Garou
Ein Schaf Thriller
Ein neues wollkräuselndes Abenteuer wartet auf die Schafe von Glennkill – dieses Mal in Frankreich.
Gemeinsam mit ihrer Schäferin Rebecca verlassen die Schafe von Glennkill ihre irische Heimat und ziehen nach...
Gemeinsam mit ihrer Schäferin Rebecca verlassen die Schafe von Glennkill ihre irische Heimat und ziehen nach...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Garou “
Ein neues wollkräuselndes Abenteuer wartet auf die Schafe von Glennkill – dieses Mal in Frankreich.
Gemeinsam mit ihrer Schäferin Rebecca verlassen die Schafe von Glennkill ihre irische Heimat und ziehen nach Frankreich, in den Schatten eines entlegenen Schlosses. Eigentlich könnte es dort recht gemütlich sein – wären da nicht die Ziegen auf der Nachbarweide und die mysteriöse Warnung eines fremden Schafs. Ein Mensch im Wolfspelz – wispern Ziegen und Menschen, ein Werwolf! Ein Loup Garou! Als dann ein Toter am Waldrand liegt, wird schnell klar: Die Schafe müssen Licht ins Dunkel bringen.
Gemeinsam mit ihrer Schäferin Rebecca verlassen die Schafe von Glennkill ihre irische Heimat und ziehen nach Frankreich, in den Schatten eines entlegenen Schlosses. Eigentlich könnte es dort recht gemütlich sein – wären da nicht die Ziegen auf der Nachbarweide und die mysteriöse Warnung eines fremden Schafs. Ein Mensch im Wolfspelz – wispern Ziegen und Menschen, ein Werwolf! Ein Loup Garou! Als dann ein Toter am Waldrand liegt, wird schnell klar: Die Schafe müssen Licht ins Dunkel bringen.
Lese-Probe zu „Garou “
Garou von Leonie Swann»Was macht ihr da?«, fragte die Ziege mit nur einem Horn.
»Einen Thriller!«, verkündete die graue Ziege und wirbelte dramatisch mit den Ohren.
»Mit Schafen?«, fragte die Ziege mit nur einem Horn, kniff ein Auge zu und spähte kritisch durch den Zaun.
»Ein Capriccio!«, sagte die graue Ziege und keilte aus.
»Eine Komödie!«, sagte die Ziege auf der Kommode.
»Das wird nie und nimmer eine Komödie«, sagte die Ziege mit nur einem Horn und äugte wieder durch den Zaun.
»Alles ist eine Komödie!«, meckerte die Ziege auf der Kommode.
»Eine Komödie mit viel Rot!«
Die drei Ziegen blickten zu den ahnungslos grasenden Schafen hinüber.
»Wir bilden uns das alles nur ein!«, sagte die Ziege mit nur einem Horn.
Prolog
Vorbei.
Vorüber. Danach war es immer schön. Er stand dann gerne einfach nur da, an einen Baum gelehnt, und hörte zu, wie die Erregung der Jagd im Schnee versickerte.Wie Blut. Über ihm der Himmel und das Rauschen des Waldes, unter ihm der Boden. Und vor ihm ein Bild. Alles so friedlich.
Ohne Angst. Ohne Eile. Er fühlte sich frei. Neugeboren. Überrascht, Hände zu haben wie rot sie waren! und Beine und eine Form.
Während der Jagd war alles formlos, nur ein Vorne und Hinten, Fährte und Beute und Geschwindigkeit. Leben und Tod.Vier Beine oder zwei? Es war nicht wichtig. Und manchmal entkamen sie ihm. Selten. Das war gut so. Alles war gut. Ein Rotkehlchen landete auf einem Zweig. So hübsch, so nah, so lebendig. Er liebte den Wald. Egal, was passiert war, egal, was passieren würde, der Wald nahm ihn auf, und er wurde ein Tier wie andere Tiere.Wäre es Nacht gewesen, hätte er jetzt vor Freude den Mond angeheult.
Aber es war nicht Nacht, und auch
... mehr
das war gut. Es war heller Tag, und die Farben leuchteten. Und die Zeit verging. Er seufzte. Die Zeit danach war immer zu kurz. Bald würde er zu frieren beginnen. Er musste zurück. Seine Hände im Schnee weiß waschen. Handschuhe anziehen. Andere Stiefel. Haken schlagen. Seine Spuren verwischen. Wieder anfangen zu denken. An Einkaufen und den Steuerprüfer und natürlich an sie. Immer an sie. Woran Menschen eben so dachten. Ein Anzug musste in die Reinigung. Das Rasierwasser war aus. Eine Pflanze in seinem Schlafzimmer sah traurig aus. Gießen? Vielleicht.
Er verstand nicht viel von Pflanzen. Die Arbeit wartete. Und das Mittagessen. Pilze, in Butter gebraten, Sahnesoße und ein Steak. Frites? Warum nicht! Gänseleberpastete? Was für ein Tag war heute? Und frisches Brot! Brot mit knuspriger Rinde wäre gut.
Er warf einen letzten Blick auf das Bild wieder der Fuchs! Der Fuchs war ein interessanter Akzent dann ging er los, auf seinen zwei Beinen, und mit jedem Schritt veränderte er sich ein bisschen. Als er aus dem Wald trat, musste er lächeln. Schafe! Das Schloss sah so viel interessanter aus mit Schnee und Schafen. Wie weiß sie waren alle bis auf eines.
Das schwarze Schaf machte ihn nervös. Er ging weiter, am Zaun entlang auf das Schloss zu, und schielte verstohlen nach ihrem Fenster. Er konnte nicht anders. Nichts. Der Garou rollte sich tief in seinem Inneren zu einem satten, zufriedenen Knäuel zusammen und schlief.
1. Teil
Felle
1
Und dann?«, fragte das Winterlamm.
»Dann brachten die Mutterschafe die Lämmer weg von dem Mann mit dem kleinen Hund, in Sicherheit. Und sie fanden einen ... einen ...«
Cloud, das wolligste Schaf der Herde, wusste nicht weiter.
»Einen Heuhaufen!«, schlug Cordelia vor. Cordelia war ein sehr idealistisches Schaf.
»Genau, einen Heuhaufen!«, sagte Cloud.
»Und die Mutterschafe fraßen, und die Lämmer rollten sich im Heu zusammen und schwiegen!« Die Schafe blökten begeistert.
Die Geschichte vom »Schweigen der Lämmer« hatte beim wiederholten Erzählen nach und nach einige Änderungen erfahren, und jedes Mal hatte sie dabei ein wenig gewonnen. Rebecca die Schäferin hatte ihnen das Buch diesen Herbst vorgelesen, als die Blätter schon gelb waren, die Sonne aber noch rund und reif und gesund. Mittlerweile konnten sich die Schafe nicht mehr erklären, warum sie sich damals, in den ersten kalten silbrigen Herbstnächten, so vor dem Buch gegruselt hatten.
Nur Mopple the Whale, das dicke Gedächtnisschaf, erinnerte sich noch daran, dass in dem Buch, das Rebecca ihnen damals auf den sonnenwarmen Schäferwagenstufen vorgelesen hatte, kaum Lämmer vorgekommen waren und herzlich wenig Heu.
Der Wind trieb Fäden von Schnee zwischen ihren Beinen hindurch, die kahlen Sträucher unten am Weidezaun zitterten, und die Geschichte war vorbei.
»War es ein großer Heuhaufen?«, fragte Heide, die noch jung war und nicht wollte, dass Geschichten so einfach aufhörten.
»Sehr groß!«, sagte Cloud mit Überzeugung.
»So groß wie ... so groß wie ...«
Sie sah sich nach großen Dingen um. Heide? Nein. Heide war nicht besonders groß für ein Schaf. Mopple the Whale war schon größer. Und dicker. Größer als alle Schafe war der Schäferwagen, der mitten auf ihrer Weide stand, noch größer der Heuschuppen und am größten die alte Eiche, die nahe am Waldrand wuchs und im Herbst unzählige knirschende bittere braune Blätter abgeworfen hatte. Es war eine Heidenarbeit gewesen, um diese ganzen Blätter herumzugrasen.
An den Flanken der Weide waren links der Obstgarten und rechts die Ziegenweide. Auf der Ziegenweide gab es gar nichts Großes. Nur Ziegen. Hinter den beiden Weiden war der Wald, fremd und flüsternd und viel zu nah, vor ihnen der Hof mit Stallungen und Wohnhäusern, Kaminen, die rauchten, und Menschen, die Krach machten, und direkt daneben, nah und grau und massiv wie ein Kürbis, das Schloss. Weil ihre Weide zum Wald hin etwas anstieg, konnte man es hervorragend sehen. »So groß wie das Schloss!«, sagte Cloud triumphierend. Die Schafe staunten. Das Schloss war wirklich ausgesprochen groß.
Es hatte einen spitzen Turm und viele Fenster und schnitt ihnen jeden Abend viel zu früh die Sonne ab. Ein Heuhaufen wäre da eine willkommene Abwechslung gewesen. Etwas knallte. Die Schafe erschraken. Dann streckten sie neugierig die Hälse. Etwas war aus dem Schäferwagenfenster geflogen. Schon wieder!
Die Herde setzte sich in Bewegung. Neuerdings flogen öfters Dinge aus dem Schäferwagen, und manchmal war etwas Interessantes dabei. Ein Topf mit nur leicht angebranntem Haferbrei zum Beispiel, eine Zimmerpflanze, eine Zeitung. Die Zimmerpflanze hatte Blähungen verursacht. Die Zeitung hatte nur Mopple geschmeckt. Heute war kein schlechter Tag: vor ihnen, im Schnee, lag ein Wollpullover. Rebeccas Wollpullover. Der Wollpullover.
Die Schafe mochten diesen Pullover mehr als alle anderen. Er war das einzige Kleidungsstück, das sie verstanden. Schön und schafsfarben, dick und fellig und er roch. Nicht nur einfach vage nach Schaf wie viele Wollpullis, sondern nach bestimmten Schafen. Einer Herde, die am Meer gelebt hatte, salzige Kräuter gegrast, sandigen Boden betrabt, weit gereisten Wind geatmet. Wer ganz genau hinroch, konnte sogar einzelne Schafspersönlichkeiten herauswittern.
Da war ein erfahrenes, milchiges Mutterschaf, ein harziger Widder und das hagere, zottige Schaf vom Rande der Herde. Da waren Löwenzahn und Sonne und Möwenschreie im Wind. Die Schafe sogen das wollige Aroma des Pullovers ein und seufzten. Sie sehnten sich nach ihrer alten Weide in Irland, nach der Weite und dem grauen Murmeln des Meeres, nach Klippen und Strand und Möwen und sogar nach dem Wind. Mittlerweile war die Sache klar: der Wind sollte reisen Schafe sollten daheimbleiben.
Die Schäferwagentür ging auf, und Rebecca die Schäferin stapfte die Stufen herunter, mit schmalen Lippen und kurzen, wütenden Schritten. Sie hob den Pullover aus dem Schnee und machte dem Geruchsvergnügen ein jähes Ende.
»Es reicht!«, murmelte sie mit gefährlich gerunzelten Brauen und klopfte Schneekristalle aus dem Wollstrick.
»Es reicht! Sie fliegt raus! Diesmal fliegt sie raus!«
Die Schafe wussten es besser. Alles Mögliche flog aus dem Schäferwagen, aber nicht sie. Sie bewegte sich überhaupt selten, dann aber überraschend schnell. Die Schafe bezweifelten sogar, ob sie durch das Schäferwagenfenster passen würde. Rebecca schien es auch zu bezweifeln.
Sie blickte auf ihren Pulli hinunter und seufzte tief. Ein Gesicht erschien, seltsam weich und breit im milchigen Glas des Schäferwagenfensters, und starrte missbilligend auf Rebecca und die Schafe herunter. Rebecca sah nicht hin. Die Schafe starrten fasziniert zurück. Dann war das Gesicht auch schon wieder verschwunden, dafür ging die Schäferwagentür auf.
Aber niemand trat heraus.
»Das stinkende Ding kommt mir nicht mehr ins Haus!«, zeterte es aus dem Schäferwagen. Rebecca holte tief Luft.
»Es ist kein Haus«, sagte sie gefährlich leise.
»Und es ist schon gar nicht dein Haus. Das ist ein Schäferwagen. Mein Schäferwagen. Und der Pulli stinkt nicht. Er riecht nach Schaf! Das ist normal, wenn er feucht wird. Schafe riechen auch nach Schaf, wenn sie feucht sind! Schafe riechen immer nach Schaf!«
»Genau!«, blökte Maude.
»Genau!«, blökten die anderen Schafe. Maude war das Schaf mit der besten Nase der Herde. Sie kannte sich mit Gerüchen aus. Eisiges Schweigen wehte aus dem Schäferwagen.
»Und sie stinken nicht!«, fauchte Rebecca.
»Das Einzige, was hier stinkt, sind deine ...« Sie brach ab und seufzte wieder.
»Fläschchen!«, blökte Heide.
»Puder!«, blökte Cordelia.
»Und die Ziegen!«, ergänzte Maude der Vollständigkeit halber.
Die Schafe konnten spüren, wie sich das Schweigen im Schäferwagen zu einer kleinen dunklen Wolke verdichtete. Und die Wolke dachte.
»Na und?«, kreischte sie dann.
»Von mir aus können sie nach Schaf riechen! Sie können den ganzen lieben langen Tag herumstehen und nach Schaf riechen! Da draußen! Aber nicht hier drinnen. Schafe haben hier drinnen nichts zu suchen!«
»Genau!«, blökte Sir Ritchfield, der alte Leitwidder. Sir Ritchfield war sehr für Ordnung zu haben. Die anderen schwiegen. Das Innenleben des Schäferwagens mit all seinen Futtergerüchen und Zimmerpflanzen hätte sie schon interessiert.
»Wirklich, Reba, ein bisschen Hygiene!«, sagte die Stimme, sanft diesmal und mütterlich. Hygiene klang nicht schlecht. Ein bisschen wie frisches, grünes, glänzendes Gras.
»Hygiene!«, blökten die Schafe anerkennend. Alle bis auf Othello, den neuen, rabenschwarzen Leitwidder. Othello hatte seine Jugend im Zoo verbracht und dort von ferne einige Hygiänen gesehen und vor allem gerochen und wusste, dass sie kein Grund zur Begeisterung waren.
Ganz und gar nicht. Rebecca ließ die Hände sinken, und ein Pulloverärmel, den sie gerade noch sorgfältig sauber geklopft hatte, landete wieder im Schnee.
Sie sah verloren aus, ein bisschen wie ein junger Widder, der nicht genau weiß, ob er weglaufen oder angreifen soll.
»Angriff!«, blökte Ramses. Ramses war selbst ein junger Widder, und meistens entschied er sich fürs Weglaufen. Rebecca senkte die Stirn, knautschte den Wollpullover gegen ihre Brust und machte sich groß. Sie war nicht besonders groß. Aber sie konnte sich sehr groß machen, wenn sie wollte.
»Das ist mein Schäferwagen. Und meine Schafe. Und mein Pulli. Und niemand braucht hier deine Erlaubnis, um nach Schaf zu riechen. Und ich brauche deine Ratschläge nicht. Ich habe das alles von Papa geerbt, weil er mir getraut hat, und weißt du was: Ich mache es gar nicht so schlecht!«
Die Schafe konnten spüren, wie sich etwas im Schäferwagen veränderte. Die Wolke dehnte sich aus, wurde heller und feuchter. Dann begann sie zu regnen.
»Dein Vaaater!«, flüsterte Heide Lane ins Ohr.
»Dein Vaaaaater!«, stöhnte es aus dem Schäferwagen.
»Na toll. Gut gemacht, Rebecca!«, murmelte Rebecca. Der Schäferwagen seufzte tief, dann erschien eine Frau in der Tür. Es sah nicht so aus, als würde sie einfach dort stehen.
Es sah aus, als hätte sie sich im Türrahmen festgesaugt wie eine elegante Nacktschnecke, adrett und braun und glänzend. Wasser rann ihr aus den Augen und ließ ihr Gesicht verschwimmen. Die Schafe sahen sie beunruhigt an.
Das erste Mal hatten sie dieses Gesicht in strömendem Regen gesehen, genauso seltsam und nass. Mittlerweile waren die Schafe überzeugt davon, dass sie den Regen gebracht hatte, vielleicht in ihrer ozeanblauen Handtasche, vielleicht in ihrem glänzenden kleinen Metallkoffer, möglicherweise auch in den Taschen ihres makellosen Mantels.
Der Regen war ihr Verbündeter gewesen, als sie an die Schäferwagentür geklopft hatte der Regen und selbst gemachter Sahnelikör. Rebecca hatte die Tür geöffnet, und die Worte der Regenbringerin hatten zu prasseln begonnen: Sehnsucht, Tochter, was für ein Nest, ab jetzt fliege ich nur noch erster Klasse, Tochter, Sorgen, nur über die Feiertage, dünn siehst du aus, und den guten Sahnelikör habe ich auch mitgebracht. Rebecca hatte die Arme hängen lassen.
»Mama!« Es hatte nicht gerade einladend geklungen, trotzdem waren die Frau und der Regen geblieben. Vorher hatte es nie Regen gegeben, den ganzen Herbst nicht höchstens mal einen Gewitterschauer, der die Frösche im Schlossgraben beglückt quaken ließ. Sonst nichts. Von da an gab es nur noch Regen. Im Heuschuppen tropfte es.
Der Boden war matschig und glitschig, vor allem unten am Futtertrog. Das Kraftfutter schmeckte feucht. Der kleine Bach auf ihrer Weide war braun und reißend geworden, und Mopple the Whale war auf der Jagd nach einem Böschungskraut hineingefallen.
»Panta rhei«, sagten die Ziegen am Zaun. Zuerst fiel Regen. Dann Schnee. Dann flog der Sahnelikör aus dem Fenster. Dann andere Dinge. Manche der verbannten Dinge holte Rebecca wieder in den Schäferwagen, manche Mama, manche niemand, und Mopple hatte die Zeitung gefressen und nachts von einem Menschen mit Fuchskopf geträumt. Es hing alles irgendwie zusammen aber die Schafe verstanden nicht, wie.
»Mit Papa hat das gar nichts zu tun«, sagte Rebecca, sanft jetzt, und zog sich den Wollpullover über. »Nur mit dir und mir. Du bist hier Gast, und ich will, dass du dich verhältst wie ein Gast. Das ist alles. Okay?«
»Okay«, schniefte Mama aus der Tür und tupfte sich mit einem weißen Tuch die Augen.
»Okay!«, blökten die Schafe. Sie wussten, was als Nächstes kommen würde: Zigaretten.
Mama auf den Stufen des Schäferwagens, Rebecca etwas weiter oben am Hang, an den Schrank gelehnt, der unerklärt und unerklärbar unter der alten Eiche stand.
Rauch und Schweigen. Auch die Schafe schwiegen, scharrten im Schnee, grasten feuchtes Wintergras oder taten wenigstens so. Alle warteten auf etwas, das gleich passieren würde. Etwas, das man kaum sehen, dafür aber sehr gut riechen konnte.
Auf ihrer Weide gab es ein fremdes Schaf. Es war vor ihnen hier gewesen, nicht auf der Schafweide, aber im Apfelgarten und auf dem schmalen Wiesenstück zwischen Weide und Waldrand. Jetzt war es bei ihnen und drückte sich Tag für Tag am Weidezaun herum. Immer wenn Rebecca sich rauchend an den Schrank lehnte, erstarrte der Fremde.
Er bewegte nichts, kein Ohr, keine Wimper, nicht einmal die Schwanzspitze. Aber er roch. Roch wie reinste, blindeste Panik. Wie ein Lamm, das vor wilden Hunden über das Moor flieht. Nicht dass die Schafe je vor wilden Hunden über das Moor geflohen waren, zum Glück nicht, aber sie konnten es sich sehr gut vorstellen. Die Sache machte die Schafe nervös.
Der Fremde war im Allgemeinen kein furchtsames Schaf. Er fürchtete sich nicht vor Tess, der alten Schäferhündin, die meistens auf den Stufen des Schäferwagens schlief, und vor Othellos vier schwarzen Hörnern fürchtete er sich auch nicht. Aber er fürchtete sich vor Rebecca, wenn sie rauchend am Schrank lehnte und über die Weide blickte.
Er fürchtete sich wie verrückt. Endlich drückte Rebecca ihre Zigarette aus, steckte sie sorgfältig in die Tasche und ging wieder hinunter zum Schäferwagen. Der Fremde entspannte sich und begann zu murmeln. Die anderen Schafe schlackerten mit Ohren und Schwänzen und versuchten, das Schweigen wieder abzuschütteln.
Der Fremde ging ihnen auf die Nerven. Er roch nicht wirklich wie ein Schaf, er verhielt sich nicht wie ein Schaf, und vor allem sah er nicht aus wie ein Schaf. Eher wie ein großer, unförmiger, bemooster Stein. Miss Maple, das klügste Schaf der Herde und vielleicht der Welt, behauptete, dass er trotzdem ein Schaf war. Ein einsames Schaf, das seit Jahren niemand mehr geschoren hatte, mit einer großen Masse filziger, steifer grauer Wolle auf dem Rücken und einer Geschichte, die niemand kannte.
»Sie werden sich aneinander gewöhnen!«, hatte Rebecca gesagt, als sie zusammen mit dem Ziegenhirten das Fremdlingsschaf aus dem Apfelgarten auf ihre Weide hinüber getrieben hatte. Der Ziegenhirt hatte die Augen zusammengekniffen und gehustet.
Vielleicht war es auch ein staubiges Lachen gewesen. Sie hatten sich nicht gewöhnt, kein bisschen. Im Gegenteil: mit jedem Tag kam ihnen der ungeschorene Widder ein wenig fremder vor. Und ein bisschen ferner. Er war unter ihnen, aber nicht bei ihnen, er bewegte sich in einer Herde, aber nicht in ihrer Herde. Manchmal hatten sie das Gefühl, dass der Fremde sie gar nicht sah.
Er sah andere Schafe, Schafe, die sonst niemand sehen konnte. Geisterschafe. Gespenster. Jetzt gab der Ungeschorene seinen Spähposten oben am Waldrand auf und trabte quer über die Weide, vorbei an Heuschuppen und Schäferwagen, mit einem Hops über den kleinen Bach bis hinunter zu der Ecke am Apfelgarten, murmelnd und mahnend, eine Schar unsichtbarer Schafe im Schlepptau. Die Schafe sahen nicht hin. Alle bis auf Sir Ritchfield.
»Ich glaube ... das ist ein Schaf!«, blökte Ritchfield aufgeregt. Der alte Leitwidder interessierte sich momentan sehr für die Frage, wer ein Schaf war und wer nicht. Die anderen seufzten.
Wieder einmal fragten sie sich, ob die Fahrt nach Europa wirklich eine so gute Idee gewesen war. Sie hatten die Reise von George geerbt, ihrem früheren Schäfer.
George war eines Tages einfach reglos auf ihrer Weide gelegen, einen Spaten im Leib. Die Schafe selbst hatten damit nichts zu tun gehabt nun ja, zumindest nicht viel , aber sie hatten geerbt: eine Reise nach Europa, den Schäferwagen und darin Rebecca, Georges Tochter, die sie füttern und ihnen vorlesen musste. Es stand im Testament.
Dann aber musste irgendwo ein Fehler passiert sein. Das Europa, von dem ihnen George erzählt hatte, war voller Apfelblüten, Kräuterwiesen und komischer langer Brote gewesen. Niemand hatte etwas von hupenden Autos, staubigen Landstraßen und sirrenden Stechmücken gesagt, von Schnee, Geisterschafen oder gar von Ziegen. Die Schafe gaben der Karte die Schuld.
Rebecca hatte eine bunte Landkarte mitgeführt, auf die sie auf ihren Wanderungen oft und ausdauernd starrte, und diese Karte verstand ganz offensichtlich nichts von Europa. Drei Schafe hatten Rebecca in einem Sonnenblumenfeld abgelenkt, während Mopple the Whale die Landkarte von den Stufen des Schäferwagens geschnappt und ganz aufgefressen hatte, sogar den harten, glänzenden Kartonteil.
Und wirklich: ein paar Tage später war eine schmeichelnde Frau mit streng über den Kopf gespannten Haaren vor dem Schäferwagen aufgetaucht und hatte die Schafe eingeladen. Bald darauf war es mit dem aufreibenden Wanderleben vorbei, und sie hatten wieder eine Weide, einen Heuschuppen, eine Futterkammer und diesmal sogar einen Schrank. Trotzdem ihre Weide war es nicht.
»Sag mir noch einmal, warum wir hier sind«, seufzte Mama, die noch immer wie eine Schnecke in der Tür klebte und sich eine zweite Zigarette angezündet hatte. Tess hatte es geschafft, sich an ihr vorbeizuquetschen, und begrüßte Rebecca schwanzwedelnd auf den Schäferwagenstufen.
Rebecca ging in die Hocke und kraulte Tess hinter den Ohren. Tess versuchte, ihre angegraute Schnauze in Rebeccas Achselhöhle zu stecken.
»Ich bin hier, weil die Schafe ein Winterquartier brauchen«, sagte Rebecca. Sie hatte es schon hundert Mal erklärt, erst den Schafen, dann Mama, manchmal auch sich selbst.
»Die Weide ist gut, die Miete ist billig. Die Landschaft ist idyllisch. Man hat mich eingeladen. Warum du hier bist, weiß ich nicht.«
Die Schafe wussten, warum Mama da war: zum Schmarotzen. Rebecca hatte es ihnen einmal im Vertrauen beim Heufüttern verraten.
»Sie tut fein, aber eigentlich ist sie pleite. Wie auch nicht, bei dem Job? Und dann panscht sie ein bisschen Sahnelikör zusammen und setzt sich wochenlang fest. Nur über die Feiertage? Pah! Ihr werdet schon sehen. Ich habe keine Ahnung, wie ich sie wieder loswerde.«
Nicht durch das Schäferwagenfenster, so viel war klar. Mama blies Rauch auf Rebecca und Tess herab und blickte kritisch hinunter zum Schloss.
»Wir sollten hier weg. Sieh dich doch einmal um, Kind! Gottverlassen und diese ganzen Irren.« »Hortense ist in Ordnung«, sagte Rebecca.
»Kein Stil«, sagte Mama verächtlich. »Ich dachte, Französinnen hätten Stil. Was ist mit dem Ziegenhirten da drüben? Der läuft den ganzen Tag durch den Wald, und wenn er hier vorbeikommt, sagt er kein Wort. Ist das etwa normal? Ist dir aufgefallen, wie sich die anderen von ihm fernhalten? Irgendeinen Grund muss das doch haben.«
»Von uns halten sie sich auch fern«, sagte Rebecca. Tess hatte sich auf den Rücken gerollt und bekam von Rebecca das Bauchfell gekrault.
»Auch das hat einen Grund«, sagte Mama.
»Du verstehst nichts von Leuten, Reba. Genau wie dein Vater. Du hast dich nie für Menschen interessiert. Ich schon. Ich habe den Sinn. Ich sehe. Idyllisch? Die Karten sagen etwas anderes!«
Die Schafe sahen sich bedeutungsvoll an. Karten sagten oft etwas anderes. Wie die Landkarte, bis Mopple sie gefressen hatte. Alle ihre Probleme hatten mit der Landkarte angefangen.
»Weißt du, welche Karte seit zwei Wochen in jeder meiner Seancen auftaucht?«
Rebecca seufzte, richtete sich wieder auf und streckte sich wie eine Katze.
»Der Teufel!«, blökten die Schafe im Chor. Es war immer das Gleiche.
»Der Teufel!«, schmetterte Mama triumphierend von den Schäferwagenstufen.
Rebecca lachte. »Das kommt daher, dass du drei Teufel in deinem Deck hast, Mama. Und die Gerechtigkeit und die Mäßigung hast du aussortiert!«
Tess streckte sich nach Hundsart und schlüpfte an Mamas Pantoffeln vorbei zurück ins Innere des Schäferwagens.
»Na und? Man muss die Karten eben ein bisschen den heutigen Verhältnissen anpassen, das ist alles. Seit die Mäßigung raus ist, habe ich eine Erfolgsquote von 75 Prozent! Weißt du, was die anderen ...«
Rebecca wedelte mit der Hand hin und her, als würde sie unsichtbare und sehr kälteunempfindiche Fliegen verscheuchen, und Mama seufzte.
»Nun mal ehrlich, Kind, fühlst du dich hier wohl? Frag doch morgen mal den Tie ...«
Schneller als ein Wiesel war Rebecca die Schäferwagenstufen hinaufgesprintet und presste Mama eine Hand auf den Mund. 26
»Bist du verrückt?«, zischte sie. »Weißt du, was hier los ist, wenn du das Wort sagst?«
»Der Teufel!«, blökten die Schafe. Wenn hier etwas los war, dann war es meistens der Teufel. Diesen Abend standen die Schafe länger als üblich vor dem Heuschuppen und guckten in die Nacht hinaus. Die Hofgebäude schmiegten sich schutzsuchend an das Schloss. Der Apfelgarten schwieg.
Es roch nach Rauch und neuem Schnee. Der Schatten einer Eule glitt lautlos über die Weide Richtung Wald. Fühlten sie sich hier wohl?
Cloud vielleicht. Cloud war das wolligste Schaf der Herde, und sie fühlte sich überall wohl. Wollig und wohlig hingen zusammen. Auch Sir Ritchfield schien es zu gefallen, weil es hier viele Gesprächspartner gab, die nicht wegliefen: die alte Eiche, den Schrank, den Bach, manchmal den ungeschorenen Fremden, und wenn er Glück hatte die eine oder andere Ziege. Bei den Ziegen waren Ritchfields laute und einseitige Unterhaltungen sogar beliebt, und oft fand sich ein ganzer Trupp am Zaun ein, kicherte und hopste.
Die anderen waren sich nicht so sicher. Etwas stimmte nicht. Im Apfelgarten hing nur noch ein einziger vergessener Apfel, rot wie ein Tropfen Blut. Man konnte ihn sehen, aber nicht riechen. Vielleicht war es wieder an der Zeit, eine Karte zu fressen. Aber welche Karte?
»Was sie wohl sagen wollte?«, fragte Miss Maple plötzlich.
»Wer?«, fragte Maude.
»Mama«, sagte Maple. »Bevor ihr Rebecca den Mund zugehalten hat.«
Die Schafe wussten es nicht und schwiegen. Ein halber Mond hing über der Weide wie ein angefressener Haferkeks.
»Rebecca ist richtig erschrocken«, sagte Miss Maple.
»Als würde bald etwas passieren. Etwas Schreckliches.«
»Was soll schon passieren?«, sagte Cloud und plusterte sich.
»Was soll schon passieren?«, blökten die anderen Schafe. Es gab jeden Tag Kraftfutter im Trog und ein bisschen Vorlesen auf den Schäferwagenstufen. Wenn die Wasserstelle zugefroren war, hackte Rebecca das Eis mit einer Hacke auf.
Wenn es zu sehr schneite, blieben sie im Heuschuppen. Wenn ihnen langweilig war, fraßen sie oder erzählten Geschichten. Und am Ende jeder Geschichte wartete ein duftender Heuhaufen. Die Schafe blickten hinaus auf den blauen Schnee und kamen sich kühn vor.
In diesem Moment schnitt ein Ton durch die Stille, lang und dünn und fern und herzzerreißend. Eine Klage. Ein Heulen.
1. Auflage Copyright © 2010 by Leonie Swann Copyright © 2010 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Er verstand nicht viel von Pflanzen. Die Arbeit wartete. Und das Mittagessen. Pilze, in Butter gebraten, Sahnesoße und ein Steak. Frites? Warum nicht! Gänseleberpastete? Was für ein Tag war heute? Und frisches Brot! Brot mit knuspriger Rinde wäre gut.
Er warf einen letzten Blick auf das Bild wieder der Fuchs! Der Fuchs war ein interessanter Akzent dann ging er los, auf seinen zwei Beinen, und mit jedem Schritt veränderte er sich ein bisschen. Als er aus dem Wald trat, musste er lächeln. Schafe! Das Schloss sah so viel interessanter aus mit Schnee und Schafen. Wie weiß sie waren alle bis auf eines.
Das schwarze Schaf machte ihn nervös. Er ging weiter, am Zaun entlang auf das Schloss zu, und schielte verstohlen nach ihrem Fenster. Er konnte nicht anders. Nichts. Der Garou rollte sich tief in seinem Inneren zu einem satten, zufriedenen Knäuel zusammen und schlief.
1. Teil
Felle
1
Und dann?«, fragte das Winterlamm.
»Dann brachten die Mutterschafe die Lämmer weg von dem Mann mit dem kleinen Hund, in Sicherheit. Und sie fanden einen ... einen ...«
Cloud, das wolligste Schaf der Herde, wusste nicht weiter.
»Einen Heuhaufen!«, schlug Cordelia vor. Cordelia war ein sehr idealistisches Schaf.
»Genau, einen Heuhaufen!«, sagte Cloud.
»Und die Mutterschafe fraßen, und die Lämmer rollten sich im Heu zusammen und schwiegen!« Die Schafe blökten begeistert.
Die Geschichte vom »Schweigen der Lämmer« hatte beim wiederholten Erzählen nach und nach einige Änderungen erfahren, und jedes Mal hatte sie dabei ein wenig gewonnen. Rebecca die Schäferin hatte ihnen das Buch diesen Herbst vorgelesen, als die Blätter schon gelb waren, die Sonne aber noch rund und reif und gesund. Mittlerweile konnten sich die Schafe nicht mehr erklären, warum sie sich damals, in den ersten kalten silbrigen Herbstnächten, so vor dem Buch gegruselt hatten.
Nur Mopple the Whale, das dicke Gedächtnisschaf, erinnerte sich noch daran, dass in dem Buch, das Rebecca ihnen damals auf den sonnenwarmen Schäferwagenstufen vorgelesen hatte, kaum Lämmer vorgekommen waren und herzlich wenig Heu.
Der Wind trieb Fäden von Schnee zwischen ihren Beinen hindurch, die kahlen Sträucher unten am Weidezaun zitterten, und die Geschichte war vorbei.
»War es ein großer Heuhaufen?«, fragte Heide, die noch jung war und nicht wollte, dass Geschichten so einfach aufhörten.
»Sehr groß!«, sagte Cloud mit Überzeugung.
»So groß wie ... so groß wie ...«
Sie sah sich nach großen Dingen um. Heide? Nein. Heide war nicht besonders groß für ein Schaf. Mopple the Whale war schon größer. Und dicker. Größer als alle Schafe war der Schäferwagen, der mitten auf ihrer Weide stand, noch größer der Heuschuppen und am größten die alte Eiche, die nahe am Waldrand wuchs und im Herbst unzählige knirschende bittere braune Blätter abgeworfen hatte. Es war eine Heidenarbeit gewesen, um diese ganzen Blätter herumzugrasen.
An den Flanken der Weide waren links der Obstgarten und rechts die Ziegenweide. Auf der Ziegenweide gab es gar nichts Großes. Nur Ziegen. Hinter den beiden Weiden war der Wald, fremd und flüsternd und viel zu nah, vor ihnen der Hof mit Stallungen und Wohnhäusern, Kaminen, die rauchten, und Menschen, die Krach machten, und direkt daneben, nah und grau und massiv wie ein Kürbis, das Schloss. Weil ihre Weide zum Wald hin etwas anstieg, konnte man es hervorragend sehen. »So groß wie das Schloss!«, sagte Cloud triumphierend. Die Schafe staunten. Das Schloss war wirklich ausgesprochen groß.
Es hatte einen spitzen Turm und viele Fenster und schnitt ihnen jeden Abend viel zu früh die Sonne ab. Ein Heuhaufen wäre da eine willkommene Abwechslung gewesen. Etwas knallte. Die Schafe erschraken. Dann streckten sie neugierig die Hälse. Etwas war aus dem Schäferwagenfenster geflogen. Schon wieder!
Die Herde setzte sich in Bewegung. Neuerdings flogen öfters Dinge aus dem Schäferwagen, und manchmal war etwas Interessantes dabei. Ein Topf mit nur leicht angebranntem Haferbrei zum Beispiel, eine Zimmerpflanze, eine Zeitung. Die Zimmerpflanze hatte Blähungen verursacht. Die Zeitung hatte nur Mopple geschmeckt. Heute war kein schlechter Tag: vor ihnen, im Schnee, lag ein Wollpullover. Rebeccas Wollpullover. Der Wollpullover.
Die Schafe mochten diesen Pullover mehr als alle anderen. Er war das einzige Kleidungsstück, das sie verstanden. Schön und schafsfarben, dick und fellig und er roch. Nicht nur einfach vage nach Schaf wie viele Wollpullis, sondern nach bestimmten Schafen. Einer Herde, die am Meer gelebt hatte, salzige Kräuter gegrast, sandigen Boden betrabt, weit gereisten Wind geatmet. Wer ganz genau hinroch, konnte sogar einzelne Schafspersönlichkeiten herauswittern.
Da war ein erfahrenes, milchiges Mutterschaf, ein harziger Widder und das hagere, zottige Schaf vom Rande der Herde. Da waren Löwenzahn und Sonne und Möwenschreie im Wind. Die Schafe sogen das wollige Aroma des Pullovers ein und seufzten. Sie sehnten sich nach ihrer alten Weide in Irland, nach der Weite und dem grauen Murmeln des Meeres, nach Klippen und Strand und Möwen und sogar nach dem Wind. Mittlerweile war die Sache klar: der Wind sollte reisen Schafe sollten daheimbleiben.
Die Schäferwagentür ging auf, und Rebecca die Schäferin stapfte die Stufen herunter, mit schmalen Lippen und kurzen, wütenden Schritten. Sie hob den Pullover aus dem Schnee und machte dem Geruchsvergnügen ein jähes Ende.
»Es reicht!«, murmelte sie mit gefährlich gerunzelten Brauen und klopfte Schneekristalle aus dem Wollstrick.
»Es reicht! Sie fliegt raus! Diesmal fliegt sie raus!«
Die Schafe wussten es besser. Alles Mögliche flog aus dem Schäferwagen, aber nicht sie. Sie bewegte sich überhaupt selten, dann aber überraschend schnell. Die Schafe bezweifelten sogar, ob sie durch das Schäferwagenfenster passen würde. Rebecca schien es auch zu bezweifeln.
Sie blickte auf ihren Pulli hinunter und seufzte tief. Ein Gesicht erschien, seltsam weich und breit im milchigen Glas des Schäferwagenfensters, und starrte missbilligend auf Rebecca und die Schafe herunter. Rebecca sah nicht hin. Die Schafe starrten fasziniert zurück. Dann war das Gesicht auch schon wieder verschwunden, dafür ging die Schäferwagentür auf.
Aber niemand trat heraus.
»Das stinkende Ding kommt mir nicht mehr ins Haus!«, zeterte es aus dem Schäferwagen. Rebecca holte tief Luft.
»Es ist kein Haus«, sagte sie gefährlich leise.
»Und es ist schon gar nicht dein Haus. Das ist ein Schäferwagen. Mein Schäferwagen. Und der Pulli stinkt nicht. Er riecht nach Schaf! Das ist normal, wenn er feucht wird. Schafe riechen auch nach Schaf, wenn sie feucht sind! Schafe riechen immer nach Schaf!«
»Genau!«, blökte Maude.
»Genau!«, blökten die anderen Schafe. Maude war das Schaf mit der besten Nase der Herde. Sie kannte sich mit Gerüchen aus. Eisiges Schweigen wehte aus dem Schäferwagen.
»Und sie stinken nicht!«, fauchte Rebecca.
»Das Einzige, was hier stinkt, sind deine ...« Sie brach ab und seufzte wieder.
»Fläschchen!«, blökte Heide.
»Puder!«, blökte Cordelia.
»Und die Ziegen!«, ergänzte Maude der Vollständigkeit halber.
Die Schafe konnten spüren, wie sich das Schweigen im Schäferwagen zu einer kleinen dunklen Wolke verdichtete. Und die Wolke dachte.
»Na und?«, kreischte sie dann.
»Von mir aus können sie nach Schaf riechen! Sie können den ganzen lieben langen Tag herumstehen und nach Schaf riechen! Da draußen! Aber nicht hier drinnen. Schafe haben hier drinnen nichts zu suchen!«
»Genau!«, blökte Sir Ritchfield, der alte Leitwidder. Sir Ritchfield war sehr für Ordnung zu haben. Die anderen schwiegen. Das Innenleben des Schäferwagens mit all seinen Futtergerüchen und Zimmerpflanzen hätte sie schon interessiert.
»Wirklich, Reba, ein bisschen Hygiene!«, sagte die Stimme, sanft diesmal und mütterlich. Hygiene klang nicht schlecht. Ein bisschen wie frisches, grünes, glänzendes Gras.
»Hygiene!«, blökten die Schafe anerkennend. Alle bis auf Othello, den neuen, rabenschwarzen Leitwidder. Othello hatte seine Jugend im Zoo verbracht und dort von ferne einige Hygiänen gesehen und vor allem gerochen und wusste, dass sie kein Grund zur Begeisterung waren.
Ganz und gar nicht. Rebecca ließ die Hände sinken, und ein Pulloverärmel, den sie gerade noch sorgfältig sauber geklopft hatte, landete wieder im Schnee.
Sie sah verloren aus, ein bisschen wie ein junger Widder, der nicht genau weiß, ob er weglaufen oder angreifen soll.
»Angriff!«, blökte Ramses. Ramses war selbst ein junger Widder, und meistens entschied er sich fürs Weglaufen. Rebecca senkte die Stirn, knautschte den Wollpullover gegen ihre Brust und machte sich groß. Sie war nicht besonders groß. Aber sie konnte sich sehr groß machen, wenn sie wollte.
»Das ist mein Schäferwagen. Und meine Schafe. Und mein Pulli. Und niemand braucht hier deine Erlaubnis, um nach Schaf zu riechen. Und ich brauche deine Ratschläge nicht. Ich habe das alles von Papa geerbt, weil er mir getraut hat, und weißt du was: Ich mache es gar nicht so schlecht!«
Die Schafe konnten spüren, wie sich etwas im Schäferwagen veränderte. Die Wolke dehnte sich aus, wurde heller und feuchter. Dann begann sie zu regnen.
»Dein Vaaater!«, flüsterte Heide Lane ins Ohr.
»Dein Vaaaaater!«, stöhnte es aus dem Schäferwagen.
»Na toll. Gut gemacht, Rebecca!«, murmelte Rebecca. Der Schäferwagen seufzte tief, dann erschien eine Frau in der Tür. Es sah nicht so aus, als würde sie einfach dort stehen.
Es sah aus, als hätte sie sich im Türrahmen festgesaugt wie eine elegante Nacktschnecke, adrett und braun und glänzend. Wasser rann ihr aus den Augen und ließ ihr Gesicht verschwimmen. Die Schafe sahen sie beunruhigt an.
Das erste Mal hatten sie dieses Gesicht in strömendem Regen gesehen, genauso seltsam und nass. Mittlerweile waren die Schafe überzeugt davon, dass sie den Regen gebracht hatte, vielleicht in ihrer ozeanblauen Handtasche, vielleicht in ihrem glänzenden kleinen Metallkoffer, möglicherweise auch in den Taschen ihres makellosen Mantels.
Der Regen war ihr Verbündeter gewesen, als sie an die Schäferwagentür geklopft hatte der Regen und selbst gemachter Sahnelikör. Rebecca hatte die Tür geöffnet, und die Worte der Regenbringerin hatten zu prasseln begonnen: Sehnsucht, Tochter, was für ein Nest, ab jetzt fliege ich nur noch erster Klasse, Tochter, Sorgen, nur über die Feiertage, dünn siehst du aus, und den guten Sahnelikör habe ich auch mitgebracht. Rebecca hatte die Arme hängen lassen.
»Mama!« Es hatte nicht gerade einladend geklungen, trotzdem waren die Frau und der Regen geblieben. Vorher hatte es nie Regen gegeben, den ganzen Herbst nicht höchstens mal einen Gewitterschauer, der die Frösche im Schlossgraben beglückt quaken ließ. Sonst nichts. Von da an gab es nur noch Regen. Im Heuschuppen tropfte es.
Der Boden war matschig und glitschig, vor allem unten am Futtertrog. Das Kraftfutter schmeckte feucht. Der kleine Bach auf ihrer Weide war braun und reißend geworden, und Mopple the Whale war auf der Jagd nach einem Böschungskraut hineingefallen.
»Panta rhei«, sagten die Ziegen am Zaun. Zuerst fiel Regen. Dann Schnee. Dann flog der Sahnelikör aus dem Fenster. Dann andere Dinge. Manche der verbannten Dinge holte Rebecca wieder in den Schäferwagen, manche Mama, manche niemand, und Mopple hatte die Zeitung gefressen und nachts von einem Menschen mit Fuchskopf geträumt. Es hing alles irgendwie zusammen aber die Schafe verstanden nicht, wie.
»Mit Papa hat das gar nichts zu tun«, sagte Rebecca, sanft jetzt, und zog sich den Wollpullover über. »Nur mit dir und mir. Du bist hier Gast, und ich will, dass du dich verhältst wie ein Gast. Das ist alles. Okay?«
»Okay«, schniefte Mama aus der Tür und tupfte sich mit einem weißen Tuch die Augen.
»Okay!«, blökten die Schafe. Sie wussten, was als Nächstes kommen würde: Zigaretten.
Mama auf den Stufen des Schäferwagens, Rebecca etwas weiter oben am Hang, an den Schrank gelehnt, der unerklärt und unerklärbar unter der alten Eiche stand.
Rauch und Schweigen. Auch die Schafe schwiegen, scharrten im Schnee, grasten feuchtes Wintergras oder taten wenigstens so. Alle warteten auf etwas, das gleich passieren würde. Etwas, das man kaum sehen, dafür aber sehr gut riechen konnte.
Auf ihrer Weide gab es ein fremdes Schaf. Es war vor ihnen hier gewesen, nicht auf der Schafweide, aber im Apfelgarten und auf dem schmalen Wiesenstück zwischen Weide und Waldrand. Jetzt war es bei ihnen und drückte sich Tag für Tag am Weidezaun herum. Immer wenn Rebecca sich rauchend an den Schrank lehnte, erstarrte der Fremde.
Er bewegte nichts, kein Ohr, keine Wimper, nicht einmal die Schwanzspitze. Aber er roch. Roch wie reinste, blindeste Panik. Wie ein Lamm, das vor wilden Hunden über das Moor flieht. Nicht dass die Schafe je vor wilden Hunden über das Moor geflohen waren, zum Glück nicht, aber sie konnten es sich sehr gut vorstellen. Die Sache machte die Schafe nervös.
Der Fremde war im Allgemeinen kein furchtsames Schaf. Er fürchtete sich nicht vor Tess, der alten Schäferhündin, die meistens auf den Stufen des Schäferwagens schlief, und vor Othellos vier schwarzen Hörnern fürchtete er sich auch nicht. Aber er fürchtete sich vor Rebecca, wenn sie rauchend am Schrank lehnte und über die Weide blickte.
Er fürchtete sich wie verrückt. Endlich drückte Rebecca ihre Zigarette aus, steckte sie sorgfältig in die Tasche und ging wieder hinunter zum Schäferwagen. Der Fremde entspannte sich und begann zu murmeln. Die anderen Schafe schlackerten mit Ohren und Schwänzen und versuchten, das Schweigen wieder abzuschütteln.
Der Fremde ging ihnen auf die Nerven. Er roch nicht wirklich wie ein Schaf, er verhielt sich nicht wie ein Schaf, und vor allem sah er nicht aus wie ein Schaf. Eher wie ein großer, unförmiger, bemooster Stein. Miss Maple, das klügste Schaf der Herde und vielleicht der Welt, behauptete, dass er trotzdem ein Schaf war. Ein einsames Schaf, das seit Jahren niemand mehr geschoren hatte, mit einer großen Masse filziger, steifer grauer Wolle auf dem Rücken und einer Geschichte, die niemand kannte.
»Sie werden sich aneinander gewöhnen!«, hatte Rebecca gesagt, als sie zusammen mit dem Ziegenhirten das Fremdlingsschaf aus dem Apfelgarten auf ihre Weide hinüber getrieben hatte. Der Ziegenhirt hatte die Augen zusammengekniffen und gehustet.
Vielleicht war es auch ein staubiges Lachen gewesen. Sie hatten sich nicht gewöhnt, kein bisschen. Im Gegenteil: mit jedem Tag kam ihnen der ungeschorene Widder ein wenig fremder vor. Und ein bisschen ferner. Er war unter ihnen, aber nicht bei ihnen, er bewegte sich in einer Herde, aber nicht in ihrer Herde. Manchmal hatten sie das Gefühl, dass der Fremde sie gar nicht sah.
Er sah andere Schafe, Schafe, die sonst niemand sehen konnte. Geisterschafe. Gespenster. Jetzt gab der Ungeschorene seinen Spähposten oben am Waldrand auf und trabte quer über die Weide, vorbei an Heuschuppen und Schäferwagen, mit einem Hops über den kleinen Bach bis hinunter zu der Ecke am Apfelgarten, murmelnd und mahnend, eine Schar unsichtbarer Schafe im Schlepptau. Die Schafe sahen nicht hin. Alle bis auf Sir Ritchfield.
»Ich glaube ... das ist ein Schaf!«, blökte Ritchfield aufgeregt. Der alte Leitwidder interessierte sich momentan sehr für die Frage, wer ein Schaf war und wer nicht. Die anderen seufzten.
Wieder einmal fragten sie sich, ob die Fahrt nach Europa wirklich eine so gute Idee gewesen war. Sie hatten die Reise von George geerbt, ihrem früheren Schäfer.
George war eines Tages einfach reglos auf ihrer Weide gelegen, einen Spaten im Leib. Die Schafe selbst hatten damit nichts zu tun gehabt nun ja, zumindest nicht viel , aber sie hatten geerbt: eine Reise nach Europa, den Schäferwagen und darin Rebecca, Georges Tochter, die sie füttern und ihnen vorlesen musste. Es stand im Testament.
Dann aber musste irgendwo ein Fehler passiert sein. Das Europa, von dem ihnen George erzählt hatte, war voller Apfelblüten, Kräuterwiesen und komischer langer Brote gewesen. Niemand hatte etwas von hupenden Autos, staubigen Landstraßen und sirrenden Stechmücken gesagt, von Schnee, Geisterschafen oder gar von Ziegen. Die Schafe gaben der Karte die Schuld.
Rebecca hatte eine bunte Landkarte mitgeführt, auf die sie auf ihren Wanderungen oft und ausdauernd starrte, und diese Karte verstand ganz offensichtlich nichts von Europa. Drei Schafe hatten Rebecca in einem Sonnenblumenfeld abgelenkt, während Mopple the Whale die Landkarte von den Stufen des Schäferwagens geschnappt und ganz aufgefressen hatte, sogar den harten, glänzenden Kartonteil.
Und wirklich: ein paar Tage später war eine schmeichelnde Frau mit streng über den Kopf gespannten Haaren vor dem Schäferwagen aufgetaucht und hatte die Schafe eingeladen. Bald darauf war es mit dem aufreibenden Wanderleben vorbei, und sie hatten wieder eine Weide, einen Heuschuppen, eine Futterkammer und diesmal sogar einen Schrank. Trotzdem ihre Weide war es nicht.
»Sag mir noch einmal, warum wir hier sind«, seufzte Mama, die noch immer wie eine Schnecke in der Tür klebte und sich eine zweite Zigarette angezündet hatte. Tess hatte es geschafft, sich an ihr vorbeizuquetschen, und begrüßte Rebecca schwanzwedelnd auf den Schäferwagenstufen.
Rebecca ging in die Hocke und kraulte Tess hinter den Ohren. Tess versuchte, ihre angegraute Schnauze in Rebeccas Achselhöhle zu stecken.
»Ich bin hier, weil die Schafe ein Winterquartier brauchen«, sagte Rebecca. Sie hatte es schon hundert Mal erklärt, erst den Schafen, dann Mama, manchmal auch sich selbst.
»Die Weide ist gut, die Miete ist billig. Die Landschaft ist idyllisch. Man hat mich eingeladen. Warum du hier bist, weiß ich nicht.«
Die Schafe wussten, warum Mama da war: zum Schmarotzen. Rebecca hatte es ihnen einmal im Vertrauen beim Heufüttern verraten.
»Sie tut fein, aber eigentlich ist sie pleite. Wie auch nicht, bei dem Job? Und dann panscht sie ein bisschen Sahnelikör zusammen und setzt sich wochenlang fest. Nur über die Feiertage? Pah! Ihr werdet schon sehen. Ich habe keine Ahnung, wie ich sie wieder loswerde.«
Nicht durch das Schäferwagenfenster, so viel war klar. Mama blies Rauch auf Rebecca und Tess herab und blickte kritisch hinunter zum Schloss.
»Wir sollten hier weg. Sieh dich doch einmal um, Kind! Gottverlassen und diese ganzen Irren.« »Hortense ist in Ordnung«, sagte Rebecca.
»Kein Stil«, sagte Mama verächtlich. »Ich dachte, Französinnen hätten Stil. Was ist mit dem Ziegenhirten da drüben? Der läuft den ganzen Tag durch den Wald, und wenn er hier vorbeikommt, sagt er kein Wort. Ist das etwa normal? Ist dir aufgefallen, wie sich die anderen von ihm fernhalten? Irgendeinen Grund muss das doch haben.«
»Von uns halten sie sich auch fern«, sagte Rebecca. Tess hatte sich auf den Rücken gerollt und bekam von Rebecca das Bauchfell gekrault.
»Auch das hat einen Grund«, sagte Mama.
»Du verstehst nichts von Leuten, Reba. Genau wie dein Vater. Du hast dich nie für Menschen interessiert. Ich schon. Ich habe den Sinn. Ich sehe. Idyllisch? Die Karten sagen etwas anderes!«
Die Schafe sahen sich bedeutungsvoll an. Karten sagten oft etwas anderes. Wie die Landkarte, bis Mopple sie gefressen hatte. Alle ihre Probleme hatten mit der Landkarte angefangen.
»Weißt du, welche Karte seit zwei Wochen in jeder meiner Seancen auftaucht?«
Rebecca seufzte, richtete sich wieder auf und streckte sich wie eine Katze.
»Der Teufel!«, blökten die Schafe im Chor. Es war immer das Gleiche.
»Der Teufel!«, schmetterte Mama triumphierend von den Schäferwagenstufen.
Rebecca lachte. »Das kommt daher, dass du drei Teufel in deinem Deck hast, Mama. Und die Gerechtigkeit und die Mäßigung hast du aussortiert!«
Tess streckte sich nach Hundsart und schlüpfte an Mamas Pantoffeln vorbei zurück ins Innere des Schäferwagens.
»Na und? Man muss die Karten eben ein bisschen den heutigen Verhältnissen anpassen, das ist alles. Seit die Mäßigung raus ist, habe ich eine Erfolgsquote von 75 Prozent! Weißt du, was die anderen ...«
Rebecca wedelte mit der Hand hin und her, als würde sie unsichtbare und sehr kälteunempfindiche Fliegen verscheuchen, und Mama seufzte.
»Nun mal ehrlich, Kind, fühlst du dich hier wohl? Frag doch morgen mal den Tie ...«
Schneller als ein Wiesel war Rebecca die Schäferwagenstufen hinaufgesprintet und presste Mama eine Hand auf den Mund. 26
»Bist du verrückt?«, zischte sie. »Weißt du, was hier los ist, wenn du das Wort sagst?«
»Der Teufel!«, blökten die Schafe. Wenn hier etwas los war, dann war es meistens der Teufel. Diesen Abend standen die Schafe länger als üblich vor dem Heuschuppen und guckten in die Nacht hinaus. Die Hofgebäude schmiegten sich schutzsuchend an das Schloss. Der Apfelgarten schwieg.
Es roch nach Rauch und neuem Schnee. Der Schatten einer Eule glitt lautlos über die Weide Richtung Wald. Fühlten sie sich hier wohl?
Cloud vielleicht. Cloud war das wolligste Schaf der Herde, und sie fühlte sich überall wohl. Wollig und wohlig hingen zusammen. Auch Sir Ritchfield schien es zu gefallen, weil es hier viele Gesprächspartner gab, die nicht wegliefen: die alte Eiche, den Schrank, den Bach, manchmal den ungeschorenen Fremden, und wenn er Glück hatte die eine oder andere Ziege. Bei den Ziegen waren Ritchfields laute und einseitige Unterhaltungen sogar beliebt, und oft fand sich ein ganzer Trupp am Zaun ein, kicherte und hopste.
Die anderen waren sich nicht so sicher. Etwas stimmte nicht. Im Apfelgarten hing nur noch ein einziger vergessener Apfel, rot wie ein Tropfen Blut. Man konnte ihn sehen, aber nicht riechen. Vielleicht war es wieder an der Zeit, eine Karte zu fressen. Aber welche Karte?
»Was sie wohl sagen wollte?«, fragte Miss Maple plötzlich.
»Wer?«, fragte Maude.
»Mama«, sagte Maple. »Bevor ihr Rebecca den Mund zugehalten hat.«
Die Schafe wussten es nicht und schwiegen. Ein halber Mond hing über der Weide wie ein angefressener Haferkeks.
»Rebecca ist richtig erschrocken«, sagte Miss Maple.
»Als würde bald etwas passieren. Etwas Schreckliches.«
»Was soll schon passieren?«, sagte Cloud und plusterte sich.
»Was soll schon passieren?«, blökten die anderen Schafe. Es gab jeden Tag Kraftfutter im Trog und ein bisschen Vorlesen auf den Schäferwagenstufen. Wenn die Wasserstelle zugefroren war, hackte Rebecca das Eis mit einer Hacke auf.
Wenn es zu sehr schneite, blieben sie im Heuschuppen. Wenn ihnen langweilig war, fraßen sie oder erzählten Geschichten. Und am Ende jeder Geschichte wartete ein duftender Heuhaufen. Die Schafe blickten hinaus auf den blauen Schnee und kamen sich kühn vor.
In diesem Moment schnitt ein Ton durch die Stille, lang und dünn und fern und herzzerreißend. Eine Klage. Ein Heulen.
1. Auflage Copyright © 2010 by Leonie Swann Copyright © 2010 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Leonie Swann
Leonie Swann wurde 1975 in der Nähe von München geboren. Sie studierte Philosophie, Psychologie und Englische Literaturwissenschaft in München und Berlin. Die Idee zu ihrem Buch entstand während eines Aufenthaltes in Paris, als sie plötzlich eine große Sehnsucht nach dem Landleben überkam - und nach Schafen, mit denen sie auf einer Irlandreise Bekanntschaft geschlossen hatte. Ihr Debüt-Roman sorgte auf Anhieb auch international für Furore.
Autoren-Interview mit Leonie Swann
Das Wachsen des Grases ist kein Geräusch, es ist ein GeruchLeonie Swann im Interview über ihren Schaf-Thriller „Garou"
Ihr Debütroman "Glennkill", ein Kriminalroman mit einer Herde Schafe als Ermittler, wurde auf Anhieb ein überwältigender Erfolg. Wie hat dieser Erfolg Ihr Leben verändert?
Nicht so sehr, wie man vielleicht denken könnte. Soweit ich sehen kann, sind mir noch immer dieselben Dinge wichtig. Ich trinke weiter gerne Tee, lese, beobachte Spinnen und sitze im Grünen.
Aber es ist ein schönes Gefühl, etwas geschrieben zu haben, das vielen Menschen Freude macht. Und es hilft einem, an die Geschichten zu glauben, die noch so in einem schlummern. Natürlich hat sich auch einiges geändert: ich mache Lesereisen, werde auf Festivals eingeladen, gebe Interviews. Aber es fühlt sich nicht so an, als hätte der Erfolg mein Leben von Grund auf verändert - eher eine neue Tapete an der Wand als ein Umzug in den Wolkenkratzer, bildlich gesprochen.
"Glennkill" haben Sie in Paris, Irland und Berlin geschrieben. Wo haben Sie sich bei der Arbeit an Ihrem neuen Roman "Garou" aufgehalten?
In Berlin und England.
"Glennkill" entstand eher zufällig: Während eines längeren Aufenthaltes in Paris packte Sie die Sehnsucht nach dem Landleben, und Sie begannen eines Abends, eine Geschichte über Schafe zu schreiben. Einen Roman hatten Sie dabei gar nicht im Sinn. Ganz anders verhielt es sich bei Ihrem neuen Roman "Garou", der als Fortsetzung von "Glennkill" angelegt war. Das zweite Buch, heißt es sicher nicht umsonst, sei für einen Schriftsteller das schwerste. Wie ist es Ihnen gelungen, konzentriert an "Garou" zu arbeiten und sich vom Druck zu befreien, der nach dem Erfolg von "Glennkill" auf Ihnen lasten musste?
Ich glaube, letztlich hat mir die Geschichte
... mehr
selbst geholfen, und meine Zuneigung zu den Schafen: Figuren, Szenen, kleine Ideen, die auf einmal einfach da waren. Man kann sie nicht herbeizwingen, aber man kann sich freuen, wenn es sie gibt. Und man kann dieser Freude ein Stück weit vertrauen, Spaß haben an der Geschichte, experimentieren und loslassen.
Das war nicht immer einfach, ganz und gar nicht, aber irgendwie, wunderbarerweise, ging es dann manchmal doch. Ich bekam auch viel Unterstützung von Freunden, meiner Agentin und nicht zuletzt auch sehr vom Goldmann Verlag, der alles getan hat, damit ich möglichst entspannt arbeiten konnte.
In "Glennkill" hatte der Schäfer George seiner Herde eine Reise nach Europa versprochen. Seine Tochter Rebecca, die neue Schäferin, löst dieses Versprechen in "Garou" ein. Doch den Kontinent hatten sich die Schafe anders vorgestellt. Mitten im eisigen Winter verschlägt es sie in Frankreich in einen entlegenen Obstgarten am Fuß eines düsteren Schlosses. Gibt es für diesen Ort ein Vorbild?
Es gibt ein Vorbild - ein kleines bretonisches Schloss mitten im Wald von Brocéliande, komplett mit Schlossturm und Schafsweide und flackernden Lichtern, die sich im Burggraben spiegelten. Nur den Namen habe ich vergessen.
Was hat es mit dem Titel "Garou" auf sich?
„Loup garou" ist das französische Wort für Werwolf.
„Loup" repräsentiert natürlich die Wolfsseite, während das altfranzösische „garou" zwar auch „Werwolf" bedeuten kann, hier aber eher für den menschlichen Aspekt der Kreatur steht. Der Titel ist für mich eine Anspielung darauf, dass das Unheimlichste an der Figur des Werwolfs vielleicht doch seine Menschennatur ist. Außerdem ist der Werwolf eine Figur, in der die Ängste von Menschen und Schafen zusammenfließen.
In "Garou" haben wir es mit einem Kriminalfall zu tun, der überlagert wird von mystischen Ereignissen. Natürlich geht es auch in "Garou" um die Aufklärung des Falls, doch die meiste Zeit über fühlen sich die Schafe wie auch Rebecca, ihre Mutter und einige der Dorfbewohner Gefahren ausgesetzt, die sie rational nicht einordnen und ergründen können. Können Sie uns etwas mehr über das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Ebenen erzählen?
Während „Glennkill" ein Schafkrimi ist, der klassische Whodunits in der Tradition Agatha Christies zum Vorbild hat, orientiert sich „Garou" mehr am modernen Thriller.
Daraus ergibt sich eine andere Plotstruktur. Das Verbrechen liegt diesmal nicht in der Vergangenheit. Der Täter (Werwolf oder nicht) ist weiter aktiv, auf der Suche nach neuen Opfern, und weder Menschen noch Schafe noch Ziegen sind vor ihm sicher. Es geht nicht nur darum, ein Verbrechen aufzuklären, sondern vor allem auch darum, neue Morde zu verhindern. Menschen und Schafe sehen sich mit der Irrationalität eines Psychopathen konfrontiert, die sie dazu zwingt ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. In gewissem Sinne denken die Schafe hier sogar rationaler als die Menschen. Sie können nicht auf tradierten Aberglauben zurückgreifen - die Wölfe in ihrer Welt sind vierbeinig, pragmatisch und sehr real.
In Ihrem neuen Roman begegnet der Leser allen Schafen wieder: Mopple the Whale beispielsweise mit seinem elefantösen Gedächtnis, der mutigen, eigensinnigen Zora, dem alten Leitwidder Sir Ritchfield, dem schwarzen Othello mit der zwielichtigen Vergangenheit, der scharfsinnigen Miss Maple und nicht zuletzt dem Winterlamm. Welche Schafe spielen diesmal die Hauptrolle, und wie hat sich die Auswahl für Sie ergeben?
Mopple the Whale, Miss Maple und Othello sind weiterhin zentrale Figuren, die mit ihren Ideen und ihrer Persönlichkeit die Handlung entscheidend beeinflussen.
Neu ist, dass diesmal das Winterlamm mehr im Vordergrund steht und um seinen Platz in der Herde kämpft. Aus Sicht des Winterlamms ist „Garou" ein Entwicklungsroman. Umgekehrt geht es mit Sir Ritchfield bergab. Der alte Leitwidder wird zunehmend seniler, dabei aber kein bisschen weniger würdevoll. Vielleicht taucht ein Teil seines Charakters wieder auf, der während seiner Leitwidderjahre ein wenig versteckt war, freundlich und sehnsüchtig und sehr liebenswert.
Und natürlich gibt es zwei Neuzugänge: den ungeschorenen Fremden und Madouc, die streng genommen gar kein Schaf ist, aber trotzdem für Aufregung sorgt.
Wie sich die Auswahl ergeben hat?
Über Sir Ritchfield und das Winterlamm erfährt man in „Glennkill" nicht wirklich viel - trotzdem hatte ich das Gefühl, dass in ihnen noch viel Persönlichkeit steckt. Es war sehr schön, die beiden bei der Arbeit an „Garou" ein wenig besser kennenzulernen.
Für Ihren ersten Roman hatten sie Feldforschung betrieben, um sich besser in die Schafe hineinversetzen zu können. Diese Erfahrungen wollten Sie nach "Glennkill" bei einem Schäferpraktikum in Frankreich vertiefen.
Haben Sie dieses Praktikum tatsächlich absolviert? Und falls ja, können Sie uns etwas über Ihre wichtigsten Erlebnisse erzählen?
Das Praktikum hat tatsächlich stattgefunden, und ich hoffe, dass ich mich auf dem Schafhof auch ein wenig nützlich gemacht habe. Jedenfalls habe ich eine Menge gelernt, nicht so sehr die großen Zusammenhänge, sondern sinnliche kleine Dinge. Heugerüche, helles Lämmerblöken, das beruhigende Murmeln eines Mutterschafs, den Rhythmus eines Lebens mit Schafen, das fettige, warme Gefühl von Wolle, die Lebendigkeit und den unglaublichen Lebenswillen der Lämmer, Scheu und Misstrauen und Schafsmut. Und natürlich gab es Geschichten! Bernie beispielsweise geht auf diese wahren Schafsgeschichten zurück.
Stammt aus dieser Zeit auch Ihre Idee, die Schafe auf eine kleine Herde Ziegen treffen zu lassen?
Es ist nicht immer einfach, genau zurückzuverfolgen, wo und wie eine Idee entstanden ist. Vielleicht hatte ich schon vorher an Ziegen gedacht, aber die Geschichten der Schäferin (die früher auch Ziegen hielt und Ziegenkäse hergestellte) haben mich sicher darin bestärkt,
Schafe und Ziegen kann man häufig gemeinsam und scheinbar einträchtig auf einer Weide sehen. In Ihrem Roman herrscht zwischen Schafen und Ziegen jedoch alles andere als Harmonie. Wie würden Sie die Ziegen im Vergleich zu den Schafen charakterisieren?
Die Ziegen in meiner Geschichte sind irrational, chaotisch, dionysisch, schamlos und verrückt. Sie klettern auf Bäume, leihen sich gegenseitig Namen aus, stellen sich nach Farben auf, praktizieren Demokratie und stinken. Sie sind sehr lebendig und manchmal ein wenig zerstörerisch.
Während die Schafe um jedes bisschen Rationalität kämpfen, haben die Ziegen den Kampf längst aufgegeben und wollen einfach nur ihren Spaß. Sie sind ein vergnügungssüchtiges Publikum, vor dessen kritischen Kommentaren die Schafe bei ihren Ermittlungen keinen Augenblick sicher sind.
Ihre Schilderungen der Welt aus der Schafsperspektive bieten eine Fülle überraschender Wahrnehmungen und skurriler Vergleiche: Eine Kommode beispielsweise wird von den Schafen als Lamm eines Schrankes betrachtet, ein Kaschmirmantel erregt den Unmut der Schafe, weil er aus Ziegenhaar und dennoch ihrer Schäferin Rebecca lieb und teuer ist. Entstehen diese Einfälle spontan beim Schreiben oder sammeln Sie Ideen, auf die Sie zurückgreifen können?
Der Schrank, die Kommode und viele andere Ideen entstanden direkt beim Schreiben, ganz natürlich und beiläufig, und erst später, wenn mich Leute auf diese Szenen ansprechen, beginne ich, sie überhaupt als Ideen wahrzunehmen. Vorher waren sie einfach nur Teil der Geschichte.
Eine gute Idee ist nicht so sehr die Nadel im Heuhaufen - eher eine Ziege im Heuhaufen. Zuerst ist man einen Moment lang überrascht, aber dann versteht man, warum sie ganz natürlich genau da hingehört, wo sie aufgetaucht ist. Sie frisst Heu und guckt unschuldig. Und nach dem ersten Schreck beginnt man, sich vorsichtig über sie zu freuen.
Haben Sie im Sinn, Ihre Geschichten über die Schafherde aus Irland fortzusetzen, oder stehen für Sie nun erst einmal andere Projekte im Vordergrund?
Momentan gibt es keine konkreten Pläne für neue Schafsabenteuer.
Das Erzählen aus Schafsperspektive ist sehr reizvoll, gleichzeitig ist man aber durch die Naivität der Schafe vielen Beschränkungen unterworfen. Ich freue mich sehr darauf, neue Geschichten zu erkunden und auf die Freiheit, erzählerisch Neues auszuprobieren zu können.
© Elke Kreil, Goldmann Verlag
Das war nicht immer einfach, ganz und gar nicht, aber irgendwie, wunderbarerweise, ging es dann manchmal doch. Ich bekam auch viel Unterstützung von Freunden, meiner Agentin und nicht zuletzt auch sehr vom Goldmann Verlag, der alles getan hat, damit ich möglichst entspannt arbeiten konnte.
In "Glennkill" hatte der Schäfer George seiner Herde eine Reise nach Europa versprochen. Seine Tochter Rebecca, die neue Schäferin, löst dieses Versprechen in "Garou" ein. Doch den Kontinent hatten sich die Schafe anders vorgestellt. Mitten im eisigen Winter verschlägt es sie in Frankreich in einen entlegenen Obstgarten am Fuß eines düsteren Schlosses. Gibt es für diesen Ort ein Vorbild?
Es gibt ein Vorbild - ein kleines bretonisches Schloss mitten im Wald von Brocéliande, komplett mit Schlossturm und Schafsweide und flackernden Lichtern, die sich im Burggraben spiegelten. Nur den Namen habe ich vergessen.
Was hat es mit dem Titel "Garou" auf sich?
„Loup garou" ist das französische Wort für Werwolf.
„Loup" repräsentiert natürlich die Wolfsseite, während das altfranzösische „garou" zwar auch „Werwolf" bedeuten kann, hier aber eher für den menschlichen Aspekt der Kreatur steht. Der Titel ist für mich eine Anspielung darauf, dass das Unheimlichste an der Figur des Werwolfs vielleicht doch seine Menschennatur ist. Außerdem ist der Werwolf eine Figur, in der die Ängste von Menschen und Schafen zusammenfließen.
In "Garou" haben wir es mit einem Kriminalfall zu tun, der überlagert wird von mystischen Ereignissen. Natürlich geht es auch in "Garou" um die Aufklärung des Falls, doch die meiste Zeit über fühlen sich die Schafe wie auch Rebecca, ihre Mutter und einige der Dorfbewohner Gefahren ausgesetzt, die sie rational nicht einordnen und ergründen können. Können Sie uns etwas mehr über das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Ebenen erzählen?
Während „Glennkill" ein Schafkrimi ist, der klassische Whodunits in der Tradition Agatha Christies zum Vorbild hat, orientiert sich „Garou" mehr am modernen Thriller.
Daraus ergibt sich eine andere Plotstruktur. Das Verbrechen liegt diesmal nicht in der Vergangenheit. Der Täter (Werwolf oder nicht) ist weiter aktiv, auf der Suche nach neuen Opfern, und weder Menschen noch Schafe noch Ziegen sind vor ihm sicher. Es geht nicht nur darum, ein Verbrechen aufzuklären, sondern vor allem auch darum, neue Morde zu verhindern. Menschen und Schafe sehen sich mit der Irrationalität eines Psychopathen konfrontiert, die sie dazu zwingt ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. In gewissem Sinne denken die Schafe hier sogar rationaler als die Menschen. Sie können nicht auf tradierten Aberglauben zurückgreifen - die Wölfe in ihrer Welt sind vierbeinig, pragmatisch und sehr real.
In Ihrem neuen Roman begegnet der Leser allen Schafen wieder: Mopple the Whale beispielsweise mit seinem elefantösen Gedächtnis, der mutigen, eigensinnigen Zora, dem alten Leitwidder Sir Ritchfield, dem schwarzen Othello mit der zwielichtigen Vergangenheit, der scharfsinnigen Miss Maple und nicht zuletzt dem Winterlamm. Welche Schafe spielen diesmal die Hauptrolle, und wie hat sich die Auswahl für Sie ergeben?
Mopple the Whale, Miss Maple und Othello sind weiterhin zentrale Figuren, die mit ihren Ideen und ihrer Persönlichkeit die Handlung entscheidend beeinflussen.
Neu ist, dass diesmal das Winterlamm mehr im Vordergrund steht und um seinen Platz in der Herde kämpft. Aus Sicht des Winterlamms ist „Garou" ein Entwicklungsroman. Umgekehrt geht es mit Sir Ritchfield bergab. Der alte Leitwidder wird zunehmend seniler, dabei aber kein bisschen weniger würdevoll. Vielleicht taucht ein Teil seines Charakters wieder auf, der während seiner Leitwidderjahre ein wenig versteckt war, freundlich und sehnsüchtig und sehr liebenswert.
Und natürlich gibt es zwei Neuzugänge: den ungeschorenen Fremden und Madouc, die streng genommen gar kein Schaf ist, aber trotzdem für Aufregung sorgt.
Wie sich die Auswahl ergeben hat?
Über Sir Ritchfield und das Winterlamm erfährt man in „Glennkill" nicht wirklich viel - trotzdem hatte ich das Gefühl, dass in ihnen noch viel Persönlichkeit steckt. Es war sehr schön, die beiden bei der Arbeit an „Garou" ein wenig besser kennenzulernen.
Für Ihren ersten Roman hatten sie Feldforschung betrieben, um sich besser in die Schafe hineinversetzen zu können. Diese Erfahrungen wollten Sie nach "Glennkill" bei einem Schäferpraktikum in Frankreich vertiefen.
Haben Sie dieses Praktikum tatsächlich absolviert? Und falls ja, können Sie uns etwas über Ihre wichtigsten Erlebnisse erzählen?
Das Praktikum hat tatsächlich stattgefunden, und ich hoffe, dass ich mich auf dem Schafhof auch ein wenig nützlich gemacht habe. Jedenfalls habe ich eine Menge gelernt, nicht so sehr die großen Zusammenhänge, sondern sinnliche kleine Dinge. Heugerüche, helles Lämmerblöken, das beruhigende Murmeln eines Mutterschafs, den Rhythmus eines Lebens mit Schafen, das fettige, warme Gefühl von Wolle, die Lebendigkeit und den unglaublichen Lebenswillen der Lämmer, Scheu und Misstrauen und Schafsmut. Und natürlich gab es Geschichten! Bernie beispielsweise geht auf diese wahren Schafsgeschichten zurück.
Stammt aus dieser Zeit auch Ihre Idee, die Schafe auf eine kleine Herde Ziegen treffen zu lassen?
Es ist nicht immer einfach, genau zurückzuverfolgen, wo und wie eine Idee entstanden ist. Vielleicht hatte ich schon vorher an Ziegen gedacht, aber die Geschichten der Schäferin (die früher auch Ziegen hielt und Ziegenkäse hergestellte) haben mich sicher darin bestärkt,
Schafe und Ziegen kann man häufig gemeinsam und scheinbar einträchtig auf einer Weide sehen. In Ihrem Roman herrscht zwischen Schafen und Ziegen jedoch alles andere als Harmonie. Wie würden Sie die Ziegen im Vergleich zu den Schafen charakterisieren?
Die Ziegen in meiner Geschichte sind irrational, chaotisch, dionysisch, schamlos und verrückt. Sie klettern auf Bäume, leihen sich gegenseitig Namen aus, stellen sich nach Farben auf, praktizieren Demokratie und stinken. Sie sind sehr lebendig und manchmal ein wenig zerstörerisch.
Während die Schafe um jedes bisschen Rationalität kämpfen, haben die Ziegen den Kampf längst aufgegeben und wollen einfach nur ihren Spaß. Sie sind ein vergnügungssüchtiges Publikum, vor dessen kritischen Kommentaren die Schafe bei ihren Ermittlungen keinen Augenblick sicher sind.
Ihre Schilderungen der Welt aus der Schafsperspektive bieten eine Fülle überraschender Wahrnehmungen und skurriler Vergleiche: Eine Kommode beispielsweise wird von den Schafen als Lamm eines Schrankes betrachtet, ein Kaschmirmantel erregt den Unmut der Schafe, weil er aus Ziegenhaar und dennoch ihrer Schäferin Rebecca lieb und teuer ist. Entstehen diese Einfälle spontan beim Schreiben oder sammeln Sie Ideen, auf die Sie zurückgreifen können?
Der Schrank, die Kommode und viele andere Ideen entstanden direkt beim Schreiben, ganz natürlich und beiläufig, und erst später, wenn mich Leute auf diese Szenen ansprechen, beginne ich, sie überhaupt als Ideen wahrzunehmen. Vorher waren sie einfach nur Teil der Geschichte.
Eine gute Idee ist nicht so sehr die Nadel im Heuhaufen - eher eine Ziege im Heuhaufen. Zuerst ist man einen Moment lang überrascht, aber dann versteht man, warum sie ganz natürlich genau da hingehört, wo sie aufgetaucht ist. Sie frisst Heu und guckt unschuldig. Und nach dem ersten Schreck beginnt man, sich vorsichtig über sie zu freuen.
Haben Sie im Sinn, Ihre Geschichten über die Schafherde aus Irland fortzusetzen, oder stehen für Sie nun erst einmal andere Projekte im Vordergrund?
Momentan gibt es keine konkreten Pläne für neue Schafsabenteuer.
Das Erzählen aus Schafsperspektive ist sehr reizvoll, gleichzeitig ist man aber durch die Naivität der Schafe vielen Beschränkungen unterworfen. Ich freue mich sehr darauf, neue Geschichten zu erkunden und auf die Freiheit, erzählerisch Neues auszuprobieren zu können.
© Elke Kreil, Goldmann Verlag
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Bibliographische Angaben
- Autor: Leonie Swann
- 2011, 1, 414 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008586
- ISBN-13: 9783868008586
Rezension zu „Garou “
",Garou' ist ein Spaß. Ein Spaß mit ein paar dunklen Ecken: Geisterschafen, dämonischen Ziegen, Mysteriösen Menschen. Aber was wäre ein Schafkrimi, ohne dunkle Ecken? Nur eine Geschichte über ein paar nicht gerade gescheite Tiere." (Frankfurter Rundschau)
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