Inspector Jack Caffery Band 5: Verderbnis
Psychothriller
An einem kühlen Novemberabend wird auf dem Parkplatz eines Supermarktes in der Nähe von Bristol ein Auto entwendet. Mit Gewalt - und mit der elfjährigen Martha Bradley auf dem Rücksitz. Detective Inspector Jack Caffery hofft...
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Produktinformationen zu „Inspector Jack Caffery Band 5: Verderbnis “
An einem kühlen Novemberabend wird auf dem Parkplatz eines Supermarktes in der Nähe von Bristol ein Auto entwendet. Mit Gewalt - und mit der elfjährigen Martha Bradley auf dem Rücksitz. Detective Inspector Jack Caffery hofft zunächst, dass der Täter nur das Auto und nicht das Kind wollte. Doch er wird eines Besseren belehrt. Martha Bradley bleibt verschwunden, spurlos. Und der Täter lässt ihn wissen, dass er es wieder tun wird. Jack Caffery spürt, dass er es mit einem sehr starken Gegner zu tun hat, einem Gegner, der ihn vorführt, ihm immer einen Schritt voraus ist. Und der seine Drohungen wahr macht. Denn kurz darauf entführt er ein weiteres kleines Mädchen. Und mit jeder Stunde, die vergeht, wird es unwahrscheinlicher, dass Caffery und sein Team die Kinder noch lebend retten können ...
Er beobachtet dich. Wartet auf dich. dann holt er dich!
Wahre Bosheit kommt von innen An einem kühlen Novemberabend wird auf dem Parkplatz eines Supermarktes in der Nähe von Bristol ein Auto entwendet. Mit Gewalt - und mit der elfjährigen Martha Bradley auf dem Rücksitz. Detective Inspector Jack Caffery hofft zunächst, dass der Täter nur das Auto und nicht das Kind wollte. Doch er wird eines Besseren belehrt. Martha Bradley bleibt verschwunden, spurlos. Und der Täter lässt ihn wissen, dass er es wieder tun wird. Jack Caffery spürt, dass er es mit einem sehr starken Gegner zu tun hat, einem Gegner, der ihn vorführt, ihm immer einen Schritt voraus ist. Und der seine Drohungen wahr macht. Denn kurz darauf entführt er ein weiteres kleines Mädchen. Und mit jeder Stunde, die vergeht, wird es unwahrscheinlicher, dass Caffery und sein Team die Kinder noch lebend retten können -Er beobachtet dich. Wartet auf dich. dann holt er dich!
Lese-Probe zu „Inspector Jack Caffery Band 5: Verderbnis “
Verderbnis von Mo Hayder 1
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Detective Inspector Jack Caffery von der Major Crime Investigation Unit, dem Dezernat für Schwerverbrechen bei der Polizei in Bristol, verbrachte zehn Minuten im Zentrum von Frome und nahm den Tatort in Augenschein. Er ging vorbei an Absperrgittern, blitzenden Blaulichtern, Flatterband und den Zuschauern, die mit ihren Samstagnachmittagseinkäufen in kleinen Gruppen zusammenstanden und die Hälse reckten, um einen Blick auf die Kriminaltechniker mit ihren Pinseln und Plastikbeuteln zu werfen. Geraume Zeit blieb er da stehen, wo alles passiert war, zwischen Ölflecken und zurückgelassenen Einkaufswagen in der Tiefgarage, und versuchte, den Ort in sich aufzunehmen und zu entscheiden, wie beunruhigt er sein sollte. Trotz seines Mantels fror er schon, als er dann in das winzige Büro der Aufsicht hinaufging, wo Ortspolizisten und Kriminaltechniker sich auf einem kleinen Farbmonitor die Aufnahmen der Überwachungskamera anschauten. Sie standen im Halbkreis und hielten Becher mit Automatenkaffee in den Händen, ein paar noch in ihren Anzügen aus Tyvek-Fleece mit zurückgeschlagenen Kapuzen. Alle blickten auf, als Caffery eintrat, aber er schüttelte den Kopf und spreizte die Hände, um anzudeuten, dass er keine Neuigkeiten brachte. Mit verschlossenen, ernsten Gesichtern wandten sie sich wieder dem Monitor zu.
Das Bild hatte die typische Körnigkeit eines einfachen Überwachungssystems, und die Kamera war auf die Einfahrtsrampe der Parkgarage gerichtet. Der undurchsichtige Zeitstempel wechselte von Schwarz nach Weiß und wieder zurück, und auf dem Bildschirm sah man Autos in Reih und Glied auf den markierten Parkflächen. Hinter ihnen fiel das Licht der Wintersonne hell über die Rampe. Am Heck eines der Autos - eines Toyota Yaris - stand eine Frau mit dem Rücken zur Kamera und lud ihre Einkäufe aus einem Einkaufswagen in den Kofferraum. Jack Caffery war ein Inspector mit der Erfahrung von achtzehn Jahren härtester Polizeiarbeit beim Morddezernat in einigen der brutalsten Innenstadtgebiete des Landes. Trotzdem war er machtlos gegen den scharfen Stich der Angst, den dieses Bild ihm versetzte, denn er wusste, was als Nächstes passieren würde.
Aus den Zeugenaussagen, die die örtliche Polizei zu Protokoll genommen hatte, kannte er schon eine ganze Menge Fakten. Die Frau hieß Rose Bradley. Sie war mit einem Geistlichen der Church of England verheiratet und Ende vierzig, aber auf dem Bildschirm sah sie älter aus. Sie trug eine kurze dunkle Jacke aus einem schweren Stoff - Chenille vielleicht -, einen wadenlangen Tweedrock und flache Pumps. Sie hatte kurz und adrett geschnittene Haare. Sie war eine Frau, die so vernünftig aussah, dass sie einen Schirm mitnehmen oder ein Tuch um den Kopf binden würde, wenn es regnete, aber es war ein klarer, kalter Tag, und sie trug keine Kopfbedeckung. Rose hatte den Nachmittag über in den Kleiderboutiquen im Zentrum von Frome herumgestöbert und ihren Ausflug mit den wöchentlichen Lebensmitteleinkäufen für die Familie bei Somerfield beendet. Bevor sie angefangen hatte, die Tüten in ihren Yaris zu laden, hatte sie Autoschlüssel und Parkhausticket auf den Vordersitz des Wagens gelegt.
Das Sonnenlicht hinter ihr flackerte, und sie hob den Kopf und sah einen Mann, der schnell die Rampe heruntergelaufen kam. Er war groß und breitschultrig und trug Jeans und eine Steppjacke. Über den Kopf hatte er eine Gummimaske gestülpt: eine Santa-Claus-Maske. Für Caffery war das gespenstischer als alles andere - diese Gummimaske, die wippte, als der Mann auf Rose zurannte. Das Grinsen veränderte sich nicht, verblasste nicht, als er näher kam.
»Er hat drei Worte gesagt.« Der Inspector vom lokalen Revier - ein großer, streng aussehender Mann in Uniform, der, nach seinen rot geränderten Nasenlöchern zu urteilen, ebenfalls draußen in der Kälte gestanden hatte - deutete mit dem Kopf auf den Monitor. »Genau hier - als er bei ihr ankommt. Er sagt: ›Weg da, Schlampe.‹ Sie hat die Stimme nicht erkannt, und sie weiß nicht, ob er mit Akzent sprach oder nicht, weil er geschrien hat.«
Der Mann packte Rose beim Arm und schleuderte sie weg vom Wagen. Ihr rechter Arm flog in die Höhe, eine Kette oder ein Armband zerriss, und Perlen flogen durch die Luft und funkelten im Licht. Sie prallte mit der Hüfte gegen den Kofferraum des Nachbarwagens, und ihr Oberkörper schnellte seitwärts darüber hinweg, als wäre er aus Gummi. Ihr Ellbogen bekam Kontakt mit dem Wagendach, sodass sie wie eine Peitschenschnur vom Wagen zurückflog und auf den Knien landete. Inzwischen saß der Mann mit der Maske auf dem Fahrersitz des Yaris. Rose sah, was er tat, und rappelte sich hoch. Sie erreichte das Seitenfenster und zerrte panisch am Türgriff, als der Mann den Schlüssel ins Zündschloss schob. Ein kleiner Ruck ging durch den Wagen, als er die Handbremse löste und dann zurücksetzte. Rose stolperte daneben her; halb fiel sie, halb wurde sie mitgeschleift, und dann bremste der Mann jäh, schaltete und schoss mit durchdrehenden Reifen vorwärts. Roses Hand rutschte vom Türgriff, und sie blieb zurück und stürzte schwerfällig, rollte einmal über sich selbst und blieb mit ungelenk verdrehten Armen und Beinen liegen. Sie kam gleich wieder zu sich und hob den Kopf gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Wagen in Richtung Ausfahrt raste.
»Was dann?«, fragte Caffery.
»Nicht mehr viel. Wir haben ihn noch auf einer anderen Kamera.« Der Inspector richtete eine Fernbedienung auf den Digitalrekorder und klickte sich durch die Aufzeichnungen der verschiedenen Kameras. »Hier - wie er die Tiefgarage verlässt. Er benutzt ihr Ticket für die Schranke. Aber in dieser Übertragung ist das Bild nicht so gut.«
Auf dem Monitor sah man den Yaris von hinten. Die Bremslichter leuchteten auf, als er vor der Schranke langsamer fuhr. Das Fahrerfenster glitt herunter, der Mann streckte die Hand heraus und schob das Ticket in den Schlitz. Nach einer kurzen Verzögerung öffnete sich die Schranke. Die Bremslichter erloschen, und der Yaris fuhr davon.
»An der Schranke sind nirgends Abdrücke«, sagte der Inspector. »Er hat Handschuhe getragen. Sehen Sie sie?«
»Stoppen Sie hier«, sagte Caffery.
Der Inspector hielt das Bild an. Caffery beugte sich näher zum Monitor herunter und drehte den Kopf zur Seite, um das Rückfenster über dem beleuchteten Nummernschild zu betrachten. Als der Fall der MCIU gemeldet wurde, hatte der Superintendent des Dezernats, ein unnachsichtiger Scheißkerl, der eine alte Frau an den Fußboden nageln würde, wenn sie Informationen hätte, die seine Aufklärungsrate verbessern könnten, Caffery aufgetragen, als Erstes festzustellen, ob die Anzeige zutreffend war oder nicht. Caffery suchte die Schatten und Spiegelungen auf der Heckscheibe ab. Er sah etwas auf dem Rücksitz. Etwas Helles, Verschwommenes.
»Ist sie das?«
»Ja.«
»Sind Sie sicher?«
Der Inspector drehte sich um und schaute ihn lange an, als vermutete er hier einen Test. »Ja«, sagte er langsam. »Warum?«
Caffery antwortete nicht. Er würde nicht laut sagen, dass der Superintendent beunruhigt war, weil es da draußen schon so oft vorgekommen war, dass irgendein Arschgesicht ein Kind auf dem Rücksitz erfunden hatte, wenn ihm das Auto gehijackt worden war - in der Annahme, dass die Polizei dann mit größerem Engagement nach dem Wagen fahnden würde. So was kam vor. Aber es sah nicht so aus, als ob Rose Bradley so etwas im Sinn hätte.
»Ich will sie noch mal sehen. Vorher.«
Der Inspector richtete die Fernbedienung auf den Monitor und zappte durch das Menü zum vorhergehenden Clip und bis zu dem Augenblick, der neunzig Sekunden vor dem Angriff auf Rose lag. Die Parketage war leer. Nur das Sonnenlicht im Eingang und die Autos. Als der Zeitstempel auf 16.31 Uhr sprang, öffnete sich die Tür zum Supermarkt, und Rose Bradley schob ihren Einkaufswagen heraus. Neben ihr ging ein kleines Mädchen in einem braunen Dufflecoat, blass und mit blonder Ponyfrisur. Sie trug pastellfarbene Spangenschuhe und eine rosa Strumpfhose und hatte die Hände in die Taschen geschoben. Rose schloss den Yaris auf, und das kleine Mädchen öffnete die hintere Seitentür und kletterte hinein. Rose schloss die Tür hinter ihr, legte Schlüssel und Ticket auf den Vordersitz und ging zum Kofferraum.
»Okay. Hier können Sie stoppen.«
Der Inspector schaltete den Monitor aus und richtete sich auf. »Major Crime ist hier. Wessen Fall ist das dann? Ihrer? Meiner?«
»Weder noch.« Caffery zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche. »So weit wird es gar nicht kommen.«
Der Inspector hob eine Braue. »Wer sagt das?«
»Die Statistik. Er hat einen Fehler gemacht - er wusste nicht, dass sie im Wagen saß. Bei der nächsten Gelegenheit schmeißt er sie raus. Wahrscheinlich hat er es schon getan, aber der Anruf kriecht noch durch die Kanäle.«
»Das ist fast drei Stunden her.«
Caffery hielt seinem Blick stand. Der Inspector hatte recht; die drei Stunden gingen über das hinaus, was die Statistik sagte, und das gefiel ihm nicht. Aber er war lange genug dabei, um mit solchen Ausnahmen zu rechnen, die es von Zeit zu Zeit gab. Mit Abweichungen, Regelwidrigkeiten. Ja, drei Stunden, das klang nicht gut, aber wahrscheinlich gab es einen einfachen Grund. Vielleicht versuchte der Kerl, weit genug wegzukommen, irgendeine Stelle zu finden, wo man ihn sicher nicht sehen würde, wenn er die Kleine absetzte.
»Sie taucht wieder auf. Ich gebe Ihnen mein Wort.« »Wirklich?«
»Wirklich.«
Caffery knöpfte sich beim Hinausgehen den Mantel zu. Er hätte in einer halben Stunde Feierabend, und es gab ein paar Dinge, die er für den Abend in Erwägung gezogen hatte - ein Pub-Quiz des Police Social Club in der Bar in Staple Hill, eine Fleischtombola im Coach and Horses in der Nähe seines Büros, einen Abend allein zu Hause. Eine trostlose Auswahl. Aber nicht so trostlos wie das, was er jetzt tun musste. Denn jetzt musste er die Familie Bradley aufsuchen und mit ihr sprechen. Musste feststellen, ob es - abgesehen von einer statistischen Unregelmäßigkeit - noch einen Grund gab, weshalb ihre jüngere Tochter Martha noch nicht wieder da war.
2
Es war halb sieben, als er in der Siedlung nahe dem Dörfchen Oakhill in den Mendips ankam, einer halbwegs schicken Wohnanlage für leitende Angestellte, die vor ungefähr zwanzig Jahren erbaut worden war, mit einer breiten Straße, die hier endete, und großen, mit Lorbeer- und Eibenhecken umgrenzten Grundstücken auf dem Hügelhang. Das Haus sah nicht aus, wie er es bei einem Pfarrhaus erwartet hätte. Er hatte sich ein einzelnes Gebäude vorgestellt, mit Glyzinen, einem Garten und steinernen Torpfosten, in die »The Vicarage« eingemeißelt war. Stattdessen sah er eine Doppelhaushälfte mit einer geteerten Einfahrt, dekorativ verkleideten Kaminen und PVC-Fenstern. Er hielt vor dem Haus und stellte den Motor ab. Dies war der Teil seiner Arbeit, bei dem er innerlich erstarrte: wenn er den Opfern gegenübertreten musste. Einen Moment lang erwog er, den Weg zur Haustür nicht zu betreten. Nicht anzuklopfen. Einfach umzukehren und zu verschwinden.
Die polizeiliche Familienbetreuerin, die den Bradleys zugewiesen worden war, öffnete die Tür. Sie war eine große Frau um die dreißig mit einer glänzend schwarzen Pagenfrisur. Sie trug flache Schuhe unter einer weit ausgestellten Hose und hatte eine gebeugte Haltung, als wäre die Decke zu niedrig. Vielleicht machte ihre Größe sie befangen.
»Ich habe ihnen gesagt, von welchem Dezernat Sie kommen.« Sie trat einen Schritt zurück, damit er eintreten konnte. »Nicht weil ich ihnen Angst machen wollte, sondern damit sie wissen, dass wir es ernst nehmen. Und ich habe ihnen gesagt, dass Sie noch nichts Neues wissen. Dass Sie nur noch ein paar Fragen stellen wollen.«
»Wie nehmen sie es auf?«
»Was glauben Sie?«
Er zuckte die Achseln. »Stimmt. Dumme Frage.«
Sie schloss die Tür und musterte Caffery eindringlich. »Ich habe von Ihnen gehört. Ich weiß Bescheid über Sie.«
Es war warm im Haus, und Caffery zog den Mantel aus. Er fragte die Familienbetreuerin nicht, was sie über ihn wusste und ob es gut oder schlecht war. Er war es gewohnt, einem gewissen Typ Frau gegenüber wachsam zu sein. Irgendwie hatte er es geschafft, einen gewissen Ruf von seiner alten Stelle in London den weiten Weg bis hierher ins West Country mitzuschleppen. Das war ein Teil dessen, was dafür sorgte, dass er einsam blieb. Ein Teil dessen, was ihn veranlasste, sich unsinnige Dinge für seine Abende vorzunehmen, eine Fleischtombola zum Beispiel oder ein Pub-Quiz der Polizei.
»Wo sind sie?«
»In der Küche.« Mit dem Fuß schob sie eine Zugluftrolle vor den unteren Türspalt. Es war kalt draußen. Eisig. »Aber kommen Sie hier herein. Ich will Ihnen erst die Fotos zeigen.«
Die Familienbetreuerin führte ihn in ein Nebenzimmer mit halb geschlossenen Vorhängen. Die Möbel waren von guter Qualität, aber schäbig. An einer Wand stand ein Klavier aus dunklem Holz, ein Fernseher war in einem Intarsienschrank untergebracht, und auf zwei verschossenen Sofas lagen Decken, die aussahen wie zusammengenähte alte Navajo-Webereien. Alles hier - Teppiche, Wände, Möbel - wirkte verschlissen von jahrelanger Benutzung durch Kinder und Tiere. Auf einem der Sofas lagen zwei Hunde, ein schwarz-weißer Collie und ein Spaniel. Beide hoben den Kopf und starrten Caffery an. Wieder wurde er gemustert. Wieder wollte jemand wissen, was, zum Teufel, er vorhatte.
Vor einem niedrigen Tisch blieb er stehen. Etwa zwanzig Fotos lagen dort ausgebreitet. Sie stammten aus einem Album, und in ihrer Hast hatte die Familie die Klebeecken mit herausgerissen. Martha war klein und blass, und ihr weißblondes Haar war zu einer Ponyfrisur geschnitten. Sie trug eine Brille - eine, für die ein Kind gehänselt wurde. Eine weitverbreitete Meinung in Ermittlerkreisen besagte, dass eines der wichtigsten Dinge bei der Suche nach einem vermissten Kind darin bestehe, das richtige Foto für diese Suche auszuwählen. Es müsse im Sinn einer schnellen Identifizierung charakteristisch sein, aber das Kind auch sympathisch machen. Mit der Fingerspitze schob er die Bilder hin und her. Es waren Schulfotos, Ferienfotos, Geburtstagspartyfotos. Bei einem hielt er inne. Martha trug ein melonenfarbenes T-Shirt, und ihr Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr Gesicht umrahmten. Der Himmel hinter ihr war blau, und in der Ferne sah man baumbewachsene Hügel. Der Aussicht nach hatte man es draußen in einem Garten der Siedlung aufgenommen. Er drehte es herum, damit die Familienbetreuerin es betrachten konnte. »Haben Sie das hier ausgesucht?«
Sie nickte. »Ich habe es an die Presseabteilung gemailt. Ist es das Richtige?«
»Ich hätte es auch genommen.«
»Möchten Sie jetzt zu ihnen?«
Er seufzte. Beäugte die Tür, auf die sie deutete. Was er jetzt tun musste, hasste er. Es war, als stünde er vor der Tür zu einem Löwenkäfig. Im Umgang mit den Opfern wusste er nie, wie er das richtige Gleichgewicht zwischen Professionalität und Mitgefühl finden sollte. »Na, kommen Sie. Bringen wir's hinter uns.«
Er trat in die Küche, und die drei Mitglieder der Familie Bradley hörten sofort auf mit dem, was sie gerade machten, und sahen ihm erwartungsvoll entgegen. »Nichts Neues.« Er hob beide Hände. »Ich habe nichts Neues.«
Sie atmeten unisono aus und sanken wieder in ihre kläglich gebeugte Haltung zurück. Im Geist glich er sie mit den Informationen ab, die er auf dem Revier Frome bekommen hatte: Da an der Spüle stand Reverend Jonathan Bradley, Mitte fünfzig, groß und mit dunkelblondem Haar, das dicht und wellig über der hohen Stirn nach hinten gekämmt war. Er hatte eine breite, gerade Nase, die über einem weißen Stehkragen genauso selbstbewusst aussehen würde, wie sie es über dem traubenblauen Sweatshirt und der Jeans tat, die er jetzt trug. Unter der Abbildung einer Harfe auf der Brust des Sweatshirts stand das Wort »Iona«.
Philippa, die ältere Tochter der Bradleys, saß am Tisch. Sie war der Inbegriff des rebellischen Teenagers mit ihrem Nasenring und den schwarz gefärbten Haaren. Im wirklichen Leben würde sie sich hinten im Zimmer auf dem Sofa fläzen, ein Bein über die Armlehne gelegt, einen Finger im Mund, und ausdruckslos auf den Fernseher starren. Aber das tat sie nicht. Sie saß da, die Hände zwischen die Knie geklemmt, mit hochgezogenen Schultern und einem verstörten Gesichtsausdruck.
Und da war Rose, ebenfalls am Tisch. Als sie das Haus am Morgen verlassen hatte, musste sie ausgesehen haben wie eine Frau auf dem Weg zur Gemeinderatssitzung, mit Perlen und gut frisiertem Haar. Aber ein Gesicht konnte sich innerhalb von Stunden schrecklich verändern, das wusste er aus Erfahrung, und jetzt sah Rose in ihrer farblosen Strickjacke und dem Polyesterkleid aus, als wäre sie schon halb in der Klapsmühle. Ihr dünnes blondes Haar klebte feucht am Kopf. Sie hatte rötliche Schwellungen unter den Augen und ein Krankenhauspflaster auf einer Seite des Gesichts. Außerdem hatte sie Beruhigungsmittel bekommen; das sah er an der unnatürlichen Schlaffheit ihres Mundes. Zu dumm, er hätte sie gern bei klarem Verstand gehabt.
»Wir sind froh, dass Sie hier sind.« Jonathan Bradley versuchte zu lächeln. Er kam herüber und berührte Cafferys Arm. »Setzen Sie sich. Ich gieße Ihnen einen Tee ein - wir haben eine Kanne fertig.«
Die Küche wirkte abgewohnt wie der Rest des Hauses, aber es war warm hier. Auf dem Fenstersims über der Spüle stand eine Reihe von Geburtstagskarten. Ein kleines Regalbord neben der Tür war voll von Geschenkpäckchen. Eine Torte auf einem Abkühlgitter wartete auf den Zuckerguss. Mitten auf dem Tisch lagen drei Handys, als hätte die Familie sie dort nebeneinander aufgereiht, weil eins davon jeden Augenblick klingeln könnte. Caffery wählte einen Stuhl Rose gegenüber, setzte sich und lächelte ihr zu. Sie sah ihn an und zuckte kurz mit den Mundwinkeln. Vom Weinen waren auf ihren Wangen Äderchen geplatzt. Ihre rot geränderten Augenlider hingen schlaff herab. Manchmal sahen die Augen von Schädelverletzten so aus. Er würde sich bei der Familienbetreuerin erkundigen, woher die Tranquilizer stammten. Ob es im Hintergrund einen Arzt gab, oder ob Rose einfach die Hausapotheke geplündert hatte.
»Morgen hat sie Geburtstag«, flüsterte sie. »Werden Sie sie zu ihrem Geburtstag nach Hause zurückbringen?«
»Mrs. Bradley«, sagte er, »ich möchte Ihnen erklären, warum ich hier bin, und ich möchte es tun, ohne Sie zu erschrecken. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Mann, der Ihnen den Wagen gestohlen hat, in dem Augenblick, als er begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte - dass Martha auf dem Rücksitz saß -, angefangen hat zu planen, sie wieder freizulassen. Vergessen Sie nicht, er hat ebenfalls Angst. Er wollte das Auto, aber keine Anklage wegen Kindesentführung zusätzlich zu der wegen Carjackings. So ist es immer in Fällen wie diesem. In meinem Büro gibt es Literatur darüber. Ich habe sie gelesen, bevor ich herkam, und ich kann Ihnen Kopien davon anfertigen lassen, wenn Sie wollen. Andererseits ...«
»Ja? Andererseits?«
»Mein Dezernat muss den Fall als Kindesentführung behandeln, weil das in unserer Verantwortung liegt. Es ist völlig normal, und es bedeutet nicht, dass wir beunruhigt sind.« Er spürte, dass die Familienbetreuerin ihn beobachtete, während er redete. Er wusste, dass die Familienbetreuer manche Wörter mit roten Fähnchen markierten, wenn sie mit Familien zu tun hatten, die von einem Gewaltverbrechen betroffen waren. Deshalb benutzte er den Ausdruck »Kindesentführung« behutsam und sprach ihn in dem leichten, kaum hörbaren Tonfall aus, den die Generation seiner Eltern für ein Wort wie »Krebs« benutzt hätte. »Alle unsere Kennzeichenerkennungseinheiten sind informiert. Sie haben automatische Erkennungskameras, die auf allen größeren Straßen nach dem Kennzeichen Ihres Wagens suchen. Wenn er eine der Hauptstraßen in dieser Gegend benutzt, werden wir ihn entdecken. Wir haben zusätzliche Teams zur Anwohnerbefragung zusammengestellt und eine Pressemitteilung herausgegeben, wodurch die regionale und wahrscheinlich auch überregionale Berichterstattung praktisch garantiert ist. Ja, wenn Sie jetzt Ihren Fernseher einschalten, werden Sie es wahrscheinlich in den Nachrichten sehen. Ich habe veranlasst, dass einer unserer Techniker hierherkommt. Er braucht Zugang zu Ihren Telefonen.«
»Für den Fall, dass jemand anruft?« Rose sah ihn verzweifelt an. »Wollen Sie das damit sagen - dass jemand uns anrufen könnte? Das klingt, als ob sie wirklich annehmen, sie ist entführt worden.«
»Bitte, Mrs. Bradley, ich habe gemeint, was ich gesagt habe: Das alles ist reine Routine. Wirklich reine Routine. Denken Sie nicht, dass etwas Schlimmes dahintersteckt oder wir irgendwelche Theorien verfolgen, denn es gibt wirklich keine. Ich glaube nicht einen Augenblick lang, dass diese Ermittlung in der Zuständigkeit der Major Crime Unit bleiben wird, denn ich bin davon überzeugt, dass Martha morgen an ihrem Geburtstag heil und gesund wieder da sein wird. Trotzdem muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen.« Er wühlte einen kleinen MP3-Rekorder aus der Innentasche und legte ihn neben die Telefone auf den Tisch. Das rote Licht blinkte. »Was Sie jetzt sagen, wird aufgezeichnet. Wie schon einmal. Ist das okay?«
»Ja. Es ist ...« Sie ließ den Satz unvollendet. Nach einer kurzen Pause blickte sie Caffery mit einem flackernden, Nachsicht heischenden Lächeln an, als hätte sie nicht nur inzwischen vergessen, wer er war, sondern auch, warum sie hier alle am Tisch saßen. »Ich meine - ja. Es ist in Ordnung.«
Jonathan Bradley schob Caffery einen Becher Tee hin und setzte sich neben Rose. »Wir haben darüber geredet und nachgedacht, warum wir noch nichts gehört haben.«
»Es ist noch sehr früh am Tag.«
»Aber wir haben eine Theorie«, sagte Rose. »Martha hat auf dem Rücksitz gekniet, als es passierte.«
Jonathan nickte. »Wir wissen nicht mehr, wie oft wir es ihr verboten haben, aber sie tut es immer wieder. Kaum ist sie im Wagen, lehnt sie sich über den Vordersitz und spielt am Radio herum. Sucht einen Sender, der ihr gefällt. Wir haben uns gedacht, dass er vielleicht so schnell weggefahren ist, dass sie zurückgeschleudert wurde - hinunter in den Fußraum, wo sie vielleicht mit dem Kopf aufgeschlagen ist. Vielleicht weiß er gar nicht, dass sie da ist. Sie könnte bewusstlos da unten liegen, und er fährt immer noch herum. Oder er hat den Wagen schon irgendwo abgestellt, und sie liegt noch drin, weiterhin bewusstlos.«
»Der Tank ist voll«, sagte Rose. »Ich habe auf dem Weg nach Bath getankt. Also könnte er schon weit weg sein, wissen Sie. Schrecklich weit.«
»Ich kann mir das nicht anhören.« Philippa schob ihren Stuhl zurück, lief zum Sofa und wühlte in den Taschen einer Jeansjacke. »Mum, Dad.« Sie zog eine Packung Benson & Hedges heraus, zeigte sie ihren Eltern und schüttelte sie hin und her. »Ich weiß, das ist weder der Ort noch der Augenblick dafür, aber ich rauche. Schon seit Monaten. Tut mir leid.«
Rose und Jonathan sahen ihr nach, als sie zur Hintertür ging. Keiner der beiden sagte etwas, als sie die Tür aufriss und mit einem Feuerzeug herumfummelte. Ihr Atem hing weiß in der kalten Abendluft. Weit hinten im Tal funkelten Lichter. Es war zu kalt für November, dachte Caffery. Viel zu kalt. Er spürte die Weite dieser Landschaft. Die Last von tausend kleinen Landstraßen, auf denen Martha ausgesetzt worden sein konnte. Ein Yaris war ein eher kleines Auto mit einem relativ großen Tank und einer beträchtlichen Reichweite - vielleicht bis zu fünfhundert Meilen -, aber Caffery glaubte nicht, dass der Carjacker einfach schnurgeradeaus gefahren war. Er stammte aus der Gegend - er hatte genau gewusst, wo die Straßenüberwachungskameras hingen. Er wäre viel zu nervös, um sein vertrautes Revier zu verlassen. Er würde sich immer noch in der Nähe aufhalten, irgendwo, wo er sich auskannte. Wahrscheinlich suchte er eine Stelle, die entlegen genug lag, um das Kind laufen zu lassen. Caffery zweifelte nicht daran, dass es so war, aber die verflossene Zeit pochte lautlos in seinem Schädel herum. Dreieinhalb Stunden. Inzwischen fast vier. Er rührte in seinem Tee. Betrachtete seinen Löffel, statt den Blick vor den Augen der Familie auf die Wanduhr zu richten.
»Und, Mr. Bradley«, sagte er, »ich höre, Sie sind der Gemeindepfarrer?«
»Ja. Ich war Schulleiter, aber vor drei Jahren bin ich ordiniert worden.«
»Sie machen den Eindruck einer glücklichen Familie.« »Das sind wir auch.«
»Sie leben im Rahmen Ihrer Verhältnisse? Wenn das keine unhöfliche Frage ist.«
Jonathan lächelte kurz und betrübt. »Ja. Durchaus im Rahmen unserer Verhältnisse, vielen Dank. Wir haben keine Schulden. Ich bin kein heimlicher Spieler oder Drogensüchtiger. Und wir haben niemanden verärgert. Wäre das Ihre nächste Frage?«
»Dad«, sagte Philippa leise. »Sei nicht so beschissen patzig.«
Er ignorierte seine Tochter. »Wenn Sie auf so was hinauswollen, Mr. Caffery, dann kann ich Ihnen versichern, dass Sie auf dem Holzweg sind. Es gibt keinen Grund, weshalb irgendjemand ein Interesse daran haben könnte, sie uns wegzunehmen. Nicht den geringsten. So eine Familie sind wir einfach nicht.«
»Ich verstehe, dass Sie frustriert sind. Ich möchte mir nur ein klareres Bild verschaffen.«
»Es gibt kein Bild. Es gibt kein Bild. Meine Tochter ist entführt worden, und wir warten darauf, dass Sie etwas unternehmen -« Er unterbrach sich, als hätte er plötzlich gemerkt, dass er brüllte. Schwer atmend lehnte er sich zurück, puterrot im Gesicht. »Es tut mir leid.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Müde sah er aus. Erledigt. »Es tut mir leid - wirklich. Ich wollte es nicht an Ihnen auslassen. Nur - Sie können sich einfach nicht vorstellen, was für ein Gefühl das ist.«
Ein paar Jahre zuvor, als er noch jung und hitzköpfig gewesen war, wäre Caffery über eine solche Bemerkung wütend geworden - über die Annahme, er könne nicht wissen, was für ein Gefühl das sei -, aber die Gnade des Alters half ihm, ruhig zu bleiben. Jonathan Bradley wusste nicht, was er da sagte, er hatte keine Ahnung - woher sollte er sie auch haben? -, und deshalb legte Caffery die Hände auf den Tisch. Flach. Um zu zeigen, wie ruhig er war. Wie gut er alles unter Kontrolle hatte. »Hören Sie, Mr. Bradley, Mrs. Bradley, niemand kann hundertprozentig sicher sein, und ich kann Ihnen nicht die Zukunft voraussagen, aber ich bin bereit, mich weit aus dem Fenster zu lehnen und zu sagen, ich habe das Gefühl - das starke Gefühl -, dass diese Sache gut ausgehen wird.«
»Du lieber Gott.« Eine Träne rann über Roses Gesicht. »Meinen Sie das ernst? Meinen Sie das wirklich ernst?«
»Das meine ich wirklich ernst. Tatsächlich ... « Er lächelte beruhigend - und dann sagte er einen der dümmsten Sätze seines Lebens. »Tatsächlich freue ich mich auf das Foto, auf dem Martha die Kerzen auf ihrer Torte auspustet. Ich hoffe doch, Sie schicken mir einen Abzug für meine Wand.«
Übersetzung: Rainer Schmidt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Detective Inspector Jack Caffery von der Major Crime Investigation Unit, dem Dezernat für Schwerverbrechen bei der Polizei in Bristol, verbrachte zehn Minuten im Zentrum von Frome und nahm den Tatort in Augenschein. Er ging vorbei an Absperrgittern, blitzenden Blaulichtern, Flatterband und den Zuschauern, die mit ihren Samstagnachmittagseinkäufen in kleinen Gruppen zusammenstanden und die Hälse reckten, um einen Blick auf die Kriminaltechniker mit ihren Pinseln und Plastikbeuteln zu werfen. Geraume Zeit blieb er da stehen, wo alles passiert war, zwischen Ölflecken und zurückgelassenen Einkaufswagen in der Tiefgarage, und versuchte, den Ort in sich aufzunehmen und zu entscheiden, wie beunruhigt er sein sollte. Trotz seines Mantels fror er schon, als er dann in das winzige Büro der Aufsicht hinaufging, wo Ortspolizisten und Kriminaltechniker sich auf einem kleinen Farbmonitor die Aufnahmen der Überwachungskamera anschauten. Sie standen im Halbkreis und hielten Becher mit Automatenkaffee in den Händen, ein paar noch in ihren Anzügen aus Tyvek-Fleece mit zurückgeschlagenen Kapuzen. Alle blickten auf, als Caffery eintrat, aber er schüttelte den Kopf und spreizte die Hände, um anzudeuten, dass er keine Neuigkeiten brachte. Mit verschlossenen, ernsten Gesichtern wandten sie sich wieder dem Monitor zu.
Das Bild hatte die typische Körnigkeit eines einfachen Überwachungssystems, und die Kamera war auf die Einfahrtsrampe der Parkgarage gerichtet. Der undurchsichtige Zeitstempel wechselte von Schwarz nach Weiß und wieder zurück, und auf dem Bildschirm sah man Autos in Reih und Glied auf den markierten Parkflächen. Hinter ihnen fiel das Licht der Wintersonne hell über die Rampe. Am Heck eines der Autos - eines Toyota Yaris - stand eine Frau mit dem Rücken zur Kamera und lud ihre Einkäufe aus einem Einkaufswagen in den Kofferraum. Jack Caffery war ein Inspector mit der Erfahrung von achtzehn Jahren härtester Polizeiarbeit beim Morddezernat in einigen der brutalsten Innenstadtgebiete des Landes. Trotzdem war er machtlos gegen den scharfen Stich der Angst, den dieses Bild ihm versetzte, denn er wusste, was als Nächstes passieren würde.
Aus den Zeugenaussagen, die die örtliche Polizei zu Protokoll genommen hatte, kannte er schon eine ganze Menge Fakten. Die Frau hieß Rose Bradley. Sie war mit einem Geistlichen der Church of England verheiratet und Ende vierzig, aber auf dem Bildschirm sah sie älter aus. Sie trug eine kurze dunkle Jacke aus einem schweren Stoff - Chenille vielleicht -, einen wadenlangen Tweedrock und flache Pumps. Sie hatte kurz und adrett geschnittene Haare. Sie war eine Frau, die so vernünftig aussah, dass sie einen Schirm mitnehmen oder ein Tuch um den Kopf binden würde, wenn es regnete, aber es war ein klarer, kalter Tag, und sie trug keine Kopfbedeckung. Rose hatte den Nachmittag über in den Kleiderboutiquen im Zentrum von Frome herumgestöbert und ihren Ausflug mit den wöchentlichen Lebensmitteleinkäufen für die Familie bei Somerfield beendet. Bevor sie angefangen hatte, die Tüten in ihren Yaris zu laden, hatte sie Autoschlüssel und Parkhausticket auf den Vordersitz des Wagens gelegt.
Das Sonnenlicht hinter ihr flackerte, und sie hob den Kopf und sah einen Mann, der schnell die Rampe heruntergelaufen kam. Er war groß und breitschultrig und trug Jeans und eine Steppjacke. Über den Kopf hatte er eine Gummimaske gestülpt: eine Santa-Claus-Maske. Für Caffery war das gespenstischer als alles andere - diese Gummimaske, die wippte, als der Mann auf Rose zurannte. Das Grinsen veränderte sich nicht, verblasste nicht, als er näher kam.
»Er hat drei Worte gesagt.« Der Inspector vom lokalen Revier - ein großer, streng aussehender Mann in Uniform, der, nach seinen rot geränderten Nasenlöchern zu urteilen, ebenfalls draußen in der Kälte gestanden hatte - deutete mit dem Kopf auf den Monitor. »Genau hier - als er bei ihr ankommt. Er sagt: ›Weg da, Schlampe.‹ Sie hat die Stimme nicht erkannt, und sie weiß nicht, ob er mit Akzent sprach oder nicht, weil er geschrien hat.«
Der Mann packte Rose beim Arm und schleuderte sie weg vom Wagen. Ihr rechter Arm flog in die Höhe, eine Kette oder ein Armband zerriss, und Perlen flogen durch die Luft und funkelten im Licht. Sie prallte mit der Hüfte gegen den Kofferraum des Nachbarwagens, und ihr Oberkörper schnellte seitwärts darüber hinweg, als wäre er aus Gummi. Ihr Ellbogen bekam Kontakt mit dem Wagendach, sodass sie wie eine Peitschenschnur vom Wagen zurückflog und auf den Knien landete. Inzwischen saß der Mann mit der Maske auf dem Fahrersitz des Yaris. Rose sah, was er tat, und rappelte sich hoch. Sie erreichte das Seitenfenster und zerrte panisch am Türgriff, als der Mann den Schlüssel ins Zündschloss schob. Ein kleiner Ruck ging durch den Wagen, als er die Handbremse löste und dann zurücksetzte. Rose stolperte daneben her; halb fiel sie, halb wurde sie mitgeschleift, und dann bremste der Mann jäh, schaltete und schoss mit durchdrehenden Reifen vorwärts. Roses Hand rutschte vom Türgriff, und sie blieb zurück und stürzte schwerfällig, rollte einmal über sich selbst und blieb mit ungelenk verdrehten Armen und Beinen liegen. Sie kam gleich wieder zu sich und hob den Kopf gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Wagen in Richtung Ausfahrt raste.
»Was dann?«, fragte Caffery.
»Nicht mehr viel. Wir haben ihn noch auf einer anderen Kamera.« Der Inspector richtete eine Fernbedienung auf den Digitalrekorder und klickte sich durch die Aufzeichnungen der verschiedenen Kameras. »Hier - wie er die Tiefgarage verlässt. Er benutzt ihr Ticket für die Schranke. Aber in dieser Übertragung ist das Bild nicht so gut.«
Auf dem Monitor sah man den Yaris von hinten. Die Bremslichter leuchteten auf, als er vor der Schranke langsamer fuhr. Das Fahrerfenster glitt herunter, der Mann streckte die Hand heraus und schob das Ticket in den Schlitz. Nach einer kurzen Verzögerung öffnete sich die Schranke. Die Bremslichter erloschen, und der Yaris fuhr davon.
»An der Schranke sind nirgends Abdrücke«, sagte der Inspector. »Er hat Handschuhe getragen. Sehen Sie sie?«
»Stoppen Sie hier«, sagte Caffery.
Der Inspector hielt das Bild an. Caffery beugte sich näher zum Monitor herunter und drehte den Kopf zur Seite, um das Rückfenster über dem beleuchteten Nummernschild zu betrachten. Als der Fall der MCIU gemeldet wurde, hatte der Superintendent des Dezernats, ein unnachsichtiger Scheißkerl, der eine alte Frau an den Fußboden nageln würde, wenn sie Informationen hätte, die seine Aufklärungsrate verbessern könnten, Caffery aufgetragen, als Erstes festzustellen, ob die Anzeige zutreffend war oder nicht. Caffery suchte die Schatten und Spiegelungen auf der Heckscheibe ab. Er sah etwas auf dem Rücksitz. Etwas Helles, Verschwommenes.
»Ist sie das?«
»Ja.«
»Sind Sie sicher?«
Der Inspector drehte sich um und schaute ihn lange an, als vermutete er hier einen Test. »Ja«, sagte er langsam. »Warum?«
Caffery antwortete nicht. Er würde nicht laut sagen, dass der Superintendent beunruhigt war, weil es da draußen schon so oft vorgekommen war, dass irgendein Arschgesicht ein Kind auf dem Rücksitz erfunden hatte, wenn ihm das Auto gehijackt worden war - in der Annahme, dass die Polizei dann mit größerem Engagement nach dem Wagen fahnden würde. So was kam vor. Aber es sah nicht so aus, als ob Rose Bradley so etwas im Sinn hätte.
»Ich will sie noch mal sehen. Vorher.«
Der Inspector richtete die Fernbedienung auf den Monitor und zappte durch das Menü zum vorhergehenden Clip und bis zu dem Augenblick, der neunzig Sekunden vor dem Angriff auf Rose lag. Die Parketage war leer. Nur das Sonnenlicht im Eingang und die Autos. Als der Zeitstempel auf 16.31 Uhr sprang, öffnete sich die Tür zum Supermarkt, und Rose Bradley schob ihren Einkaufswagen heraus. Neben ihr ging ein kleines Mädchen in einem braunen Dufflecoat, blass und mit blonder Ponyfrisur. Sie trug pastellfarbene Spangenschuhe und eine rosa Strumpfhose und hatte die Hände in die Taschen geschoben. Rose schloss den Yaris auf, und das kleine Mädchen öffnete die hintere Seitentür und kletterte hinein. Rose schloss die Tür hinter ihr, legte Schlüssel und Ticket auf den Vordersitz und ging zum Kofferraum.
»Okay. Hier können Sie stoppen.«
Der Inspector schaltete den Monitor aus und richtete sich auf. »Major Crime ist hier. Wessen Fall ist das dann? Ihrer? Meiner?«
»Weder noch.« Caffery zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche. »So weit wird es gar nicht kommen.«
Der Inspector hob eine Braue. »Wer sagt das?«
»Die Statistik. Er hat einen Fehler gemacht - er wusste nicht, dass sie im Wagen saß. Bei der nächsten Gelegenheit schmeißt er sie raus. Wahrscheinlich hat er es schon getan, aber der Anruf kriecht noch durch die Kanäle.«
»Das ist fast drei Stunden her.«
Caffery hielt seinem Blick stand. Der Inspector hatte recht; die drei Stunden gingen über das hinaus, was die Statistik sagte, und das gefiel ihm nicht. Aber er war lange genug dabei, um mit solchen Ausnahmen zu rechnen, die es von Zeit zu Zeit gab. Mit Abweichungen, Regelwidrigkeiten. Ja, drei Stunden, das klang nicht gut, aber wahrscheinlich gab es einen einfachen Grund. Vielleicht versuchte der Kerl, weit genug wegzukommen, irgendeine Stelle zu finden, wo man ihn sicher nicht sehen würde, wenn er die Kleine absetzte.
»Sie taucht wieder auf. Ich gebe Ihnen mein Wort.« »Wirklich?«
»Wirklich.«
Caffery knöpfte sich beim Hinausgehen den Mantel zu. Er hätte in einer halben Stunde Feierabend, und es gab ein paar Dinge, die er für den Abend in Erwägung gezogen hatte - ein Pub-Quiz des Police Social Club in der Bar in Staple Hill, eine Fleischtombola im Coach and Horses in der Nähe seines Büros, einen Abend allein zu Hause. Eine trostlose Auswahl. Aber nicht so trostlos wie das, was er jetzt tun musste. Denn jetzt musste er die Familie Bradley aufsuchen und mit ihr sprechen. Musste feststellen, ob es - abgesehen von einer statistischen Unregelmäßigkeit - noch einen Grund gab, weshalb ihre jüngere Tochter Martha noch nicht wieder da war.
2
Es war halb sieben, als er in der Siedlung nahe dem Dörfchen Oakhill in den Mendips ankam, einer halbwegs schicken Wohnanlage für leitende Angestellte, die vor ungefähr zwanzig Jahren erbaut worden war, mit einer breiten Straße, die hier endete, und großen, mit Lorbeer- und Eibenhecken umgrenzten Grundstücken auf dem Hügelhang. Das Haus sah nicht aus, wie er es bei einem Pfarrhaus erwartet hätte. Er hatte sich ein einzelnes Gebäude vorgestellt, mit Glyzinen, einem Garten und steinernen Torpfosten, in die »The Vicarage« eingemeißelt war. Stattdessen sah er eine Doppelhaushälfte mit einer geteerten Einfahrt, dekorativ verkleideten Kaminen und PVC-Fenstern. Er hielt vor dem Haus und stellte den Motor ab. Dies war der Teil seiner Arbeit, bei dem er innerlich erstarrte: wenn er den Opfern gegenübertreten musste. Einen Moment lang erwog er, den Weg zur Haustür nicht zu betreten. Nicht anzuklopfen. Einfach umzukehren und zu verschwinden.
Die polizeiliche Familienbetreuerin, die den Bradleys zugewiesen worden war, öffnete die Tür. Sie war eine große Frau um die dreißig mit einer glänzend schwarzen Pagenfrisur. Sie trug flache Schuhe unter einer weit ausgestellten Hose und hatte eine gebeugte Haltung, als wäre die Decke zu niedrig. Vielleicht machte ihre Größe sie befangen.
»Ich habe ihnen gesagt, von welchem Dezernat Sie kommen.« Sie trat einen Schritt zurück, damit er eintreten konnte. »Nicht weil ich ihnen Angst machen wollte, sondern damit sie wissen, dass wir es ernst nehmen. Und ich habe ihnen gesagt, dass Sie noch nichts Neues wissen. Dass Sie nur noch ein paar Fragen stellen wollen.«
»Wie nehmen sie es auf?«
»Was glauben Sie?«
Er zuckte die Achseln. »Stimmt. Dumme Frage.«
Sie schloss die Tür und musterte Caffery eindringlich. »Ich habe von Ihnen gehört. Ich weiß Bescheid über Sie.«
Es war warm im Haus, und Caffery zog den Mantel aus. Er fragte die Familienbetreuerin nicht, was sie über ihn wusste und ob es gut oder schlecht war. Er war es gewohnt, einem gewissen Typ Frau gegenüber wachsam zu sein. Irgendwie hatte er es geschafft, einen gewissen Ruf von seiner alten Stelle in London den weiten Weg bis hierher ins West Country mitzuschleppen. Das war ein Teil dessen, was dafür sorgte, dass er einsam blieb. Ein Teil dessen, was ihn veranlasste, sich unsinnige Dinge für seine Abende vorzunehmen, eine Fleischtombola zum Beispiel oder ein Pub-Quiz der Polizei.
»Wo sind sie?«
»In der Küche.« Mit dem Fuß schob sie eine Zugluftrolle vor den unteren Türspalt. Es war kalt draußen. Eisig. »Aber kommen Sie hier herein. Ich will Ihnen erst die Fotos zeigen.«
Die Familienbetreuerin führte ihn in ein Nebenzimmer mit halb geschlossenen Vorhängen. Die Möbel waren von guter Qualität, aber schäbig. An einer Wand stand ein Klavier aus dunklem Holz, ein Fernseher war in einem Intarsienschrank untergebracht, und auf zwei verschossenen Sofas lagen Decken, die aussahen wie zusammengenähte alte Navajo-Webereien. Alles hier - Teppiche, Wände, Möbel - wirkte verschlissen von jahrelanger Benutzung durch Kinder und Tiere. Auf einem der Sofas lagen zwei Hunde, ein schwarz-weißer Collie und ein Spaniel. Beide hoben den Kopf und starrten Caffery an. Wieder wurde er gemustert. Wieder wollte jemand wissen, was, zum Teufel, er vorhatte.
Vor einem niedrigen Tisch blieb er stehen. Etwa zwanzig Fotos lagen dort ausgebreitet. Sie stammten aus einem Album, und in ihrer Hast hatte die Familie die Klebeecken mit herausgerissen. Martha war klein und blass, und ihr weißblondes Haar war zu einer Ponyfrisur geschnitten. Sie trug eine Brille - eine, für die ein Kind gehänselt wurde. Eine weitverbreitete Meinung in Ermittlerkreisen besagte, dass eines der wichtigsten Dinge bei der Suche nach einem vermissten Kind darin bestehe, das richtige Foto für diese Suche auszuwählen. Es müsse im Sinn einer schnellen Identifizierung charakteristisch sein, aber das Kind auch sympathisch machen. Mit der Fingerspitze schob er die Bilder hin und her. Es waren Schulfotos, Ferienfotos, Geburtstagspartyfotos. Bei einem hielt er inne. Martha trug ein melonenfarbenes T-Shirt, und ihr Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr Gesicht umrahmten. Der Himmel hinter ihr war blau, und in der Ferne sah man baumbewachsene Hügel. Der Aussicht nach hatte man es draußen in einem Garten der Siedlung aufgenommen. Er drehte es herum, damit die Familienbetreuerin es betrachten konnte. »Haben Sie das hier ausgesucht?«
Sie nickte. »Ich habe es an die Presseabteilung gemailt. Ist es das Richtige?«
»Ich hätte es auch genommen.«
»Möchten Sie jetzt zu ihnen?«
Er seufzte. Beäugte die Tür, auf die sie deutete. Was er jetzt tun musste, hasste er. Es war, als stünde er vor der Tür zu einem Löwenkäfig. Im Umgang mit den Opfern wusste er nie, wie er das richtige Gleichgewicht zwischen Professionalität und Mitgefühl finden sollte. »Na, kommen Sie. Bringen wir's hinter uns.«
Er trat in die Küche, und die drei Mitglieder der Familie Bradley hörten sofort auf mit dem, was sie gerade machten, und sahen ihm erwartungsvoll entgegen. »Nichts Neues.« Er hob beide Hände. »Ich habe nichts Neues.«
Sie atmeten unisono aus und sanken wieder in ihre kläglich gebeugte Haltung zurück. Im Geist glich er sie mit den Informationen ab, die er auf dem Revier Frome bekommen hatte: Da an der Spüle stand Reverend Jonathan Bradley, Mitte fünfzig, groß und mit dunkelblondem Haar, das dicht und wellig über der hohen Stirn nach hinten gekämmt war. Er hatte eine breite, gerade Nase, die über einem weißen Stehkragen genauso selbstbewusst aussehen würde, wie sie es über dem traubenblauen Sweatshirt und der Jeans tat, die er jetzt trug. Unter der Abbildung einer Harfe auf der Brust des Sweatshirts stand das Wort »Iona«.
Philippa, die ältere Tochter der Bradleys, saß am Tisch. Sie war der Inbegriff des rebellischen Teenagers mit ihrem Nasenring und den schwarz gefärbten Haaren. Im wirklichen Leben würde sie sich hinten im Zimmer auf dem Sofa fläzen, ein Bein über die Armlehne gelegt, einen Finger im Mund, und ausdruckslos auf den Fernseher starren. Aber das tat sie nicht. Sie saß da, die Hände zwischen die Knie geklemmt, mit hochgezogenen Schultern und einem verstörten Gesichtsausdruck.
Und da war Rose, ebenfalls am Tisch. Als sie das Haus am Morgen verlassen hatte, musste sie ausgesehen haben wie eine Frau auf dem Weg zur Gemeinderatssitzung, mit Perlen und gut frisiertem Haar. Aber ein Gesicht konnte sich innerhalb von Stunden schrecklich verändern, das wusste er aus Erfahrung, und jetzt sah Rose in ihrer farblosen Strickjacke und dem Polyesterkleid aus, als wäre sie schon halb in der Klapsmühle. Ihr dünnes blondes Haar klebte feucht am Kopf. Sie hatte rötliche Schwellungen unter den Augen und ein Krankenhauspflaster auf einer Seite des Gesichts. Außerdem hatte sie Beruhigungsmittel bekommen; das sah er an der unnatürlichen Schlaffheit ihres Mundes. Zu dumm, er hätte sie gern bei klarem Verstand gehabt.
»Wir sind froh, dass Sie hier sind.« Jonathan Bradley versuchte zu lächeln. Er kam herüber und berührte Cafferys Arm. »Setzen Sie sich. Ich gieße Ihnen einen Tee ein - wir haben eine Kanne fertig.«
Die Küche wirkte abgewohnt wie der Rest des Hauses, aber es war warm hier. Auf dem Fenstersims über der Spüle stand eine Reihe von Geburtstagskarten. Ein kleines Regalbord neben der Tür war voll von Geschenkpäckchen. Eine Torte auf einem Abkühlgitter wartete auf den Zuckerguss. Mitten auf dem Tisch lagen drei Handys, als hätte die Familie sie dort nebeneinander aufgereiht, weil eins davon jeden Augenblick klingeln könnte. Caffery wählte einen Stuhl Rose gegenüber, setzte sich und lächelte ihr zu. Sie sah ihn an und zuckte kurz mit den Mundwinkeln. Vom Weinen waren auf ihren Wangen Äderchen geplatzt. Ihre rot geränderten Augenlider hingen schlaff herab. Manchmal sahen die Augen von Schädelverletzten so aus. Er würde sich bei der Familienbetreuerin erkundigen, woher die Tranquilizer stammten. Ob es im Hintergrund einen Arzt gab, oder ob Rose einfach die Hausapotheke geplündert hatte.
»Morgen hat sie Geburtstag«, flüsterte sie. »Werden Sie sie zu ihrem Geburtstag nach Hause zurückbringen?«
»Mrs. Bradley«, sagte er, »ich möchte Ihnen erklären, warum ich hier bin, und ich möchte es tun, ohne Sie zu erschrecken. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Mann, der Ihnen den Wagen gestohlen hat, in dem Augenblick, als er begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte - dass Martha auf dem Rücksitz saß -, angefangen hat zu planen, sie wieder freizulassen. Vergessen Sie nicht, er hat ebenfalls Angst. Er wollte das Auto, aber keine Anklage wegen Kindesentführung zusätzlich zu der wegen Carjackings. So ist es immer in Fällen wie diesem. In meinem Büro gibt es Literatur darüber. Ich habe sie gelesen, bevor ich herkam, und ich kann Ihnen Kopien davon anfertigen lassen, wenn Sie wollen. Andererseits ...«
»Ja? Andererseits?«
»Mein Dezernat muss den Fall als Kindesentführung behandeln, weil das in unserer Verantwortung liegt. Es ist völlig normal, und es bedeutet nicht, dass wir beunruhigt sind.« Er spürte, dass die Familienbetreuerin ihn beobachtete, während er redete. Er wusste, dass die Familienbetreuer manche Wörter mit roten Fähnchen markierten, wenn sie mit Familien zu tun hatten, die von einem Gewaltverbrechen betroffen waren. Deshalb benutzte er den Ausdruck »Kindesentführung« behutsam und sprach ihn in dem leichten, kaum hörbaren Tonfall aus, den die Generation seiner Eltern für ein Wort wie »Krebs« benutzt hätte. »Alle unsere Kennzeichenerkennungseinheiten sind informiert. Sie haben automatische Erkennungskameras, die auf allen größeren Straßen nach dem Kennzeichen Ihres Wagens suchen. Wenn er eine der Hauptstraßen in dieser Gegend benutzt, werden wir ihn entdecken. Wir haben zusätzliche Teams zur Anwohnerbefragung zusammengestellt und eine Pressemitteilung herausgegeben, wodurch die regionale und wahrscheinlich auch überregionale Berichterstattung praktisch garantiert ist. Ja, wenn Sie jetzt Ihren Fernseher einschalten, werden Sie es wahrscheinlich in den Nachrichten sehen. Ich habe veranlasst, dass einer unserer Techniker hierherkommt. Er braucht Zugang zu Ihren Telefonen.«
»Für den Fall, dass jemand anruft?« Rose sah ihn verzweifelt an. »Wollen Sie das damit sagen - dass jemand uns anrufen könnte? Das klingt, als ob sie wirklich annehmen, sie ist entführt worden.«
»Bitte, Mrs. Bradley, ich habe gemeint, was ich gesagt habe: Das alles ist reine Routine. Wirklich reine Routine. Denken Sie nicht, dass etwas Schlimmes dahintersteckt oder wir irgendwelche Theorien verfolgen, denn es gibt wirklich keine. Ich glaube nicht einen Augenblick lang, dass diese Ermittlung in der Zuständigkeit der Major Crime Unit bleiben wird, denn ich bin davon überzeugt, dass Martha morgen an ihrem Geburtstag heil und gesund wieder da sein wird. Trotzdem muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen.« Er wühlte einen kleinen MP3-Rekorder aus der Innentasche und legte ihn neben die Telefone auf den Tisch. Das rote Licht blinkte. »Was Sie jetzt sagen, wird aufgezeichnet. Wie schon einmal. Ist das okay?«
»Ja. Es ist ...« Sie ließ den Satz unvollendet. Nach einer kurzen Pause blickte sie Caffery mit einem flackernden, Nachsicht heischenden Lächeln an, als hätte sie nicht nur inzwischen vergessen, wer er war, sondern auch, warum sie hier alle am Tisch saßen. »Ich meine - ja. Es ist in Ordnung.«
Jonathan Bradley schob Caffery einen Becher Tee hin und setzte sich neben Rose. »Wir haben darüber geredet und nachgedacht, warum wir noch nichts gehört haben.«
»Es ist noch sehr früh am Tag.«
»Aber wir haben eine Theorie«, sagte Rose. »Martha hat auf dem Rücksitz gekniet, als es passierte.«
Jonathan nickte. »Wir wissen nicht mehr, wie oft wir es ihr verboten haben, aber sie tut es immer wieder. Kaum ist sie im Wagen, lehnt sie sich über den Vordersitz und spielt am Radio herum. Sucht einen Sender, der ihr gefällt. Wir haben uns gedacht, dass er vielleicht so schnell weggefahren ist, dass sie zurückgeschleudert wurde - hinunter in den Fußraum, wo sie vielleicht mit dem Kopf aufgeschlagen ist. Vielleicht weiß er gar nicht, dass sie da ist. Sie könnte bewusstlos da unten liegen, und er fährt immer noch herum. Oder er hat den Wagen schon irgendwo abgestellt, und sie liegt noch drin, weiterhin bewusstlos.«
»Der Tank ist voll«, sagte Rose. »Ich habe auf dem Weg nach Bath getankt. Also könnte er schon weit weg sein, wissen Sie. Schrecklich weit.«
»Ich kann mir das nicht anhören.« Philippa schob ihren Stuhl zurück, lief zum Sofa und wühlte in den Taschen einer Jeansjacke. »Mum, Dad.« Sie zog eine Packung Benson & Hedges heraus, zeigte sie ihren Eltern und schüttelte sie hin und her. »Ich weiß, das ist weder der Ort noch der Augenblick dafür, aber ich rauche. Schon seit Monaten. Tut mir leid.«
Rose und Jonathan sahen ihr nach, als sie zur Hintertür ging. Keiner der beiden sagte etwas, als sie die Tür aufriss und mit einem Feuerzeug herumfummelte. Ihr Atem hing weiß in der kalten Abendluft. Weit hinten im Tal funkelten Lichter. Es war zu kalt für November, dachte Caffery. Viel zu kalt. Er spürte die Weite dieser Landschaft. Die Last von tausend kleinen Landstraßen, auf denen Martha ausgesetzt worden sein konnte. Ein Yaris war ein eher kleines Auto mit einem relativ großen Tank und einer beträchtlichen Reichweite - vielleicht bis zu fünfhundert Meilen -, aber Caffery glaubte nicht, dass der Carjacker einfach schnurgeradeaus gefahren war. Er stammte aus der Gegend - er hatte genau gewusst, wo die Straßenüberwachungskameras hingen. Er wäre viel zu nervös, um sein vertrautes Revier zu verlassen. Er würde sich immer noch in der Nähe aufhalten, irgendwo, wo er sich auskannte. Wahrscheinlich suchte er eine Stelle, die entlegen genug lag, um das Kind laufen zu lassen. Caffery zweifelte nicht daran, dass es so war, aber die verflossene Zeit pochte lautlos in seinem Schädel herum. Dreieinhalb Stunden. Inzwischen fast vier. Er rührte in seinem Tee. Betrachtete seinen Löffel, statt den Blick vor den Augen der Familie auf die Wanduhr zu richten.
»Und, Mr. Bradley«, sagte er, »ich höre, Sie sind der Gemeindepfarrer?«
»Ja. Ich war Schulleiter, aber vor drei Jahren bin ich ordiniert worden.«
»Sie machen den Eindruck einer glücklichen Familie.« »Das sind wir auch.«
»Sie leben im Rahmen Ihrer Verhältnisse? Wenn das keine unhöfliche Frage ist.«
Jonathan lächelte kurz und betrübt. »Ja. Durchaus im Rahmen unserer Verhältnisse, vielen Dank. Wir haben keine Schulden. Ich bin kein heimlicher Spieler oder Drogensüchtiger. Und wir haben niemanden verärgert. Wäre das Ihre nächste Frage?«
»Dad«, sagte Philippa leise. »Sei nicht so beschissen patzig.«
Er ignorierte seine Tochter. »Wenn Sie auf so was hinauswollen, Mr. Caffery, dann kann ich Ihnen versichern, dass Sie auf dem Holzweg sind. Es gibt keinen Grund, weshalb irgendjemand ein Interesse daran haben könnte, sie uns wegzunehmen. Nicht den geringsten. So eine Familie sind wir einfach nicht.«
»Ich verstehe, dass Sie frustriert sind. Ich möchte mir nur ein klareres Bild verschaffen.«
»Es gibt kein Bild. Es gibt kein Bild. Meine Tochter ist entführt worden, und wir warten darauf, dass Sie etwas unternehmen -« Er unterbrach sich, als hätte er plötzlich gemerkt, dass er brüllte. Schwer atmend lehnte er sich zurück, puterrot im Gesicht. »Es tut mir leid.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Müde sah er aus. Erledigt. »Es tut mir leid - wirklich. Ich wollte es nicht an Ihnen auslassen. Nur - Sie können sich einfach nicht vorstellen, was für ein Gefühl das ist.«
Ein paar Jahre zuvor, als er noch jung und hitzköpfig gewesen war, wäre Caffery über eine solche Bemerkung wütend geworden - über die Annahme, er könne nicht wissen, was für ein Gefühl das sei -, aber die Gnade des Alters half ihm, ruhig zu bleiben. Jonathan Bradley wusste nicht, was er da sagte, er hatte keine Ahnung - woher sollte er sie auch haben? -, und deshalb legte Caffery die Hände auf den Tisch. Flach. Um zu zeigen, wie ruhig er war. Wie gut er alles unter Kontrolle hatte. »Hören Sie, Mr. Bradley, Mrs. Bradley, niemand kann hundertprozentig sicher sein, und ich kann Ihnen nicht die Zukunft voraussagen, aber ich bin bereit, mich weit aus dem Fenster zu lehnen und zu sagen, ich habe das Gefühl - das starke Gefühl -, dass diese Sache gut ausgehen wird.«
»Du lieber Gott.« Eine Träne rann über Roses Gesicht. »Meinen Sie das ernst? Meinen Sie das wirklich ernst?«
»Das meine ich wirklich ernst. Tatsächlich ... « Er lächelte beruhigend - und dann sagte er einen der dümmsten Sätze seines Lebens. »Tatsächlich freue ich mich auf das Foto, auf dem Martha die Kerzen auf ihrer Torte auspustet. Ich hoffe doch, Sie schicken mir einen Abzug für meine Wand.«
Übersetzung: Rainer Schmidt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Mo Hayder
Mo Hayder, 1962 in Essex geboren, verließ mit fünfzehn ihr Zuhause, um in London das Abenteuer zu suchen. Sie hat später viele Jahre im Ausland verbracht, unter anderem auch in Tokio, wo sie eine Zeit lang in einem Nachtclub arbeitete und für eine englische Zeitung schrieb. Sie studierte Filmwissenschaften an der American University in Washington D.C. und später Creative Writing an der Bath Spa University. Die Autorin lebt heute mit ihrem Lebensgefährten und ihrer Tochter in der Nähe von Bath.Rainer Schmidt, geboren 1951 in Mülheim/Ruhr, lebt als Übersetzer aus dem Englischen in Hamburg und Essen. Unter anderen übertrug er Romane von Frederick Forsyth, Mo Hayder, Justin Cronin und Donna Tartt ins Deutsche.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mo Hayder
- 2011, 1, 446 Seiten, Maße: 14,5 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Rainer
- Übersetzer: Rainer Schmidt
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442312124
- ISBN-13: 9783442312122
Rezension zu „Inspector Jack Caffery Band 5: Verderbnis “
"Sie ist die neue Agatha Christie [...] So ungeheuer spannend, dass wir beim Umblättern fast die Seiten zerrissen hätten."
Kommentare zu "Inspector Jack Caffery Band 5: Verderbnis"
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