Hannes
Roman
»Mensch Hannes, das Frühjahr beginnt, und du liegst da und rührst dich nicht.«
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Hannes “
»Mensch Hannes, das Frühjahr beginnt, und du liegst da und rührst dich nicht.«
Klappentext zu „Hannes “
Niemand weiß, ob Hannes nach dem schweren Unfall je wieder aus dem Koma erwachen wird. Doch einer glaubt ganz fest daran: sein bester Freund Uli. Und der versucht auf seine Art, Hannes zurück ins Leben zu holen ...Die traurig-schöne Geschichte vom Einbruch einer Tragödie in das Leben junger Menschen. Berührender kann man wohl kaum von Krankheit, Verlust und Tod - und von der Größe, Kraft und Schönheit des Lebens erzählen.
Lese-Probe zu „Hannes “
Hannes von Rita FalkHeute ist der Jahrestag. Es ist auf den Tag und die Stunde genau dieselbe Zeit. Es hat sich gejährt, mein Freund. Mein lieber Freund, Hannes. Es ist die Stunde, in der ich in deinem Blut und Urin knie, und dein Kopf ruht auf dem kalten Asphalt, gefühlte Ewigkeiten lang. Ich sehe das Blaulicht und höre die Sirenen. Die vielen Menschen um uns rum. Schließlich der Rettungshubschrauber. »Verdammte Scheiße«, aus deinem blutenden Mund. Danach schließt du die Augen, wenn auch nicht ganz, ein winziger Spalt bleibt offen. Ich bücke mich tief über dich und kann deine Augäpfel sehen. Irgendwelche Hände zerren auf einmal an mir. Andere greifen nach deinem leblosen Körper. Dein Blut läuft langsam in den Rinnstein und nimmt mein Herz mit sich. Beides verliert sich in der Ferne.
An die nächsten Wochen habe ich kaum Erinnerungen. Ein dröhnender Schmerz lag auf mir wie Blei. Dann habe ich angefangen, dir zu schreiben, Hannes. Ich habe dir mein Leben niedergeschrieben, und das hat mir geholfen, nicht den Verstand zu verlieren. Viele der Zeilen hätte ich dir gerne erspart, mein Freund. Anderes wieder ließ meine Finger in Ekstase zucken bei jedem einzelnen Wort. Nun ist es an der Zeit, mich von den Briefen zu trennen, und ich übergebe sie heute in tiefer Dankbarkeit. Sie haben mein Leben gerettet.
... mehr
Ich muss das hier jetzt niederschreiben, weil ich einfach mit niemandem darüber reden kann. Ich schreib es aus Wut und Enttäuschung. Eine riesige, unbeschreibliche, abartige Wut, kann ich dir sagen, Hannes. Ich hab geglaubt, wenn sie dich erst mal aus den Verbänden schälen, ist alles wieder wie früher. Dann stehst du aus deinem Bett auf wie Phoenix aus der Asche und wir wandern Seite an Seite die Gänge entlang und schnurstracks dem Ausgang entgegen. Aber das ist nicht passiert. Es ist überhaupt nix passiert. Du liegst da genau wie zuvor und bewegst noch nicht mal deinen kleinen Zeh. Liegst da, mit all deinen Schläuchen und Apparaten und rührst dich nicht. Du bist nicht tot und nicht lebendig, nicht Ebbe, nicht Flut, einfach verschollen zwischen den Gezeiten. Und ich sitz auf der Fensterbank in deinem Krankenzimmer und schau in die alte Kastanie hinaus. Ich hab so eine Wut auf dich, dass ich dich noch nicht mal mehr anschauen mag. Hab dich dann auch nicht mehr besucht (hast du wahrscheinlich eh nicht gemerkt). War die letzten zwei Tage nicht aus dem Haus und hatte keinerlei Kontakt zur Außenwelt.
Irgendwann, nach vielen Stunden der Wut und Enttäuschung, schlägt dann plötzlich alles um, verlagert sich quasi. Die Wut verlagert sich von deiner Person auf meine. Mir wird langsam klar, dass nicht du schuld bist an meiner Enttäuschung, sondern ich bin es selbst. Dass ich mit meinem naiven Kleingeist tatsächlich geglaubt hab, wenn die Verbände erst weg sind, ist alles okay. Als hätten die dich daran hindern können, die Augen zu öffnen oder einen Ton von dir zu geben. Wie dämlich von mir! Ich fühl mich wie ein echter Idiot, und das stimmt mich nicht gerade fröhlich. War jetzt, wie gesagt, einige Tage nicht bei dir, mein Freund, und hab schließlich gemerkt, dass es dann noch viel schlimmer ist. Dass es mir noch viel schlechter geht, wenn ich daheim rumdümple und mir das Hirn zermartere. Dann sitz ich lieber auf deiner Fensterbank und schau in die Kastanie. Schau in die Kastanie und hoffe auf ein Wunder. Und allmählich begreif ich, dass es wohl tatsächlich ein Wunder sein muss, das dich wieder zum Leben erweckt. Ich kann dir nicht helfen und kann mit niemandem darüber reden. Ich kann mit niemandem reden, weil ich ja immer verkünde, dass jetzt alles gut wird. Dass es bergauf geht, weil du ein Kämpfer bist. Dass es bergauf geht, weil eben jetzt die Verbände weg sind. Ich erzähl von deinen Fortschritten und merke, dass du keine machst. Es ist zum Kotzen. Das Schreiben hier gefällt mir gut. Ich kann da meinen Frust ablassen, ohne dass es jemandem wehtut. Vielleicht sollte ich einfach alles aufschreiben, was so passiert. Damit du auf dem Laufenden bist, wenn du wieder funktionierst, mein Freund. Es soll ja Komapatienten gegeben haben, die sind irgendwann aufgewacht und hatten keinen Schimmer, was passiert war. Wenn ich es aber schreibe und du es später liest, weißt du Bescheid. Werde drüber nachdenken, mal sehen. Übrigens hab ich vorhin noch kurz mit deiner Mutter telefoniert. Hab aber leider nix verstanden, weil sie wieder so geweint hat. Na ja.
Später: Hab mir gerade den ›Tatort‹ angeschaut und'ne Pizza gegessen. Beides war nicht so toll. Im Grunde hab ich von beidem nix mitbekommen, weil ich an dich gedacht habe, Hannes. Weil ich dran denke, wie es wird, wenn du wieder zurückkommst. Wie es sein wird, wenn wir wieder zusammensitzen, der Kalle, der Rick, der Brenninger und wir zwei halt. Wenn wir ins Eisstadion fahren, um ein mieses Spiel zu sehen. Oder zum Baggersee und Steine floppen lassen. Wenn wir nächtelang unseren Urlaub planen und zu keiner Einigung kommen. Am Ende doch wieder nach Spanien fahren und dort wieder mal beschließen, im nächsten Jahr woanders hinzufahren. Wenn wir im Sullivan's hocken und einfach ein paar Bier zischen. Das wird klasse, mein Freund. Im Moment sieht's noch nicht danach aus. Im Grunde sieht's eher beschissen aus. Ich sag das jetzt so, weil wir haben uns doch noch nie angelogen - warum sollten wir jetzt damit anfangen? Heute ist der 26. März, und es ist jetzt schon über sechs Wochen her, dass du ins Koma gefallen bist. Ich hab nun beschlossen, dir alles so aufzuschreiben. Damit du eben auf dem Laufenden bist, wenn du wieder klar bist, Hannes. Ja, das werd ich tun. Und morgen werd ich zu dir kommen, vor dem Dienst. Denn morgen beginnt mein Nachtdienst, der erste überhaupt.
Irgendwie ist mir schon komisch, so allein mit all den Spinnern, aber andererseits ist es da vermutlich auch ruhiger. Hab jetzt die ersten Wochen als Zivi hinter mir, und ich kann dir sagen, die blöden Witze, die wir darüber im Vorfeld gemacht haben, waren beileibe nicht unberechtigt. Die Patienten oder Insassen, oder wie du willst, heißen in der Heimordnung und in der Heimbeschreibung »psychisch instabile Personen«. Die Heimordnung ist sowieso das Wichtigste hier. Die einzige Ordensschwester, Schwester Walrika (klein, dick, eine Stimme wie ein Nebelhorn und eine Zunge wie'ne Natter, sag ich dir), achtet peinlich darauf, dass die Heimordnung penibel eingehalten wird. Die beiden Putzfrauen sind den ganzen Tag am Bohnern, Wienern und Polieren, und doch findet Walrika immer ein Stäubchen hier oder da. Wie ein Feldwebel, sag ich dir. Früher war das Heim ein Kindergarten, das Zwergennest. Wurde wohl irgendwie zu klein oder unmodern, keine Ahnung. Dann haben die Kinder halt was Neues gekriegt und hier haben sie das Heim reingemacht. Ich nenn es Vogelnest, weil die eben alle'nen Vogel haben (hast du dir sicher selber denken können). Die Walrika hat vor ein paar Tagen meinen Stundenplan in der Teeküche gesehen, in den ich meine Arbeitszeiten reinschreibe; hab da groß draufstehen »Vogelnest«. Dafür wollte sie eine Erklärung und ich sag dir, ihr Tonfall hatte es in sich. Komischerweise hat sie nicht getobt, als sie meine Antwort hörte. Sie hat gesagt, sie glaube mir, dass ich das nicht gehässig, sondern liebevoll meine, das mit dem Vogelnest. Und drum findet sie den Ausdruck auch nicht so arg. Ich soll's aber für mich behalten. Das hab ich auch getan, ich schwör's. Aber trotzdem macht das nun die Runde, beim Personal und bei den Insassen, und alle lächeln dabei, irre nicht? Also wie gesagt, morgen ist meine allererste Nachtschicht und mir wurde gesagt, da sei es meistens ziemlich ruhig. Ich soll was zum Lesen mitnehmen und nur nicht einschlafen. Die Nachtschicht beginnt um sieben nach dem Abendessen und endet um sieben nach dem Frühstück. Werde also morgen so um fünf noch mal bei dir vorbeikommen und - wer weiß - vielleicht ist dann ein Wunder geschehen.
Bis morgen. Uli
Dienstag, 28.03.
War gestern natürlich wie versprochen bei dir. Deine Mutter war auch da. Diesmal hat sie nicht geweint, im Gegenteil. Als ich vorsichtig und leise ins Zimmer gekommen bin, ist sie von ihrem Stuhl aufgesprungen, dass der gleich nach hinten kippte und mit einem Riesengekrache zu Boden schlug. Ganz aufgeregt (ich vermeide absichtlich den Begriff hysterisch!) hat sie mir erzählt, dass du reagiert hast. Worauf, hat sie nicht gesagt. Sie hat nur immer wieder gesagt, du hast reagiert, und war ganz aufgeregt. Ich bin dann näher gekommen und hab dich angeschaut, konnte aber keine Veränderung feststellen. Du warst käsig wie eh und dein offener Mund hing kraftlos über dem Kinn. Die Unterlippe, durch einen Schlauch beschwert, wölbte sich nach außen und stand ab, als gehöre sie dir nicht. Deine Augenlider waren wie immer nicht ganz geschlossen, einen winzigen Spalt offen, und wenn man sich bückt, kann man deine Augäpfel sehen. Das ist unheimlich, mein Freund. Aber reagiert hast du nicht, auf gar nichts. Zumindest nicht in meiner Anwesenheit. Und seien wir mal ehrlich, Hannes, wenn du auf das Stuhl-Gescheppere nicht reagierst, worauf denn sonst? Hab deine Mutter dann runtergeschickt in die Cafeteria und gesagt, sie soll sich'nen schönen Kaffee holen und sich etwas ausruhen. Hat sie auch gemacht. Sie hat heute auch viel besser ausgesehen als die letzte Zeit, hatte rote Wangen. Vermutlich von der Aufregung, weil du reagiert hast. Hatte also doch was Gutes. Als sie weg war, hab ich mich auf deine Bettkante gesetzt und dir die Sportseiten aus der Zeitung vorgelesen. Auch die Eishockey-Ergebnisse der gestrigen Dienstagsspiele, und darauf hast du auch nicht reagiert. Ich hab dann deine Hand genommen, hochgehoben und fallen lassen. Sie ist auf die Bettdecke geknallt wie ein Stein. Von wegen Reaktion. Wenn ich dran denke, wie du mich beim Armdrücken immer genervt hast. Hatte selten eine Chance gegen dich. Und jetzt fällt dein Arm kraftlos zurück in seine ursprüngliche Position, ohne irgendeine Gegenwehr. Mensch, Hannes. Hab dann die Sportberichte weitergelesen. Irgendwann ist deine Mutter zurückgekommen und hat gesagt, ich solle doch mal was Poetisches vorlesen; so Schiller oder Goethe oder irgendetwas Melodisches und nicht die Eishockey-Ergebnisse. Musste aber dringend zur Arbeit, war eh spät dran.
Meine erste Nachtschicht war tatsächlich ruhig. Es ist praktisch nix passiert, worauf ich nicht vorher schon von Walrika aufmerksam gemacht worden wäre. Ja, die kennt halt ihre Pappenheimer. Tatsächlich ist die Frau Stemmerle aufgewacht, so um halb drei, und hat geklingelt. Als ich zu ihr kam, hat sie mich gebeten nachzusehen, ob ihre Enkelin im Zimmer sei. Man muss immer sehr laut reden, weil sie schlecht hört, und man kann sie kaum verstehen, weil nachts ihre Zähne im Glas sind. Als ich ihr schließlich erläutert hab, niemand sonst außer uns beiden wär im Zimmer, hat sie gesagt, dass sie die Jasmin umgebracht hat (ist wohl ihre Enkelin). Sie hat am ganzen Leib gezittert und ihre runzligen Hände waren eiskalt. Hab ihr die dann gerieben, ganz leicht, bis mir der linke Fuß eingeschlafen ist (bin auf ihrer Bettkante gesessen). Ich bin aufgestanden und jetzt war sie ganz ruhig. Ich war mir ehrlich gesagt nicht ganz sicher, ob sie mir nur bis zum Frühstück oder für immer weggedöst ist, und habe mit meinem Ohr kurz an ihrem Mund gelauscht. Aber sie hat schon noch geschnauft. Das war dann auch schon alles für diese Nacht.
Am Morgen hab ich der Walrika noch beim Frühstück-machen geholfen und musste anschließend die Insassen (Walrika nennt sie »Gäste«, und ich werde mich hüten, ihr von meinen »Insassen« zu erzählen), also die Walrika hat mich gebeten, die Gäste zu wecken und in den Frühstücksraum zu beordern oder gegebenenfalls zu begleiten. Ich sag dir eines, das war die schwierigste Aufgabe bislang überhaupt. Man könnte ja meinen, die hätten um neun, halb zehn Nachtruhe, wären ausgeschlafen und kämen dann morgens flott aus den Puschen. Weit gefehlt! Da musst du rütteln und schütteln und singen und ringen - ha -, ein Affenzirkus! Natürlich nicht alle. Einige der Insassen, genau genommen zwei, sitzen schon lange am Frühstückstisch, sehr lange, frisch gewaschen, topfit und können es kaum erwarten, dass wir mit den Rollwägen anrollen. Aber alle anderen krallen sich in ihren Federn fest, als würden wir sie für den Henker holen. Du siehst, die Späße, die wir im Vorfeld über meine Arbeit hier gemacht haben, haben die Thematik längst noch nicht ausgeschöpft, und ich finde hier den besten Nährboden für neue. Ich hau mich jetzt aufs Ohr, um abends dann fit zu sein. Um in mein weißes Kittelchen zu springen - das mir übrigens ausgezeichnet steht und mich sehr autoritär wirken lässt.
Freitag, 31. 03.
Mensch, Hannes, das Frühjahr beginnt und du liegst da und rührst dich nicht. Als ich heut früh mit dem Radl heimgefahren bin, hat es schon überall nach Frühling gerochen. Und du weißt ja, ist der Frühling erst da, ist auch der Sommer nicht mehr weit. Und das wäre der erste Sommer für mich seit einundzwanzig Jahren, den ich ohne dich verbringe. Mir graust davor.
Gestern hab ich's nicht mehr zu dir geschafft, habe verpennt. Hab dann vom Vogelnest aus bei dir zu Hause angerufen, in der Hoffnung, dein Vater geht ran. War aber nicht so. Und als ich die weinerliche Stimme von deiner Mutter hörte, hab ich aufgelegt, sorry. Aber das hat dann eh keinen Sinn, weil ich sie nicht verstehe, verstehst du?
In der Arbeit war alles ruhig, aber eines muss ich dir schon erzählen: Wir haben da so einen kleinen Balkon im Hochparterre, direkt neben der Küche, und da verschwind ich ab und zu, um 'ne Zigarette zu rauchen. Ich bin ganz leise, dass mich niemand hört, stell mich ins Eck, dass mich niemand sieht, und schließ die Tür, dass mich niemand riecht. Und gestern - wie aus dem Erdboden und ohne jede Vorwarnung - steht die Walrika plötzlich mit mir auf dem Balkon. Ich hätt um ein Haar die Zigarette runtergeschluckt, nur um ihrem Anpfiff zu entkommen (steht nämlich in der Heimordnung, dass »das Rauchen auf dem gesamten Gelände des Heimes, dazu gehören auch die Außenanlagen, zu unterlassen ist!«). Sie sieht mich an, lange und ruhig, und die Zigarette glimmt zwischen meinen Fingern so dahin. Ich wage weder weiterzurauchen noch sie wegzuwerfen, und irgendwann brennt sie gewaltig zwischen meinen Fingerkuppen. Nach einer schieren Ewigkeit hat sie dann gefragt: »Brennt's?« Ich habe genickt, und sie: »Warum benutzen Sie dann in Gottes Namen keinen Aschenbecher, Uli?«
»Weil das Rauchen hier auf dem gesamten Gelände des Heimes, dazu gehören auch die Außenanlagen, verboten ist«, sag ich. Darauf holt sie, und jetzt halt dich fest, unter ihrer Kutte eine Schachtel Zigaretten hervor und sagt: »Das gilt nur für unsere Gäste. Wir wollen doch nicht, dass sie sich oder uns in Gefahr bringen, nicht wahr?« Und sie schiebt mit ihrem Fuß in den schwarzen Schnürhalbschuhen hinter dem Fensterladen einen kleinen Aschenbecher hervor, der diskret am Boden stand. Dann hat sie eine Zigarette geraucht, zwar nur halb, aber das gilt trotzdem. Als wir wieder reingingen, sagt sie noch, ohne mich anzusehen: »Sonst hab ich aber keine Laster!« Ich hab das unglaublich gefunden: Da steht vor dir so 'ne dicke kleine Klosterfrau mit 'nem Riesenkreuz am Hals und pafft gemütlich ein Zigarettchen. Da fällt dir nix mehr ein.
Du, Hannes, ich hab die Kiermeier Sonja getroffen, weißt schon, die wir alle gern mal rumgekriegt hätten, und nur der Brenninger durfte da ran. Egal. Jedenfalls studiert die jetzt Medizin. Ich hab ihr natürlich von deinem Unfall erzählt und sie wollte alles ganz genau wissen. Aber sie hat nur den Kopf geschüttelt und gesagt, wenn das jetzt schon fast sieben Wochen sind, dann schaut's schlecht aus. Die meisten Komapatienten kommen entweder gleich oder nimmer, hat sie gesagt. Sie ist zwar erst im zweiten Semester, aber Alter, du solltest langsam mal Gas geben, sonst wird's hinten eng. Ich mach jetzt Schluss für heute, bin saumüde. Morgen schaff ich's bestimmt zu dir rein, hab mir auch den Wecker gestellt.
Sonntag, 02.04.
Servus Hannes,
heute ist mein heiliger Ausschlaftag, und es ist jetzt tatsächlich schon halb zwei am Nachmittag. Ich hab hier im Bett gefrühstückt, und da lieg ich immer noch und schreib dir von den letzten Tagen. Werde vermutlich erst gegen Abend duschen und anschließend ins Eisstadion fahren. Heute kommen die Eisbären, ist womöglich das letzte Spiel in dieser Saison, wenn sie wieder verlieren. Mensch, ich hätt dich so gern dabei.
War also gestern bei dir, alles unverändert, bis auf deine Mutter. Die roten Backen sind wieder verschwunden und das Weinen hat sie auch aufgehört. Sie stand lange mit dem schnauzbärtigen Arzt im Korridor, ich hab es durch die kleine Scheibe in deiner Zimmertür gesehen. Sie wirkte ein wenig unsicher, als sie ihn angesprochen hat, und auch nicht besser, als sie zurückkam. Ich bin dann von deiner Bettkante aufgestanden, um ihr Platz zu machen, aber sie hat gesagt: »Bleib nur, Uli.« Danach hat sie ihre Tasche und Jacke genommen und ist raus. Ohne ein Wort. Das war schon komisch. Ich hab dir dann den Briefvorgelesen, so weit ich ihn halt geschrieben habe. Es sind meine Gedanken, die ich dir bis jetzt und mein ganzes Leben lang erzählt hab, mein Freund, und das fehlt mir am meisten. Unser alltägliches Gelaber. Über nix. Über Gott und die Welt. Du warst mein Tagebuch und ich das deine. Nun schreib ich es eben auf, damit du später weißt, was passiert ist in der Zeit, die du verpennt hast. Na ja. Jedenfalls bin ich auf der Bettkante gesessen und hab dir vorgelesen. Reagiert hast du aber nicht.
Nach einer Weile ist die Nele gekommen. Sonderbarerweise waren wir beide fast täglich bei dir und sind uns trotzdem nie begegnet. Sie ist zur Tür rein, hat mich angeschaut und ist ohne jede Vorwarnung mit erhobenen Fäusten auf mich los. Hat wie wild auf meinen Brustkorb getrommelt und immer geschrien: »Ihr mit euren blöden Motorrädern! Ihr mit euren blöden Motorrädern ...« Das war gar nicht lustig. Irgendwie hab ich ihre Hände auch nicht richtig zu fassen gekriegt. Sie hat geschrien wie verrückt, und du hast wieder nicht reagiert. Zum Glück ist irgendwann der Dr. Schnauzbart rein und hat sie von mir entfernt. Sie ist noch kurz zu dir ans Bett und hat dich auf die Stirn geküsst. Dann ist sie weg. Ehrlich, Hannes, ich hätt so gern was Nettes zu ihr gesagt, was Freundliches oder was Tröstliches, aber ehrlich, ich hatte keine Chance. Wir sind ziemlich stumm gewesen, als sie weg war. Du ja naturgemäß, und mir war auch nicht mehr zum Erzählen. Drum bin ich dann auch gegangen.
Verdammt, ich hab dich doch noch im Rückspiegel gesehen, die ganze Zeit. Und plötzlich in dieser ewig langen Kurve, an dieser ewig hohen Mauer entlang, warst du einfach aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich bin noch ein Stück gefahren, grinsend zugegebenermaßen, weil ich dachte, du hättest in dieser Kurve das Tempo rausgenommen. Bin dann schließlich umgekehrt und ... verdammt! Verdammt, Hannes!
War heute auf dem Heimweg noch kurz im Sullivan's, hab ein Bier getrunken. Der Rick, der Kalle und der Brenninger waren da, und es spielte 'ne Live-Band. Es war voll und laut, wie jeden Samstag, und mir war's zu voll und zu laut. Also bin ich heim und - stell dir vor -- an meiner Haustür lehnt die Nele, angestrahlt von einer Straßenlaterne. Sie hat mich abgepasst. Und weißt du, Hannes, was dann passiert ist? Ich hab gesagt: »Hau ab!«, und bin einfach an ihr vorbei in meine Bude. Sie stand da, verweint und nass (es hatte geregnet), und ich hab sie einfach stehen lassen! Und weißt du, warum, mein Freund? Weil mir im Laufe des Abends aufgefallen ist, dass keiner von uns ein Recht hat, dem anderen einen Vorwurf zu machen. Weil wir nämlich alle gleich viel leiden. Der Rick, der Kalle, der Brenninger, deine Eltern, die Nele und ich. Und ich weiß nicht, wer noch, wir alle eben. Sie braucht mir also jetzt nicht so zu kommen. Ich hoffe, sie hat's kapiert. Berichte morgen weiter, muss jetzt ins Eisstadion.
...
© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
Ich muss das hier jetzt niederschreiben, weil ich einfach mit niemandem darüber reden kann. Ich schreib es aus Wut und Enttäuschung. Eine riesige, unbeschreibliche, abartige Wut, kann ich dir sagen, Hannes. Ich hab geglaubt, wenn sie dich erst mal aus den Verbänden schälen, ist alles wieder wie früher. Dann stehst du aus deinem Bett auf wie Phoenix aus der Asche und wir wandern Seite an Seite die Gänge entlang und schnurstracks dem Ausgang entgegen. Aber das ist nicht passiert. Es ist überhaupt nix passiert. Du liegst da genau wie zuvor und bewegst noch nicht mal deinen kleinen Zeh. Liegst da, mit all deinen Schläuchen und Apparaten und rührst dich nicht. Du bist nicht tot und nicht lebendig, nicht Ebbe, nicht Flut, einfach verschollen zwischen den Gezeiten. Und ich sitz auf der Fensterbank in deinem Krankenzimmer und schau in die alte Kastanie hinaus. Ich hab so eine Wut auf dich, dass ich dich noch nicht mal mehr anschauen mag. Hab dich dann auch nicht mehr besucht (hast du wahrscheinlich eh nicht gemerkt). War die letzten zwei Tage nicht aus dem Haus und hatte keinerlei Kontakt zur Außenwelt.
Irgendwann, nach vielen Stunden der Wut und Enttäuschung, schlägt dann plötzlich alles um, verlagert sich quasi. Die Wut verlagert sich von deiner Person auf meine. Mir wird langsam klar, dass nicht du schuld bist an meiner Enttäuschung, sondern ich bin es selbst. Dass ich mit meinem naiven Kleingeist tatsächlich geglaubt hab, wenn die Verbände erst weg sind, ist alles okay. Als hätten die dich daran hindern können, die Augen zu öffnen oder einen Ton von dir zu geben. Wie dämlich von mir! Ich fühl mich wie ein echter Idiot, und das stimmt mich nicht gerade fröhlich. War jetzt, wie gesagt, einige Tage nicht bei dir, mein Freund, und hab schließlich gemerkt, dass es dann noch viel schlimmer ist. Dass es mir noch viel schlechter geht, wenn ich daheim rumdümple und mir das Hirn zermartere. Dann sitz ich lieber auf deiner Fensterbank und schau in die Kastanie. Schau in die Kastanie und hoffe auf ein Wunder. Und allmählich begreif ich, dass es wohl tatsächlich ein Wunder sein muss, das dich wieder zum Leben erweckt. Ich kann dir nicht helfen und kann mit niemandem darüber reden. Ich kann mit niemandem reden, weil ich ja immer verkünde, dass jetzt alles gut wird. Dass es bergauf geht, weil du ein Kämpfer bist. Dass es bergauf geht, weil eben jetzt die Verbände weg sind. Ich erzähl von deinen Fortschritten und merke, dass du keine machst. Es ist zum Kotzen. Das Schreiben hier gefällt mir gut. Ich kann da meinen Frust ablassen, ohne dass es jemandem wehtut. Vielleicht sollte ich einfach alles aufschreiben, was so passiert. Damit du auf dem Laufenden bist, wenn du wieder funktionierst, mein Freund. Es soll ja Komapatienten gegeben haben, die sind irgendwann aufgewacht und hatten keinen Schimmer, was passiert war. Wenn ich es aber schreibe und du es später liest, weißt du Bescheid. Werde drüber nachdenken, mal sehen. Übrigens hab ich vorhin noch kurz mit deiner Mutter telefoniert. Hab aber leider nix verstanden, weil sie wieder so geweint hat. Na ja.
Später: Hab mir gerade den ›Tatort‹ angeschaut und'ne Pizza gegessen. Beides war nicht so toll. Im Grunde hab ich von beidem nix mitbekommen, weil ich an dich gedacht habe, Hannes. Weil ich dran denke, wie es wird, wenn du wieder zurückkommst. Wie es sein wird, wenn wir wieder zusammensitzen, der Kalle, der Rick, der Brenninger und wir zwei halt. Wenn wir ins Eisstadion fahren, um ein mieses Spiel zu sehen. Oder zum Baggersee und Steine floppen lassen. Wenn wir nächtelang unseren Urlaub planen und zu keiner Einigung kommen. Am Ende doch wieder nach Spanien fahren und dort wieder mal beschließen, im nächsten Jahr woanders hinzufahren. Wenn wir im Sullivan's hocken und einfach ein paar Bier zischen. Das wird klasse, mein Freund. Im Moment sieht's noch nicht danach aus. Im Grunde sieht's eher beschissen aus. Ich sag das jetzt so, weil wir haben uns doch noch nie angelogen - warum sollten wir jetzt damit anfangen? Heute ist der 26. März, und es ist jetzt schon über sechs Wochen her, dass du ins Koma gefallen bist. Ich hab nun beschlossen, dir alles so aufzuschreiben. Damit du eben auf dem Laufenden bist, wenn du wieder klar bist, Hannes. Ja, das werd ich tun. Und morgen werd ich zu dir kommen, vor dem Dienst. Denn morgen beginnt mein Nachtdienst, der erste überhaupt.
Irgendwie ist mir schon komisch, so allein mit all den Spinnern, aber andererseits ist es da vermutlich auch ruhiger. Hab jetzt die ersten Wochen als Zivi hinter mir, und ich kann dir sagen, die blöden Witze, die wir darüber im Vorfeld gemacht haben, waren beileibe nicht unberechtigt. Die Patienten oder Insassen, oder wie du willst, heißen in der Heimordnung und in der Heimbeschreibung »psychisch instabile Personen«. Die Heimordnung ist sowieso das Wichtigste hier. Die einzige Ordensschwester, Schwester Walrika (klein, dick, eine Stimme wie ein Nebelhorn und eine Zunge wie'ne Natter, sag ich dir), achtet peinlich darauf, dass die Heimordnung penibel eingehalten wird. Die beiden Putzfrauen sind den ganzen Tag am Bohnern, Wienern und Polieren, und doch findet Walrika immer ein Stäubchen hier oder da. Wie ein Feldwebel, sag ich dir. Früher war das Heim ein Kindergarten, das Zwergennest. Wurde wohl irgendwie zu klein oder unmodern, keine Ahnung. Dann haben die Kinder halt was Neues gekriegt und hier haben sie das Heim reingemacht. Ich nenn es Vogelnest, weil die eben alle'nen Vogel haben (hast du dir sicher selber denken können). Die Walrika hat vor ein paar Tagen meinen Stundenplan in der Teeküche gesehen, in den ich meine Arbeitszeiten reinschreibe; hab da groß draufstehen »Vogelnest«. Dafür wollte sie eine Erklärung und ich sag dir, ihr Tonfall hatte es in sich. Komischerweise hat sie nicht getobt, als sie meine Antwort hörte. Sie hat gesagt, sie glaube mir, dass ich das nicht gehässig, sondern liebevoll meine, das mit dem Vogelnest. Und drum findet sie den Ausdruck auch nicht so arg. Ich soll's aber für mich behalten. Das hab ich auch getan, ich schwör's. Aber trotzdem macht das nun die Runde, beim Personal und bei den Insassen, und alle lächeln dabei, irre nicht? Also wie gesagt, morgen ist meine allererste Nachtschicht und mir wurde gesagt, da sei es meistens ziemlich ruhig. Ich soll was zum Lesen mitnehmen und nur nicht einschlafen. Die Nachtschicht beginnt um sieben nach dem Abendessen und endet um sieben nach dem Frühstück. Werde also morgen so um fünf noch mal bei dir vorbeikommen und - wer weiß - vielleicht ist dann ein Wunder geschehen.
Bis morgen. Uli
Dienstag, 28.03.
War gestern natürlich wie versprochen bei dir. Deine Mutter war auch da. Diesmal hat sie nicht geweint, im Gegenteil. Als ich vorsichtig und leise ins Zimmer gekommen bin, ist sie von ihrem Stuhl aufgesprungen, dass der gleich nach hinten kippte und mit einem Riesengekrache zu Boden schlug. Ganz aufgeregt (ich vermeide absichtlich den Begriff hysterisch!) hat sie mir erzählt, dass du reagiert hast. Worauf, hat sie nicht gesagt. Sie hat nur immer wieder gesagt, du hast reagiert, und war ganz aufgeregt. Ich bin dann näher gekommen und hab dich angeschaut, konnte aber keine Veränderung feststellen. Du warst käsig wie eh und dein offener Mund hing kraftlos über dem Kinn. Die Unterlippe, durch einen Schlauch beschwert, wölbte sich nach außen und stand ab, als gehöre sie dir nicht. Deine Augenlider waren wie immer nicht ganz geschlossen, einen winzigen Spalt offen, und wenn man sich bückt, kann man deine Augäpfel sehen. Das ist unheimlich, mein Freund. Aber reagiert hast du nicht, auf gar nichts. Zumindest nicht in meiner Anwesenheit. Und seien wir mal ehrlich, Hannes, wenn du auf das Stuhl-Gescheppere nicht reagierst, worauf denn sonst? Hab deine Mutter dann runtergeschickt in die Cafeteria und gesagt, sie soll sich'nen schönen Kaffee holen und sich etwas ausruhen. Hat sie auch gemacht. Sie hat heute auch viel besser ausgesehen als die letzte Zeit, hatte rote Wangen. Vermutlich von der Aufregung, weil du reagiert hast. Hatte also doch was Gutes. Als sie weg war, hab ich mich auf deine Bettkante gesetzt und dir die Sportseiten aus der Zeitung vorgelesen. Auch die Eishockey-Ergebnisse der gestrigen Dienstagsspiele, und darauf hast du auch nicht reagiert. Ich hab dann deine Hand genommen, hochgehoben und fallen lassen. Sie ist auf die Bettdecke geknallt wie ein Stein. Von wegen Reaktion. Wenn ich dran denke, wie du mich beim Armdrücken immer genervt hast. Hatte selten eine Chance gegen dich. Und jetzt fällt dein Arm kraftlos zurück in seine ursprüngliche Position, ohne irgendeine Gegenwehr. Mensch, Hannes. Hab dann die Sportberichte weitergelesen. Irgendwann ist deine Mutter zurückgekommen und hat gesagt, ich solle doch mal was Poetisches vorlesen; so Schiller oder Goethe oder irgendetwas Melodisches und nicht die Eishockey-Ergebnisse. Musste aber dringend zur Arbeit, war eh spät dran.
Meine erste Nachtschicht war tatsächlich ruhig. Es ist praktisch nix passiert, worauf ich nicht vorher schon von Walrika aufmerksam gemacht worden wäre. Ja, die kennt halt ihre Pappenheimer. Tatsächlich ist die Frau Stemmerle aufgewacht, so um halb drei, und hat geklingelt. Als ich zu ihr kam, hat sie mich gebeten nachzusehen, ob ihre Enkelin im Zimmer sei. Man muss immer sehr laut reden, weil sie schlecht hört, und man kann sie kaum verstehen, weil nachts ihre Zähne im Glas sind. Als ich ihr schließlich erläutert hab, niemand sonst außer uns beiden wär im Zimmer, hat sie gesagt, dass sie die Jasmin umgebracht hat (ist wohl ihre Enkelin). Sie hat am ganzen Leib gezittert und ihre runzligen Hände waren eiskalt. Hab ihr die dann gerieben, ganz leicht, bis mir der linke Fuß eingeschlafen ist (bin auf ihrer Bettkante gesessen). Ich bin aufgestanden und jetzt war sie ganz ruhig. Ich war mir ehrlich gesagt nicht ganz sicher, ob sie mir nur bis zum Frühstück oder für immer weggedöst ist, und habe mit meinem Ohr kurz an ihrem Mund gelauscht. Aber sie hat schon noch geschnauft. Das war dann auch schon alles für diese Nacht.
Am Morgen hab ich der Walrika noch beim Frühstück-machen geholfen und musste anschließend die Insassen (Walrika nennt sie »Gäste«, und ich werde mich hüten, ihr von meinen »Insassen« zu erzählen), also die Walrika hat mich gebeten, die Gäste zu wecken und in den Frühstücksraum zu beordern oder gegebenenfalls zu begleiten. Ich sag dir eines, das war die schwierigste Aufgabe bislang überhaupt. Man könnte ja meinen, die hätten um neun, halb zehn Nachtruhe, wären ausgeschlafen und kämen dann morgens flott aus den Puschen. Weit gefehlt! Da musst du rütteln und schütteln und singen und ringen - ha -, ein Affenzirkus! Natürlich nicht alle. Einige der Insassen, genau genommen zwei, sitzen schon lange am Frühstückstisch, sehr lange, frisch gewaschen, topfit und können es kaum erwarten, dass wir mit den Rollwägen anrollen. Aber alle anderen krallen sich in ihren Federn fest, als würden wir sie für den Henker holen. Du siehst, die Späße, die wir im Vorfeld über meine Arbeit hier gemacht haben, haben die Thematik längst noch nicht ausgeschöpft, und ich finde hier den besten Nährboden für neue. Ich hau mich jetzt aufs Ohr, um abends dann fit zu sein. Um in mein weißes Kittelchen zu springen - das mir übrigens ausgezeichnet steht und mich sehr autoritär wirken lässt.
Freitag, 31. 03.
Mensch, Hannes, das Frühjahr beginnt und du liegst da und rührst dich nicht. Als ich heut früh mit dem Radl heimgefahren bin, hat es schon überall nach Frühling gerochen. Und du weißt ja, ist der Frühling erst da, ist auch der Sommer nicht mehr weit. Und das wäre der erste Sommer für mich seit einundzwanzig Jahren, den ich ohne dich verbringe. Mir graust davor.
Gestern hab ich's nicht mehr zu dir geschafft, habe verpennt. Hab dann vom Vogelnest aus bei dir zu Hause angerufen, in der Hoffnung, dein Vater geht ran. War aber nicht so. Und als ich die weinerliche Stimme von deiner Mutter hörte, hab ich aufgelegt, sorry. Aber das hat dann eh keinen Sinn, weil ich sie nicht verstehe, verstehst du?
In der Arbeit war alles ruhig, aber eines muss ich dir schon erzählen: Wir haben da so einen kleinen Balkon im Hochparterre, direkt neben der Küche, und da verschwind ich ab und zu, um 'ne Zigarette zu rauchen. Ich bin ganz leise, dass mich niemand hört, stell mich ins Eck, dass mich niemand sieht, und schließ die Tür, dass mich niemand riecht. Und gestern - wie aus dem Erdboden und ohne jede Vorwarnung - steht die Walrika plötzlich mit mir auf dem Balkon. Ich hätt um ein Haar die Zigarette runtergeschluckt, nur um ihrem Anpfiff zu entkommen (steht nämlich in der Heimordnung, dass »das Rauchen auf dem gesamten Gelände des Heimes, dazu gehören auch die Außenanlagen, zu unterlassen ist!«). Sie sieht mich an, lange und ruhig, und die Zigarette glimmt zwischen meinen Fingern so dahin. Ich wage weder weiterzurauchen noch sie wegzuwerfen, und irgendwann brennt sie gewaltig zwischen meinen Fingerkuppen. Nach einer schieren Ewigkeit hat sie dann gefragt: »Brennt's?« Ich habe genickt, und sie: »Warum benutzen Sie dann in Gottes Namen keinen Aschenbecher, Uli?«
»Weil das Rauchen hier auf dem gesamten Gelände des Heimes, dazu gehören auch die Außenanlagen, verboten ist«, sag ich. Darauf holt sie, und jetzt halt dich fest, unter ihrer Kutte eine Schachtel Zigaretten hervor und sagt: »Das gilt nur für unsere Gäste. Wir wollen doch nicht, dass sie sich oder uns in Gefahr bringen, nicht wahr?« Und sie schiebt mit ihrem Fuß in den schwarzen Schnürhalbschuhen hinter dem Fensterladen einen kleinen Aschenbecher hervor, der diskret am Boden stand. Dann hat sie eine Zigarette geraucht, zwar nur halb, aber das gilt trotzdem. Als wir wieder reingingen, sagt sie noch, ohne mich anzusehen: »Sonst hab ich aber keine Laster!« Ich hab das unglaublich gefunden: Da steht vor dir so 'ne dicke kleine Klosterfrau mit 'nem Riesenkreuz am Hals und pafft gemütlich ein Zigarettchen. Da fällt dir nix mehr ein.
Du, Hannes, ich hab die Kiermeier Sonja getroffen, weißt schon, die wir alle gern mal rumgekriegt hätten, und nur der Brenninger durfte da ran. Egal. Jedenfalls studiert die jetzt Medizin. Ich hab ihr natürlich von deinem Unfall erzählt und sie wollte alles ganz genau wissen. Aber sie hat nur den Kopf geschüttelt und gesagt, wenn das jetzt schon fast sieben Wochen sind, dann schaut's schlecht aus. Die meisten Komapatienten kommen entweder gleich oder nimmer, hat sie gesagt. Sie ist zwar erst im zweiten Semester, aber Alter, du solltest langsam mal Gas geben, sonst wird's hinten eng. Ich mach jetzt Schluss für heute, bin saumüde. Morgen schaff ich's bestimmt zu dir rein, hab mir auch den Wecker gestellt.
Sonntag, 02.04.
Servus Hannes,
heute ist mein heiliger Ausschlaftag, und es ist jetzt tatsächlich schon halb zwei am Nachmittag. Ich hab hier im Bett gefrühstückt, und da lieg ich immer noch und schreib dir von den letzten Tagen. Werde vermutlich erst gegen Abend duschen und anschließend ins Eisstadion fahren. Heute kommen die Eisbären, ist womöglich das letzte Spiel in dieser Saison, wenn sie wieder verlieren. Mensch, ich hätt dich so gern dabei.
War also gestern bei dir, alles unverändert, bis auf deine Mutter. Die roten Backen sind wieder verschwunden und das Weinen hat sie auch aufgehört. Sie stand lange mit dem schnauzbärtigen Arzt im Korridor, ich hab es durch die kleine Scheibe in deiner Zimmertür gesehen. Sie wirkte ein wenig unsicher, als sie ihn angesprochen hat, und auch nicht besser, als sie zurückkam. Ich bin dann von deiner Bettkante aufgestanden, um ihr Platz zu machen, aber sie hat gesagt: »Bleib nur, Uli.« Danach hat sie ihre Tasche und Jacke genommen und ist raus. Ohne ein Wort. Das war schon komisch. Ich hab dir dann den Briefvorgelesen, so weit ich ihn halt geschrieben habe. Es sind meine Gedanken, die ich dir bis jetzt und mein ganzes Leben lang erzählt hab, mein Freund, und das fehlt mir am meisten. Unser alltägliches Gelaber. Über nix. Über Gott und die Welt. Du warst mein Tagebuch und ich das deine. Nun schreib ich es eben auf, damit du später weißt, was passiert ist in der Zeit, die du verpennt hast. Na ja. Jedenfalls bin ich auf der Bettkante gesessen und hab dir vorgelesen. Reagiert hast du aber nicht.
Nach einer Weile ist die Nele gekommen. Sonderbarerweise waren wir beide fast täglich bei dir und sind uns trotzdem nie begegnet. Sie ist zur Tür rein, hat mich angeschaut und ist ohne jede Vorwarnung mit erhobenen Fäusten auf mich los. Hat wie wild auf meinen Brustkorb getrommelt und immer geschrien: »Ihr mit euren blöden Motorrädern! Ihr mit euren blöden Motorrädern ...« Das war gar nicht lustig. Irgendwie hab ich ihre Hände auch nicht richtig zu fassen gekriegt. Sie hat geschrien wie verrückt, und du hast wieder nicht reagiert. Zum Glück ist irgendwann der Dr. Schnauzbart rein und hat sie von mir entfernt. Sie ist noch kurz zu dir ans Bett und hat dich auf die Stirn geküsst. Dann ist sie weg. Ehrlich, Hannes, ich hätt so gern was Nettes zu ihr gesagt, was Freundliches oder was Tröstliches, aber ehrlich, ich hatte keine Chance. Wir sind ziemlich stumm gewesen, als sie weg war. Du ja naturgemäß, und mir war auch nicht mehr zum Erzählen. Drum bin ich dann auch gegangen.
Verdammt, ich hab dich doch noch im Rückspiegel gesehen, die ganze Zeit. Und plötzlich in dieser ewig langen Kurve, an dieser ewig hohen Mauer entlang, warst du einfach aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich bin noch ein Stück gefahren, grinsend zugegebenermaßen, weil ich dachte, du hättest in dieser Kurve das Tempo rausgenommen. Bin dann schließlich umgekehrt und ... verdammt! Verdammt, Hannes!
War heute auf dem Heimweg noch kurz im Sullivan's, hab ein Bier getrunken. Der Rick, der Kalle und der Brenninger waren da, und es spielte 'ne Live-Band. Es war voll und laut, wie jeden Samstag, und mir war's zu voll und zu laut. Also bin ich heim und - stell dir vor -- an meiner Haustür lehnt die Nele, angestrahlt von einer Straßenlaterne. Sie hat mich abgepasst. Und weißt du, Hannes, was dann passiert ist? Ich hab gesagt: »Hau ab!«, und bin einfach an ihr vorbei in meine Bude. Sie stand da, verweint und nass (es hatte geregnet), und ich hab sie einfach stehen lassen! Und weißt du, warum, mein Freund? Weil mir im Laufe des Abends aufgefallen ist, dass keiner von uns ein Recht hat, dem anderen einen Vorwurf zu machen. Weil wir nämlich alle gleich viel leiden. Der Rick, der Kalle, der Brenninger, deine Eltern, die Nele und ich. Und ich weiß nicht, wer noch, wir alle eben. Sie braucht mir also jetzt nicht so zu kommen. Ich hoffe, sie hat's kapiert. Berichte morgen weiter, muss jetzt ins Eisstadion.
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© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
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Autoren-Porträt von Rita Falk
Rita Falk, Jahrgang 1964, hat sich mit ihrer Provinzkrimiserie um den Dorfpolizisten Franz Eberhofer (Winterkartoffelknödel, Dampfnudelblues und Schweinskopf al dente) in die Herzen ihrer Leser geschrieben. Von sich selber sagt die Autorin, dass sie die schönste Zeit ihres Lebens in Oberbayern verbracht hat. Dort hat sie ihre Kindheit verbracht, wuchs bei der Oma auf. Dem ihr so vertrauten Landstrich ist Rita Falk auch als Erwachsene treu geblieben. Sie lebt heute in München. Rita Falk ist mit einem Polizisten verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.Die Kindheitserfahrungen sind der Schatz, aus dem Rita Falk als Schriftstellerin schöpft. In ihrem Franz-Eberhofer-Krimi bildet ein bayerisches Dorf den Mittelpunkt des Geschehens. Keine Frage, dass es Rita Falk exzellent gelingt, dieses Bild authentisch in Szene zu setzen. Vor allen Dingen die kleinen und großen Schwächen der Menschen sind es, die sie ihren Lesern kenntnisreich und mit einer gehörigen Portion bissigem Humor serviert. Sie hat ihrem Protagonisten, dem Dorfgendarmen Franz Eberhofer, einen original bayerischen Ton auf den Leib geschrieben, der hart aber herzlich ist. Der Franz sagt halt, was er denkt.
Rita Falk ist sich also beim Schreiben treu geblieben. Ihre eigenen biografischen Wurzeln liefern den Grundstock für amüsante und geistreiche Unterhaltung der besten Lesart. Es bleibt weiterhin spannend - sicherlich wird sie noch viel von sich reden machen, mit ihren Geschichten von 'dahoam'.
Mit ›Hannes‹ zeigt sie sich von einer neuen, überraschenden Seite, indem sie eine wahrhaftige, universelle Geschichte erzählt, die niemanden ungerührt lässt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rita Falk
- 2012, 208 Seiten, Maße: 14,2 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423280018
- ISBN-13: 9783423280013
- Erscheinungsdatum: 16.03.2012
Rezension zu „Hannes “
Geschichten vom Abschiednehmen, vom Sterben, vom Loslassen gehören zum Leben. Eine erzählt Rita Falk in ihrem Roman 'Hannes' sensibel und eindringlich.
Ulrike Schubel nordkurier.de 20120918
Pressezitat
Geschichten vom Abschiednehmen, vom Sterben, vom Loslassen gehören zum Leben. Eine erzählt Rita Falk in ihrem Roman 'Hannes' sensibel und eindringlich. Ulrike Schubel nordkurier.de 20120918
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