Der Weihnachtsquilt
Zwei Frauen, ein altes Haus und eine Patchwork-Decke, die nie vollendet wurde - bei den Vorbereitungen zum Weihnachtsfest werden für Sylvia und Sarah Erinnerungen wach. Die Frauen spüren: Auch heute noch sind es die einfachen Freuden, die ihre Familien zusammenhalten.
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Produktinformationen zu „Der Weihnachtsquilt “
Zwei Frauen, ein altes Haus und eine Patchwork-Decke, die nie vollendet wurde - bei den Vorbereitungen zum Weihnachtsfest werden für Sylvia und Sarah Erinnerungen wach. Die Frauen spüren: Auch heute noch sind es die einfachen Freuden, die ihre Familien zusammenhalten.
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Der Weihnachtsquilt von Jennifer Chiaverini1
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Es war ein Wunder, dass in Sylvias Elternhaus, das so mit Erinnerungen angefüllt war, überhaupt noch Platz für Möbel blieb. Als die Dezembertage kälter und die Nächte länger wurden, schienen sich die vergangenen Jahre immer hartnäckiger in die Gegenwart hineinzudrängen - und ärgerten Sylvia Tag und Nacht mit ihrer Beharrlichkeit. Sie stellte sich vor, dass die Geister vergangener Weihnachtsfeste sich in den Fluren versammelten, sich um die Lieblingssessel am Kamin stritten, sich in dem Herrenhaus, das Elm Creek Manor genannt wurde, umsahen und entsetzt die Köpfe schüttelten, weil sie das Haus so sehr hatte verkommen lassen. Sie würde ein kleines Vermögen verdienen, wenn sie von den Geistern Miete verlangen könnte, aber leider hatten diese nur sehnsuchtsvolles Wispern und trauriges Seufzen zu bieten. Nichts würde sie besänftigen können, außer wenn sie das Weihnachtsfest nach Art der Familie Bergstrom feierte - mit allem Drum und Dran und der Einhaltung jeder einzelnen der früher so geliebten Traditionen. Würde Sylvia mit den Geistern reden - was sie natürlich nicht tat, sie war sechsundsiebzig, aber noch nicht so weit, dass sie in einem leeren Zimmer laut vor sich hin sprach, na, besten Dank! -, dann würde sie sie warnen, dass sie höchstwahrscheinlich enttäuscht würden. So sehr Sylvia die Weihnachtsfreude ihrer Kindheit vermisste, die Bergstroms waren, bis auf Sylvia, alle gestorben, und mit ihnen waren auch ihre Traditionen verschwunden. Außerdem hatte sich Sylvia fest vorgenommen, dass dies das langweiligste, am wenigsten festliche und ödeste Weihnachtsfest in der Geschichte von Elm Creek Manor werden sollte.
Ihre wesentlich jüngere Freundin Sarah McClure hatte Sylvias Warnung vor einem tristen Weihnachtsfest in ihrem abgelegenen Haus im Herzen Pennsylvanias mit einem Lachen abgetan. »Ich will ja gerade keine Aufregung«, erklärte Sarah, während sie drei Patchwork-Socken zusammennähte, die in der Bibliothek an den Kamin gehängt werden sollten. »Weihnachten bei meiner Mutter, das würde interessant werden, aber aus völlig falschen Gründen.«
Sylvia fasste verärgert den Entschluss, sich intensiv um die Aussöhnung zwischen Sarah und ihrer Mutter zu kümmern. Schließlich hatte Sarah versprochen, sich darum zu bemühen. Vor anderthalb Jahren war Sylvia nach fünfzigjähriger Abwesenheit wieder in Elm Creek Manor eingezogen, da sie nun, nach dem Tod ihrer Schwester Claudia, mit der sie sich zerstritten hatte, die Alleinerbin des Anwesens der Familie Bergstrom war. Sie hatte vorgehabt, es zu verkaufen, doch mit Sarahs Hilfe hatte sie mit ihrer Vergangenheit Frieden geschlossen und festgestellt, dass sie ihr geliebtes Elternhaus nie würde verkaufen können. Doch die Frage blieb, wie wieder Leben und Freude Einzug halten könnten in das Herrenhaus, das viel zu groß war für eine alte, alleinstehende Frau. Sarah hatte eine geniale Lösung vorgeschlagen, die ihre gemeinsame Liebe für das Quilten und ihr Bedürfnis nach Gesellschaft miteinander verband, nämlich aus dem Bergstrom-Anwesen einen Sommertreffpunkt für Quilterinnen zu machen. Während Sylvia und Sarah ihre Geschäftsbeziehung aushandelten, beschloss Sylvia als Wiedergutmachung für alles, was Sarah getan hatte, um Sylvia mit Verwandten zu versöhnen, mit denen sie sich überworfen hatte, eine Klausel anzufügen. Diese sollte Sarah ermutigen, auch ihre eigenen Beziehungen in Ordnung zu bringen.
»Ich verstehe nicht, was für ein Konflikt zwischen dir und deiner Mutter besteht«, hatte Sylvia gesagt, »aber du musst mir versprechen, dass du mit ihr redest und dich ehrlich bemühst, das Problem zu lösen. Sei nicht so dumm und stur wie ich. Lass bloß nicht zu, dass der Groll schwelt und Beziehungen zerstört.«
Auf diese unerwartete Bitte war Sarah eindeutig nicht vorbereitet gewesen. »Ich glaube, du hast keine Ahnung, wie schwierig das wird.«
»Ich gebe gar nicht vor, das zu wissen, aber ich kann es mir vorstellen. Ich erwarte keine Wunder. Ich bitte dich nur darum, aus meinen Fehlern zu lernen und es zu versuchen.«
Sarah hatte mit ihrer Antwort so lange gezögert, dass Sylvia schon befürchtete, sie würde es ablehnen und ihr Vorhaben, das Elm Creek Quilt Camp ins Leben zu rufen, würde scheitern, doch am Ende stimmte Sarah zu. Sylvia nahm sie beim Wort, und gemeinsam machten sich die beiden Frauen daran, Elm Creek Quilts aufzubauen. In diesem ersten Jahr arbeiteten sie so intensiv an der Verwirklichung ihres Traums, dass Sylvia es Sarah verzeihen konnte, wenn sie ihr Versprechen nicht einhielt. Sie waren dermaßen beschäftigt und arbeiteten zusammen mit Sarahs Mann Matt und ihren angestellten talentierten Quilt-Lehrern vierzehn Stunden am Tag oder mehr, sodass Sarah gar keine Zeit hatte, ihre Mutter zu besuchen und ihre Meinungsverschiedenheiten auszuräumen. Aber dann war der Sommer vorüber und der Lehrgang zu Ende, und Sarah tat noch immer nicht mehr, als ihre Mutter jede zweite Woche anzurufen und kurz mit ihr zu plauschen. Als sie ihre Absicht kundtat, das Weihnachtsfest in Elm Creek Manor zu verbringen, wurde Sylvia klar, dass Sarah, wenn sie dies zuließe, die Einlösung ihres Versprechens immer weiter aufschieben würde. Da es nicht infrage kam, ihre Vereinbarung aufzuheben - Elm Creek Quilts hatte Sylvias Leben viel zu sehr bereichert, als dass sie dies aufs Spiel setzen wollte -, musste sie dafür sorgen, dass ihre Bedingung tatsächlich erfüllt wurde.
Sylvia dachte sich, dass keine Zeit geeigneter sei als Weihnachten, um Frieden mit der Familie zu schließen, doch Sarah konnte sich aus hundert Meilen Entfernung schwerlich mit ihrer Mutter aussöhnen. Irgendwie würde Sylvia Sarah überzeugen müssen, dass sie in ihrem Elternhaus ein weit fröhlicheres Weihnachtsfest verbringen würde - zusammen mit ihrer Mutter, die sie liebte, auch wenn sie mit ihr nicht gut auskam. Leider biss Sarah nicht an. Anstatt sich nach glücklicheren Feiertagen an einem anderen Ort zu sehnen, war sie entschlossen, Sylvia, ob sie es wollte oder nicht, ein fröhliches Fest aufzudrängen.
Wäre es nach Sylvia gegangen, dann hätte sie das Weihnachtsfest genauso begangen, wie sie es getan hatte, seit sie vom elterlichen Anwesen in ein bescheidenes Haus in Sewickley, Pennsylvania, gezogen war: Gottesdienstbesuch am Morgen, dann ein Weihnachtskonzert im Radio und schließlich vielleicht ein Abendessen im Haus einer hartnäckigen Freundin, die sich weigerte, Sylvias wiederholte Zusicherung zu akzeptieren, dass es ihr nichts ausmache, die Feiertage allein zu verbringen. Das hatte ihr immer ausgereicht, und sie war am 27. Dezember jedes Mal aufgewacht und erleichtert gewesen, dass sie wieder ein Weihnachtsfest ohne Tamtam, ohne allzu viele wehmütige Erinnerungen an längst vergangene Festtage hinter sich gebracht hatte. Aber aus der Ferne war es viel einfacher gewesen, das Raunen der Erinnerungen zu ignorieren. Nun, da sie nach Hause zurückgekehrt war, ertappte sie sich dabei, dass sie sich danach sehnte, ihren Lockungen zu folgen. Und hätte sie es nicht besser gewusst, dann hätte sie womöglich Verdacht geschöpft, dass Sarah Bescheid wusste, wie verlockend für sie die Versuchung war, klein beizugeben, denn Sarah bemühte sich allzu häufig, sie zur Aufgabe ihrer Pläne für ein langweiliges Weihnachtsfest zu überreden.
»Sylvia?«, rief Sarah aus der Diele und erschien Sekunden später in der Tür zur Küche, in der Sylvia sich gerade eine Tasse Tee machte. »Störe ich?«
Sylvia tat Honig in ihren Tee. »Ich war gerade im Begriff, es mir mit einem guten Buch gemütlich zu machen.« »Dann hast du ja Zeit und kannst mir helfen, den Weihnachtsschmuck zu suchen.«
»Ich habe dir schon gesagt, wo du danach suchen sollst.« Sylvia trug ihre Tasse ins Wohnzimmer im Westflügel, in dem sie sich am liebsten niederließ, um zu lesen oder zu quilten. Sonnenstrahlen fluteten durch die wegen der Kälte fest geschlossenen Fenster herein. Durch die kahlen Äste der stattlichen Ulmen erhaschte sie einen Blick auf die leuchtend rote Scheune auf der anderen Seite des Baches, des Elm Creek, der wie ein blaugrauer Schnitt durch die weiße Schneedecke aussah.
»Du hast mir gesagt, dass der Weihnachtsschmuck auf dem Speicher ist. Wenn du keine genaueren Angaben machen kannst, wird es Ostern sein, bis ich ihn finde.« Sylvia zuckte mit den Schultern, nahm ihr Buch zur Hand, das aufgeschlagen auf ihrem Sessel lag, und setzte sich. »Vielleicht solltest du es also gleich bleiben lassen.« »Ehrlich, Sylvia!«, empörte sich Sarah. »Jetzt ist Heiligabend. Wenn wir heute Vormittag nicht dekorieren, dann können wir es gleich sein lassen.«
»Du hast recht. Warum verzichten wir dieses Jahr nicht einfach auf den Weihnachtsschmuck? In ein paar Tagen müssen wir sowieso alles wieder wegräumen. Das scheint kaum der Mühe wert zu sein.«
Sarah starrte sie ungläubig an. »Ich habe ja schon fast erwartet, dass du das mit einem ›Quatsch, alles Humbug!‹ abtust.«
Sylvia setzte sich die Brille auf, die sie an einer dünnen Silberkette um den Hals hängen hatte. »Na, besten Dank, ich bin weder geizig noch eine Spielverderberin, aber ich habe schon bevor du geboren wurdest aufgehört, Weihnachten groß zu feiern. Ich habe dich immer wieder gewarnt. Wenn du die Feiertage festlicher hättest verbringen wollen, dann hättest du die Einladung deiner Mutter annehmen sollen. Ich kann mir vorstellen, dass sie das Haus prächtig geschmückt hat.«
Sarah runzelte die Stirn, wie sie es gewöhnlich tat, wenn Sylvia auf ihre Mutter zu sprechen kam. »Meine Mutter hat mich eingeladen, meinen Mann aber nicht.« »Tatsächlich? Ich war davon ausgegangen, dass dein Mann automatisch mit eingeschlossen ist. Das sind die Ehemänner bei solchen Anlässen in der Regel.«
»Du kennst meine Mutter eben nicht, sonst würdest du nicht davon ausgehen, dass Matt inbegriffen ist - es sei denn, sie sagt es ausdrücklich. Sie hofft noch immer, dass unsere Hochzeit ein böser Traum war und sie eines Morgens aufwacht und feststellt, dass ich mit meinem Freund vom ersten Schuljahr an der Penn State Highschool verlobt bin.«
Sylvia war ganz sicher, dass Sarah übertrieb. Matthew war ein netter junger Mann, und Sylvia konnte sich nicht vorstellen, dass Sarahs Mutter so entschieden gegen ihre Ehe sein konnte, wie Sarah behauptete. »Aber was ist mit eurer Übereinkunft, abwechselnd deine und Matthews Familie zu besuchen? Da ihr letztes Weihnachten bei seinem Vater verbracht habt, konnte deine Mutter sehr wohl davon ausgehen, dass ihr sie dieses Jahr besuchen kommt.«
»Das hätten wir tun können.« Sarah setzte sich Sylvia gegenüber in einen Sessel. »Aber wir wollten an Weihnachten hier sein, bei dir.«
»Weihnachten ist ein Fest der Familie.«
»Du weißt, dass du für uns wie ein Familienmitglied bist. Elm Creek Manor ist inzwischen unser Zuhause. Wir würden den Gedanken nicht ertragen, dich an Weihnachten in diesem großen Haus ganz allein zu lassen.«
Sylvia tat so, als sei ihr das gleichgültig, und blätterte eine Seite in ihrem Buch um, obwohl sie kein einziges Wort gelesen hatte. »Schieb eure Entscheidung nicht mir in die Schuhe. Ich bin letztes Jahr gut zurechtgekommen.«
»Wenn wir gewusst hätten, dass du hier ganz allein bist, dann wären wir geblieben. Du hast uns gesagt, du würdest Agnes am Weihnachtsabend zum Essen einladen.«
»Meine Schwägerin war verreist, sie hat eine ihrer Töchter besucht.«
»Ja, und das hast du seit Thanksgiving gewusst, aber darauf verzichtet, es uns zu sagen. Würdest du bitte das Buch weglegen und mit mir reden?«
Sylvia steckte den Zeigefinger zwischen die betreffenden Seiten ihres Buches, klappte es zu und blickte Sarah über den Rand ihrer Brille an. »Na schön, junge Dame. Ich höre.«
Sarah betrachtete sie genervt, aber voll Zuneigung. »Du sagst uns dauernd, dass wir, wenn Matt und ich uns ein festliches Weihnachten wünschen, anderswo hätten feiern sollen. Ich verstehe nicht, warum wir nicht hier, mit dir zusammen, ein fröhliches Weihnachtsfest feiern können.«
Insgeheim räumte Sylvia ein, dass Sarah allen Grund hatte, verwirrt zu sein. Schließlich hatten sie beide so viel zu feiern: Sylvias Rückkehr auf das Familienanwesen, das erfolgreiche erste Jahr des Elm Creek Quilt Camp, neue Freundschaften und eine verheißungsvolle Zukunft. Wenn jemand Grund hatte, herumzutanzen und »Frohe Weihnachten« zu sagen, dann Sylvia.
Sie hätte wissen müssen, dass Sarah zu scharfsinnig war, um auf ihre plumpe List hereinzufallen, aber sie war noch nicht bereit, aufzugeben.
»Ich bin zu alt für dieses Tamtam«, erklärte sie. »Weihnachten ist etwas für Kinder.«
Von Sarahs Miene konnte sie ablesen, dass es ihr nicht gelungen war, der Begeisterung ihrer jungen Freundin einen Dämpfer aufzusetzen. »Dann ein Hoch auf die Kindheit!«, rief Sarah aus. Sylvia seufzte und schlug ihr Buch wieder auf, aber Sarah streckte die Hand aus und klappte es wieder zu. »Es muss doch ein paar Weihnachtsbräuche der Familie Bergstrom geben, die du gern wieder aufleben lassen würdest.«
Das stimmte: Die Bergstroms hatten über viele Generationen zahlreiche schöne Weihnachtstraditionen weitergegeben. In der Woche vor Weihnachten schufteten die besten Köchinnen der Familie in der Küche und zauberten die herrlichsten Köstlichkeiten hervor - Plätzchen und Lebkuchen und einen Strudel nach dem geheimen Rezept der Schwester ihres Urgroßvaters. Elm Creek Manor war einst um die Weihnachtszeit vom herrlichen Duft nach Gewürzen und Plätzchen erfüllt gewesen, der sich mit dem Geruch von Tannennadeln, Stechpalmen und Zimt vermischte. Jedes Familienmitglied half, die Treppen und Kaminsimse mit frisch geschnittenen Tannenzweigen zu schmücken, und das Paar, das zuletzt geheiratet hatte, durfte den Christbaum der Familie aussuchen. Der Weihnachtsbaum wurde vor dem Bau des Südflügels immer im Wohnzimmer aufgestellt, später zierte er jedoch den Ballsaal. Der Baum wurde mit den über drei Generationen hinweg angesammelten Schätzen geschmückt - Keramikfigürchen aus Deutschland, funkelnde Kristallprismen aus New York, geschnitzte Holzengel mit wollenen Haaren aus Italien. Der Lieblingsschmuck der Kinder war ein achtzackiger Glasstern. Seine roten Zacken mit den goldenen Spitzen glänzten im Kerzenschein und warfen leuchtende Farbblitze vom Boden an die Decke. An Heiligabend versteckte einer der Erwachsenen den Stern irgendwo im großen Haus und ließ die Kinder dann suchen. Das Kind, das das Glück hatte, den Stern zu entdecken, erhielt einen Preis - ein kleines Spielzeug oder eine Tüte mit Süßigkeiten - und wurde in die Höhe gehoben, um den Stern höchstpersönlich an die Baumspitze zu hängen. Zwei Mal hatte Sylvia den Stern entdeckt, aber nachdem ihr kleiner Bruder laufen gelernt hatte, hatte sie ihn den Stern immer finden lassen. Ihre Schwester hatte ihn nie ohne die Hilfe eines lieben Onkels entdeckt, der ihr einen Tipp ins Ohr flüsterte.
Natürlich gab es so vieles mehr - Erinnerungen an Gottesdienste, Musik, Geschichten, Freunde und Lachen stürmten auf sie ein. Ja, die Bergstroms hatten viele wunderbare Weihnachtsbräuche gepflegt, aber Sylvia glaubte nicht, es ertragen zu können, wenn sie durch wohlmeinende junge Leute wieder zum Leben erweckt wurden, die deren Bedeutung gar nicht wirklich verstehen konnten, vor allem, wenn das bedeutete, dass Sarah ihren Weihnachtsbesuch bei ihrer Mutter um ein weiteres Jahr verschob.
Von Sylvias Schweigen ungerührt, fuhr Sarah fort: »Man kann doch gar nicht zu alt dafür sein, sich zurückzulehnen und sich am Weihnachtsschmuck zu erfreuen.« Sylvia seufzte. Es hatte wohl keinen Zweck, sie davon abzuhalten. »Natürlich nicht.«
Sarah ergriff ihre Hände. »Dann leiste mir auf dem Speicher Gesellschaft, während ich nach dem Schmuck suche. Wir müssen ein paar Stechpalmenzweige mit Lametta aufhängen, sonst meint der Weihnachtsmann noch, wir hätten ihn vergessen.«
Sarah bestand darauf, dass Sylvia vor ihr die schmalen, knarrenden Stufen zum Speicher hinaufstieg - denn so konnte sie sie auffangen, falls sie stolpern sollte, mutmaßte Sylvia. Sie fröstelte in der eisigen Dunkelheit, als Sarah an ihr vorbei in die Mitte des Raumes ging. Sie zog an der Kordel, und das fahle Licht der einsamen kahlen Glühbirne beleuchtete einen Kreis auf den Bodenbrettern. Übereinandergestapelte Koffer und Kartons sowie alte Möbel warfen dunkle Schatten in die Ecken, die das Licht nicht mehr erreichte.
Zu Sylvias Rechten lag der ältere Westflügel des Herrenhauses, das ursprüngliche Haus der Familie Bergstrom, das Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von den ersten aus Deutschland nach Amerika ausgewanderten Bergstroms errichtet worden war. Direkt vor ihr erstreckte sich der Südflügel, der angebaut worden war, als ihr Vater ein kleiner Junge war. Im Speicher waren die Stellen, die das ursprüngliche Haus und den Anbau miteinander verbanden, deutlicher zu sehen als in den unteren drei Stockwerken, weil hier die Farbe der Wände ein klein wenig anders und der Boden nicht ganz eben waren. Diese Tatsache war jedoch kaum zu erkennen, da die Habe von vier Generationen ihrer Familie so gut wie jeden Quadratzentimeter des Bodens bedeckte.
Sarah blickte sich zufrieden im Speicher um; wahrscheinlich beglückwünschte sie sich, dass es ihr endlich gelungen war, Sylvia hier heraufzulocken. »Nun? Wo sollen wir anfangen?«
Sylvia hatte keinen Schimmer. Seit ihrer Rückkehr aus dem selbst auferlegten Exil war sie so selten wie nur möglich auf den Speicher hinaufgestiegen. Sie hatte seit mehr als fünfzig Jahren nicht mehr nach den Schachteln mit dem Weihnachtsschmuck gesucht.
»Dort drüben, glaube ich«, sagte Sylvia zu Sarah und deutete in die Richtung, wo sie zwei Truhen, eine grüne und eine blaue, und eine feste Schachtel vermutete. Zuerst stand sie nur da und ließ Sarah stöbern, aber bald kam sie sich dumm und albern vor, weil sie untätig herumstand, deshalb beteiligte sie sich an der Suche.
»Ich glaube, ich habe etwas gefunden«, rief Sarah von der anderen Seite der Falltür. Sylvia beobachtete, wie sie eine lange rechteckige Schachtel hervorzog und ihr dabei die gewellten braunen Haare ins Gesicht fielen. Auf der mit einem Wald grüner Tannen verzierten Schachtel stand in roter Tinte: »Festlicher Weihnachtsbaum.« Ein kleinerer schwarzer Aufdruck identifizierte das Produkt als »Evergleam. Made in Manitowoc, Wisconsin, USA.«
»Die habe ich noch nie gesehen«, sagte Sylvia, die sich ihre staubigen Hände abwischte und näher kam, um sie sich genauer anzuschauen. Sarah machte die Schachtel auf der einen Seite auf, fasste hinein und zog mit einiger Mühe das heraus, was allem Anschein nach eine Handvoll Holzspäne war, die wie Alufolie glänzten.
»Das ist einer dieser Christbäume aus Aluminium«, stellte Sarah erfreut fest. »Meine Großmutter hatte so einen.« »Meine nicht«, antwortete Sylvia trocken, die sich vorstellte, wie die Mutter ihres Vaters schon allein bei dem Gedanken daran zurückgeschreckt wäre. »Das muss eine von Claudias neueren Anschaffungen sein. Er entspricht ihrem Geschmack.«
»Ach, sei doch nicht so streng mit ihr. Diese Bäume waren mal ganz groß in Mode.« Sylvia zog, bis noch mehr von dem abscheulichen Alubaum zum Vorschein kam.
»Pff. Wenn du meinst.«
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich ihn in meinem Zimmer aufstelle?«
»Wenn dein Mann den Anblick ertragen kann, kannst du tun, wie dir beliebt.« Schnell fügte Sylvia hinzu: »Solange du mir versprichst, dass er mir nicht unter die Augen kommt.«
»Ichfrage mich, ob diese rotierenden bunten Lichter nicht dazugehört haben, die meine Großmutter hatte.« Sarah verschwand hinter einem alten Schrank, und statt ihrer Stimme war zunächst nur zu hören, wie Schachteln über den Boden schrammten. »Wart mal eine Minute. Sylvia? Was hast du gesagt, welche Farbe haben die Truhen?«
»Eine war blau, die andere grün.« Sylvia bahnte sich den Weg durch das Durcheinander, um zu Sarah zu gelangen, die gerade ein mit Farbe bekleckertes Tuch von einer staubigen grünen Truhe mit Messingbeschlägen zog. »Du meine Güte! Du hast sie gefunden.«
»Da ist die andere«, sagte Sarah, die Sylvia triumphierend anstrahlte und die Hand auf eine blaue Truhe legte. »Die Schachtel muss ganz in der Nähe sein.«
»Ist anzunehmen. Dort«, sagte Sylvia. Sie konnte es sich nicht verkneifen, aber sie freute sich, die Sachen wiederzusehen. Claudia hatte in Sylvias Abwesenheit so viele Dinge verscherbelt, dass sie schon mit der Möglichkeit gerechnet hatte, die Truhen hier im Speicher nicht mehr zu finden. Wahrscheinlich hatte der alte Weihnachtsschmuck der Bergstroms lediglich sentimentalen Wert, aber Sylvia traute Claudia durchaus zu, dass sie sich für ein bisschen Kleingeld davon getrennt hatte.
Sie versuchte, Sarah zu überreden, auf die Rückkehr ihres Mannes zu warten, damit er ihnen die Truhen und die Schachtel hinuntertrage, aber Sarah bestand darauf, es selbst zu tun. Sarah musste vier Mal hinaufsteigen, aber sie schaffte es schließlich, und Sylvia hatte kaum mehr getan, als angstvoll Anweisungen zu bellen, wenn ihre junge Freundin im Begriff zu sein schien, die Treppe hinunterzustolpern. Nachdem alles drei Stockwerke tiefer in die Eingangshalle gebracht war, hielt Sarah kaum inne, um Atem zu schöpfen, dann klappte sie schon den Deckel der blauen Truhe auf. Sylvia spähte ängstlich hinein, weil sie sich fragte, ob ihre Schwester die Familienerbstücke durch dünne Aluminiumsachen ersetzt hatte, aber als sie die grünrot karierte Tischdecke und eine Girlande aus goldenen Perlen sah, entspannte sie sich. Ein vertrauter Schatz nach dem anderen - von ihrem
Großvater geschnitzte hölzerne Krippenfiguren, acht mit Namen versehene Weihnachtsstrümpfe, ein Porzellanengel, der in ein Messinghorn bläst, und der Familienschmuck für den Christbaum - tauchte aus der Truhe auf und sah noch genauso aus wie damals, als sie ihn zum letzten Mal weggeräumt hatte, als sei er seit mehr als fünfzig Jahren unberührt geblieben.
War es möglich, dass ihre Schwester die Schachteln in all diesen Jahren nie geöffnet hatte?
Als sich Sarah der zweiten Truhe zuwandte, setzte sich Sylvia neben sie auf den Boden und bewunderte jedes Stück, das Sarah ihr reichte. Den Nussknacker ihres Bruders mit der leuchtend roten Soldatenuniform, ein Schwert in der Hand. Die hölzerne Spieluhr in Form eines mit Spielsachen beladenen Schlittens, die »God Rest Ye Merry, Gentlemen« spielte, wenn man sie mit dem Schlüssel aufzog. Die Papierengel, die sie und Claudia in der Sonntagsschule gebastelt hatten. Ein Kranz aus Tannenzapfen, die sie einst zusammen mit ihrer Mutter in dem Wald gesammelt hatte, der den Elm Creek säumte. Die Erinnerung an jenen Nachmittag, an dem es geschneit hatte, überwältigte sie - das Lachen ihrer Mutter, die frische Winterluft, die ihr wie Nadeln in die Wangen stach -, und sie umklammerte den Kranz so fest, dass unter ihren Fingern spröde Stückchen abbrachen. Sie schnappte nach Luft und legte den Kranz auf den Boden. Sarah warf ihr über die Schulter einen Blick zu, und ihr Gesichtsausdruck war sehr besorgt. »Ist alles in Ordnung?«
»Mir geht es gut.« Sylvia veränderte ihre Sitzposition auf dem Boden, damit Sarah glaubte, es sei eher die unbequeme Haltung als Wehmut gewesen, die sie aus der Fassung gebracht hatte. Sie zwang sich, ein Lächeln aufzusetzen. »Nun. Du hast jetzt wohl genügend Weihnachtsschmuck, meinst du nicht auch?«
»Genug für das ganze Haus, aber bevor ich mich an die Arbeit mache, möchte ich noch sehen, was in diesen beiden Schachteln da ist.«
»Zwei?« Sylvia schaute nach, und tatsächlich, zwei Kartons lagen direkt hinter den Truhen auf dem Marmorboden. »Du meine Güte. Hätte ich besser aufgepasst, dann hättest du dir den letzten Gang hinauf sparen können. Ich habe gesagt: zwei Truhen und eine Schachtel, erinnerst du dich?«
Sarah zuckte mit den Schultern und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Inhalt der grünen Truhe zu. »Ich weiß, aber ich habe hineingespäht und weihnachtliche Farben gesehen, deshalb habe ich beide heruntergeholt. Vielleicht hat Claudia die Sammlung ja vergrößert, während du fort warst.«
Nach dem Metallbaum zu urteilen, den ihre Schwester gekauft hatte, hoffte Sylvia inständig, dies möge nicht der Fall sein. Sie ging zu dem Karton, der ihr am nächsten stand, und klappte ihn auf. Darin entdeckte sie weiteren vertrauten Weihnachtsschmuck - Kerzenleuchter, Porzellantassen und Untertassen, die mit Stechpalmblättern und -beeren verziert waren, die lustige Plätzchendose in Form eines Weihnachtsmanns, in der Großtante Lucinda immer vom Nikolaustag bis zum Fest der Heiligen Drei Könige Lebkuchen, Anisplätzchen und Zimtsterne aufbewahrt hatte. Sylvia kramte den Karton durch, und jede neue Entdeckung rief lange ignorierte Erinnerungen wach, sodass sie kaum weitermachen konnte. Als sie fertig war, betrachtete sie die Dinge, die Sarah aus den Truhen geholt und auf den Boden gelegt hatte. Bis auf den rotgoldenen Stern für die Baumspitze, der schon lange
verlorengegangen war, schien nichts zu fehlen - was konnte also in der letzten Schachtel sein?
»Vielleicht solltest du sie lieber aufmachen«, sagte Sylvia, die von der Aussicht, auf einen weiteren schrillen Neuerwerb ihrer Schwester zu stoßen, alles andere als begeistert war.
Sarah wischte sich ihre staubigen Hände ab und öffnete den letzten Karton. »Gute Nachrichten. Ich habe dir ja gleich gesagt, dass ich keinen unnötigen Gang in den Speicher gemacht habe. Es ist wieder Weihnachtszeug.« »Und worin besteht die schlechte Nachricht?«
»Es gibt keine schlechte Nachricht. Komm und schau selbst.« Sarah grinste über ihre Schulter zu Sylvia hinüber und amüsierte sich über deren Misstrauen. »Ich bin sicher, es gefällt dir. Es ist aus Stoff, nicht aus Alufolie.« Ganz schwach meinte sich Sylvia zu erinnern, aber sobald sie in den Karton spähte, traf sie die Erinnerung mit der Wucht eines kräftigen Hiebes. »O du lieber Himmel!« »Was ist los?«
Überwältigt von dem Gefühl, eine Entdeckung gemacht und zugleich einen Verlust erlebt zu haben, sank Sylvia neben der Schachtel auf die Knie. Sie hatte den Weihnachtsquilt nie vergessen, aber sie hatte auch nicht erwartet, ihn je wiederzusehen. Großtante Lucinda hatte ihn begonnen, als Sylvia noch ganz klein war, und eine Reihe von Bergstrom-Frauen hatten an dem unfertigen Quilt gearbeitet, darunter auch Sylvia selbst. Soweit sie es nach dem gefalteten Bündel aus Patchwork und Applikationen beurteilen konnte, war daran kein einziger Stich mehr gemacht worden, nachdem sie zuletzt daran gearbeitet hatte. Und doch war jeder komplizierte Block mit Feathered Stars, jeder fein applizierte Stechpalmenzweig mit Beeren so ordentlich zusammengelegt worden, als sei eine sorgfältige Quilterin fest entschlossen gewesen, ihr Meisterwerk fertigzustellen. Selbst die Stoffreste waren ordentlich nach Farben sortiert - hier die grünen, dort die roten, goldenen und cremefarbenen, jeweils auf einem Stapel. Der Weihnachtsquilt war zur Seite gelegt, aber nicht aufgegeben worden.
Hatte Claudia vorgehabt, ihn eines Tages doch fertigzustellen, aber herausgefunden, dass er zu viele schmerzliche Erinnerungen heraufbeschwor? Sie hatte keine Kinder, deshalb konnte sie nicht davon ausgehen, dass ein Mitglied der nächsten Generation ihn fertigstellen würde, so wie ihre Großtante und Mutter es jeweils getan hatten. Ganz sicher hatte sie den Quilt nicht für Sylvias Rückkehr aufbewahrt.
Wie viele Weihnachtsfeste hatte ihre Schwester allein und sehnsüchtig in Elm Creek Manor verbracht, verfolgt von Erinnerungen an längst vergangene fröhlichere Tage?
»Sylvia?« Besorgt berührte Sarah Sylvias Hand. »Was ist los?«
»Ach, du weißt, wie es mir jedes Mal geht, wenn du darauf bestehst, in diesem alten Haus herumzustöbern.« Sylvia tätschelte Sarah die Hand und seufzte. Für Sarah war es ein großer Spaß, eine Reise in die Vergangenheit, in die Geschichte von Elm Creek Manor. Für Sylvia war es etwas ganz anderes. »Immer wenn wir auf irgendein altes Relikt aus der Geschichte der Familie Bergstrom stoßen, werde ich daran erinnert, wie sehr ich in den Augen meiner Vorfahren versagt habe, weil ich fortgegangen bin und zugelassen habe, dass alles, was sie ihr Leben lang aufgebaut haben, kaputtgeht.«
...
Übersetzung: Theresia Übelhör
Es war ein Wunder, dass in Sylvias Elternhaus, das so mit Erinnerungen angefüllt war, überhaupt noch Platz für Möbel blieb. Als die Dezembertage kälter und die Nächte länger wurden, schienen sich die vergangenen Jahre immer hartnäckiger in die Gegenwart hineinzudrängen - und ärgerten Sylvia Tag und Nacht mit ihrer Beharrlichkeit. Sie stellte sich vor, dass die Geister vergangener Weihnachtsfeste sich in den Fluren versammelten, sich um die Lieblingssessel am Kamin stritten, sich in dem Herrenhaus, das Elm Creek Manor genannt wurde, umsahen und entsetzt die Köpfe schüttelten, weil sie das Haus so sehr hatte verkommen lassen. Sie würde ein kleines Vermögen verdienen, wenn sie von den Geistern Miete verlangen könnte, aber leider hatten diese nur sehnsuchtsvolles Wispern und trauriges Seufzen zu bieten. Nichts würde sie besänftigen können, außer wenn sie das Weihnachtsfest nach Art der Familie Bergstrom feierte - mit allem Drum und Dran und der Einhaltung jeder einzelnen der früher so geliebten Traditionen. Würde Sylvia mit den Geistern reden - was sie natürlich nicht tat, sie war sechsundsiebzig, aber noch nicht so weit, dass sie in einem leeren Zimmer laut vor sich hin sprach, na, besten Dank! -, dann würde sie sie warnen, dass sie höchstwahrscheinlich enttäuscht würden. So sehr Sylvia die Weihnachtsfreude ihrer Kindheit vermisste, die Bergstroms waren, bis auf Sylvia, alle gestorben, und mit ihnen waren auch ihre Traditionen verschwunden. Außerdem hatte sich Sylvia fest vorgenommen, dass dies das langweiligste, am wenigsten festliche und ödeste Weihnachtsfest in der Geschichte von Elm Creek Manor werden sollte.
Ihre wesentlich jüngere Freundin Sarah McClure hatte Sylvias Warnung vor einem tristen Weihnachtsfest in ihrem abgelegenen Haus im Herzen Pennsylvanias mit einem Lachen abgetan. »Ich will ja gerade keine Aufregung«, erklärte Sarah, während sie drei Patchwork-Socken zusammennähte, die in der Bibliothek an den Kamin gehängt werden sollten. »Weihnachten bei meiner Mutter, das würde interessant werden, aber aus völlig falschen Gründen.«
Sylvia fasste verärgert den Entschluss, sich intensiv um die Aussöhnung zwischen Sarah und ihrer Mutter zu kümmern. Schließlich hatte Sarah versprochen, sich darum zu bemühen. Vor anderthalb Jahren war Sylvia nach fünfzigjähriger Abwesenheit wieder in Elm Creek Manor eingezogen, da sie nun, nach dem Tod ihrer Schwester Claudia, mit der sie sich zerstritten hatte, die Alleinerbin des Anwesens der Familie Bergstrom war. Sie hatte vorgehabt, es zu verkaufen, doch mit Sarahs Hilfe hatte sie mit ihrer Vergangenheit Frieden geschlossen und festgestellt, dass sie ihr geliebtes Elternhaus nie würde verkaufen können. Doch die Frage blieb, wie wieder Leben und Freude Einzug halten könnten in das Herrenhaus, das viel zu groß war für eine alte, alleinstehende Frau. Sarah hatte eine geniale Lösung vorgeschlagen, die ihre gemeinsame Liebe für das Quilten und ihr Bedürfnis nach Gesellschaft miteinander verband, nämlich aus dem Bergstrom-Anwesen einen Sommertreffpunkt für Quilterinnen zu machen. Während Sylvia und Sarah ihre Geschäftsbeziehung aushandelten, beschloss Sylvia als Wiedergutmachung für alles, was Sarah getan hatte, um Sylvia mit Verwandten zu versöhnen, mit denen sie sich überworfen hatte, eine Klausel anzufügen. Diese sollte Sarah ermutigen, auch ihre eigenen Beziehungen in Ordnung zu bringen.
»Ich verstehe nicht, was für ein Konflikt zwischen dir und deiner Mutter besteht«, hatte Sylvia gesagt, »aber du musst mir versprechen, dass du mit ihr redest und dich ehrlich bemühst, das Problem zu lösen. Sei nicht so dumm und stur wie ich. Lass bloß nicht zu, dass der Groll schwelt und Beziehungen zerstört.«
Auf diese unerwartete Bitte war Sarah eindeutig nicht vorbereitet gewesen. »Ich glaube, du hast keine Ahnung, wie schwierig das wird.«
»Ich gebe gar nicht vor, das zu wissen, aber ich kann es mir vorstellen. Ich erwarte keine Wunder. Ich bitte dich nur darum, aus meinen Fehlern zu lernen und es zu versuchen.«
Sarah hatte mit ihrer Antwort so lange gezögert, dass Sylvia schon befürchtete, sie würde es ablehnen und ihr Vorhaben, das Elm Creek Quilt Camp ins Leben zu rufen, würde scheitern, doch am Ende stimmte Sarah zu. Sylvia nahm sie beim Wort, und gemeinsam machten sich die beiden Frauen daran, Elm Creek Quilts aufzubauen. In diesem ersten Jahr arbeiteten sie so intensiv an der Verwirklichung ihres Traums, dass Sylvia es Sarah verzeihen konnte, wenn sie ihr Versprechen nicht einhielt. Sie waren dermaßen beschäftigt und arbeiteten zusammen mit Sarahs Mann Matt und ihren angestellten talentierten Quilt-Lehrern vierzehn Stunden am Tag oder mehr, sodass Sarah gar keine Zeit hatte, ihre Mutter zu besuchen und ihre Meinungsverschiedenheiten auszuräumen. Aber dann war der Sommer vorüber und der Lehrgang zu Ende, und Sarah tat noch immer nicht mehr, als ihre Mutter jede zweite Woche anzurufen und kurz mit ihr zu plauschen. Als sie ihre Absicht kundtat, das Weihnachtsfest in Elm Creek Manor zu verbringen, wurde Sylvia klar, dass Sarah, wenn sie dies zuließe, die Einlösung ihres Versprechens immer weiter aufschieben würde. Da es nicht infrage kam, ihre Vereinbarung aufzuheben - Elm Creek Quilts hatte Sylvias Leben viel zu sehr bereichert, als dass sie dies aufs Spiel setzen wollte -, musste sie dafür sorgen, dass ihre Bedingung tatsächlich erfüllt wurde.
Sylvia dachte sich, dass keine Zeit geeigneter sei als Weihnachten, um Frieden mit der Familie zu schließen, doch Sarah konnte sich aus hundert Meilen Entfernung schwerlich mit ihrer Mutter aussöhnen. Irgendwie würde Sylvia Sarah überzeugen müssen, dass sie in ihrem Elternhaus ein weit fröhlicheres Weihnachtsfest verbringen würde - zusammen mit ihrer Mutter, die sie liebte, auch wenn sie mit ihr nicht gut auskam. Leider biss Sarah nicht an. Anstatt sich nach glücklicheren Feiertagen an einem anderen Ort zu sehnen, war sie entschlossen, Sylvia, ob sie es wollte oder nicht, ein fröhliches Fest aufzudrängen.
Wäre es nach Sylvia gegangen, dann hätte sie das Weihnachtsfest genauso begangen, wie sie es getan hatte, seit sie vom elterlichen Anwesen in ein bescheidenes Haus in Sewickley, Pennsylvania, gezogen war: Gottesdienstbesuch am Morgen, dann ein Weihnachtskonzert im Radio und schließlich vielleicht ein Abendessen im Haus einer hartnäckigen Freundin, die sich weigerte, Sylvias wiederholte Zusicherung zu akzeptieren, dass es ihr nichts ausmache, die Feiertage allein zu verbringen. Das hatte ihr immer ausgereicht, und sie war am 27. Dezember jedes Mal aufgewacht und erleichtert gewesen, dass sie wieder ein Weihnachtsfest ohne Tamtam, ohne allzu viele wehmütige Erinnerungen an längst vergangene Festtage hinter sich gebracht hatte. Aber aus der Ferne war es viel einfacher gewesen, das Raunen der Erinnerungen zu ignorieren. Nun, da sie nach Hause zurückgekehrt war, ertappte sie sich dabei, dass sie sich danach sehnte, ihren Lockungen zu folgen. Und hätte sie es nicht besser gewusst, dann hätte sie womöglich Verdacht geschöpft, dass Sarah Bescheid wusste, wie verlockend für sie die Versuchung war, klein beizugeben, denn Sarah bemühte sich allzu häufig, sie zur Aufgabe ihrer Pläne für ein langweiliges Weihnachtsfest zu überreden.
»Sylvia?«, rief Sarah aus der Diele und erschien Sekunden später in der Tür zur Küche, in der Sylvia sich gerade eine Tasse Tee machte. »Störe ich?«
Sylvia tat Honig in ihren Tee. »Ich war gerade im Begriff, es mir mit einem guten Buch gemütlich zu machen.« »Dann hast du ja Zeit und kannst mir helfen, den Weihnachtsschmuck zu suchen.«
»Ich habe dir schon gesagt, wo du danach suchen sollst.« Sylvia trug ihre Tasse ins Wohnzimmer im Westflügel, in dem sie sich am liebsten niederließ, um zu lesen oder zu quilten. Sonnenstrahlen fluteten durch die wegen der Kälte fest geschlossenen Fenster herein. Durch die kahlen Äste der stattlichen Ulmen erhaschte sie einen Blick auf die leuchtend rote Scheune auf der anderen Seite des Baches, des Elm Creek, der wie ein blaugrauer Schnitt durch die weiße Schneedecke aussah.
»Du hast mir gesagt, dass der Weihnachtsschmuck auf dem Speicher ist. Wenn du keine genaueren Angaben machen kannst, wird es Ostern sein, bis ich ihn finde.« Sylvia zuckte mit den Schultern, nahm ihr Buch zur Hand, das aufgeschlagen auf ihrem Sessel lag, und setzte sich. »Vielleicht solltest du es also gleich bleiben lassen.« »Ehrlich, Sylvia!«, empörte sich Sarah. »Jetzt ist Heiligabend. Wenn wir heute Vormittag nicht dekorieren, dann können wir es gleich sein lassen.«
»Du hast recht. Warum verzichten wir dieses Jahr nicht einfach auf den Weihnachtsschmuck? In ein paar Tagen müssen wir sowieso alles wieder wegräumen. Das scheint kaum der Mühe wert zu sein.«
Sarah starrte sie ungläubig an. »Ich habe ja schon fast erwartet, dass du das mit einem ›Quatsch, alles Humbug!‹ abtust.«
Sylvia setzte sich die Brille auf, die sie an einer dünnen Silberkette um den Hals hängen hatte. »Na, besten Dank, ich bin weder geizig noch eine Spielverderberin, aber ich habe schon bevor du geboren wurdest aufgehört, Weihnachten groß zu feiern. Ich habe dich immer wieder gewarnt. Wenn du die Feiertage festlicher hättest verbringen wollen, dann hättest du die Einladung deiner Mutter annehmen sollen. Ich kann mir vorstellen, dass sie das Haus prächtig geschmückt hat.«
Sarah runzelte die Stirn, wie sie es gewöhnlich tat, wenn Sylvia auf ihre Mutter zu sprechen kam. »Meine Mutter hat mich eingeladen, meinen Mann aber nicht.« »Tatsächlich? Ich war davon ausgegangen, dass dein Mann automatisch mit eingeschlossen ist. Das sind die Ehemänner bei solchen Anlässen in der Regel.«
»Du kennst meine Mutter eben nicht, sonst würdest du nicht davon ausgehen, dass Matt inbegriffen ist - es sei denn, sie sagt es ausdrücklich. Sie hofft noch immer, dass unsere Hochzeit ein böser Traum war und sie eines Morgens aufwacht und feststellt, dass ich mit meinem Freund vom ersten Schuljahr an der Penn State Highschool verlobt bin.«
Sylvia war ganz sicher, dass Sarah übertrieb. Matthew war ein netter junger Mann, und Sylvia konnte sich nicht vorstellen, dass Sarahs Mutter so entschieden gegen ihre Ehe sein konnte, wie Sarah behauptete. »Aber was ist mit eurer Übereinkunft, abwechselnd deine und Matthews Familie zu besuchen? Da ihr letztes Weihnachten bei seinem Vater verbracht habt, konnte deine Mutter sehr wohl davon ausgehen, dass ihr sie dieses Jahr besuchen kommt.«
»Das hätten wir tun können.« Sarah setzte sich Sylvia gegenüber in einen Sessel. »Aber wir wollten an Weihnachten hier sein, bei dir.«
»Weihnachten ist ein Fest der Familie.«
»Du weißt, dass du für uns wie ein Familienmitglied bist. Elm Creek Manor ist inzwischen unser Zuhause. Wir würden den Gedanken nicht ertragen, dich an Weihnachten in diesem großen Haus ganz allein zu lassen.«
Sylvia tat so, als sei ihr das gleichgültig, und blätterte eine Seite in ihrem Buch um, obwohl sie kein einziges Wort gelesen hatte. »Schieb eure Entscheidung nicht mir in die Schuhe. Ich bin letztes Jahr gut zurechtgekommen.«
»Wenn wir gewusst hätten, dass du hier ganz allein bist, dann wären wir geblieben. Du hast uns gesagt, du würdest Agnes am Weihnachtsabend zum Essen einladen.«
»Meine Schwägerin war verreist, sie hat eine ihrer Töchter besucht.«
»Ja, und das hast du seit Thanksgiving gewusst, aber darauf verzichtet, es uns zu sagen. Würdest du bitte das Buch weglegen und mit mir reden?«
Sylvia steckte den Zeigefinger zwischen die betreffenden Seiten ihres Buches, klappte es zu und blickte Sarah über den Rand ihrer Brille an. »Na schön, junge Dame. Ich höre.«
Sarah betrachtete sie genervt, aber voll Zuneigung. »Du sagst uns dauernd, dass wir, wenn Matt und ich uns ein festliches Weihnachten wünschen, anderswo hätten feiern sollen. Ich verstehe nicht, warum wir nicht hier, mit dir zusammen, ein fröhliches Weihnachtsfest feiern können.«
Insgeheim räumte Sylvia ein, dass Sarah allen Grund hatte, verwirrt zu sein. Schließlich hatten sie beide so viel zu feiern: Sylvias Rückkehr auf das Familienanwesen, das erfolgreiche erste Jahr des Elm Creek Quilt Camp, neue Freundschaften und eine verheißungsvolle Zukunft. Wenn jemand Grund hatte, herumzutanzen und »Frohe Weihnachten« zu sagen, dann Sylvia.
Sie hätte wissen müssen, dass Sarah zu scharfsinnig war, um auf ihre plumpe List hereinzufallen, aber sie war noch nicht bereit, aufzugeben.
»Ich bin zu alt für dieses Tamtam«, erklärte sie. »Weihnachten ist etwas für Kinder.«
Von Sarahs Miene konnte sie ablesen, dass es ihr nicht gelungen war, der Begeisterung ihrer jungen Freundin einen Dämpfer aufzusetzen. »Dann ein Hoch auf die Kindheit!«, rief Sarah aus. Sylvia seufzte und schlug ihr Buch wieder auf, aber Sarah streckte die Hand aus und klappte es wieder zu. »Es muss doch ein paar Weihnachtsbräuche der Familie Bergstrom geben, die du gern wieder aufleben lassen würdest.«
Das stimmte: Die Bergstroms hatten über viele Generationen zahlreiche schöne Weihnachtstraditionen weitergegeben. In der Woche vor Weihnachten schufteten die besten Köchinnen der Familie in der Küche und zauberten die herrlichsten Köstlichkeiten hervor - Plätzchen und Lebkuchen und einen Strudel nach dem geheimen Rezept der Schwester ihres Urgroßvaters. Elm Creek Manor war einst um die Weihnachtszeit vom herrlichen Duft nach Gewürzen und Plätzchen erfüllt gewesen, der sich mit dem Geruch von Tannennadeln, Stechpalmen und Zimt vermischte. Jedes Familienmitglied half, die Treppen und Kaminsimse mit frisch geschnittenen Tannenzweigen zu schmücken, und das Paar, das zuletzt geheiratet hatte, durfte den Christbaum der Familie aussuchen. Der Weihnachtsbaum wurde vor dem Bau des Südflügels immer im Wohnzimmer aufgestellt, später zierte er jedoch den Ballsaal. Der Baum wurde mit den über drei Generationen hinweg angesammelten Schätzen geschmückt - Keramikfigürchen aus Deutschland, funkelnde Kristallprismen aus New York, geschnitzte Holzengel mit wollenen Haaren aus Italien. Der Lieblingsschmuck der Kinder war ein achtzackiger Glasstern. Seine roten Zacken mit den goldenen Spitzen glänzten im Kerzenschein und warfen leuchtende Farbblitze vom Boden an die Decke. An Heiligabend versteckte einer der Erwachsenen den Stern irgendwo im großen Haus und ließ die Kinder dann suchen. Das Kind, das das Glück hatte, den Stern zu entdecken, erhielt einen Preis - ein kleines Spielzeug oder eine Tüte mit Süßigkeiten - und wurde in die Höhe gehoben, um den Stern höchstpersönlich an die Baumspitze zu hängen. Zwei Mal hatte Sylvia den Stern entdeckt, aber nachdem ihr kleiner Bruder laufen gelernt hatte, hatte sie ihn den Stern immer finden lassen. Ihre Schwester hatte ihn nie ohne die Hilfe eines lieben Onkels entdeckt, der ihr einen Tipp ins Ohr flüsterte.
Natürlich gab es so vieles mehr - Erinnerungen an Gottesdienste, Musik, Geschichten, Freunde und Lachen stürmten auf sie ein. Ja, die Bergstroms hatten viele wunderbare Weihnachtsbräuche gepflegt, aber Sylvia glaubte nicht, es ertragen zu können, wenn sie durch wohlmeinende junge Leute wieder zum Leben erweckt wurden, die deren Bedeutung gar nicht wirklich verstehen konnten, vor allem, wenn das bedeutete, dass Sarah ihren Weihnachtsbesuch bei ihrer Mutter um ein weiteres Jahr verschob.
Von Sylvias Schweigen ungerührt, fuhr Sarah fort: »Man kann doch gar nicht zu alt dafür sein, sich zurückzulehnen und sich am Weihnachtsschmuck zu erfreuen.« Sylvia seufzte. Es hatte wohl keinen Zweck, sie davon abzuhalten. »Natürlich nicht.«
Sarah ergriff ihre Hände. »Dann leiste mir auf dem Speicher Gesellschaft, während ich nach dem Schmuck suche. Wir müssen ein paar Stechpalmenzweige mit Lametta aufhängen, sonst meint der Weihnachtsmann noch, wir hätten ihn vergessen.«
Sarah bestand darauf, dass Sylvia vor ihr die schmalen, knarrenden Stufen zum Speicher hinaufstieg - denn so konnte sie sie auffangen, falls sie stolpern sollte, mutmaßte Sylvia. Sie fröstelte in der eisigen Dunkelheit, als Sarah an ihr vorbei in die Mitte des Raumes ging. Sie zog an der Kordel, und das fahle Licht der einsamen kahlen Glühbirne beleuchtete einen Kreis auf den Bodenbrettern. Übereinandergestapelte Koffer und Kartons sowie alte Möbel warfen dunkle Schatten in die Ecken, die das Licht nicht mehr erreichte.
Zu Sylvias Rechten lag der ältere Westflügel des Herrenhauses, das ursprüngliche Haus der Familie Bergstrom, das Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von den ersten aus Deutschland nach Amerika ausgewanderten Bergstroms errichtet worden war. Direkt vor ihr erstreckte sich der Südflügel, der angebaut worden war, als ihr Vater ein kleiner Junge war. Im Speicher waren die Stellen, die das ursprüngliche Haus und den Anbau miteinander verbanden, deutlicher zu sehen als in den unteren drei Stockwerken, weil hier die Farbe der Wände ein klein wenig anders und der Boden nicht ganz eben waren. Diese Tatsache war jedoch kaum zu erkennen, da die Habe von vier Generationen ihrer Familie so gut wie jeden Quadratzentimeter des Bodens bedeckte.
Sarah blickte sich zufrieden im Speicher um; wahrscheinlich beglückwünschte sie sich, dass es ihr endlich gelungen war, Sylvia hier heraufzulocken. »Nun? Wo sollen wir anfangen?«
Sylvia hatte keinen Schimmer. Seit ihrer Rückkehr aus dem selbst auferlegten Exil war sie so selten wie nur möglich auf den Speicher hinaufgestiegen. Sie hatte seit mehr als fünfzig Jahren nicht mehr nach den Schachteln mit dem Weihnachtsschmuck gesucht.
»Dort drüben, glaube ich«, sagte Sylvia zu Sarah und deutete in die Richtung, wo sie zwei Truhen, eine grüne und eine blaue, und eine feste Schachtel vermutete. Zuerst stand sie nur da und ließ Sarah stöbern, aber bald kam sie sich dumm und albern vor, weil sie untätig herumstand, deshalb beteiligte sie sich an der Suche.
»Ich glaube, ich habe etwas gefunden«, rief Sarah von der anderen Seite der Falltür. Sylvia beobachtete, wie sie eine lange rechteckige Schachtel hervorzog und ihr dabei die gewellten braunen Haare ins Gesicht fielen. Auf der mit einem Wald grüner Tannen verzierten Schachtel stand in roter Tinte: »Festlicher Weihnachtsbaum.« Ein kleinerer schwarzer Aufdruck identifizierte das Produkt als »Evergleam. Made in Manitowoc, Wisconsin, USA.«
»Die habe ich noch nie gesehen«, sagte Sylvia, die sich ihre staubigen Hände abwischte und näher kam, um sie sich genauer anzuschauen. Sarah machte die Schachtel auf der einen Seite auf, fasste hinein und zog mit einiger Mühe das heraus, was allem Anschein nach eine Handvoll Holzspäne war, die wie Alufolie glänzten.
»Das ist einer dieser Christbäume aus Aluminium«, stellte Sarah erfreut fest. »Meine Großmutter hatte so einen.« »Meine nicht«, antwortete Sylvia trocken, die sich vorstellte, wie die Mutter ihres Vaters schon allein bei dem Gedanken daran zurückgeschreckt wäre. »Das muss eine von Claudias neueren Anschaffungen sein. Er entspricht ihrem Geschmack.«
»Ach, sei doch nicht so streng mit ihr. Diese Bäume waren mal ganz groß in Mode.« Sylvia zog, bis noch mehr von dem abscheulichen Alubaum zum Vorschein kam.
»Pff. Wenn du meinst.«
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich ihn in meinem Zimmer aufstelle?«
»Wenn dein Mann den Anblick ertragen kann, kannst du tun, wie dir beliebt.« Schnell fügte Sylvia hinzu: »Solange du mir versprichst, dass er mir nicht unter die Augen kommt.«
»Ichfrage mich, ob diese rotierenden bunten Lichter nicht dazugehört haben, die meine Großmutter hatte.« Sarah verschwand hinter einem alten Schrank, und statt ihrer Stimme war zunächst nur zu hören, wie Schachteln über den Boden schrammten. »Wart mal eine Minute. Sylvia? Was hast du gesagt, welche Farbe haben die Truhen?«
»Eine war blau, die andere grün.« Sylvia bahnte sich den Weg durch das Durcheinander, um zu Sarah zu gelangen, die gerade ein mit Farbe bekleckertes Tuch von einer staubigen grünen Truhe mit Messingbeschlägen zog. »Du meine Güte! Du hast sie gefunden.«
»Da ist die andere«, sagte Sarah, die Sylvia triumphierend anstrahlte und die Hand auf eine blaue Truhe legte. »Die Schachtel muss ganz in der Nähe sein.«
»Ist anzunehmen. Dort«, sagte Sylvia. Sie konnte es sich nicht verkneifen, aber sie freute sich, die Sachen wiederzusehen. Claudia hatte in Sylvias Abwesenheit so viele Dinge verscherbelt, dass sie schon mit der Möglichkeit gerechnet hatte, die Truhen hier im Speicher nicht mehr zu finden. Wahrscheinlich hatte der alte Weihnachtsschmuck der Bergstroms lediglich sentimentalen Wert, aber Sylvia traute Claudia durchaus zu, dass sie sich für ein bisschen Kleingeld davon getrennt hatte.
Sie versuchte, Sarah zu überreden, auf die Rückkehr ihres Mannes zu warten, damit er ihnen die Truhen und die Schachtel hinuntertrage, aber Sarah bestand darauf, es selbst zu tun. Sarah musste vier Mal hinaufsteigen, aber sie schaffte es schließlich, und Sylvia hatte kaum mehr getan, als angstvoll Anweisungen zu bellen, wenn ihre junge Freundin im Begriff zu sein schien, die Treppe hinunterzustolpern. Nachdem alles drei Stockwerke tiefer in die Eingangshalle gebracht war, hielt Sarah kaum inne, um Atem zu schöpfen, dann klappte sie schon den Deckel der blauen Truhe auf. Sylvia spähte ängstlich hinein, weil sie sich fragte, ob ihre Schwester die Familienerbstücke durch dünne Aluminiumsachen ersetzt hatte, aber als sie die grünrot karierte Tischdecke und eine Girlande aus goldenen Perlen sah, entspannte sie sich. Ein vertrauter Schatz nach dem anderen - von ihrem
Großvater geschnitzte hölzerne Krippenfiguren, acht mit Namen versehene Weihnachtsstrümpfe, ein Porzellanengel, der in ein Messinghorn bläst, und der Familienschmuck für den Christbaum - tauchte aus der Truhe auf und sah noch genauso aus wie damals, als sie ihn zum letzten Mal weggeräumt hatte, als sei er seit mehr als fünfzig Jahren unberührt geblieben.
War es möglich, dass ihre Schwester die Schachteln in all diesen Jahren nie geöffnet hatte?
Als sich Sarah der zweiten Truhe zuwandte, setzte sich Sylvia neben sie auf den Boden und bewunderte jedes Stück, das Sarah ihr reichte. Den Nussknacker ihres Bruders mit der leuchtend roten Soldatenuniform, ein Schwert in der Hand. Die hölzerne Spieluhr in Form eines mit Spielsachen beladenen Schlittens, die »God Rest Ye Merry, Gentlemen« spielte, wenn man sie mit dem Schlüssel aufzog. Die Papierengel, die sie und Claudia in der Sonntagsschule gebastelt hatten. Ein Kranz aus Tannenzapfen, die sie einst zusammen mit ihrer Mutter in dem Wald gesammelt hatte, der den Elm Creek säumte. Die Erinnerung an jenen Nachmittag, an dem es geschneit hatte, überwältigte sie - das Lachen ihrer Mutter, die frische Winterluft, die ihr wie Nadeln in die Wangen stach -, und sie umklammerte den Kranz so fest, dass unter ihren Fingern spröde Stückchen abbrachen. Sie schnappte nach Luft und legte den Kranz auf den Boden. Sarah warf ihr über die Schulter einen Blick zu, und ihr Gesichtsausdruck war sehr besorgt. »Ist alles in Ordnung?«
»Mir geht es gut.« Sylvia veränderte ihre Sitzposition auf dem Boden, damit Sarah glaubte, es sei eher die unbequeme Haltung als Wehmut gewesen, die sie aus der Fassung gebracht hatte. Sie zwang sich, ein Lächeln aufzusetzen. »Nun. Du hast jetzt wohl genügend Weihnachtsschmuck, meinst du nicht auch?«
»Genug für das ganze Haus, aber bevor ich mich an die Arbeit mache, möchte ich noch sehen, was in diesen beiden Schachteln da ist.«
»Zwei?« Sylvia schaute nach, und tatsächlich, zwei Kartons lagen direkt hinter den Truhen auf dem Marmorboden. »Du meine Güte. Hätte ich besser aufgepasst, dann hättest du dir den letzten Gang hinauf sparen können. Ich habe gesagt: zwei Truhen und eine Schachtel, erinnerst du dich?«
Sarah zuckte mit den Schultern und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Inhalt der grünen Truhe zu. »Ich weiß, aber ich habe hineingespäht und weihnachtliche Farben gesehen, deshalb habe ich beide heruntergeholt. Vielleicht hat Claudia die Sammlung ja vergrößert, während du fort warst.«
Nach dem Metallbaum zu urteilen, den ihre Schwester gekauft hatte, hoffte Sylvia inständig, dies möge nicht der Fall sein. Sie ging zu dem Karton, der ihr am nächsten stand, und klappte ihn auf. Darin entdeckte sie weiteren vertrauten Weihnachtsschmuck - Kerzenleuchter, Porzellantassen und Untertassen, die mit Stechpalmblättern und -beeren verziert waren, die lustige Plätzchendose in Form eines Weihnachtsmanns, in der Großtante Lucinda immer vom Nikolaustag bis zum Fest der Heiligen Drei Könige Lebkuchen, Anisplätzchen und Zimtsterne aufbewahrt hatte. Sylvia kramte den Karton durch, und jede neue Entdeckung rief lange ignorierte Erinnerungen wach, sodass sie kaum weitermachen konnte. Als sie fertig war, betrachtete sie die Dinge, die Sarah aus den Truhen geholt und auf den Boden gelegt hatte. Bis auf den rotgoldenen Stern für die Baumspitze, der schon lange
verlorengegangen war, schien nichts zu fehlen - was konnte also in der letzten Schachtel sein?
»Vielleicht solltest du sie lieber aufmachen«, sagte Sylvia, die von der Aussicht, auf einen weiteren schrillen Neuerwerb ihrer Schwester zu stoßen, alles andere als begeistert war.
Sarah wischte sich ihre staubigen Hände ab und öffnete den letzten Karton. »Gute Nachrichten. Ich habe dir ja gleich gesagt, dass ich keinen unnötigen Gang in den Speicher gemacht habe. Es ist wieder Weihnachtszeug.« »Und worin besteht die schlechte Nachricht?«
»Es gibt keine schlechte Nachricht. Komm und schau selbst.« Sarah grinste über ihre Schulter zu Sylvia hinüber und amüsierte sich über deren Misstrauen. »Ich bin sicher, es gefällt dir. Es ist aus Stoff, nicht aus Alufolie.« Ganz schwach meinte sich Sylvia zu erinnern, aber sobald sie in den Karton spähte, traf sie die Erinnerung mit der Wucht eines kräftigen Hiebes. »O du lieber Himmel!« »Was ist los?«
Überwältigt von dem Gefühl, eine Entdeckung gemacht und zugleich einen Verlust erlebt zu haben, sank Sylvia neben der Schachtel auf die Knie. Sie hatte den Weihnachtsquilt nie vergessen, aber sie hatte auch nicht erwartet, ihn je wiederzusehen. Großtante Lucinda hatte ihn begonnen, als Sylvia noch ganz klein war, und eine Reihe von Bergstrom-Frauen hatten an dem unfertigen Quilt gearbeitet, darunter auch Sylvia selbst. Soweit sie es nach dem gefalteten Bündel aus Patchwork und Applikationen beurteilen konnte, war daran kein einziger Stich mehr gemacht worden, nachdem sie zuletzt daran gearbeitet hatte. Und doch war jeder komplizierte Block mit Feathered Stars, jeder fein applizierte Stechpalmenzweig mit Beeren so ordentlich zusammengelegt worden, als sei eine sorgfältige Quilterin fest entschlossen gewesen, ihr Meisterwerk fertigzustellen. Selbst die Stoffreste waren ordentlich nach Farben sortiert - hier die grünen, dort die roten, goldenen und cremefarbenen, jeweils auf einem Stapel. Der Weihnachtsquilt war zur Seite gelegt, aber nicht aufgegeben worden.
Hatte Claudia vorgehabt, ihn eines Tages doch fertigzustellen, aber herausgefunden, dass er zu viele schmerzliche Erinnerungen heraufbeschwor? Sie hatte keine Kinder, deshalb konnte sie nicht davon ausgehen, dass ein Mitglied der nächsten Generation ihn fertigstellen würde, so wie ihre Großtante und Mutter es jeweils getan hatten. Ganz sicher hatte sie den Quilt nicht für Sylvias Rückkehr aufbewahrt.
Wie viele Weihnachtsfeste hatte ihre Schwester allein und sehnsüchtig in Elm Creek Manor verbracht, verfolgt von Erinnerungen an längst vergangene fröhlichere Tage?
»Sylvia?« Besorgt berührte Sarah Sylvias Hand. »Was ist los?«
»Ach, du weißt, wie es mir jedes Mal geht, wenn du darauf bestehst, in diesem alten Haus herumzustöbern.« Sylvia tätschelte Sarah die Hand und seufzte. Für Sarah war es ein großer Spaß, eine Reise in die Vergangenheit, in die Geschichte von Elm Creek Manor. Für Sylvia war es etwas ganz anderes. »Immer wenn wir auf irgendein altes Relikt aus der Geschichte der Familie Bergstrom stoßen, werde ich daran erinnert, wie sehr ich in den Augen meiner Vorfahren versagt habe, weil ich fortgegangen bin und zugelassen habe, dass alles, was sie ihr Leben lang aufgebaut haben, kaputtgeht.«
...
Übersetzung: Theresia Übelhör
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Bibliographische Angaben
- Autor: Jennifer Chiaverini
- 2010, 1, 265 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006257
- ISBN-13: 9783868006254
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