Europa braucht den Euro nicht
"Ex-Bundesbanker Thilo Sarrazin hat sich nach seinem Sensationserfolg von "Deutschland schafft sich ab" ein wenig Zeit gelassen. Jetzt ist er mit einem erneut provokanten Buch zurück: "Europa braucht den Euro...
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Produktinformationen zu „Europa braucht den Euro nicht “
"Ex-Bundesbanker Thilo Sarrazin hat sich nach seinem Sensationserfolg von "Deutschland schafft sich ab" ein wenig Zeit gelassen. Jetzt ist er mit einem erneut provokanten Buch zurück: "Europa braucht den Euro nicht"."
FOCUS
Angela Merkels Ausspruch "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa" stellt die Währungsfrage in einen größeren Zusammenhang. Auch Sarrazin versucht dies in seinem neuen Buch, aber auf andere Weise und mit anderen Ergebnissen. Er zeichnet nach eigenen Angaben "die verheerenden Resultate politischen Wunschdenkens" nach. Sarrazin Ziel: Die Debatte vom Kopf auf die Füße stellen und zwar richtig!
Klappentext zu „Europa braucht den Euro nicht “
Mit der drohenden Staatspleite einzelner Länder hat der Traum von der Europäischen Währungsunion seinen Glanz eingebüßt und seine Risiken offenbart. Angela Merkels Diktum "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa" versucht die Währungsfrage in einen größeren Zusammenhang zu stellen.Das tut auch Thilo Sarrazin in seinem neuen Buch, aber auf andere Weise und mit anderen Ergebnissen. Er zeichnet die verheerenden Resultate politischen Wunschdenkens nach und stellt die Debatte vom Kopf auf die Füße.
Lese-Probe zu „Europa braucht den Euro nicht “
Europa braucht den Euro nicht von Thilo SarrazinEinleitung
Für die Behandlung mancher gesellschaftlicher Fragen recht nützlich ist der amerikanische Grundsatz »If it ain't broke, don't fix it.« Nach diesem Grundsatz hätte für die Deutschen das Allerletzte, was Anfang der neunziger Jahre in ihrer Gesellschaft der Reform und Änderung bedurfte, die Währung sein dürfen. Auch der glühendste Euro-Befürworter hat ja in Deutschland niemals versucht, mit dem Argument zu punkten, die D-Mark habe sich nicht bewährt.
Magisches Denken
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Für jene Europäer, die die Zufälle des Schicksals dazu verdammt hatten, ihr Geld in Drachmen, Lire oder Escudos zu verdienen, darin ihre Rechnungen zu bezahlen und ihr Vermögen zu bilden, sah die Betrachtung natürlich anders aus. Sie neigten dazu, den Glanz deutscher Ingenieurprodukte, den Lebensstandard in Deutschland und den guten Zustand deutscher Infrastruktur, die vergleichsweise hohe Preisstabilität in Deutschland und vieles, um das man Deutschland beneidete, mit dem Umstand zu verwechseln, dass man in Deutschland in D-Mark bezahlte.
Aber nicht nur die Menschen erlagen diesem magischen Denken, auch die Politiker, Medienleute und Regierungen überall in Europa taten dies. Die gemeinsame Währung, ausgestattet mit der Stärke und dem Prestige der in ihr aufgegangenen D-Mark, sollte der Zaubertrank, das Lebenselixier sein, das endlich wirtschaftliche Gleichheit schuf und das ständige, als peinlich und als Vorwurf empfundene Gefälle zwischen der D-Mark-Zone und dem Rest Europas beseitigte.
Wir fühlen uns an die Asterix-Comics erinnert: Vor der gemeinsamen Währung waren nur die Deutschen (oder die Holländer, Österreicher oder Dänen, aber die zählten nicht so) wirtschaftlich so stark wie Obelix. Dann aber, wenn Miraculix den Zaubertrank »gemeinsame Währung« mischte und alle davon tranken, dann würden sie alle so stark wie Obelix sein. Der deutsche Obelix hatte ja auch ein schlechtes Gewissen wegen seiner Stärke und wollte diese gerne teilen und sich damit nebenbei auch aller Schuldgefühle entledigen, die ihn zu Recht seit dem Zweiten Weltkrieg plagten und die Freude am eigenen Erfolg schmälerten.
Wenn es noch einer Bestätigung bedurfte, was für Wunder die richtige Währung bewirkte, dann schien 1990 die deutsch-deutsche Währungsunion mit der bald danach folgenden deutschen Einheit das schlagende Beispiel zu liefern. Dass Westdeutschland den »Erfolg« dieser Währungsunion mit einem Land, das nur ein Viertel der westdeutschen Bevölkerung hatte, bis heute mit Nettotransfers von rund. 1500 Mrd. € bezahlte, drang schon weniger ins allgemeine Bewusstsein.
Der Kanzler der Einheit, Helmut Kohl, hatte irgendwann im Frühling 1990 die traditionelle deutsche Position aufgegeben, dass eine gemeinsame Währung nur in einem Europäischen Bundesstaat möglich sei. Er wollte wegen der deutschen Wiedervereinigung den großen Freund und Partner Frankreich nicht verstimmen und nur ja keine Zweifel an der europäischen Bestimmung Deutschlands aufkommen lassen. Helmut Kohl versuchte, dieses Nachgeben im Grundsätzlichen zunächst noch zu verschleiern, um den deutschen Skeptikern einer Währungsunion keinen Rückenwind zu geben. Am 6. November 1991 erklärte er im Deutschen Bundestag:
»Man kann dies nicht oft genug sagen. Die politische Union ist das unerlässliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die jüngere Geschichte, und zwar nicht nur die Deutschlands, lehrt uns, dass die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne politische Union auf die Dauer erhalten, abwegig ist.«1
Wenn dies so war und Helmut Kohl dies wirklich glaubte, dann hätte es die Verantwortung für Deutschland damals erfordert, den europäischen Partnern eine klare Option zu geben. Die gemeinsame Währung gibt es dann, wenn Einigung über einen exakten Vertrag für eine politische Union erzielt ist und dieser unterschrieben wurde. Das Ob und der Zeitpunkt würden von den Partnern abhängen. Je nach ihrer Wahl in einem Jahr, in 10 Jahren oder in 50 Jahren oder auch gar nicht.
Politische Wette
Stattdessen ging die deutsche Seite eine in ihrem Inhalt unscharfe und in ihren Risiken unklare Wette auf Kosten deutscher Interessen ein. Die kühne Hoffnung war. Gerade weil eine Währungsunion ohne politische Union auf die Dauer nicht funktionieren könne, würden, wenn die Währungsunion einmal da sei, die Sachzwänge zur politischen Union diese quasi automatisch herbeizwingen. Noch heute ist aus mancher Äußerung von Finanzminister Wolfgang Schäuble diese Einstellung zu entnehmen.
Manche denken, Politik hat gar nicht so viel Macht. Das ist generell richtig. Aber sie hat die Macht, und die hat sie immer wieder unter Beweis gestellt, im konkreten Fall Expertenwissen und gesunden Menschenverstand zu missachten und Fehlentscheidungen zu treffen, deren dramatische Folgen sie selbst nicht überschaut, und dann, wenn sie eintreten, zu lange verharmlost und unterdrückt.
Als die politische Entscheidung für eine Währungsunion ohne politische Union gefallen war, gelang es der deutschen Verhandlungskunst immerhin noch, mit dem Maastricht-Vertrag einen Weg zu finden, der hätte funktionieren können, wenn sich alle Vertragspartner nach dem Geist und Buchstaben des Vertrages verhalten und ihre Volkswirtschaften entsprechend reformiert hätten. Wären die Partner aber alle so beschaffen gewesen, hätte man eine Währungsunion sowieso nicht gebraucht, bzw. die gemeinsame Währung wäre ganz organisch und ohne besondere Anstrengung zum Endpunkt einer politischen Union geworden.
Ich selbst hielt Ende der neunziger Jahre den eingeschlagenen Weg zwar für riskant, aber dann für chancenreich, wenn alle Beteiligten die Risiken beachteten und die Chancen nutzten. Als die beiden wesentlichen Risiken benannte ich 1996:
»Insbesondere die ärmeren Regionen können nicht mehr darauf bauen, dass ihnen Abwertungen der nationalen Währung von Zeit zu Zeit eine Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit quasi >frei Haus< liefern und damit vergangene lohnpolitische Irrtümer elegant ausgleichen. Umgekehrt wird vielmehr ein Schuh daraus: Für Wachstum und Beschäftigung werden die Chancen der einheitlichen Währung am besten genutzt, wenn bei den direkten und indirekten Arbeitskosten maximale regionale und sektorale Flexibilität bis hinab auf die betriebliche Ebene herrscht.«2
»Ihre disziplinierende Wirkung auf die Finanzpolitik kann die Geldpolitik aber nur entfalten, wenn finanziell unsolide Staaten nicht auf ein >bailing out< aus der Gemeinschaftskasse oder durch Mechanismen des horizontalen Finanzausgleichs hoffen dürfen.«3
Beide Risiken sind leider eingetreten, wie das zunehmende Auseinanderklaffen der Wettbewerbsfähigkeit der Euroländer einerseits und die Krise der Staatsfinanzen im Euroraum andererseits zeigen. Die Skeptiker unter den Fachleuten waren damals in der Mehrheit. Ihre Argumente waren schlüssig, sie waren einleuchtend, und sie behielten Recht. Weshalb hat man dann damals nicht auf sie gehört? Die Wahrheit ist, die Menschen denken nicht in Argumenten. Nur die Experten tun es, wenn sie unter sich sind. Menschen denken in Bildern, und das umso mehr, je weniger sie von einer Sache verstehen. Erfolgreiche Diktaturen wissen dies, und erfolgreiche Werbeexperten wissen dies auch.
Visionen, Visionen
Auch führende Politiker und nicht nur die von ihnen Geführten denken in Bildern, und auch bei ihnen kann das richtige Bild das beste Argument besiegen: Der amerikanische Präsident Ronald Reagan hatte in seinen ersten Jahren einen Haushaltsdirektor namens David Stockman, der einen heldenhaften Kampf für die richtige Budget- und Steuerpolitik, insbesondere aber gegen die Budgetforderungen des Verteidigungsministers Caspar Weinberger führte. Er scheitere glorios. Als Schlüsselerlebnis seines Scheiterns schildert er eine Sitzung bei Präsident Reagan über die Eckwerte des Verteidigungshaushalts. Zunächst trug Stockman seine Zahlen vor. Die waren schlimm, falls sich der Verteidigungsminister durchsetzte, schienen aber den Präsidenten nicht übermäßig zu beeindrucken. Dann legte Caspar Weinberger eine einzige Folie mit einer Zeichnung auf: Links stand ein kleiner zerlumpter abgemagerter GI, rechts ein großer starker Marinesoldat mit voller Bewaffnung. Unter dem linken Bild stand »Their army«, unter dem rechten Bild »Our army«. Der Präsident zeigte auf das rechte Bild und sagte »I want that.« Die Diskussion war beendet, das größte Aufrüstungsprogramm der Nachkriegszeit war beschlossen und wurde mit Schulden finanziert. David Stockman war nicht mehr lang im Amt, im August 1985 trat er zurück. Aber sein Buch über seine Jahre mit Ronald Reagan bleibt für jeden Finanzpolitiker lesenswert. 4
Wie Ronald Reagan war Helmut Kohl kein Mann der Details, sondern ein Mann der Visionen. Dazu war er sehr emotional. Auf der Folie, die 1991 Helmut Kohl zur Entscheidung vorgelegt wurde, standen offenbar »Their Europe« und »Our Europe« einander gegenüber:
»Their Europe« war die Liste kleinlicher Bedenken ungeliebter Technokraten und ordnungspolitischer Prinzipienreiter, die die große europäische Idee aufhalten und bis zur Unkenntlichkeit zermahlen würden.
»Our Europe« war die Gesetzestafel mit der Aufschrift »Europäische Währungsunion«, die den Weg ins gelobte Land namens »politische Union« wies. Und Helmut Kohl war in diesem Bild der Moses des deutschen Volkes auf dem Weg zu seiner europäischen Bestimmung.
Ich empfinde dieses Bild nicht als übermäßig spöttisch oder zynisch. Ich glaube vielmehr, dass es sich im übertragenen Sinne genauso abgespielt hat. Wie viele ältere Männer war Helmut Kohl von dem Gefühl getrieben, wichtige langfristige Fragen, für die die Weisheit und Macht seiner Nachfolger nicht ausreichen würden, möglichst zu seiner Zeit abschließend zu regeln, mochten ein paar technische Unterpunkte auch noch ungeklärt sein. So kam Deutschland zum Euro. Die Experten Hans Tietmeyer, Horst Köhler, Jürgen Stark und viele andere Helfer in hohen Stellen knirschten mit den Zähnen, äußerten Bedenken, aber am Ende liehen sie ihre Expertenhand, um der Traumfigur »Europäische Währungsunion« ins Leben zu helfen. Sogar ein Inkubatorzelt namens »Stabilitätspakt« erfanden sie und stellten es vorsorglich bereit.
Es half nichts, die Traumfigur »Europäische Währungsunion«, einmal in der Welt, entwickelte sich fortan, und in den letzten Jahren zunehmend eigenwillig, nach ihren eigenen Gesetzen und entzog sich mehr und mehr den Bändigungsversuchen ihrer Schöpfer.
Ungerecht wäre es, und es würde auch nicht weiterführen, den heute verantwortlichen Politikern die Vorgeschichte der gemeinsamen Währung moralisierend vorzuhalten. Merkel, Sarkozy und alle, die gerade Verantwortung tragen, können nichts für diese Vorgeschichte, aber sie müssen mit ihren Folgen umgehen. Der Bürger allerdings hat keinen Anlass, zur Frage der gemeinsamen Währung heute in die Politik ein höheres Systemvertrauen zu setzen, als dies 1992 angemessen gewesen wäre. Eine Überernährung mit Krisenszenarien, Katastrophenrufen, Solidaritätsappellen und gegenseitigen Vorwürfen hat bei vielen zu Verwirrung und Gedankenlähmung geführt und zudem ein breites Unbehagen gefördert. Jürgen Kaube zitierte dazu den Satz des antiken griechischen Historikers Thukydides, im Krieg verlören die Worte ihre feste Bedeutung, weil alle nur noch taktisch verwendet würden, und meinte, dies gelte offenbar auch für Wirtschaftskrisen.5 Das Vertrauen in den Euro ist gesunken, und besonders alarmierend ist, dass die Jüngeren ihm noch weniger vertrauen als die Älteren.6
Angela Merkel zumal konnte nichts für den Schlamassel, den sie übernommen hatte. Aber sie nahm Kohls Erbe an und erwies sich im Sommer 2011 mit der Formel »Scheitert der Euro, dann scheitert Europa« als seine würdige politische Tochter. Denn damit machte sie ihre Haltung klar, dass jetzt nicht die Zeit für nationale Egoismen und kleinliche fiskalische Erwägungen sei. Das große Ganze schien in Gefahr, das Vermächtnis Robert Schumanns und Konrad Adenauers schien bedroht. Dazu passte ein Bundesfinanzminister Schäuble, der sich schon seit seinem Amtsantritt im November 2009 mehr um die europäische Zukunft als um die deutschen Staatsfinanzen zu sorgen schien.
Auch Helmut Schmidt unterstrich mit der Kraft seiner großen Autorität als Altbundeskanzler und Weltökonom diese Linie, als er am 4. Dezember 2011 in einer Rede vor dem SPD-Parteitag den Bogen schlug von der deutschen Schuld am Holocaust über das europäische Vermächtnis Robert Schumanns und Konrad Adenauers bis zur gemeinsamen Währung und zur Notwendigkeit deutscher Mithaftung für die Schulden der Partner-Länder im Euroraum.? Diese Rede brachte das Dilemma Deutschlands - nämlich das anhaltende Gefangensein in der Schuld der Nachkriegszeit - exemplarisch auf den Punkt. Helmut Schmidt zeigte die moralische Stärke, die Deutschland daraus gewonnen hat und noch gewinnt, dass es diese Schuld annimmt. Ungewollt zeigte er aber auch die Gefahr, die darin liegt, wenn das deutsche Schuldbewusstsein Entscheidungen prägt, die besser auf der Grundlage ökonomischer Vernunft und sorgfältiger Interessenabwägung getroffen würden. Helmut Schmidts Tragik ist: Auch da, wo er Unrecht hat, gibt ihm seine schöne klare Sprache mit ihren lebendigen Bildern eine überlegene Überzeugungskraft.
Ich persönlich halte es nämlich - anders als Helmut Schmidt und viele Protagonisten des Euro dies tun - für besser, unterschiedliche Argumentationsebenen sauber zu trennen, und so gehe ich in diesem Buch auch vor:
- Der ökonomische Nutzen (oder Schaden) der gemeinsamen Währung für Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung in den Staaten der Währungsunion muss aus seinem eigenen Recht analysiert und abgewogen werden.
- Die besondere Rolle, die eine gemeinsame Währung für die weitere Entwicklung der europäischen Einigung bis hin zu einer politischen Union spielen kann, tritt dann hinzu. Soweit man zu diesem Zweck etwas tut oder vorschlägt, was ökonomisch nicht optimal ist, ist auch dies offen zu diskutieren. Ökonomische Preise für politische Ziele müssen benannt und dürfen nicht verschleiert werden.
- Soweit die deutsche Politik meint, aufgrund politischer Erwägungen wegen der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust besondere Opfer im Sinne einer »europäischen Solidarität« bringen zu müssen, sollte auch dies offen diskutiert und klar ausgewiesen werden.
In den komplizierten Fragen um die Währungsunion dient zu viel europäische Gefühligkeit nicht der geistigen Klarheit. Die Aussage »Scheitert der Euro, dann scheitert Europa« hat zwar einen emotionalen und fundamentalen Charakter, das ist ja auch beabsichtigt. Gleichzeitig aber ist sie extrem unscharf. Was genau ist in diesem Zusammenhang »Europa«, und was sind die Maßstäbe, an denen man sein »Scheitern« misst? Sind die Briten, Schweden, Polen, Tschechen keine Europäer oder leben sie in gescheiterten Staaten, nur weil sie nicht mit Euro zahlen? Gibt es in Süditalien und auf dem Peloponnes blühende Landschaften, nur weil dort der Euro die Währung ist? Diesem Geraune von Scheitern und Endzeitgeschehen setze ich eine ganz pragmatische These entgegen. »Europa braucht den Euro nicht.«
Wie kann es sein, dass der ganze europäische Wiederaufbau seit 1945, der gewaltigste Wohlstandszuwachs der Menschheitsgeschichte und eine der längsten Friedensperioden, die es je in Europa gab, 60 Jahre lang weder eine gemeinsame Währung zur Voraussetzung hatten noch die Notwendigkeit mit sich brachten, für die Staatsschulden anderer Länder aufzukommen? Plötzlich aber sollen Wohlstand und Friede in Europa nur möglich sein, wenn es nicht nur eine gemeinsame Währung gibt, sondern auch eine gemeinsame Staatskasse, bei der am Ende jedes Land für die Rechnungen aller anderen bürgt?
Der Verdacht drängt sich auf: Hier wird politisch mit großen Scheinen gewedelt, weil es im politischen Austausch und beim sachlichen Argument an werthaltiger kleiner Münze mangelt. Aber es ergibt auch keinen Sinn, sich billig über jene zu erheben, die in ihrer Argumentationsnot zu großen Worten greifen.
Fahrt ohne Führer
Der bedrückende Eindruck im Frühling 2012 ist: Das Projekt »Europäische Währungsunion« entwickelt sich nach einer Eigengesetzlichkeit, die auch die Staatenlenker und ihre Berater kaum durchschauen: Sie bestimmen nicht den Kurs, sondern reagieren bestenfalls, und Angela Merkel, deren Stimme sich genauso wie die der freundlichen Frau im Navigator meines Autos anhört, scheint auch exakt diese Funktion wahrzunehmen: Wenn ich offenbar falsch gefahren bin, höre ich für einige Zeit »Wenn möglich, bitte wenden«, und dann, wenn die Abweichung sich vergrößert hat, höre ich »Bitte links abbiegen«. Hat der Wagen das kartographierte Gelände verlassen, meldet die freundliche Stimme: »Das Ziel liegt in der angegebenen Richtung.« Bei meinem Auto weiß ich, dass die freundliche Stimme keinen Einfluss auf den Kurs des Wagens hat, sondern nur den Sachstand vermeldet. Ich befürchte, bei der Entwicklung der Währungsunion könnte es ähnlich sein. In einem bemerkenswerten Gespräch mit Günther Jauch sagte Angela Merkel auch recht klar, dass sie bei den Entscheidungen zum Euro quasi auf Sicht fährt, so wie die Situation des Tages es nahelegt.8 Eine strategische Kursbestimmung ist da allen falls auf der allerhöchsten (und abstrakten) Wertebene erkennbar. Tatsächlich überlagern sich viele Fragen, die schon je für sich kaum eindeutig zu beantworten sind, bzw. je nach Präferenz und Werturteil ganz unterschiedliche Antworten zulassen:
- Wie soll das staatliche Gefäß des gemeinsamen Europa letztlich beschaffen sein: ein Europa der Vaterländer mit einem Gemeinsamen Markt und intern offenen Grenzen, oder ein europäischer Zentralstaat mit strikter Fiskalkontrolle über seine Glieder?
- Welche Vorteile hat ein Vereinigtes Europa in einer immer stärker bevölkerten Welt? Gibt es vielleicht auch Nachteile?
- Hat die Europäische Währungsunion eingebaute Web- und Denkfehler, und wo liegen diese? Oder handelt es sich um eine gute Konstruktion, die lediglich unsachgemäß bedient wurde?
- Ist die Globalisierung und Integration der weltweiten Güter- und Finanzmärkte zu weit gegangen, so dass die weltweiten Entscheidungszusammenhänge zu komplex werden und damit die Ganglinie der Weltwirtschaft zu unbeherrschbar?
- Oder fehlt es lediglich an der richtigen Regulierung der internationalen Finanzmärkte, und wie könnte diese aussehen?
- Welche grundsätzlichen Fehler haben zur großen Finanzkrise 2007 - 2009 geführt, und was hat man daraus gelernt bzw. was kann man daraus lernen?
- Weshalb gelten manche Staaten der Eurozone als insolvenzgefährdet, Länder wie Großbritannien oder die Türkei, die im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftskraft viel mehr Schulden machen, dagegen nicht?
- Woher nimmt man den Optimismus, man könne auf europäischer Ebene durch Zuckerbrot und Peitsche das Finanzgebaren von Griechenland oder Italien in den Griff bekommen, wenn derartige Disziplinierungsversuche schon innerhalb von Nationalstaaten scheitern, wie das Beispiel der süditalienischen Regionen in Italien oder einiger Bundesländer in Deutschland zeigt?
- Machen Staatshaushalte generell zu viele Schulden, und kann eine gesetzliche Schuldenbremse helfen?
- Würde eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzregierung die Europäische Währungsunion stabiler machen, und was bedeutet das eigentlich?
- Welches Ordnungsbild haben wir von den Nationalstaaten und Europa: Sollen sie primär den Rahmen für eine soziale Marktwirtschaft setzen, und ein offener Wettbewerb regelt den Rest, oder haben wir mehr einen Versorgungsstaat im Blick?
- Was lehren uns die Beispiele traditionsreicher und stabiler Bundesstaaten wie die USA und die Schweiz?
Dieser Fragenkatalog ist nicht vollständig, er überlagert sich teilweise. Weil es teils um Werturteile und teils um nur schwer belegbare Einschätzungen bestehender Wirkungszusammenhänge geht, wird man ganz unterschiedliche Antworten nicht einfach mit dem Prädikat »richtig« oder »falsch« belegen können. Auch die Antworten, die ich gebe, sind von Einschätzungen und Werturteilen geprägt.
Als ich 1996 mein schon erwähntes Buch über den Euro veröffentlichte, hatte ich die Arbeit daran als Skeptiker begonnen und als Befürworter beendet. Ich war beeindruckt von den kolossalen fiskalischen Anstrengungen, die Italiener, Franzosen und andere begonnen hatten. Und ich setzte darauf, dass der Haftungsausschluss für Staatsschulden anderer Mitgliedsstaaten genügend Disziplin freisetzen würde, weil ja die »Sünder« durch höhere Zinsen bestraft werden.
Dieser liberale Euro -Traum ist leider im Augenblick ausgeträumt. Ich habe mir gleichwohl Zeit genommen, um mein eigenes Urteil zu überprüfen.
Als Bundesbank-Vorstand war ich zwar engagiert gegen die Hilfe für Griechenland, den ersten Rettungsschirm und den Ankauf von Anleihen durch die EZB, denn das war das genaue Gegenteil meines liberalen Euro -Traums. Ich habe das aber intern gelassen. Später fand ich, dass ich der Aufregung über mein Buch »Deutschland schafft sich ab« nicht quasi durch ein paar spontane steile Thesen zum Euro weitere sachfremde Nahrung geben sollte.
Mit Sympathie habe ich die kritischen Stellungnahmen vieler namhafter Ökonomen wie Otmar Issing, Hans-Werner Sinn und Stefan Homburg, die Verfassungsklage von Peter Gauweiler und die engagierte Kritik von Hans-Olaf Henkel verfolgt. Nicht jede Position dieser Kritiker machte ich mir zu eigen, aber die Substanz vieler Bedenken teilte ich.
© DVA
Für jene Europäer, die die Zufälle des Schicksals dazu verdammt hatten, ihr Geld in Drachmen, Lire oder Escudos zu verdienen, darin ihre Rechnungen zu bezahlen und ihr Vermögen zu bilden, sah die Betrachtung natürlich anders aus. Sie neigten dazu, den Glanz deutscher Ingenieurprodukte, den Lebensstandard in Deutschland und den guten Zustand deutscher Infrastruktur, die vergleichsweise hohe Preisstabilität in Deutschland und vieles, um das man Deutschland beneidete, mit dem Umstand zu verwechseln, dass man in Deutschland in D-Mark bezahlte.
Aber nicht nur die Menschen erlagen diesem magischen Denken, auch die Politiker, Medienleute und Regierungen überall in Europa taten dies. Die gemeinsame Währung, ausgestattet mit der Stärke und dem Prestige der in ihr aufgegangenen D-Mark, sollte der Zaubertrank, das Lebenselixier sein, das endlich wirtschaftliche Gleichheit schuf und das ständige, als peinlich und als Vorwurf empfundene Gefälle zwischen der D-Mark-Zone und dem Rest Europas beseitigte.
Wir fühlen uns an die Asterix-Comics erinnert: Vor der gemeinsamen Währung waren nur die Deutschen (oder die Holländer, Österreicher oder Dänen, aber die zählten nicht so) wirtschaftlich so stark wie Obelix. Dann aber, wenn Miraculix den Zaubertrank »gemeinsame Währung« mischte und alle davon tranken, dann würden sie alle so stark wie Obelix sein. Der deutsche Obelix hatte ja auch ein schlechtes Gewissen wegen seiner Stärke und wollte diese gerne teilen und sich damit nebenbei auch aller Schuldgefühle entledigen, die ihn zu Recht seit dem Zweiten Weltkrieg plagten und die Freude am eigenen Erfolg schmälerten.
Wenn es noch einer Bestätigung bedurfte, was für Wunder die richtige Währung bewirkte, dann schien 1990 die deutsch-deutsche Währungsunion mit der bald danach folgenden deutschen Einheit das schlagende Beispiel zu liefern. Dass Westdeutschland den »Erfolg« dieser Währungsunion mit einem Land, das nur ein Viertel der westdeutschen Bevölkerung hatte, bis heute mit Nettotransfers von rund. 1500 Mrd. € bezahlte, drang schon weniger ins allgemeine Bewusstsein.
Der Kanzler der Einheit, Helmut Kohl, hatte irgendwann im Frühling 1990 die traditionelle deutsche Position aufgegeben, dass eine gemeinsame Währung nur in einem Europäischen Bundesstaat möglich sei. Er wollte wegen der deutschen Wiedervereinigung den großen Freund und Partner Frankreich nicht verstimmen und nur ja keine Zweifel an der europäischen Bestimmung Deutschlands aufkommen lassen. Helmut Kohl versuchte, dieses Nachgeben im Grundsätzlichen zunächst noch zu verschleiern, um den deutschen Skeptikern einer Währungsunion keinen Rückenwind zu geben. Am 6. November 1991 erklärte er im Deutschen Bundestag:
»Man kann dies nicht oft genug sagen. Die politische Union ist das unerlässliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die jüngere Geschichte, und zwar nicht nur die Deutschlands, lehrt uns, dass die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne politische Union auf die Dauer erhalten, abwegig ist.«1
Wenn dies so war und Helmut Kohl dies wirklich glaubte, dann hätte es die Verantwortung für Deutschland damals erfordert, den europäischen Partnern eine klare Option zu geben. Die gemeinsame Währung gibt es dann, wenn Einigung über einen exakten Vertrag für eine politische Union erzielt ist und dieser unterschrieben wurde. Das Ob und der Zeitpunkt würden von den Partnern abhängen. Je nach ihrer Wahl in einem Jahr, in 10 Jahren oder in 50 Jahren oder auch gar nicht.
Politische Wette
Stattdessen ging die deutsche Seite eine in ihrem Inhalt unscharfe und in ihren Risiken unklare Wette auf Kosten deutscher Interessen ein. Die kühne Hoffnung war. Gerade weil eine Währungsunion ohne politische Union auf die Dauer nicht funktionieren könne, würden, wenn die Währungsunion einmal da sei, die Sachzwänge zur politischen Union diese quasi automatisch herbeizwingen. Noch heute ist aus mancher Äußerung von Finanzminister Wolfgang Schäuble diese Einstellung zu entnehmen.
Manche denken, Politik hat gar nicht so viel Macht. Das ist generell richtig. Aber sie hat die Macht, und die hat sie immer wieder unter Beweis gestellt, im konkreten Fall Expertenwissen und gesunden Menschenverstand zu missachten und Fehlentscheidungen zu treffen, deren dramatische Folgen sie selbst nicht überschaut, und dann, wenn sie eintreten, zu lange verharmlost und unterdrückt.
Als die politische Entscheidung für eine Währungsunion ohne politische Union gefallen war, gelang es der deutschen Verhandlungskunst immerhin noch, mit dem Maastricht-Vertrag einen Weg zu finden, der hätte funktionieren können, wenn sich alle Vertragspartner nach dem Geist und Buchstaben des Vertrages verhalten und ihre Volkswirtschaften entsprechend reformiert hätten. Wären die Partner aber alle so beschaffen gewesen, hätte man eine Währungsunion sowieso nicht gebraucht, bzw. die gemeinsame Währung wäre ganz organisch und ohne besondere Anstrengung zum Endpunkt einer politischen Union geworden.
Ich selbst hielt Ende der neunziger Jahre den eingeschlagenen Weg zwar für riskant, aber dann für chancenreich, wenn alle Beteiligten die Risiken beachteten und die Chancen nutzten. Als die beiden wesentlichen Risiken benannte ich 1996:
»Insbesondere die ärmeren Regionen können nicht mehr darauf bauen, dass ihnen Abwertungen der nationalen Währung von Zeit zu Zeit eine Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit quasi >frei Haus< liefern und damit vergangene lohnpolitische Irrtümer elegant ausgleichen. Umgekehrt wird vielmehr ein Schuh daraus: Für Wachstum und Beschäftigung werden die Chancen der einheitlichen Währung am besten genutzt, wenn bei den direkten und indirekten Arbeitskosten maximale regionale und sektorale Flexibilität bis hinab auf die betriebliche Ebene herrscht.«2
»Ihre disziplinierende Wirkung auf die Finanzpolitik kann die Geldpolitik aber nur entfalten, wenn finanziell unsolide Staaten nicht auf ein >bailing out< aus der Gemeinschaftskasse oder durch Mechanismen des horizontalen Finanzausgleichs hoffen dürfen.«3
Beide Risiken sind leider eingetreten, wie das zunehmende Auseinanderklaffen der Wettbewerbsfähigkeit der Euroländer einerseits und die Krise der Staatsfinanzen im Euroraum andererseits zeigen. Die Skeptiker unter den Fachleuten waren damals in der Mehrheit. Ihre Argumente waren schlüssig, sie waren einleuchtend, und sie behielten Recht. Weshalb hat man dann damals nicht auf sie gehört? Die Wahrheit ist, die Menschen denken nicht in Argumenten. Nur die Experten tun es, wenn sie unter sich sind. Menschen denken in Bildern, und das umso mehr, je weniger sie von einer Sache verstehen. Erfolgreiche Diktaturen wissen dies, und erfolgreiche Werbeexperten wissen dies auch.
Visionen, Visionen
Auch führende Politiker und nicht nur die von ihnen Geführten denken in Bildern, und auch bei ihnen kann das richtige Bild das beste Argument besiegen: Der amerikanische Präsident Ronald Reagan hatte in seinen ersten Jahren einen Haushaltsdirektor namens David Stockman, der einen heldenhaften Kampf für die richtige Budget- und Steuerpolitik, insbesondere aber gegen die Budgetforderungen des Verteidigungsministers Caspar Weinberger führte. Er scheitere glorios. Als Schlüsselerlebnis seines Scheiterns schildert er eine Sitzung bei Präsident Reagan über die Eckwerte des Verteidigungshaushalts. Zunächst trug Stockman seine Zahlen vor. Die waren schlimm, falls sich der Verteidigungsminister durchsetzte, schienen aber den Präsidenten nicht übermäßig zu beeindrucken. Dann legte Caspar Weinberger eine einzige Folie mit einer Zeichnung auf: Links stand ein kleiner zerlumpter abgemagerter GI, rechts ein großer starker Marinesoldat mit voller Bewaffnung. Unter dem linken Bild stand »Their army«, unter dem rechten Bild »Our army«. Der Präsident zeigte auf das rechte Bild und sagte »I want that.« Die Diskussion war beendet, das größte Aufrüstungsprogramm der Nachkriegszeit war beschlossen und wurde mit Schulden finanziert. David Stockman war nicht mehr lang im Amt, im August 1985 trat er zurück. Aber sein Buch über seine Jahre mit Ronald Reagan bleibt für jeden Finanzpolitiker lesenswert. 4
Wie Ronald Reagan war Helmut Kohl kein Mann der Details, sondern ein Mann der Visionen. Dazu war er sehr emotional. Auf der Folie, die 1991 Helmut Kohl zur Entscheidung vorgelegt wurde, standen offenbar »Their Europe« und »Our Europe« einander gegenüber:
»Their Europe« war die Liste kleinlicher Bedenken ungeliebter Technokraten und ordnungspolitischer Prinzipienreiter, die die große europäische Idee aufhalten und bis zur Unkenntlichkeit zermahlen würden.
»Our Europe« war die Gesetzestafel mit der Aufschrift »Europäische Währungsunion«, die den Weg ins gelobte Land namens »politische Union« wies. Und Helmut Kohl war in diesem Bild der Moses des deutschen Volkes auf dem Weg zu seiner europäischen Bestimmung.
Ich empfinde dieses Bild nicht als übermäßig spöttisch oder zynisch. Ich glaube vielmehr, dass es sich im übertragenen Sinne genauso abgespielt hat. Wie viele ältere Männer war Helmut Kohl von dem Gefühl getrieben, wichtige langfristige Fragen, für die die Weisheit und Macht seiner Nachfolger nicht ausreichen würden, möglichst zu seiner Zeit abschließend zu regeln, mochten ein paar technische Unterpunkte auch noch ungeklärt sein. So kam Deutschland zum Euro. Die Experten Hans Tietmeyer, Horst Köhler, Jürgen Stark und viele andere Helfer in hohen Stellen knirschten mit den Zähnen, äußerten Bedenken, aber am Ende liehen sie ihre Expertenhand, um der Traumfigur »Europäische Währungsunion« ins Leben zu helfen. Sogar ein Inkubatorzelt namens »Stabilitätspakt« erfanden sie und stellten es vorsorglich bereit.
Es half nichts, die Traumfigur »Europäische Währungsunion«, einmal in der Welt, entwickelte sich fortan, und in den letzten Jahren zunehmend eigenwillig, nach ihren eigenen Gesetzen und entzog sich mehr und mehr den Bändigungsversuchen ihrer Schöpfer.
Ungerecht wäre es, und es würde auch nicht weiterführen, den heute verantwortlichen Politikern die Vorgeschichte der gemeinsamen Währung moralisierend vorzuhalten. Merkel, Sarkozy und alle, die gerade Verantwortung tragen, können nichts für diese Vorgeschichte, aber sie müssen mit ihren Folgen umgehen. Der Bürger allerdings hat keinen Anlass, zur Frage der gemeinsamen Währung heute in die Politik ein höheres Systemvertrauen zu setzen, als dies 1992 angemessen gewesen wäre. Eine Überernährung mit Krisenszenarien, Katastrophenrufen, Solidaritätsappellen und gegenseitigen Vorwürfen hat bei vielen zu Verwirrung und Gedankenlähmung geführt und zudem ein breites Unbehagen gefördert. Jürgen Kaube zitierte dazu den Satz des antiken griechischen Historikers Thukydides, im Krieg verlören die Worte ihre feste Bedeutung, weil alle nur noch taktisch verwendet würden, und meinte, dies gelte offenbar auch für Wirtschaftskrisen.5 Das Vertrauen in den Euro ist gesunken, und besonders alarmierend ist, dass die Jüngeren ihm noch weniger vertrauen als die Älteren.6
Angela Merkel zumal konnte nichts für den Schlamassel, den sie übernommen hatte. Aber sie nahm Kohls Erbe an und erwies sich im Sommer 2011 mit der Formel »Scheitert der Euro, dann scheitert Europa« als seine würdige politische Tochter. Denn damit machte sie ihre Haltung klar, dass jetzt nicht die Zeit für nationale Egoismen und kleinliche fiskalische Erwägungen sei. Das große Ganze schien in Gefahr, das Vermächtnis Robert Schumanns und Konrad Adenauers schien bedroht. Dazu passte ein Bundesfinanzminister Schäuble, der sich schon seit seinem Amtsantritt im November 2009 mehr um die europäische Zukunft als um die deutschen Staatsfinanzen zu sorgen schien.
Auch Helmut Schmidt unterstrich mit der Kraft seiner großen Autorität als Altbundeskanzler und Weltökonom diese Linie, als er am 4. Dezember 2011 in einer Rede vor dem SPD-Parteitag den Bogen schlug von der deutschen Schuld am Holocaust über das europäische Vermächtnis Robert Schumanns und Konrad Adenauers bis zur gemeinsamen Währung und zur Notwendigkeit deutscher Mithaftung für die Schulden der Partner-Länder im Euroraum.? Diese Rede brachte das Dilemma Deutschlands - nämlich das anhaltende Gefangensein in der Schuld der Nachkriegszeit - exemplarisch auf den Punkt. Helmut Schmidt zeigte die moralische Stärke, die Deutschland daraus gewonnen hat und noch gewinnt, dass es diese Schuld annimmt. Ungewollt zeigte er aber auch die Gefahr, die darin liegt, wenn das deutsche Schuldbewusstsein Entscheidungen prägt, die besser auf der Grundlage ökonomischer Vernunft und sorgfältiger Interessenabwägung getroffen würden. Helmut Schmidts Tragik ist: Auch da, wo er Unrecht hat, gibt ihm seine schöne klare Sprache mit ihren lebendigen Bildern eine überlegene Überzeugungskraft.
Ich persönlich halte es nämlich - anders als Helmut Schmidt und viele Protagonisten des Euro dies tun - für besser, unterschiedliche Argumentationsebenen sauber zu trennen, und so gehe ich in diesem Buch auch vor:
- Der ökonomische Nutzen (oder Schaden) der gemeinsamen Währung für Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung in den Staaten der Währungsunion muss aus seinem eigenen Recht analysiert und abgewogen werden.
- Die besondere Rolle, die eine gemeinsame Währung für die weitere Entwicklung der europäischen Einigung bis hin zu einer politischen Union spielen kann, tritt dann hinzu. Soweit man zu diesem Zweck etwas tut oder vorschlägt, was ökonomisch nicht optimal ist, ist auch dies offen zu diskutieren. Ökonomische Preise für politische Ziele müssen benannt und dürfen nicht verschleiert werden.
- Soweit die deutsche Politik meint, aufgrund politischer Erwägungen wegen der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust besondere Opfer im Sinne einer »europäischen Solidarität« bringen zu müssen, sollte auch dies offen diskutiert und klar ausgewiesen werden.
In den komplizierten Fragen um die Währungsunion dient zu viel europäische Gefühligkeit nicht der geistigen Klarheit. Die Aussage »Scheitert der Euro, dann scheitert Europa« hat zwar einen emotionalen und fundamentalen Charakter, das ist ja auch beabsichtigt. Gleichzeitig aber ist sie extrem unscharf. Was genau ist in diesem Zusammenhang »Europa«, und was sind die Maßstäbe, an denen man sein »Scheitern« misst? Sind die Briten, Schweden, Polen, Tschechen keine Europäer oder leben sie in gescheiterten Staaten, nur weil sie nicht mit Euro zahlen? Gibt es in Süditalien und auf dem Peloponnes blühende Landschaften, nur weil dort der Euro die Währung ist? Diesem Geraune von Scheitern und Endzeitgeschehen setze ich eine ganz pragmatische These entgegen. »Europa braucht den Euro nicht.«
Wie kann es sein, dass der ganze europäische Wiederaufbau seit 1945, der gewaltigste Wohlstandszuwachs der Menschheitsgeschichte und eine der längsten Friedensperioden, die es je in Europa gab, 60 Jahre lang weder eine gemeinsame Währung zur Voraussetzung hatten noch die Notwendigkeit mit sich brachten, für die Staatsschulden anderer Länder aufzukommen? Plötzlich aber sollen Wohlstand und Friede in Europa nur möglich sein, wenn es nicht nur eine gemeinsame Währung gibt, sondern auch eine gemeinsame Staatskasse, bei der am Ende jedes Land für die Rechnungen aller anderen bürgt?
Der Verdacht drängt sich auf: Hier wird politisch mit großen Scheinen gewedelt, weil es im politischen Austausch und beim sachlichen Argument an werthaltiger kleiner Münze mangelt. Aber es ergibt auch keinen Sinn, sich billig über jene zu erheben, die in ihrer Argumentationsnot zu großen Worten greifen.
Fahrt ohne Führer
Der bedrückende Eindruck im Frühling 2012 ist: Das Projekt »Europäische Währungsunion« entwickelt sich nach einer Eigengesetzlichkeit, die auch die Staatenlenker und ihre Berater kaum durchschauen: Sie bestimmen nicht den Kurs, sondern reagieren bestenfalls, und Angela Merkel, deren Stimme sich genauso wie die der freundlichen Frau im Navigator meines Autos anhört, scheint auch exakt diese Funktion wahrzunehmen: Wenn ich offenbar falsch gefahren bin, höre ich für einige Zeit »Wenn möglich, bitte wenden«, und dann, wenn die Abweichung sich vergrößert hat, höre ich »Bitte links abbiegen«. Hat der Wagen das kartographierte Gelände verlassen, meldet die freundliche Stimme: »Das Ziel liegt in der angegebenen Richtung.« Bei meinem Auto weiß ich, dass die freundliche Stimme keinen Einfluss auf den Kurs des Wagens hat, sondern nur den Sachstand vermeldet. Ich befürchte, bei der Entwicklung der Währungsunion könnte es ähnlich sein. In einem bemerkenswerten Gespräch mit Günther Jauch sagte Angela Merkel auch recht klar, dass sie bei den Entscheidungen zum Euro quasi auf Sicht fährt, so wie die Situation des Tages es nahelegt.8 Eine strategische Kursbestimmung ist da allen falls auf der allerhöchsten (und abstrakten) Wertebene erkennbar. Tatsächlich überlagern sich viele Fragen, die schon je für sich kaum eindeutig zu beantworten sind, bzw. je nach Präferenz und Werturteil ganz unterschiedliche Antworten zulassen:
- Wie soll das staatliche Gefäß des gemeinsamen Europa letztlich beschaffen sein: ein Europa der Vaterländer mit einem Gemeinsamen Markt und intern offenen Grenzen, oder ein europäischer Zentralstaat mit strikter Fiskalkontrolle über seine Glieder?
- Welche Vorteile hat ein Vereinigtes Europa in einer immer stärker bevölkerten Welt? Gibt es vielleicht auch Nachteile?
- Hat die Europäische Währungsunion eingebaute Web- und Denkfehler, und wo liegen diese? Oder handelt es sich um eine gute Konstruktion, die lediglich unsachgemäß bedient wurde?
- Ist die Globalisierung und Integration der weltweiten Güter- und Finanzmärkte zu weit gegangen, so dass die weltweiten Entscheidungszusammenhänge zu komplex werden und damit die Ganglinie der Weltwirtschaft zu unbeherrschbar?
- Oder fehlt es lediglich an der richtigen Regulierung der internationalen Finanzmärkte, und wie könnte diese aussehen?
- Welche grundsätzlichen Fehler haben zur großen Finanzkrise 2007 - 2009 geführt, und was hat man daraus gelernt bzw. was kann man daraus lernen?
- Weshalb gelten manche Staaten der Eurozone als insolvenzgefährdet, Länder wie Großbritannien oder die Türkei, die im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftskraft viel mehr Schulden machen, dagegen nicht?
- Woher nimmt man den Optimismus, man könne auf europäischer Ebene durch Zuckerbrot und Peitsche das Finanzgebaren von Griechenland oder Italien in den Griff bekommen, wenn derartige Disziplinierungsversuche schon innerhalb von Nationalstaaten scheitern, wie das Beispiel der süditalienischen Regionen in Italien oder einiger Bundesländer in Deutschland zeigt?
- Machen Staatshaushalte generell zu viele Schulden, und kann eine gesetzliche Schuldenbremse helfen?
- Würde eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzregierung die Europäische Währungsunion stabiler machen, und was bedeutet das eigentlich?
- Welches Ordnungsbild haben wir von den Nationalstaaten und Europa: Sollen sie primär den Rahmen für eine soziale Marktwirtschaft setzen, und ein offener Wettbewerb regelt den Rest, oder haben wir mehr einen Versorgungsstaat im Blick?
- Was lehren uns die Beispiele traditionsreicher und stabiler Bundesstaaten wie die USA und die Schweiz?
Dieser Fragenkatalog ist nicht vollständig, er überlagert sich teilweise. Weil es teils um Werturteile und teils um nur schwer belegbare Einschätzungen bestehender Wirkungszusammenhänge geht, wird man ganz unterschiedliche Antworten nicht einfach mit dem Prädikat »richtig« oder »falsch« belegen können. Auch die Antworten, die ich gebe, sind von Einschätzungen und Werturteilen geprägt.
Als ich 1996 mein schon erwähntes Buch über den Euro veröffentlichte, hatte ich die Arbeit daran als Skeptiker begonnen und als Befürworter beendet. Ich war beeindruckt von den kolossalen fiskalischen Anstrengungen, die Italiener, Franzosen und andere begonnen hatten. Und ich setzte darauf, dass der Haftungsausschluss für Staatsschulden anderer Mitgliedsstaaten genügend Disziplin freisetzen würde, weil ja die »Sünder« durch höhere Zinsen bestraft werden.
Dieser liberale Euro -Traum ist leider im Augenblick ausgeträumt. Ich habe mir gleichwohl Zeit genommen, um mein eigenes Urteil zu überprüfen.
Als Bundesbank-Vorstand war ich zwar engagiert gegen die Hilfe für Griechenland, den ersten Rettungsschirm und den Ankauf von Anleihen durch die EZB, denn das war das genaue Gegenteil meines liberalen Euro -Traums. Ich habe das aber intern gelassen. Später fand ich, dass ich der Aufregung über mein Buch »Deutschland schafft sich ab« nicht quasi durch ein paar spontane steile Thesen zum Euro weitere sachfremde Nahrung geben sollte.
Mit Sympathie habe ich die kritischen Stellungnahmen vieler namhafter Ökonomen wie Otmar Issing, Hans-Werner Sinn und Stefan Homburg, die Verfassungsklage von Peter Gauweiler und die engagierte Kritik von Hans-Olaf Henkel verfolgt. Nicht jede Position dieser Kritiker machte ich mir zu eigen, aber die Substanz vieler Bedenken teilte ich.
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Autoren-Porträt von Thilo Sarrazin
Sarrazin, ThiloThilo Sarrazin ist einer der profiliertesten politischen Köpfe der Republik. Seine fachliche Kompetenz in Finanzfragen gepaart mit dem Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, hat ihn in viele wichtige Ämter gebracht. Als Fachökonom war er Spitzenbeamter und Politiker, er war verantwortlich für Konzeption und Durchführung der deutschen Währungsunion, beaufsichtigte die Treuhand und saß im Vorstand der Deutschen Bahn Netz AG. Von 2002 bis 2009 war er Finanzsenator in Berlin, anschließend eineinhalb Jahre Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank. Zuletzt hatte er mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" einen Millionenerfolg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thilo Sarrazin
- 2012, 461 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421045623
- ISBN-13: 9783421045621
- Erscheinungsdatum: 22.05.2012
Rezension zu „Europa braucht den Euro nicht “
»So liest man Thilo Sarrazin gerne: Er packt das größte Problem der Zeit, die Krise des Euro, an, analysiert glasklar als Experte, der schon immer dabei war, fasst alle paar Seiten für den Laien süffig zusammen und gibt seine eigenen Illusionen wieder. Das Ergebnis ist das klügste, aktuellste und nüchternste Buch zum Euro.«
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