auf die rollende See. Es war der 27. Juni 1913. Das Datum wusste sie deshalb so genau, weil sie jeden Tag zählte, seit sie Bremerhaven vor einer Woche verlassen hatte. Die endlose Weite des Meeres, das sie dort zum ersten Mal gesehen hatte, faszinierte sie jeden Morgen aufs Neue. Seit Tagen war der Himmel wolkenlos, er schien viel größer zu sein als der Himmel zu Hause. So stellte sie sich Afrika vor, ein Land, in dem der Horizont nie aufhörte. Afrika dieses Wort hatte eine Magie, die sie auf geheimnisvolle Weise erregte. Die laue Luft an Deck streichelte ihr Gesicht, sie war eine Vorbotin des großen Unbekannten, das auf sie zukam und dem sie sich mit Leib und Seele ausliefern würde. Dazu war sie fest entschlossen. Das junge Mädchen strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Zum ersten Mal in ihrem Leben trug sie die Haare offen, so, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Zu Hause waren ihr eigene Wünsche nur selten gestattet gewesen, ihr war nur die unerfüllte Sehnsucht im Verborgenen geblieben. Das schwere Schiff schlingerte in der Dünung. Elisabeths Hände klammerten sich an die hölzernen Planken der Reling. Was hinter ihr lag, war unendlich weit weg, und das war auch gut so. Eine endlose Serie von Kämpfen, schmerzlichen Niederlagen, kleinen Siegen und Momenten völliger Verzweiflung hatte ihr das Leben in den letzten Monaten zur Hölle gemacht. Doch je hartnäckiger sie mit dem Kopf gegen die Mauer des väterlichen Starrsinns angerannt war, desto stärker war in ihr eine geheimnisvolle Kraft gewachsen, von der sie bis dahin nichts geahnt hatte. Und am Ende hatte sie sich durchgesetzt. Der schwankende Boden unter ihren Füßen, der Geruch von Maschinenöl und nassem Holz, die mächtigen Rauchschwaden der Schornsteine, die sich schnell am Horizont auflösten, gaben ihr jeden Augenblick die Gewissheit, die Vergangenheit endgültig abgeschüttelt zu haben. Jetzt wollte sie nach vorne schauen und nie mehr zurück. Um diesen Entschluss zur Not auch gegen sich selbst durchzusetzen, hatte Elisabeth auf der Höhe von Lissabon ein Stück Papier ins Meer geworfen. Es war das Billett für die Rückpassage gewesen, das ihr die Mutter beim Abschied heimlich zugesteckt hatte. Noch lange hatte der braune Umschlag auf den Schaumkronen des Wellenteppichs getanzt, den die Schraube am Heck des Schiffes aufwirbelte. Ihr Herz hatte bis zum Hals geklopft, denn sie wusste, durch diesen Akt tollkühner Unvernunft war ihr Entschluss unwiderruflich geworden. Umso besser. Elisabeth atmete tief durch. Seit das Schiff Gibraltar passiert hatte, wurde es unter den Sonnensegeln richtig heiß. Heiß wie in Afrika. Sie fühlte sich wie ein Engel, dem Flügel gewachsen waren. Wie verschlungen die Wege des Schicksals doch manchmal waren. Die Chance, ihre geheimsten Träume zu verwirklichen, war buchstäblich vom Himmel gefallen. Am schrecklichsten Tag ihres bisherigen Lebens hatten ihr die Götter eine Karte zugespielt, mit der sie eigentlich nur gewinnen konnte.
Ein kalter Wind fegte durch die Gassen der Altstadt. Elisabeth beschleunigte ihren Schritt, gleich würde es wieder zu regnen beginnen. Der Herbst in Deutschland war endgültig vorbei. Um das Papier vor der Nässe zu schützen, drückte sie die Zeitung, die sie eben gekauft hatte, eng an ihre Brust. Es war elf Uhr vormittags, doch sie war schon auf dem Weg nach Hause. Um diese Zeit arbeitete sie normalerweise in der Kanzlei, aber heute war kein normaler Tag. Eine Droschke rollte an ihr vorbei, die Hufe des alten Gauls trotteten monoton über das Kopfsteinpflaster, monoton wie ihre eigenen Schritte. Elisabeth war ein zierliches, hübsches Mädchen, zu alt für die blonden Zöpfe, die trotzig im Wind baumelten. Im Grunde war sie längst eine junge Frau, doch das hatte sie nie bemerkt. Bis heute. Jetzt fielen die ersten Regentropfen auf ihr Gesicht. Während sie den Kragen hochschlug und sich das Kopftuch umband, kam ihr wieder in den Sinn, wie ungeheuer ereignislos ihr Dasein bisher gewesen war. Das einzig Bemerkenswerte in letzter Zeit war der Vorfall von heute Morgen gewesen, und der war alles andere als erfreulich. Meist kam ihr das Leben eintönig und grau vor, grau wie ihr Mantel und der Himmel über Straubing im November. Das Mädchen bog in die Bäckergasse ein und ging auf das Elternhaus zu. Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um nicht umzukehren. Bevor sie die schwere Eichentür aufstieß, schob sie die Zeitung in den Ärmel ihres Mantels. Es wäre ungehörig gewesen, sich für die Nachrichten des Tages zu interessieren, die standen zuerst dem Herrn des Hauses zu, ihrem Vater, dem Oberschulrat. Als die Standuhr unten in der Küche zwölf Uhr schlug, stand Elisabeth an dem kleinen Giebelfenster unter dem Dachboden und starrte hinaus in den Regen. Wieder tauchte die Szene, die sie an diesem Morgen erlebt hatte, vor ihren Augen auf. So schrecklich diese auch gewesen war, ihr war dabei klar geworden, dass sie heute zum ersten Mal in ihrem Leben selbstständig gehandelt hatte. Und dieses Gefühl tat ihr gut, so gut, dass sie Lust bekommen hatte, es so bald wie möglich wieder zu spüren.
Sie solle die Tür hinter sich zumachen, hatte der Advokat gesagt. Seine Hand griff zur Flasche. Der kleine dickliche Mann stand neben dem Bücherregal, das bis zur Decke mit ledergebundenen Bänden gefüllt war, die alle gleich aussahen. Die schweren Möbel aus Eichenholz verliehen dem Raum eine düstere Würde. Das Mädchen betrat ihn nur ungern, doch jetzt hatte er sie gerufen. Sie blieb stehen, der Advokat genehmigte sich einen weiteren Schluck Cognac. Sein rundes, etwas aufgedunsenes Gesicht war von Schweißperlen übersät. Sie stand ihm gegenüber, mit dem Rücken zur Tür, und wartete. Die junge Anwaltsgehilfin trug ein langes, graues Kleid in der schlichten Tracht der Mennoniten, die Haare hatte sie hochgesteckt, in den Armen hielt sie zwei Aktenordner. Elisabeth war unschlüssig, wo sie diese ablegen sollte, denn in einem solchen Zustand hatte sie Dr. Kunz noch nie gesehen. Dieser streifte das Jackett ab, warf es über den Sessel und lockerte die Krawatte. Sie solle jetzt endlich herkommen, sagte er. Sein Zeigefinger deutete auf den Schreibtisch. Dahin. Elisabeth trat vor und legte die Akten ab. Jetzt zu mir. Der Advokat wischte sich die Lippen ab und starrte das Mädchen lüstern an. Als Elisabeth zögerte, zeigte der Mann mit der Hand vor sich auf den Boden, als würde er einen Hund rufen. Da her. Elisabeth kam näher, bis sie vor ihm stand. Er streckte sein Hand nach ihr aus, seine dicken Finger strichen über ihr Haar. Sie wollte zurückweichen, doch er hielt sie fest. Er wisse, dass sie nicht viel verdiene, sagte er. Er könne schon etwas drauflegen, aber sie müsse halt auch was dafür tun. Sein starrer Blick wanderte über ihr bis oben geschlossenes Kleid, dann zog er sie mit einem Ruck zu sich heran. Sein alkoholgetränkter Atem fuhr ihr ins Gesicht. Sie versuchte, ihn wegzudrücken, doch er hielt sie fest. Er möge das lassen, sagte sie und wandte sich ab. Er lachte. Seine Hand packte sie am Kinn. Sie solle nicht so unschuldig tun, keuchte er, während seine andere Hand über ihre Brüste strich. Elisabeth zerrte die Hand weg. Er müsse sie jetzt gehen lassen, sagte sie. Der Advokat versuchte, seinen Mund auf den ihren zu drücken. Sie stieß ihm die Fäuste gegen die Brust und konnte sich losreißen. Atemlos lief sie zur Tür, doch ihr Gegner war schneller. Er drehte den Schlüssel um, sein mächtiger Körper versperrte den Ausgang. Das Vöglein flattere jetzt im Käfig, sagte er, nun solle es schön singen. Elisabeth wich zurück, doch der Advokat kam näher, immer näher. Sie wisse doch, sagte er, dass sie einen verborgenen Schatz hätte. Wie alle Mädchen. Manche würden ihn nicht kennen, obwohl sie darauf sitzen. Ein wildes Lachen verzerrte sein Gesicht. Er packte Elisabeth an beiden Armen, presste seinen verschwitzten Körper gegen ihren Leib und drückte ihr seine Lippen auf den Mund. Sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, doch schon zerrten kräftige Arme ihren Körper auf das Ledersofa hinter dem Schreibtisch. Eine kalte, fleischige Hand schob ihr Kleid hoch und fuhr ihr zwischen die Beine. Sie wollte schreien, erstickte aber fast unter dem schleimigen Mund, der ihr den Atem nahm. Mit aller Kraft zerrte sie an dem Arm, der sich um ihren Nacken geschlungen hatte und ihren Hals festklemmte. Der Arm bewegte sich nicht. Schon blieb ihr die Luft weg, sie spürte, ihr wurde schwindlig. In diesem Augenblick biss sie zu. Der Mann schrie auf, der Griff lockerte sich. Elisabeth riss sich los und verpasste dem Advokaten eine schallende Ohrfeige. Dr. Kunz stand bewegungslos da. Aus seiner Oberlippe quoll Blut. Entgeistert starrte Elisabeth auf ihre Hand, als wundere sie sich über das, was diese eben getan hatte. Der Advokat wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und betrachtete das Blut auf seinen Fingern. Dann machte er einen Satz auf sie zu. Elisabeth stieß ihm den Sessel gegen die Beine und lief los. Im nächsten Augenblick war sie an der Tür, sie sperrte das Schloss auf und raste hinaus. Keine Sekunde zu früh, denn schon stand ihr Verfolger auf der Schwelle. Sie sei ein verdammtes Miststück, brüllte ihr der Advokat hinterher, so laut, dass seine Worte bis in die hintersten Räume der Kanzlei dröhnten. Sie werde schon sehen, wie weit sie damit komme. Er werde sich das jedenfalls nicht bieten lassen. Nicht von einer, wie sie eine war. Erschrocken blickten die Angestellten auf den tobenden Anwalt. Doch da war Elisabeth schon im Treppenhaus. Sie war auf die Straße hinausgelaufen, ohne zu wissen, was sie tat. Erst nach einer Weile kam ihr keuchender Atem zur Ruhe. Zum ersten Mal hatte sie gewagt, ihrem Instinkt zu folgen. Darauf war sie stolz. Ihre spontane Reaktion hatte ihr Mut gemacht und diesen würde sie jetzt brauchen, mehr als je zuvor. Der Regen hatte nicht nachgelassen. Wieder spürte sie die dumpfe Angst in ihrem Inneren. Aber auch die Wut, die ihr heute Morgen die Kraft gegeben hatte, das Unmögliche zu tun. Elisabeth wusste, was ihr bevorstand. Das gemeinsame Mittagessen war ein Ritual, dem sie nicht entkam, vor allem nicht heute. Sie betrat das Esszimmer als Letzte, die Geschwister saßen bereits um den großen Eichentisch und warteten. Es war aufgedeckt, wie immer: neun Teller, neun Löffel, neun Servietten. Die Mutter kam aus der Küche, warf Elisabeth einen kurzen Blick zu und stellte den dampfenden Suppentopf ab. Dann nahm sie die Brille ab und putzte die Gläser, eine Geste, die ihr verhärmtes Gesicht noch deutlicher zur Geltung brachte. Niemand sprach. Am Ende des Tisches stand ein leerer Stuhl. Er wirkte unheimlich, wie eine Drohung. Einen Augenblick später ging die Tür zum Arbeitszimmer auf, der Vater betrat den Raum. Schweigend musterte er die versammelte Runde. Dann blickte er auf die Standuhr und zog eine Taschenuhr aus der Weste. »Geht zwei Minuten nach.« Das blasse Gesicht dieses großen, knochigen Mannes war ernst. Ein Scheitel ordnete das dünne Haar, auf der spitzen Nase klemmte ein Zwicker. Der Vater nahm ihn ab, legte ihn in ein silbernes Etui und setzte sich auf den leeren Stuhl. »Also?« Der Jüngste faltete die Hände, die anderen Geschwister senkten den Kopf. »Gott Vater, wir bitten dich: Segne, was du uns bescheret hast. Amen.« Die Kinder legten die Hände auf den Tisch und warteten. Erst als der Vater zu essen begann, wagten auch sie, ihre Suppe anzurühren. Elisabeth blieb regungslos sitzen. Die Geräusche der schlürfenden Münder und klappernden Löffel erschienen ihr heute lauter als sonst, dennoch herrschte eine eigenartige Stille im Raum. Die Mutter warf dem Vater einen ängstlichen Blick zu. Dieser hob den Kopf und bemerkte, dass Elisabeth ihre Suppe nicht anrührte. »Was ist?« Elisabeth antwortete nicht. Der Vater warf einen Blick in die Runde, die Kinder löffelten stumm ihre Suppe, sie sahen ihn nicht an. Die Sekunden dehnten sich, bis es die Mutter nicht mehr aushielt. »Die Liesl hat ihre Stellung verloren.« Der Vater legte den Löffel weg und sah seine Tochter an, als würde er ihre Anwesenheit erst jetzt bemerken. Obwohl ihr die Angst das Atmen schwer machte, hielt Elisabeth seinem Blick stand. Es war ein kühler Blick, so als würde ein Arzt einen Patienten mustern, dem nicht mehr zu helfen ist. »Ich bin weggegangen«, sagte sie. Der Vater beugte sich vor, seine Stimme wurde ganz leise. »Du hast deinen Arbeitsplatz verlassen? Du wagst es, mir das zu sagen?« Elisabeth senkte den Blick und starrte auf ihren Teller. »Weil er mich angefasst hat.« Der Vater sprang hoch und stieß den Stuhl zurück. »Du lügst. Das sind bessere Leut'!« Jetzt sprang auch Elisabeth auf. »Frag ihn doch. Widerlich ist er gewesen, von Anfang an.« Ihre Worte hatten nun einen scharfen Tonfall, der sie selbst erstaunte. »Ein Luder bist. Aber nicht in meinem Haus.« Mit zwei Schritten war der Vater an der Küchenvitrine. Dort hing ein dicker Lederriemen. Er riss ihn vom Haken und ging auf Elisabeth zu. Die Mutter sprang auf und fiel ihm in den Arm. »Lass sie in Ruhe. Wenn's vielleicht doch wahr ist.« Der Vater stieß sie zur Seite und ließ den Riemen mit voller Wucht auf den Tisch knallen. Zwei Gläser fielen um, Limonade rann über das Tischtuch und tropfte auf die Dielen. Die Kinder starrten ängstlich zu Boden, niemand bewegte sich. »Kein Wort mehr.« Der Vater baute sich dicht vor Elisabeth auf, auf seiner Stirn glänzte der kalte Schweiß der Wut, den sie so gut kannte. »Und du, knie dich hin.« Drohend schnalzte das Leder durch die Luft. »Nein.« Elisabeth zitterte, doch sie bewegte sich nicht. Ihr Entschluss stand fest. Diesem Ungetüm, das vor ihr stand, würde sie sich nie wieder ausliefern. Es war dunkel im Haus. Die Turmuhr der Kirche schlug ein Uhr morgens. Elisabeth lag noch wach in ihrer Kammer. Ihr Gesicht war geschwollen, über die Stirn zogen sich rote Striemen. Das Stockbett, das sie mit ihren Geschwistern teilte, war ihr heute zu eng. Sie konnte nicht schlafen. Nicht wegen der Schmerzen, sondern aufgrund einer inneren Erregung, die sie spüren ließ, dass in ihrem Leben eine entscheidende Wendung bevorstand. Ihre Hand tastete nach den Streichhölzern. Vorsichtig zündete sie die Kerze an, holte die sorgsam zusammengefaltete Zeitung unter dem Kopfkissen hervor und hielt sie in das trübe Licht. Die halbe Nacht lang hatte sie sich in den Annoncenteil vertieft. Eine kleine Notiz am unteren Ende der Seite war ihr aufgefallen, den Text hatte sie mit Bleistift fett eingerahmt: PARADIES IN AFRIKA: Pflanzer sucht tüchtige junge Frau. Traumhafte Zukunft in deutscher Kolonie.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Ray Müller
- 495 Seiten, Maße: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828997147
- ISBN-13: 9783828997141
Kommentar zu "Ein Traum von Afrika"
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