Wer dem Tode geweiht
Ein Inspektor-Lynley-Roman
"Tote im Abney Park" titeln die Zeitungen. Doch was zunächst nach einem Eifersuchtsdrama aussieht, entpuppt sich als schwer zu lösender Fall - ein Fall für Inspector Lynley und Barbara Havers.
Seit Thomas Lynley nach dem...
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Produktinformationen zu „Wer dem Tode geweiht “
"Tote im Abney Park" titeln die Zeitungen. Doch was zunächst nach einem Eifersuchtsdrama aussieht, entpuppt sich als schwer zu lösender Fall - ein Fall für Inspector Lynley und Barbara Havers.
Seit Thomas Lynley nach dem Mord an seiner Frau den Dienst quittierte, ist seine Stelle bei Scotland Yard unbesetzt. Als Isabelle Ardery den Posten bekommt, macht sie sich bei Lynleys alter Truppe sofort unbeliebt. Um den mysteriösen Todesfall in einem Londoner Park aufklären zu können, muss Ardery Lynley um Hilfe bitten. Zusammen mit Barbara Havers verstrickt sich Lynley in eine Ermittlung, die immer undurchsichtiger wird.
"Niemand mordet so erfolgreich wie Elizabeth George."
AMICA
Die amerikanische Autorin Elizabeth George hatte schon in ihrer Jugend eine Vorliebe für britische Kriminalromane. Mit ihrem Erstlingswerk "Gott schütze dieses Haus" schaffte sie den internationalen Durchbruch.
SPIEGEL Bestseller PLatz 2 (45/2010)!
Elisabeth George zu ihrem neuen Roman:
Liebe Weltbild-Leser,
ich freue mich außerordentlich, Ihnen heute meinen neuesten Roman "Wer dem Tode geweiht" vorstellen zu können. Diejenigen unter Ihnen, die verfolgt haben, wie Inspektor Thomas Lynley, innerlich zerrissen von dem tiefen Schmerz und der unerträglichen Verzweiflung über den Mord an seiner geliebten Frau, seinen Dienst bei Scotland Yard quittierte und aus London geflohen ist, werden erleichtert sein, dass er wieder zurück ist.
Er zögert anfangs zwar noch, in den Polizeidienst zurückzukehren, aber nachdem auf einem verlassenen und versteckt gelegenen Londoner Friedhof die Leiche einer erstochenen Frau gefunden wird, kann er sich dem Ruf um Hilfe nicht verschließen. Während seine frühere Kollegin Barbara Havers eine Spur verfolgt, die nach Südengland führt, arbeitet er in London Seite an Seite mit Isabel Ardery, der überehrgeizigen Leiterin seiner früheren Dienststelle. Und während die Kollegen seines alten Teams entnervt auf Arderys Chefallüren reagieren, fühlt sich Lynley fast von ihrer ersten Begegnung an von dieser Frau angezogen, die, wie er instinktiv spürt, unter ihrer hartgesottenen Oberfläche eine tiefe Verletztheit und Verletzlichkeit verbirgt.
Es ist ein schwieriger und zutiefst verstörender Fall, den Lynley, Ardery und Havers gemeinsam zu lösen versuchen - ein Fall, der sie zu einer schockierenden Wahrheit führt. Und es ist ein Fall, der sie unbarmherzig zwingt, geradewegs in die dunkelsten Abgründe der menschlichen Seele zu blicken.
Ich hoffe, mein neuer Roman wird Ihnen gefallen, und ich möchte Ihnen allen ganz herzlich für Ihre außerordentliche Treue und Verbundenheit danken.
Mit herzlichen Grüßen,
Ihre Elizabeth George
Lese-Probe zu „Wer dem Tode geweiht “
Wer dem Tode geweiht von Elizabeth GeorgeAnfänge
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Aus den Berichten der ermittelnden Polizisten, die Michael Spargo und seine Mutter vor der Anklageerhebung vernahmen, geht hervor, dass der Tag, an dem der Junge zehn Jahre alt wurde, für ihn bereits schlecht angefangen hatte. In Anbetracht des von Michael begangenen Verbrechens und der großen Antipathie, die ihm später vonseiten der Polizei und der Mitbürger entgegengebracht wurde, kann man derlei Darstellungen zwar als fragwürdig betrachten. Allerdings kommt auch der ausführliche Bericht der Sozialarbeiterin, die Michael sowohl während der Verhöre als auch während der späteren Gerichtsverhandlung zur Seite gestellt war, zu dem gleichen Ergebnis.
Manche Einzelheiten werden sich selbst demjenigen, der sich mit Kindesmissbrauch, Familiendysfunktion und der daraus resultierenden Psychopathologie beschäftigt, nie erschließen. Doch die wesentlichen Charakteristika sind unverkennbar und unweigerlich erfahrbar für jedermann, der mit den betroffenen Personen in Kontakt kommt, wenn diese - bewusst oder unbewusst - ihre mentalen, psychischen und emotionalen Störungen an den Tag legen.
Dies war auch bei Michael Spargo und seiner Familie der Fall.
Michael ist der sechste von neun Brüdern. Gegen zwei seiner Brüder (Richard und Pete, damals achtzehn und fünfzehn Jahre alt) sowie gegen seine Mutter Sue lagen wegen anhaltender Streitereien mit den Nachbarn, wegen Belästigung diverser Rentner, die in der Sozialsiedlung wohnten, wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit und Zerstörung privaten und städtischen Eigentums Anzeigen vor. In dem Haushalt gab es keinen Vater. Vier Jahre vor Michaels zehntem Geburtstag hatte Donovan Spargo Frau und Kinder verlassen und war mit einer fünfzehn Jahre älteren Witwe nach Portugal gezogen. Auf dem Küchentisch hatte er einen Abschiedsbrief und fünf Pfund in Münzen hinterlassen. Seitdem hatte man nie wieder von ihm gehört. Er erschien nicht zu Michaels Gerichtsverhandlung.
Sue Spargo, die weder über einen Schulabschluss noch über nennenswerte berufliche Qualifikation verfügt, gab freimütig zu, dass sie, nachdem ihr Mann sie sitzen gelassen hatte, »ein bisschen zu viel getrunken« habe und von da an kaum noch in der Lage gewesen sei, sich um ihre Söhne zu kümmern. Bis zu Donovan Spargos Verschwinden hatte die Familie zumindest nach außen hin einigermaßen stabil gewirkt, wie sich aus Schulzeugnissen und Berichten von Nachbarn und der örtlichen Polizei schließen lässt. Aber nachdem das Familienoberhaupt sich abgesetzt hatte, traten die Störungen innerhalb der Familie offen zutage.
Die Spargos wohnten in Buchanan Estate, einer trostlosen Ansammlung von grauen Stahlbetontürmen und schmucklosen Reihenhäusern in einem Stadtteil mit dem treffenden Namen »The Gallows« - »Galgen« -, der bekannt ist für Schlägereien, Straßenraub, Autodiebstahl und Einbruchdiebstähle. Morde geschahen dort nur selten, aber Gewalt war an der Tagesordnung. Die Spargos gehörten zu den Bewohnern, die etwas besser gestellt waren. Aufgrund der Größe der Familie lebten sie in einem Reihenhaus und nicht in einem der Wohntürme. Sie hatten einen Garten und einen kleinen Vorgarten, die sie allerdings nicht pflegten. Das Haus verfügte über ein Wohnzimmer, eine Küche, vier Schlafzimmer und ein Bad. Michael teilte sich ein Zimmer mit seinen drei jüngeren Brüdern. Sie schliefen in zwei Etagenbetten. Vier seiner älteren Brüder teilten sich das Nebenzimmer. Nur Richard, der Älteste, hatte ein eigenes Zimmer - ein Vorrecht, das offenbar seiner Neigung zuzuschreiben war, seine jüngeren Brüder zu schikanieren. Auch Sue Spargo bewohnte ein eigenes Zimmer. Interessanterweise betonte sie während der Vernehmungen mehrmals, dass, wenn einer der Jungen krank war, dieser bei ihr schlief und »nicht bei diesem Rüpel Richard«.
An Michaels zehntem Geburtstag wurde kurz nach sieben Uhr morgens die Polizei gerufen. Ein Familienstreit war so weit eskaliert, dass die Nachbarn sich veranlasst gesehen hatten einzugreifen. Später sagten sie aus, sie hätten lediglich wieder Ruhe herstellen wollen. Dagegen steht Sue Spargos Behauptung, die Nachbarn hätten ihre Söhne angegriffen. Aus den Protokollen der anschließend von der Polizei durchgeführten Vernehmungen geht jedoch hervor, dass im ersten Stock des Hauses der Familie Spargo ein Streit zwischen Richard und Pete entstanden war, nachdem Letzterer das Bad nicht schnell genug frei gemacht hatte. Richard, größer und kräftiger als sein fünfzehnjähriger Bruder, ging daraufhin brutal auf diesen los. Der sechzehnjährige Doug eilte Pete zu Hilfe, woraufhin Pete und Richard sich verbündeten und sich gemeinsam gegen Doug wendeten. Bis Sue schließlich eingriff, hatte die Schlägerei sich bereits ins Untergeschoss verlagert. Als es so aussah, als würde Sue unter Richards und Petes Fäuste geraten, versuchte der zwölfjährige David, sie mit einem Fleischmesser aus der Küche zu verteidigen, wo er angeblich dabei gewesen war, sich sein Frühstück zu machen.
An diesem Punkt hatten die Nachbarn eingegriffen, die den Lärm durch die schlecht isolierten Wände gehört hatten. Unglücklicherweise waren sie - insgesamt drei Personen - bewaffnet mit einem Kricketschläger, einem Wagenheber und einem Hammer erschienen, und laut Richard Spargos Aussage war es ebendieser Anblick, der ihn hatte rotsehen lassen. »Die hatten's auf unsere Familie abgesehen«, lautete sein spontaner Kommentar - die Worte eines Jungen, der sich als neues Familienoberhaupt betrachtete und sich verpflichtet fühlte, seine Mutter und seine Geschwister zu verteidigen.
Mitten in diesem Durcheinander wachte Michael auf. »Richard und Pete hatten Zoff mit Mum«, gab er später zu Protokoll. »Wir konnten sie hören, ich und die Kleinen, aber wir wollten damit nichts zu tun haben.« Er behauptete, keine Angst gehabt zu haben. Aber im Lauf der Vernehmung stellte sich heraus, dass Michael stets einen großen Bogen um seine älteren Brüder machte, »um sich keine einzufangen, wenn die glauben, man guckt sie schief an«. Dass es ihm nicht immer gelungen war, seinen Brüdern aus dem Weg zu gehen, geht aus den Aussagen dreier seiner Lehrer hervor, die den Sozialarbeiterinnen von blauen Flecken, Kratzspuren, Verbrennungen und mindestens einem blauen Auge berichteten, die sie bei Michael festgestellt hatten. Bis auf einen einzigen Hausbesuch hatten diese Aussagen jedoch keine weiteren Konsequenzen. Offenbar war das System überlastet.
Verschiedene Hinweise lassen darauf schließen, dass Michael seine Wut über die Misshandlungen seinerseits an den jüngeren Brüdern ausließ. Aus Berichten, die entstanden, nachdem vier der Kinder in Pflegefamilien untergebracht worden waren, geht hervor, dass Michael den Auftrag hatte, dafür zu sorgen, dass sein Bruder Stevie »nicht ins Bett macht«. Da er nicht wusste, wie er dies bewerkstelligen sollte, verabreichte er dem Siebenjährigen offenbar regelmäßig eine Tracht Prügel, woraufhin Stevie seine Wut wiederum an den jüngeren Brüdern ausließ.
Ob Michael an jenem Morgen die kleineren Jungen attackierte, ist nicht bekannt. Er sagte lediglich aus, er sei aufgestanden, nachdem die Polizei eingetroffen war, habe sich seine Schuluniform angezogen und sei nach unten in die Küche gegangen, um zu frühstücken. Obwohl es sein Geburtstag war, rechnete er nicht damit, dass darum irgendein Aufhebens gemacht werden würde. »War mir egal«, sagte er später gegenüber der Polizei.
Das Frühstück bestand aus Cornflakes und Marmeladenbrötchen. Milch gab es nicht, was Michael bei seinen ersten Vernehmungen zwei Mal betonte. Daher aß er die Cornflakes trocken. Die meisten Brötchen ließ er für seine jüngeren Brüder übrig. Ein Brötchen steckte er sich in die Tasche seines senfgelben Anoraks (sowohl dem Brötchen als auch dem Anorak sollte im Verlauf der Ereignisse eine entscheidende Bedeutung zukommen), und er verließ das Haus durch den Garten.
Er sagte aus, er habe vorgehabt, auf direktem Weg zur Schule zu gehen, und bei seiner ersten Vernehmung durch die Polizei behauptete er überdies, dort angekommen zu sein. Bei dieser Version blieb er, bis man ihm die Aussage seines Lehrers vorlas, der erklärt hatte, Michael habe an dem Tag die Schule geschwänzt, woraufhin Michael seine Geschichte änderte und nunmehr behauptete, er habe die Kleingartenkolonie aufgesucht, die zum Buchanan Estate gehörte und sich hinter der Siedlung befand, in der die Spargos wohnten.
»Da war so 'n Opa mit seinem Grünzeug zugange, kann sein, dass ich den geärgert hab«, so Michael gegenüber der Polizei, »und kann sein, dass ich 'ne Schuppentür eingetreten hab oder so«. Aus diesem Schuppen habe er »vielleicht 'ne Heckenschere geklaut, aber ich hab sie nich behalten, das mach ich nie«. Der Rentner bestätigte, Michael um acht Uhr morgens gesehen zu haben. Allerdings ist zu bezweifeln, dass die kleinen Gemüsebeete den Jungen allzu lange interessierten. Eine Viertelstunde lang habe er laut Aussage des Zeugen »darin herumgetrampelt, bis ich ein ernstes Wort mit ihm geredet habe. Er hat geflucht wie ein Kesselflicker und sich verzogen.«
Offenbar ging Michael tatsächlich in Richtung Schule, aber auf dem Weg dorthin begegnete er Reggie Arnold.
Reggie Arnold war der vollkommene Gegensatz zu Michael Spargo. Während Michael für sein Alter groß war und spindeldürr, war Reggie eher klein und pummelig. Sein Haar wurde ihm regelmäßig extrem kurz geschoren, weswegen er in der Schule ständig gehänselt wurde. (Die Mitschüler nannten ihn »diesen Charlie-Brown-Wichser«.) Aber im Gegensatz zu Michael war er für gewöhnlich sauber und ordentlich gekleidet. Laut Aussage der Lehrer war Reggie »ein guter Junge, aber cholerisch«, und auf die Frage hin, worauf sein cholerisches Verhalten zurückzuführen sei, sprachen sie von »Problemen zwischen den Eltern und Problemen mit dem Bruder und der Schwester«. Aus diesen Informationen lässt sich mit großer Sicherheit schließen, dass Reggie sich aufgrund der kriselnden Ehe seiner Eltern in Verbindung mit der Behinderung des älteren Bruders und der geistigen Behinderung der jüngeren Schwester auf verlorenem Posten fühlte.
Man muss betonen, dass Rudy und Laura Arnold in der Tat kein leichtes Schicksal hatten. Ihr ältester Sohn ist aufgrund einer Kinderlähmung an den Rollstuhl gefesselt. Ihre Tochter war als ungeeignet für eine normale Schule eingestuft worden und besuchte eine Sonderschule. Dies führte dazu, dass die elterliche Fürsorge fast ausschließlich den beiden problematischen Kindern galt und die ohnehin schon brüchige Ehe, in deren Verlauf die Arnolds sich immer wieder getrennt hatten, zusätzlich belastet wurde, sodass Laura häufig auf sich allein gestellt war.
In dieser komplizierten familiären Situation wurde Reggie nur wenig Aufmerksamkeit zuteil. Laura gab bereitwillig zu, dass sie »den Jungen vernachlässigt« habe, während sein Vater behauptete: »Ich habe den Jungen fünf oder sechs Mal zu mir geholt«, womit er offenbar betonen wollte, dass er in den Zeiten der Trennung seinen elterlichen Pflichten nichtsdestotrotz nachgekommen sei. Wie man sich leicht vorstellen kann, führte Reggies ungestillte Sehnsucht nach Zuwendung dazu, dass er unablässig versuchte, die Aufmerksamkeit Erwachsener auf sich zu ziehen. Auf der Straße äußerte sich dies darin, dass er regelmäßig kleine Diebstähle beging und hin und wieder jüngere Kinder drangsalierte. In der Schule äußerte es sich in Aufsässigkeit. Diese Aufsässigkeit wurde von den Lehrern bedauerlicherweise als das oben erwähnte »cholerische Verhalten« gedeutet und nicht als der Hilferuf erkannt, der es in Wirklichkeit war. Wenn Reggie sich ungerecht behandelt fühlte, warf er sein Pult um, schlug seinen Kopf gegen Tisch und Wand und warf sich wutschreiend zu Boden.
Am Tag des Verbrechens begegneten sich Michael Spargo und Reggie Arnold Augenzeugen zufolge - und die Überwachungskameras bestätigen dies - vor dem Lebensmittelladen, der in der Nähe von Reggies Zuhause und auf dem Weg zu Michaels Schule lag. Die Jungen kannten sich und hatten schon einige Male miteinander gespielt, waren jedoch den jeweiligen Eltern unbekannt. Laura Arnold sagte aus, sie habe Reggie zum Laden geschickt, um Milch zu holen, und der Ladeninhaber bestätigte, dass Reggie einen halben Liter fettarme Milch gekauft habe. Außerdem stahl er zwei Marsriegel, »einfach so aus Spaß«, wie Michael sich ausdrückte.
Michael begleitete Reggie zurück nach Hause. Die Jungen machten sich einen Spaß daraus, die Milchtüte aufzureißen und den Inhalt in den Tank einer Harley-Davidson zu schütten - ein Streich, der jedoch vom Besitzer des Motorrads beobachtet wurde, der den beiden vergeblich hinterherlief. Später erinnerte er sich an den senfgelben Anorak, den Michael Spargo trug. Zwar kannte er keinen der beiden Jungen mit Namen, doch er identifizierte Reggie Arnold anhand verschiedener Fotos, die die Polizei ihm vorlegte.
Als Reggie ohne die Milch zu Hause eintraf, erzählte er seiner Mutter - indem er sich auf Michael als Zeugen berief -, er wäre unterwegs von zwei größeren Jungen angegriffen worden, die ihm das Geld für die Milch abgenommen hätten. »Er weinte und war drauf und dran, einen von seinen Anfällen zu kriegen«, sagte Laura Arnolds aus. »Ich habe ihm geglaubt. Was blieb mir denn übrig?« In der Tat eine berechtigte Frage, denn in Anbetracht der Tatsache, dass sie sich in Abwesenheit ihres Mannes allein um zwei behinderte Kinder kümmern musste, war eine fehlende Milchtüte, egal wie dringend sie an jenem Morgen benötigt wurde, ein geringes Problem. Allerdings wollte sie von ihrem Sohn wissen, wer Michael Spargo war. Reggie stellte ihn als »Schulkameraden« vor, und er nahm Michael mit, um die nächste Aufgabe zu erfüllen, die seine Mutter ihm stellte: nämlich seine Schwester aus dem Bett zu holen.
Inzwischen war es etwa 8:45 Uhr, und falls die beiden Jungen noch vorhatten, zur Schule zu gehen, würden sie zu spät kommen. Das war ihnen zweifellos klar, wie aus Michaels Vernehmung hervorgeht. Er gab an, dass Reggie sich mit seiner Mutter gestritten habe, weil er sich um seine Schwester kümmern sollte: »Reggie hat rumgemault, er würde zu spät zur Schule kommen, aber das war ihr egal. Sie hat gesagt, er soll machen, dass er nach oben kommt, und seine Schwester holen. Sie hat gesagt, er soll dem lieben Gott danken, dass er nich so ist wie seine beiden Geschwister«, womit sie sicherlich auf die Behinderungen der beiden anspielte. Bemerkungen wie diese von Laura Arnold scheinen in ihrem Haushalt durchaus üblich gewesen zu sein.
Trotz der Anweisung seiner Mutter holte Reggie seine Schwester nicht aus dem Bett. Stattdessen sagte er seiner Mutter, sie solle »sich selbst was Schlimmes tun« (so gab Michael es wieder; Reggie drückte sich wohl drastischer aus), und dann verließen die Jungen das Haus.
Draußen begegneten sie Rudy Arnold, der, während sie sich mit Laura in der Küche aufgehalten hatten, mit seinem Auto angekommen war und »sich draußen rumgedrückt hat, als würde er sich nich reintrauen«. Rudy und Reggie redeten kurz miteinander - ein Gespräch der eher unangenehmen Natur, zumindest aus Reggies Sicht. Michael behauptete, er habe hinterher gefragt, wer der Mann gewesen sei, in der Annahme, es handelte sich um den »Freund von Reggies Mum«, woraufhin Reggie antwortete, »der Vollidiot« sei sein Vater, und seine Worte bekräftigte, indem er sich den Kasten für die Milchflaschen schnappte, der vor der Nachbartür stand, ihn auf die Straße warf und zertrampelte.
Michael sagte aus, er habe sich an diesem Zerstörungsakt nicht beteiligt. Er erklärte, er habe zur Schule gehen wollen, aber Reggie habe verkündet, er werde »schwänzen« und wolle »endlich mal ein bisschen Spaß haben«. Es sei Reggies Idee gewesen, so Michael, Ian Barker mit einzubeziehen in all das, was nun folgen sollte.
Im Alter von elf Jahren galt Ian Barker bereits als geschädigt, schwierig, gestört, borderline, zornig und psychopathisch, je nachdem, wer ihn charakterisierte. Er war zu dem Zeitpunkt das einzige Kind einer vierundzwanzigjährigen Mutter (wer sein Vater ist, konnte nie geklärt werden), war jedoch in dem Glauben aufgewachsen, die junge Frau sei seine große Schwester. Anscheinend hing er sehr an seiner Großmutter, die er für seine Mutter hielt, während er die junge Frau, seine vermeintliche Schwester, verabscheute.
Mit neun Jahren hielt man ihn für alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. Allerdings nahm er diese Wahrheit schlecht auf, vor allem da sie ihm verkündet wurde, kurz nachdem Tricia Barker aufgefordert worden war, das Haus ihrer Mutter zu verlassen und ihren Sohn mitzunehmen. Diese Entscheidung, so erklärte Ians Großmutter später, habe sie getroffen, um liebevolle Strenge walten zu lassen. »Ich war bereit, sie beide bei mir zu behalten - Tricia und auch den Jungen -, solange das Mädchen arbeitete. Aber sie hat jeden Job gleich wieder aufgegeben, weil sie lieber Partys feiern und sich die Nächte um die Ohren schlagen wollte, und ich dachte mir, wenn sie den Jungen allein großziehen müsste, würde sie vielleicht endlich zur Besinnung kommen.«
Doch sie kam nicht zur Besinnung. Tricia Barker bekam eine städtische Wohnung zur Verfügung gestellt, die allerdings so klein war, dass sie das Schlafzimmer mit ihrem Sohn teilen musste. In diesem Zimmer wurde Ian Zeuge, wie seine Mutter mit wechselnden Partnern und mindestens vier Mal mit mehr als nur mit einem einzigen Mann Geschlechtsverkehr hatte. Auffällig ist, dass Ian während der Vernehmungen von Tricia nie als Mutter sprach, sondern sie als »Schlampe«, »Fotze«, »Flittchen«, »Nutte« und »Bettvorleger« bezeichnete. Von seiner Großmutter sprach er überhaupt nicht.
Michael und Reggie hatten offenbar kein Problem damit, Ian an jenem Morgen zu finden. Sie gingen nicht zu ihm nach Hause - »seine Mutter war meistens besoffen«, so Reggie, »und hat nur rumgebrüllt« -, sondern sie kamen dazu, als er gerade einen kleineren Jungen verdrosch, der auf dem Weg zur Schule gewesen war. Ian hatte gerade »den Ranzen von dem Jungen auf der Straße ausgeschüttet« und dessen Inhalt durchsucht, in erster Linie nach Geld. Als aber der Junge nichts bei sich hatte, was Ian brauchen konnte, »hat er ihn ganz gemein gegen eine Hauswand geschubst«, so Michael, »und ist auf ihn losgegangen«.
Weder Reggie noch Michael versuchten, Ian aufzuhalten. Reggie sagte: »Es war nur Spaß. Ich konnte sehen, dass er dem Jungen nichts tun wollte«, während Michael behauptete, er habe »nich richtig gesehen, was der vorhatte«, was man bezweifeln darf, da die Jungen dicht beieinanderstanden. Aber was auch immer Ian vorgehabt haben mag, er konnte seine Pläne nicht in die Tat umsetzen. Ein Autofahrer hielt an und verlangte zu wissen, was sie da trieben, worauf die Jungen Reißaus nahmen.
Es gibt Vermutungen, dass an jenem Morgen Ians Drang, irgendjemandem wehzutun, letztlich zu dem führte, was später geschah. Während der Vernehmungen war Reggie nur zu eifrig, mit dem Finger auf Ian zu zeigen. Aber auch wenn Ians Zorn ihn in der Vergangenheit zweifellos zu Taten getrieben hatte, die so niederträchtig waren, dass sich der ganze Abscheu auf ihn konzentrierte, sobald die Wahrheit ans Licht kam, zeigen die Beweise doch, dass er bei dem, was folgte, nicht mehr und nicht weniger beteiligt war als die anderen beiden Jungen [Hervorhebung von mir].
Übersetzung: Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Aus den Berichten der ermittelnden Polizisten, die Michael Spargo und seine Mutter vor der Anklageerhebung vernahmen, geht hervor, dass der Tag, an dem der Junge zehn Jahre alt wurde, für ihn bereits schlecht angefangen hatte. In Anbetracht des von Michael begangenen Verbrechens und der großen Antipathie, die ihm später vonseiten der Polizei und der Mitbürger entgegengebracht wurde, kann man derlei Darstellungen zwar als fragwürdig betrachten. Allerdings kommt auch der ausführliche Bericht der Sozialarbeiterin, die Michael sowohl während der Verhöre als auch während der späteren Gerichtsverhandlung zur Seite gestellt war, zu dem gleichen Ergebnis.
Manche Einzelheiten werden sich selbst demjenigen, der sich mit Kindesmissbrauch, Familiendysfunktion und der daraus resultierenden Psychopathologie beschäftigt, nie erschließen. Doch die wesentlichen Charakteristika sind unverkennbar und unweigerlich erfahrbar für jedermann, der mit den betroffenen Personen in Kontakt kommt, wenn diese - bewusst oder unbewusst - ihre mentalen, psychischen und emotionalen Störungen an den Tag legen.
Dies war auch bei Michael Spargo und seiner Familie der Fall.
Michael ist der sechste von neun Brüdern. Gegen zwei seiner Brüder (Richard und Pete, damals achtzehn und fünfzehn Jahre alt) sowie gegen seine Mutter Sue lagen wegen anhaltender Streitereien mit den Nachbarn, wegen Belästigung diverser Rentner, die in der Sozialsiedlung wohnten, wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit und Zerstörung privaten und städtischen Eigentums Anzeigen vor. In dem Haushalt gab es keinen Vater. Vier Jahre vor Michaels zehntem Geburtstag hatte Donovan Spargo Frau und Kinder verlassen und war mit einer fünfzehn Jahre älteren Witwe nach Portugal gezogen. Auf dem Küchentisch hatte er einen Abschiedsbrief und fünf Pfund in Münzen hinterlassen. Seitdem hatte man nie wieder von ihm gehört. Er erschien nicht zu Michaels Gerichtsverhandlung.
Sue Spargo, die weder über einen Schulabschluss noch über nennenswerte berufliche Qualifikation verfügt, gab freimütig zu, dass sie, nachdem ihr Mann sie sitzen gelassen hatte, »ein bisschen zu viel getrunken« habe und von da an kaum noch in der Lage gewesen sei, sich um ihre Söhne zu kümmern. Bis zu Donovan Spargos Verschwinden hatte die Familie zumindest nach außen hin einigermaßen stabil gewirkt, wie sich aus Schulzeugnissen und Berichten von Nachbarn und der örtlichen Polizei schließen lässt. Aber nachdem das Familienoberhaupt sich abgesetzt hatte, traten die Störungen innerhalb der Familie offen zutage.
Die Spargos wohnten in Buchanan Estate, einer trostlosen Ansammlung von grauen Stahlbetontürmen und schmucklosen Reihenhäusern in einem Stadtteil mit dem treffenden Namen »The Gallows« - »Galgen« -, der bekannt ist für Schlägereien, Straßenraub, Autodiebstahl und Einbruchdiebstähle. Morde geschahen dort nur selten, aber Gewalt war an der Tagesordnung. Die Spargos gehörten zu den Bewohnern, die etwas besser gestellt waren. Aufgrund der Größe der Familie lebten sie in einem Reihenhaus und nicht in einem der Wohntürme. Sie hatten einen Garten und einen kleinen Vorgarten, die sie allerdings nicht pflegten. Das Haus verfügte über ein Wohnzimmer, eine Küche, vier Schlafzimmer und ein Bad. Michael teilte sich ein Zimmer mit seinen drei jüngeren Brüdern. Sie schliefen in zwei Etagenbetten. Vier seiner älteren Brüder teilten sich das Nebenzimmer. Nur Richard, der Älteste, hatte ein eigenes Zimmer - ein Vorrecht, das offenbar seiner Neigung zuzuschreiben war, seine jüngeren Brüder zu schikanieren. Auch Sue Spargo bewohnte ein eigenes Zimmer. Interessanterweise betonte sie während der Vernehmungen mehrmals, dass, wenn einer der Jungen krank war, dieser bei ihr schlief und »nicht bei diesem Rüpel Richard«.
An Michaels zehntem Geburtstag wurde kurz nach sieben Uhr morgens die Polizei gerufen. Ein Familienstreit war so weit eskaliert, dass die Nachbarn sich veranlasst gesehen hatten einzugreifen. Später sagten sie aus, sie hätten lediglich wieder Ruhe herstellen wollen. Dagegen steht Sue Spargos Behauptung, die Nachbarn hätten ihre Söhne angegriffen. Aus den Protokollen der anschließend von der Polizei durchgeführten Vernehmungen geht jedoch hervor, dass im ersten Stock des Hauses der Familie Spargo ein Streit zwischen Richard und Pete entstanden war, nachdem Letzterer das Bad nicht schnell genug frei gemacht hatte. Richard, größer und kräftiger als sein fünfzehnjähriger Bruder, ging daraufhin brutal auf diesen los. Der sechzehnjährige Doug eilte Pete zu Hilfe, woraufhin Pete und Richard sich verbündeten und sich gemeinsam gegen Doug wendeten. Bis Sue schließlich eingriff, hatte die Schlägerei sich bereits ins Untergeschoss verlagert. Als es so aussah, als würde Sue unter Richards und Petes Fäuste geraten, versuchte der zwölfjährige David, sie mit einem Fleischmesser aus der Küche zu verteidigen, wo er angeblich dabei gewesen war, sich sein Frühstück zu machen.
An diesem Punkt hatten die Nachbarn eingegriffen, die den Lärm durch die schlecht isolierten Wände gehört hatten. Unglücklicherweise waren sie - insgesamt drei Personen - bewaffnet mit einem Kricketschläger, einem Wagenheber und einem Hammer erschienen, und laut Richard Spargos Aussage war es ebendieser Anblick, der ihn hatte rotsehen lassen. »Die hatten's auf unsere Familie abgesehen«, lautete sein spontaner Kommentar - die Worte eines Jungen, der sich als neues Familienoberhaupt betrachtete und sich verpflichtet fühlte, seine Mutter und seine Geschwister zu verteidigen.
Mitten in diesem Durcheinander wachte Michael auf. »Richard und Pete hatten Zoff mit Mum«, gab er später zu Protokoll. »Wir konnten sie hören, ich und die Kleinen, aber wir wollten damit nichts zu tun haben.« Er behauptete, keine Angst gehabt zu haben. Aber im Lauf der Vernehmung stellte sich heraus, dass Michael stets einen großen Bogen um seine älteren Brüder machte, »um sich keine einzufangen, wenn die glauben, man guckt sie schief an«. Dass es ihm nicht immer gelungen war, seinen Brüdern aus dem Weg zu gehen, geht aus den Aussagen dreier seiner Lehrer hervor, die den Sozialarbeiterinnen von blauen Flecken, Kratzspuren, Verbrennungen und mindestens einem blauen Auge berichteten, die sie bei Michael festgestellt hatten. Bis auf einen einzigen Hausbesuch hatten diese Aussagen jedoch keine weiteren Konsequenzen. Offenbar war das System überlastet.
Verschiedene Hinweise lassen darauf schließen, dass Michael seine Wut über die Misshandlungen seinerseits an den jüngeren Brüdern ausließ. Aus Berichten, die entstanden, nachdem vier der Kinder in Pflegefamilien untergebracht worden waren, geht hervor, dass Michael den Auftrag hatte, dafür zu sorgen, dass sein Bruder Stevie »nicht ins Bett macht«. Da er nicht wusste, wie er dies bewerkstelligen sollte, verabreichte er dem Siebenjährigen offenbar regelmäßig eine Tracht Prügel, woraufhin Stevie seine Wut wiederum an den jüngeren Brüdern ausließ.
Ob Michael an jenem Morgen die kleineren Jungen attackierte, ist nicht bekannt. Er sagte lediglich aus, er sei aufgestanden, nachdem die Polizei eingetroffen war, habe sich seine Schuluniform angezogen und sei nach unten in die Küche gegangen, um zu frühstücken. Obwohl es sein Geburtstag war, rechnete er nicht damit, dass darum irgendein Aufhebens gemacht werden würde. »War mir egal«, sagte er später gegenüber der Polizei.
Das Frühstück bestand aus Cornflakes und Marmeladenbrötchen. Milch gab es nicht, was Michael bei seinen ersten Vernehmungen zwei Mal betonte. Daher aß er die Cornflakes trocken. Die meisten Brötchen ließ er für seine jüngeren Brüder übrig. Ein Brötchen steckte er sich in die Tasche seines senfgelben Anoraks (sowohl dem Brötchen als auch dem Anorak sollte im Verlauf der Ereignisse eine entscheidende Bedeutung zukommen), und er verließ das Haus durch den Garten.
Er sagte aus, er habe vorgehabt, auf direktem Weg zur Schule zu gehen, und bei seiner ersten Vernehmung durch die Polizei behauptete er überdies, dort angekommen zu sein. Bei dieser Version blieb er, bis man ihm die Aussage seines Lehrers vorlas, der erklärt hatte, Michael habe an dem Tag die Schule geschwänzt, woraufhin Michael seine Geschichte änderte und nunmehr behauptete, er habe die Kleingartenkolonie aufgesucht, die zum Buchanan Estate gehörte und sich hinter der Siedlung befand, in der die Spargos wohnten.
»Da war so 'n Opa mit seinem Grünzeug zugange, kann sein, dass ich den geärgert hab«, so Michael gegenüber der Polizei, »und kann sein, dass ich 'ne Schuppentür eingetreten hab oder so«. Aus diesem Schuppen habe er »vielleicht 'ne Heckenschere geklaut, aber ich hab sie nich behalten, das mach ich nie«. Der Rentner bestätigte, Michael um acht Uhr morgens gesehen zu haben. Allerdings ist zu bezweifeln, dass die kleinen Gemüsebeete den Jungen allzu lange interessierten. Eine Viertelstunde lang habe er laut Aussage des Zeugen »darin herumgetrampelt, bis ich ein ernstes Wort mit ihm geredet habe. Er hat geflucht wie ein Kesselflicker und sich verzogen.«
Offenbar ging Michael tatsächlich in Richtung Schule, aber auf dem Weg dorthin begegnete er Reggie Arnold.
Reggie Arnold war der vollkommene Gegensatz zu Michael Spargo. Während Michael für sein Alter groß war und spindeldürr, war Reggie eher klein und pummelig. Sein Haar wurde ihm regelmäßig extrem kurz geschoren, weswegen er in der Schule ständig gehänselt wurde. (Die Mitschüler nannten ihn »diesen Charlie-Brown-Wichser«.) Aber im Gegensatz zu Michael war er für gewöhnlich sauber und ordentlich gekleidet. Laut Aussage der Lehrer war Reggie »ein guter Junge, aber cholerisch«, und auf die Frage hin, worauf sein cholerisches Verhalten zurückzuführen sei, sprachen sie von »Problemen zwischen den Eltern und Problemen mit dem Bruder und der Schwester«. Aus diesen Informationen lässt sich mit großer Sicherheit schließen, dass Reggie sich aufgrund der kriselnden Ehe seiner Eltern in Verbindung mit der Behinderung des älteren Bruders und der geistigen Behinderung der jüngeren Schwester auf verlorenem Posten fühlte.
Man muss betonen, dass Rudy und Laura Arnold in der Tat kein leichtes Schicksal hatten. Ihr ältester Sohn ist aufgrund einer Kinderlähmung an den Rollstuhl gefesselt. Ihre Tochter war als ungeeignet für eine normale Schule eingestuft worden und besuchte eine Sonderschule. Dies führte dazu, dass die elterliche Fürsorge fast ausschließlich den beiden problematischen Kindern galt und die ohnehin schon brüchige Ehe, in deren Verlauf die Arnolds sich immer wieder getrennt hatten, zusätzlich belastet wurde, sodass Laura häufig auf sich allein gestellt war.
In dieser komplizierten familiären Situation wurde Reggie nur wenig Aufmerksamkeit zuteil. Laura gab bereitwillig zu, dass sie »den Jungen vernachlässigt« habe, während sein Vater behauptete: »Ich habe den Jungen fünf oder sechs Mal zu mir geholt«, womit er offenbar betonen wollte, dass er in den Zeiten der Trennung seinen elterlichen Pflichten nichtsdestotrotz nachgekommen sei. Wie man sich leicht vorstellen kann, führte Reggies ungestillte Sehnsucht nach Zuwendung dazu, dass er unablässig versuchte, die Aufmerksamkeit Erwachsener auf sich zu ziehen. Auf der Straße äußerte sich dies darin, dass er regelmäßig kleine Diebstähle beging und hin und wieder jüngere Kinder drangsalierte. In der Schule äußerte es sich in Aufsässigkeit. Diese Aufsässigkeit wurde von den Lehrern bedauerlicherweise als das oben erwähnte »cholerische Verhalten« gedeutet und nicht als der Hilferuf erkannt, der es in Wirklichkeit war. Wenn Reggie sich ungerecht behandelt fühlte, warf er sein Pult um, schlug seinen Kopf gegen Tisch und Wand und warf sich wutschreiend zu Boden.
Am Tag des Verbrechens begegneten sich Michael Spargo und Reggie Arnold Augenzeugen zufolge - und die Überwachungskameras bestätigen dies - vor dem Lebensmittelladen, der in der Nähe von Reggies Zuhause und auf dem Weg zu Michaels Schule lag. Die Jungen kannten sich und hatten schon einige Male miteinander gespielt, waren jedoch den jeweiligen Eltern unbekannt. Laura Arnold sagte aus, sie habe Reggie zum Laden geschickt, um Milch zu holen, und der Ladeninhaber bestätigte, dass Reggie einen halben Liter fettarme Milch gekauft habe. Außerdem stahl er zwei Marsriegel, »einfach so aus Spaß«, wie Michael sich ausdrückte.
Michael begleitete Reggie zurück nach Hause. Die Jungen machten sich einen Spaß daraus, die Milchtüte aufzureißen und den Inhalt in den Tank einer Harley-Davidson zu schütten - ein Streich, der jedoch vom Besitzer des Motorrads beobachtet wurde, der den beiden vergeblich hinterherlief. Später erinnerte er sich an den senfgelben Anorak, den Michael Spargo trug. Zwar kannte er keinen der beiden Jungen mit Namen, doch er identifizierte Reggie Arnold anhand verschiedener Fotos, die die Polizei ihm vorlegte.
Als Reggie ohne die Milch zu Hause eintraf, erzählte er seiner Mutter - indem er sich auf Michael als Zeugen berief -, er wäre unterwegs von zwei größeren Jungen angegriffen worden, die ihm das Geld für die Milch abgenommen hätten. »Er weinte und war drauf und dran, einen von seinen Anfällen zu kriegen«, sagte Laura Arnolds aus. »Ich habe ihm geglaubt. Was blieb mir denn übrig?« In der Tat eine berechtigte Frage, denn in Anbetracht der Tatsache, dass sie sich in Abwesenheit ihres Mannes allein um zwei behinderte Kinder kümmern musste, war eine fehlende Milchtüte, egal wie dringend sie an jenem Morgen benötigt wurde, ein geringes Problem. Allerdings wollte sie von ihrem Sohn wissen, wer Michael Spargo war. Reggie stellte ihn als »Schulkameraden« vor, und er nahm Michael mit, um die nächste Aufgabe zu erfüllen, die seine Mutter ihm stellte: nämlich seine Schwester aus dem Bett zu holen.
Inzwischen war es etwa 8:45 Uhr, und falls die beiden Jungen noch vorhatten, zur Schule zu gehen, würden sie zu spät kommen. Das war ihnen zweifellos klar, wie aus Michaels Vernehmung hervorgeht. Er gab an, dass Reggie sich mit seiner Mutter gestritten habe, weil er sich um seine Schwester kümmern sollte: »Reggie hat rumgemault, er würde zu spät zur Schule kommen, aber das war ihr egal. Sie hat gesagt, er soll machen, dass er nach oben kommt, und seine Schwester holen. Sie hat gesagt, er soll dem lieben Gott danken, dass er nich so ist wie seine beiden Geschwister«, womit sie sicherlich auf die Behinderungen der beiden anspielte. Bemerkungen wie diese von Laura Arnold scheinen in ihrem Haushalt durchaus üblich gewesen zu sein.
Trotz der Anweisung seiner Mutter holte Reggie seine Schwester nicht aus dem Bett. Stattdessen sagte er seiner Mutter, sie solle »sich selbst was Schlimmes tun« (so gab Michael es wieder; Reggie drückte sich wohl drastischer aus), und dann verließen die Jungen das Haus.
Draußen begegneten sie Rudy Arnold, der, während sie sich mit Laura in der Küche aufgehalten hatten, mit seinem Auto angekommen war und »sich draußen rumgedrückt hat, als würde er sich nich reintrauen«. Rudy und Reggie redeten kurz miteinander - ein Gespräch der eher unangenehmen Natur, zumindest aus Reggies Sicht. Michael behauptete, er habe hinterher gefragt, wer der Mann gewesen sei, in der Annahme, es handelte sich um den »Freund von Reggies Mum«, woraufhin Reggie antwortete, »der Vollidiot« sei sein Vater, und seine Worte bekräftigte, indem er sich den Kasten für die Milchflaschen schnappte, der vor der Nachbartür stand, ihn auf die Straße warf und zertrampelte.
Michael sagte aus, er habe sich an diesem Zerstörungsakt nicht beteiligt. Er erklärte, er habe zur Schule gehen wollen, aber Reggie habe verkündet, er werde »schwänzen« und wolle »endlich mal ein bisschen Spaß haben«. Es sei Reggies Idee gewesen, so Michael, Ian Barker mit einzubeziehen in all das, was nun folgen sollte.
Im Alter von elf Jahren galt Ian Barker bereits als geschädigt, schwierig, gestört, borderline, zornig und psychopathisch, je nachdem, wer ihn charakterisierte. Er war zu dem Zeitpunkt das einzige Kind einer vierundzwanzigjährigen Mutter (wer sein Vater ist, konnte nie geklärt werden), war jedoch in dem Glauben aufgewachsen, die junge Frau sei seine große Schwester. Anscheinend hing er sehr an seiner Großmutter, die er für seine Mutter hielt, während er die junge Frau, seine vermeintliche Schwester, verabscheute.
Mit neun Jahren hielt man ihn für alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. Allerdings nahm er diese Wahrheit schlecht auf, vor allem da sie ihm verkündet wurde, kurz nachdem Tricia Barker aufgefordert worden war, das Haus ihrer Mutter zu verlassen und ihren Sohn mitzunehmen. Diese Entscheidung, so erklärte Ians Großmutter später, habe sie getroffen, um liebevolle Strenge walten zu lassen. »Ich war bereit, sie beide bei mir zu behalten - Tricia und auch den Jungen -, solange das Mädchen arbeitete. Aber sie hat jeden Job gleich wieder aufgegeben, weil sie lieber Partys feiern und sich die Nächte um die Ohren schlagen wollte, und ich dachte mir, wenn sie den Jungen allein großziehen müsste, würde sie vielleicht endlich zur Besinnung kommen.«
Doch sie kam nicht zur Besinnung. Tricia Barker bekam eine städtische Wohnung zur Verfügung gestellt, die allerdings so klein war, dass sie das Schlafzimmer mit ihrem Sohn teilen musste. In diesem Zimmer wurde Ian Zeuge, wie seine Mutter mit wechselnden Partnern und mindestens vier Mal mit mehr als nur mit einem einzigen Mann Geschlechtsverkehr hatte. Auffällig ist, dass Ian während der Vernehmungen von Tricia nie als Mutter sprach, sondern sie als »Schlampe«, »Fotze«, »Flittchen«, »Nutte« und »Bettvorleger« bezeichnete. Von seiner Großmutter sprach er überhaupt nicht.
Michael und Reggie hatten offenbar kein Problem damit, Ian an jenem Morgen zu finden. Sie gingen nicht zu ihm nach Hause - »seine Mutter war meistens besoffen«, so Reggie, »und hat nur rumgebrüllt« -, sondern sie kamen dazu, als er gerade einen kleineren Jungen verdrosch, der auf dem Weg zur Schule gewesen war. Ian hatte gerade »den Ranzen von dem Jungen auf der Straße ausgeschüttet« und dessen Inhalt durchsucht, in erster Linie nach Geld. Als aber der Junge nichts bei sich hatte, was Ian brauchen konnte, »hat er ihn ganz gemein gegen eine Hauswand geschubst«, so Michael, »und ist auf ihn losgegangen«.
Weder Reggie noch Michael versuchten, Ian aufzuhalten. Reggie sagte: »Es war nur Spaß. Ich konnte sehen, dass er dem Jungen nichts tun wollte«, während Michael behauptete, er habe »nich richtig gesehen, was der vorhatte«, was man bezweifeln darf, da die Jungen dicht beieinanderstanden. Aber was auch immer Ian vorgehabt haben mag, er konnte seine Pläne nicht in die Tat umsetzen. Ein Autofahrer hielt an und verlangte zu wissen, was sie da trieben, worauf die Jungen Reißaus nahmen.
Es gibt Vermutungen, dass an jenem Morgen Ians Drang, irgendjemandem wehzutun, letztlich zu dem führte, was später geschah. Während der Vernehmungen war Reggie nur zu eifrig, mit dem Finger auf Ian zu zeigen. Aber auch wenn Ians Zorn ihn in der Vergangenheit zweifellos zu Taten getrieben hatte, die so niederträchtig waren, dass sich der ganze Abscheu auf ihn konzentrierte, sobald die Wahrheit ans Licht kam, zeigen die Beweise doch, dass er bei dem, was folgte, nicht mehr und nicht weniger beteiligt war als die anderen beiden Jungen [Hervorhebung von mir].
Übersetzung: Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Elizabeth George
Die Amerikanerin Elizabeth George hatte von Jugend an ein ausgeprägtes Faible für die britische Krimitradition. Ausgezeichnet mit dem Anthony Award, dem Agatha Award und dem Grand Prix de Litérature Policière. Die Autorin lebt in Huntington Beach/Kalifornien.Akribische Recherche, präziser Spannungsaufbau und höchste psychologische Raffinesse, sowie ein unfehlbarer Sinn für Dramatik zeichnen die Bücher der Amerikanerin Elizabeth George aus. Ihre Fälle sind stets detailgenaue Porträts unserer Zeit und ihrer Gesellschaft. Elizabeth George, die lange an der Universität »Creative Writing« lehrte, lebt heute auf Whidbey Island im Bundesstaat Washington, USA. Ihre Lynley-Havers-Bestseller wurden von der BBC verfilmt und auch im deutschen Fernsehen mit großem Erfolg ausgestrahlt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elizabeth George
- 2011, 1, 829 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009256
- ISBN-13: 9783868009255
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