Das Alphabethaus
Deutschland im 2. Weltkrieg: Nach einem Flugzeugabsturz hinter feindlichen Linien retten sich die britischen Piloten Bryan und James in einen Krankentransport. Unter der Identität von zwei deutschen Soldaten gelangen sie in ein Lazarett für...
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Produktinformationen zu „Das Alphabethaus “
Deutschland im 2. Weltkrieg: Nach einem Flugzeugabsturz hinter feindlichen Linien retten sich die britischen Piloten Bryan und James in einen Krankentransport. Unter der Identität von zwei deutschen Soldaten gelangen sie in ein Lazarett für psychisch Kranke. Hier sind sie der Willkür und dem Sadismus des Personals hilflos ausgeliefert. Bryan gelingt schließlich die Flucht, doch James' Schicksal bleibt ungewiss.
"Gehört zum Besten, was Jussi Adler-Olsen je geschrieben hat."
AFTENPOSTEN
Lese-Probe zu „Das Alphabethaus “
Das Alphabethaus von Jussi Adler Olsen1
Das Wetter war alles andere als gut.
Kalt und windig, geringe Sichtweite.
Für einen englischen Januartag war es ungewöhnlich rau.
Die amerikanischen Soldaten hatten schon eine Weile auf den Landebahnen gesessen, als sich der hochgewachsene Engländer der Gruppe näherte. Er war noch nicht ganz wach.
Hinter der vordersten Gruppe richtete sich eine Gestalt auf und winkte ihm zu. Der Engländer winkte zurück und gähnte laut. Nach so langer Zeit mit nächtlichen Angriffsflügen fiel es ihm schwer, sich wieder auf den normalen Tag-Nacht-Rhythmus einzustellen.
Und es würde ein langer Tag werden.
Weiter entfernt rollten die Maschinen langsam zum südlichen Ende der Startbahnen. Also würde es in der Luft bald wieder voll sein.
Die Vorstellung weckte gemischte Gefühle in ihm.
... mehr
Der Auftrag zu dieser Mission war vom Büro des Generalleutnants Lewis H. Brereton in Sunning Hill Park gekommen. Er hatte den Oberbefehlshaber der Royal Air Force, Luftmarschall Harris, um britische Unterstützung gebeten. Die britischen Moskitos hatten bei den Nachtangriff en auf Berlin im November das streng gehütete Geheimnis der Deutschen - die Anlagen für die V-1-Raketen in Zempin - enthüllt, und das hatte die Amerikaner nachhaltig beeindruckt.
Die Mannschaften auszuwählen überließ man Oberstleutnant Hadley-Jones, der die praktische Arbeit seinem Mitarbeiter, Wing Commander John Wood, anvertraute.
Er hatte die Aufgabe, zwölf britische Crews zusammenzustellen. Acht für Beobachtungsflüge und vier Mannschaften mit besonderen Observationszielen zur Unterstützung, die unter dem Kommando der 8. und der 9. US-Luftflottefliegen sollten.
Für diese Aufgabe wurden doppelsitzige P-51-D-Mustang- Jagdflugzeuge mit sogenannten Meddo-Geräten und hochempfindlichen optischen Instrumenten ausgerüstet.
Vor gerade mal zwei Wochen hatte man James Teasdale und Bryan Young als erste Crew ausgewählt, die dieses Material unter sogenannten »normalen Verhältnissen« erproben sollte.
Sie konnten also davon ausgehen, schon bald wieder Kampfeinsätze fliegen zu müssen.
Der Angriff war für den 11. Januar 1944 geplant. Das Ziel der Bombergeschwader waren die Flugzeugfabriken in Aschersleben, Braunschweig, Magdeburg und Halberstadt.
Beide hatten dagegen protestiert, dass man ihnen den Weihnachtsurlaub kappte. Beide waren noch kampfmüde.
»Vierzehn Tage, um sich in diese Teufelsmaschine zu vertiefen. « Bryan seufzte. »Mit diesen ganzen Apparaturen kenne ich mich doch überhaupt nicht aus! Warum bemannt Uncle Sam seinen Mist nicht selbst?«
John Wood hatte sich über die Akten gebeugt und ihnen den Rücken zugekehrt. »Weil sie euch haben wollen.«
»Das ist doch kein Argument!«
»Ihr werdet die Erwartungen der Amerikaner erfüllen und da lebendig wieder rauskommen.«
»Und das garantieren Sie uns?«
»Ja.«
»Sag schon was, James!« Bryan wandte sich dem Freund zu. James griff nach seinem Halstuch und zuckte die Achseln. Bryan ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen.
Es war hoffnungslos.
Die Operation war insgesamt auf gut sechs Stunden angelegt. Eskortiert von P-51-Langstreckenjägern sollte die gesammelte Streitkraft von ungefähr sechshundertfünfzig viermotorigen Bombern der 8. US-Luftflotte die deutschen Flugzeugfabriken bombardieren.
Während des Angriff s sollte James' und Bryans Maschine die Formation verlassen.
Hartnäckigen Gerüchten zufolge war in den letzten Monaten bei Lauenstein südlich von Dresden ein deutlich erhöhter Zustrom von Bauarbeitern, Ingenieuren und hoch spezialisierten Technikern sowie von polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern registriert worden.
Der Nachrichtendienst hatte lediglich herausgefunden, dass in der Gegend gebaut wurde. Es war jedoch völlig unklar, worum es sich handelte. Eine Fabrik für die Produktion synthetischer Brennstoffe, so vermutete man. Wenn das stimmte, wäre das eine Katastrophe, denn es könnte den Deutschen bei der Entwicklung und Umsetzung neuer V-Raketen-Projekte Auftrieb geben.
Bryans und James' Aufgabe bestand darin, die Gegend und das Eisenbahnnetz bei Dresden abzufotografieren und zu kartographieren, und zwar so gründlich, dass damit die Informationen des Nachrichtendienstes aktualisiert werden könnten. Nach vollbrachter Mission sollten sie sich wieder dem Fluggeschwader auf dem Weg zurück nach England anschließen.
Unter den Amerikanern, die an dem Angriff teilnehmen sollten, waren viele erfahrene Luftkrieger. Trotz Frostes und trotz der bevorstehenden Mission lagen sie lässig ausgestreckt direkt auf der gefrorenen Erde, die jemand eine Landebahn genannt hatte. Die meisten plauderten entspannt vor sich hin, fast so, als wollten sie demnächst zu einem Ball aufbrechen. Hier und da saß aber doch einer mit verschränkten und auf die Knie gestützten Armen da und starrte stumpf vor sich hin. Das waren die Neuen und Unerfahrenen, die noch nicht gelernt hatten, ihre Träume zu vergessen und die Ängste zu bannen. Der Engländer schritt zwischen den Sitzenden hindurch auf seinen Partner zu. Der lag, die Arme unter dem Kopf verschränkt, ebenfalls ausgestreckt auf der Erde. Bryan schreckte zusammen, als er einen leichten Tritt in die Seite spürte. Schneeflocken fielen ihnen aufs Gesicht, legten sich auf Nase und Augenbrauen. Der Himmel über ihnen verdunkelte sich. Dieser Tagesangriff würde sich nicht sonderlich von den Nachtangriff en unterscheiden. Der Sitz vibrierte leicht unter Bryan. Der Luftraum ringsum war gesättigt von Radarreflexen der Flugzeuge im Konvoi. Jedes einzelne Echo war sehr deutlich wahrzunehmen. Die Apparate waren so präzise, dass die Piloten während des Trainings mehrfach gescherzt hatten, sie könnten genauso gut die Fenster zumalen und allein nach den Instrumenten fliegen. Genau das forderte ihnen dieser Flug im Prinzip ab. Die Sicht war James zufolge »so klar wie eine Symphonie von Béla Bartók«. Die Scheibenwischer und die in die Schneemassen eindringende Nase des Flugzeugs waren alles, was sie sahen.
Die beiden waren sich einig gewesen, dass es Wahnsinn war, so kurzfristig den Dienst und die Maschine zu wechseln. Aber was Johns Beweggründe betraf, da waren sie unterschiedlicher Meinung. John behauptete, sie seien ausgewählt worden, weil sie die Besten seien, und James nahm das für bare Münze.
Bryan dagegen war sich sicher, dass John Wood sie ausgewählt hatte, weil sich James im aktiven Dienst niemals widersetzte und weil man bei dieser Operation wahrhaftig keine Zeit für Komplikationen hatte. Mit anderen Worten: Ja, er gab James die Schuld daran, dass man sie ausgewählt hatte.
Bryans Vorwürfe ärgerten James. Als hätten sie keine anderen Sorgen. Die Tour war lang, die Ausrüstung neu, das Wetter miserabel. Wenn sie sich erst vom Hauptgeschwader getrennt hatten, würde sie niemand mehr unterstützen. Waren die Vermutungen des Nachrichtendienstes korrekt, dass sich dort kriegswichtige Fabriken im Aufbau befanden, würde das Zielgebiet extrem scharf bewacht werden. Fotos davon nach England zu bringen würde alles andere als leicht werden.
Aber irgendjemand musste es ja tun. So sehr konnte sich dieser Flug doch nicht von den Angriff en auf Berlin unterscheiden.
Und die hatten sie schließlich auch überlebt.
Schweigend saß Bryan hinter James und konzentrierte sich mit der üblichen Sorgfalt auf seine Aufgaben.
Zwischen Bryans Karten und Messinstrumenten hing das Foto eines Mädchens in der Uniform des ATS. Madge Donat himmelte den gut aussehenden Bryan an, und auch er hielt ihr schon seit geraumer Zeit die Treue.
Wie nach der Taktvorgabe eines energischen Dirigenten bei der Ouvertüre eröffnete die deutsche Flak das Feuer auf die zuerst ankommenden Maschinen. Bryan hatte das Sperrfeuer Sekunden vorher geahnt und James ein Zeichen gegeben, den Kurs des Geschwaders zu verlassen. Von dem Moment an waren sie fürs Erste in der Gewalt des Teufels.
»Wenn du willst, dass wir hier noch weiter runtergehen, dann schrammen wir der Maschine den Arsch ab«, grunzte James zwanzig Minuten später.
»Und wenn wir auf zweihundert Fuß hängen bleiben, siehst du auf den Fotos nichts«, kam es von hinten zurück.
Bryan hatte Recht. Über dem Zielgebiet schneite es, und Windböen wirbelten den Schnee auf. Man musste schon dicht genug heranfliegen, dann gab es immer wieder Löcher, in denen sich fotografieren ließ.
Seit sie dem Sperrfeuer über Magdeburg ausgewichen waren, hatte sich niemand mehr für sie interessiert. Vermutlich hatte man ihre Existenz noch nicht mal bemerkt. James würde alles dafür tun, dass es dabei blieb.
James schrie durch den Lärm nach hinten zu Bryan, er habe deutsche Jagdflugzeuge gesehen, die raketenartige Dinger abfeuerten. Ein Aufblitzen, gefolgt von einer heftigen Explosion.
»Die deutsche Luftwaffe taugt doch nicht mal zum Tontaubenschießen «, hatte sich am gestrigen Abend ein amerikanischer Pilot in breitem Kentucky-Akzent lustig gemacht. Das Lachen war ihm heute vermutlich vergangen.
»Und jetzt nach hundertachtunddreißig Grad Süd!« Bryan beobachtete das Schneemeer unter sich. »Da unten ist die Hauptstraße von Heidenau. Siehst du die Kreuzung? Gut, dann lass uns der Abzweigung in Richtung Höhenzug folgen.«
Sie flogen jetzt nur noch knapp zweihundert Stundenkilometer, und der gesamte Rumpf dröhnte unheilschwanger.
»James, hier musst du im Zickzack über die Straße fliegen. Aber pass auf! Ein paar von den Hängen nach Süden zu können ziemlich steil sein. Kannst du etwas sehen? Das Gebiet zwischen hier und Geising kommt mir verdächtig vor.«
»Ich sehe so gut wie gar nichts, nur dass die Straße recht breit zu sein scheint. Wozu braucht man in einer so gottverlassenen Gegend eine so breite Straße?«
»Hab ich mich auch gefragt. Kannst du jetzt südwärts drehen? Guck mal, die Bäume da. Ganz schön dicht, das Dickicht, oder?«
»Meinst du, das sind Tarnnetze?«
»Kann schon sein.« Wenn es hier Fabriken gab, mussten sie in die Hänge hineingebaut sein. Bryan hatte da seine Zweifel. Wurde eine solche Anlage erst einmal entdeckt, würden die Erdwälle bei intensivem Präzisionsbombardement niemals ausreichend Sicherheit bieten. »Das ist eine Finte, James! Nichts hier in der Nähe deutet auf irgendwelche neuen Fabrikanlagen hin.«
Für diesen Fall lautete der Befehl, sie sollten nordwärts an der Eisenbahnstrecke auf Heidenau zufliegen, nach Westen in Richtung Freital abdrehen und der Eisenbahnstrecke in Richtung Chemnitz folgen. Erst an der Eisenbahnstrecke nach Waldheim sollten sie Kurs auf Nord und dann Nordost nehmen. Die Russen hatten darum gebeten, das gesamte Schienennetz gründlich abzufotografieren. Bei Leningrad machten die russischen Truppen mächtig Druck, sie drohten, die gesamte deutsche Front aufzurollen. Ihrer Ansicht nach liefen bei Dresden die wichtigsten Versorgungslinien der Deutschen zusammen. Erst wenn dieser Eisenbahnknotenpunkt lahmgelegt wäre, würde den deutschen Divisionen an der Ostfront der Nachschub ausgehen. Die Frage war nur, wie man das am effizientesten anstellte. Bryan blickte auf den Bahnkörper unter sich.
Die Gleisanlagen waren mit Schnee bedeckt. Viel würde man auf seinen Fotos nicht erkennen können.
Ohne jede Vorwarnung krachte es gerade mal einen halben Meter hinter Bryans Sitz. Ehe Bryan sich umdrehen konnte, beschleunigte James bereits und zog die Maschine fast senkrecht hoch. Bryan befestigte den Karabinerhaken am Sitz und spürte, wie unter ihm die lauwarme Luft aus der Kabine gesaugt wurde.
Das ausgefranste Loch im Rumpf war etwa faustgroß, das Austrittsloch in der Decke tellergroß. Es war nur ein einzelnes Projektil eines kleinkalibrigen Flakgeschosses gewesen.
Sie hatten also doch etwas übersehen.
Der Motor heulte bei dem steilen Aufstieg so ohrenbetäubend, dass sie nicht mal hören konnten, ob sie noch weiter beschossen wurden.
»Ist das da hinten ernst?«, schrie James durch den Fluglärm und nickte, als er die Antwort hörte. »Dann geht's jetzt also los!« Im selben Moment vollführte er mit der Maschine einen Looping, legte sie leicht auf die Seite und ließ sie dann im Sturzflug fallen. Wenige Sekunden später begannen die Maschinenpistolen der Mustang zu ticken. Direkt auf sie gerichtetes Mündungsfeuer wies ihnen den Weg.
Inmitten des todbringenden Feuerhagels musste sich etwas befinden, von dem die Deutschen nur sehr ungern wollten, dass andere davon erfuhren.
Während das Flakpersonal am Boden versuchte, sie ins Visier zu nehmen, ließ James das Flugzeug unruhig von einer Seite zur anderen schwenken. Die Kanonen waren nicht zu sehen, aber das Geräusch war unmissverständlich: Flakzwilling 40.
Kurz über dem Boden richtete James die Maschine ruckartig auf. Sie hatten nur diese eine Chance. Das Gebiet war etwa zwei bis drei Kilometer breit. Es erforderte jetzt mehr Glück als Verstand, wenn sie hier noch brauchbare Bilder machen wollten.
Die Landschaft rauschte unter ihnen hinweg. Graue Felder und weiße Wirbel wechselten sich mit Baumgipfeln und Gebäuden ab. Das Gebiet, über das sie hinwegdonnerten, war von hohen Zäunen umgeben. Aus dem Inneren der Wachtürme schickte man ihnen eine Maschinengewehrsalve nach der anderen entgegen. In diesen Lagern hielten sie die Zwangsarbeiter gefangen. Leuchtspurgeschosse aus einem Walddickicht unter ihnen ließen James instinktiv weiter die Flughöhe reduzieren und direkt auf die Baumwipfel zufliegen. Mehrere ihrer eigenen Maschinengewehrsalven trafen tief zwischen die Stämme, woraufhin es dort still wurde.
Dann streifte James fast die Wipfel der Fichten, als er das Flugzeug direkt über eine ausgedehnte gräuliche Fläche aus Tarnnetzen, Mauern, Eisenbahnwaggons und Haufen von Gütern gleiten ließ. Bryan hatte jede Menge zu fotografieren. Wenige Sekunden später zogen sie wieder aufwärts und drehten ab.
»Okay?«
Bryan nickte, klopfte James auf die Schulter und betete, die Kanonen unter ihnen mochten ihre einzigen Widersacher sein.
Aber das waren sie nicht.
»James! Die Motorhaube! Siehst du das?« Natürlich sah er es. Eine Ecke der Haube ragte in die Luft. Ob der Sturzflug, ein Treff er oder die Druckwellen das Teil losgerissen hatten, spielte keine Rolle. Es war nicht gut.
»Geh runter mit der Geschwindigkeit, James. Und ist dir klar, was das bedeutet? Wir werden das Bombergeschwader nicht mehr erreichen.«
»Sag einfach, was du für richtig hältst.«
»Wir folgen der Eisenbahn. Wenn die ihre Jagdflugzeuge auf uns hetzen, werden sie denken, wir hauen direkt nach Westen ab. Ich behalte den Luftraum um uns herum im Auge, okay?«
Der Rückflug würde ewig dauern.
Allmählich wurde die Landschaft unter ihnen flacher. An einem klaren Tag hätten sie den Horizont ringsum sehen können. Aber ohne das Unwetter würde man sie eben auch kilometerweit hören können.
»Wie zum Teufel willst du uns denn bloß heil nach Hause bringen, James?«, fragte Bryan leise.
Ein Blick auf die Karte war überflüssig. Ihre Chancen waren minimal.
»Behalt du nur deinen Schirm im Auge, mehr kannst du nicht tun«, kam es von vorn. »Ich glaube, die Klappe hält noch, solange wir nicht deutlich schneller fliegen müssen.«
»Also auf kürzestem Weg zurück.«
»Nördlich von Chemnitz! Danke, Bryan, ja.«
»Wir sind verrückt!«
»Nein. Nicht wir.«
Die Bahnstrecke unter ihnen war keine Nebenstrecke. Früher oder später würde ein Munitionszug oder ein Truppentransport auftauchen. Mit der kleinen, leicht einzustellenden Doppelkanone oder diesen Flak-38-Zwanzig-Millimeter-Antiluftschutzkanonen wären sie im Handumdrehen erledigt. Und dann waren da auch noch die Messerschmitts. Man würde sie für leichte Beute halten. Nahkampf und Abschuss. Länger würde der Kampfbericht nicht ausfallen.
Bryan wollte James gerade vorschlagen, selbst die Maschine zu Boden zu bringen, bevor es der Feind tun würde. Seine Philosophie war so einfach wie pragmatisch: Lieber in Gefangenschaft als tot.
Er legte James die Hand auf den Oberarm und rüttelte ihn leicht.
»Die haben uns im Visier, James«, sagte er. Kommentarlos drückte James die Maschine nach unten.
»Naundorf voraus. Du musst nördlich daran vorbei ...« Bryan sah den Schatten des Feindes über sich. »James! Direkt über uns!« James riss den Flieger mit einem gewaltigen Ruck weg von der Erde.
Bei der Beschleunigung ächzte und vibrierte die ganze Maschine. Durch das Loch hinter Bryan wurde bei dem jähen Aufstieg die Luft aus der Kabine gesaugt. James' Bordkanonen dröhnten, noch bevor Bryan ihr Ziel ausmachen konnte. Eine unbarmherzige Salve in den Bauch stoppte die angreifende Messerschmitt sofort: Die Explosion war tödlich.
Der Pilot würde nicht einmal mehr merken, wie ihm geschah.
Es krachte ein paarmal, ohne dass Bryan erkennen konnte, wo. Dann lagen sie urplötzlich gerade in der Luft. Bryan starrte auf James' Hinterkopf, als wartete er auf eine Reaktion. Von vorn hörte man ein Brausen, das Dreieck der Motorhaube hatte sich losgerissen und die Frontscheibe zerschmettert. James wackelte leicht mit dem Kopf, gab aber keinen Laut von sich.
Dann kippte er vornüber, das Gesicht zur Seite gedreht.
Das Motorengeräusch wurde lauter. Der Rumpf der Maschine schlug mit solcher Wucht durch sämtliche Luftschichten hindurch abwärts, dass es in allen Fugen ächzte. Bryan riss an seinem Gurt und warf sich über James, packte den Steuerknüppel und zog ihn gewaltsam in Richtung des reglosen Körpers. Blut strömte über James' Wange. Das Metallteil hatte ihn an der Schläfe getroffen und den größten Teil seines Ohrläppchens abgetrennt.
Da riss sich krachend ein weiteres Teil der Motorhaube los und trudelte über die linke Tragfläche. Ein unheilverkündendes Knarren veranlasste Bryan, für sie beide eine Entscheidung zu treffen. Er löste James' Sicherheitsgurt.
Im selben Moment wurde ein Teil des Cockpits explosionsartig losgerissen und Bryan aus dem Sitz geschleudert. Er packte James unter den Armen und zerrte ihn mit sich hinaus in den eisigen Wind auf die Tragfläche. Da sackte auch schon die Maschine unter ihnen weg. Bryan konnte seinen Kameraden nicht mehr halten, spürte aber noch den Zug von James' Reißleine. James hing sekundenlang schlaff im Wind. Dann öffnete sich sein Fallschirm.
Bryans Finger waren eisig, als er die eigene Reißleine zog. Er hörte den Knall des Fallschirms über sich und gleichzeitig am Boden knatternde Schüsse. Verräterische Lichtpunkte drangen schwach durch das Schneetreiben.
Die Maschine kippte zur Seite und stürzte weit hinter ihnen ab. Die Suche nach den beiden Piloten würde nicht leicht werden. Jetzt aber musste Bryan erst einmal aufpassen, dass er James und seinen Fallschirm nicht aus den Augen verlor.
Der Aufprall war unerwartet brutal. Der Boden war steinhart gefroren, die Ackerfurchen waren wie aus Beton gegossen. Während Bryan noch ächzend und stöhnend dort lag, füllte der Wind den losgelösten Fallschirm aufs Neue und trieb ihn über das Feld. Bryans Fliegeroverall war zerrissen, er selbst hatte den Sprung jedoch einigermaßen überstanden.
Dann wurde Bryan Zeuge von James' extrem unsanfter Landung. Es sah aus, als würde dessen gesamte untere Körperhälfte zerschellen.
Allen Regeln zum Trotz ließ Bryan seinen Fallschirm davonfliegen und humpelte über die Ackerfurchen zu James. Ein paar Zaunpfähle markierten eine alte Koppel. Pferde waren keine da, die waren sicher alle längst geschlachtet. James' Fallschirm hatte sich zwischen Holz und Rinde einer der Latten verhakt.
Bryan sah sich um. Es herrschte vollkommene Stille. Windböen wirbelten den Schnee auf. Bryan packte die tanzende Fallschirmseide und zog sich an Nähten, Bindungen und Schnüren vorbei bis zu seinem Freund, der reglos dalag.
Erst bei der dritten Berührung kippte James auf die Seite. Widerstrebend gab der Reißverschluss nach. Bryans eiskalte Fingerspitzen gruben sich unter die groben Kleidungsstücke. Die Wärme, auf die er dabei stieß, tat fast weh.
Bryan hielt die Luft an, bis er endlich James' schwachen Puls fühlte.
Als der Wind sich schließlich legte, hatte es auch aufgehört zu schneien. Noch immer war alles ganz still.
Bryan schleifte den schwach atmenden James zum nächstgelegenen Dickicht. Die Baumwipfel waren nackt, die Stürme hatten die Bäume leergefegt, und Äste, Blätter und Zweige lagen nun in Haufen am Boden und boten den beiden Piloten etwas Schutz.
»Hier liegt so viel Feuerholz herum, da können keine Siedlungen in der Nähe sein«, murmelte er halblaut vor sich hin. Die Angst um James versuchte er gar nicht erst hochkommen zu lassen.
»Was hast du gesagt?« James ließ sich willenlos durch den Schnee schleppen, bis Bryan auf die Knie fiel und vorsichtig James' Kopf auf seinen Schoß zog.
»James! Was ist passiert?«
»Ist - ist was passiert?« Noch hatte er die Augen nicht ganz geöffnet. Sein Blick war nach oben auf Bryan gerichtet und flackerte unkontrolliert. Dann drehte James den Kopf und blickte über die schwarz-weiße Landschaft. »Wo sind wir?«
»Abgestürzt, James. Bist du schwer verletzt?«
»Keine Ahnung.«
»Kannst du deine Beine spüren?«
»Die sind verflucht kalt.«
»Kannst du sie fühlen, James?«
»Verdammt, ja! Ich sag doch, die sind scheißkalt. An was für einen gottverlassenen Ort hast du mich eigentlich verschleppt? «
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Übersetzung: Hannes Thiess und Marieke Heimburger
Der Auftrag zu dieser Mission war vom Büro des Generalleutnants Lewis H. Brereton in Sunning Hill Park gekommen. Er hatte den Oberbefehlshaber der Royal Air Force, Luftmarschall Harris, um britische Unterstützung gebeten. Die britischen Moskitos hatten bei den Nachtangriff en auf Berlin im November das streng gehütete Geheimnis der Deutschen - die Anlagen für die V-1-Raketen in Zempin - enthüllt, und das hatte die Amerikaner nachhaltig beeindruckt.
Die Mannschaften auszuwählen überließ man Oberstleutnant Hadley-Jones, der die praktische Arbeit seinem Mitarbeiter, Wing Commander John Wood, anvertraute.
Er hatte die Aufgabe, zwölf britische Crews zusammenzustellen. Acht für Beobachtungsflüge und vier Mannschaften mit besonderen Observationszielen zur Unterstützung, die unter dem Kommando der 8. und der 9. US-Luftflottefliegen sollten.
Für diese Aufgabe wurden doppelsitzige P-51-D-Mustang- Jagdflugzeuge mit sogenannten Meddo-Geräten und hochempfindlichen optischen Instrumenten ausgerüstet.
Vor gerade mal zwei Wochen hatte man James Teasdale und Bryan Young als erste Crew ausgewählt, die dieses Material unter sogenannten »normalen Verhältnissen« erproben sollte.
Sie konnten also davon ausgehen, schon bald wieder Kampfeinsätze fliegen zu müssen.
Der Angriff war für den 11. Januar 1944 geplant. Das Ziel der Bombergeschwader waren die Flugzeugfabriken in Aschersleben, Braunschweig, Magdeburg und Halberstadt.
Beide hatten dagegen protestiert, dass man ihnen den Weihnachtsurlaub kappte. Beide waren noch kampfmüde.
»Vierzehn Tage, um sich in diese Teufelsmaschine zu vertiefen. « Bryan seufzte. »Mit diesen ganzen Apparaturen kenne ich mich doch überhaupt nicht aus! Warum bemannt Uncle Sam seinen Mist nicht selbst?«
John Wood hatte sich über die Akten gebeugt und ihnen den Rücken zugekehrt. »Weil sie euch haben wollen.«
»Das ist doch kein Argument!«
»Ihr werdet die Erwartungen der Amerikaner erfüllen und da lebendig wieder rauskommen.«
»Und das garantieren Sie uns?«
»Ja.«
»Sag schon was, James!« Bryan wandte sich dem Freund zu. James griff nach seinem Halstuch und zuckte die Achseln. Bryan ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen.
Es war hoffnungslos.
Die Operation war insgesamt auf gut sechs Stunden angelegt. Eskortiert von P-51-Langstreckenjägern sollte die gesammelte Streitkraft von ungefähr sechshundertfünfzig viermotorigen Bombern der 8. US-Luftflotte die deutschen Flugzeugfabriken bombardieren.
Während des Angriff s sollte James' und Bryans Maschine die Formation verlassen.
Hartnäckigen Gerüchten zufolge war in den letzten Monaten bei Lauenstein südlich von Dresden ein deutlich erhöhter Zustrom von Bauarbeitern, Ingenieuren und hoch spezialisierten Technikern sowie von polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern registriert worden.
Der Nachrichtendienst hatte lediglich herausgefunden, dass in der Gegend gebaut wurde. Es war jedoch völlig unklar, worum es sich handelte. Eine Fabrik für die Produktion synthetischer Brennstoffe, so vermutete man. Wenn das stimmte, wäre das eine Katastrophe, denn es könnte den Deutschen bei der Entwicklung und Umsetzung neuer V-Raketen-Projekte Auftrieb geben.
Bryans und James' Aufgabe bestand darin, die Gegend und das Eisenbahnnetz bei Dresden abzufotografieren und zu kartographieren, und zwar so gründlich, dass damit die Informationen des Nachrichtendienstes aktualisiert werden könnten. Nach vollbrachter Mission sollten sie sich wieder dem Fluggeschwader auf dem Weg zurück nach England anschließen.
Unter den Amerikanern, die an dem Angriff teilnehmen sollten, waren viele erfahrene Luftkrieger. Trotz Frostes und trotz der bevorstehenden Mission lagen sie lässig ausgestreckt direkt auf der gefrorenen Erde, die jemand eine Landebahn genannt hatte. Die meisten plauderten entspannt vor sich hin, fast so, als wollten sie demnächst zu einem Ball aufbrechen. Hier und da saß aber doch einer mit verschränkten und auf die Knie gestützten Armen da und starrte stumpf vor sich hin. Das waren die Neuen und Unerfahrenen, die noch nicht gelernt hatten, ihre Träume zu vergessen und die Ängste zu bannen. Der Engländer schritt zwischen den Sitzenden hindurch auf seinen Partner zu. Der lag, die Arme unter dem Kopf verschränkt, ebenfalls ausgestreckt auf der Erde. Bryan schreckte zusammen, als er einen leichten Tritt in die Seite spürte. Schneeflocken fielen ihnen aufs Gesicht, legten sich auf Nase und Augenbrauen. Der Himmel über ihnen verdunkelte sich. Dieser Tagesangriff würde sich nicht sonderlich von den Nachtangriff en unterscheiden. Der Sitz vibrierte leicht unter Bryan. Der Luftraum ringsum war gesättigt von Radarreflexen der Flugzeuge im Konvoi. Jedes einzelne Echo war sehr deutlich wahrzunehmen. Die Apparate waren so präzise, dass die Piloten während des Trainings mehrfach gescherzt hatten, sie könnten genauso gut die Fenster zumalen und allein nach den Instrumenten fliegen. Genau das forderte ihnen dieser Flug im Prinzip ab. Die Sicht war James zufolge »so klar wie eine Symphonie von Béla Bartók«. Die Scheibenwischer und die in die Schneemassen eindringende Nase des Flugzeugs waren alles, was sie sahen.
Die beiden waren sich einig gewesen, dass es Wahnsinn war, so kurzfristig den Dienst und die Maschine zu wechseln. Aber was Johns Beweggründe betraf, da waren sie unterschiedlicher Meinung. John behauptete, sie seien ausgewählt worden, weil sie die Besten seien, und James nahm das für bare Münze.
Bryan dagegen war sich sicher, dass John Wood sie ausgewählt hatte, weil sich James im aktiven Dienst niemals widersetzte und weil man bei dieser Operation wahrhaftig keine Zeit für Komplikationen hatte. Mit anderen Worten: Ja, er gab James die Schuld daran, dass man sie ausgewählt hatte.
Bryans Vorwürfe ärgerten James. Als hätten sie keine anderen Sorgen. Die Tour war lang, die Ausrüstung neu, das Wetter miserabel. Wenn sie sich erst vom Hauptgeschwader getrennt hatten, würde sie niemand mehr unterstützen. Waren die Vermutungen des Nachrichtendienstes korrekt, dass sich dort kriegswichtige Fabriken im Aufbau befanden, würde das Zielgebiet extrem scharf bewacht werden. Fotos davon nach England zu bringen würde alles andere als leicht werden.
Aber irgendjemand musste es ja tun. So sehr konnte sich dieser Flug doch nicht von den Angriff en auf Berlin unterscheiden.
Und die hatten sie schließlich auch überlebt.
Schweigend saß Bryan hinter James und konzentrierte sich mit der üblichen Sorgfalt auf seine Aufgaben.
Zwischen Bryans Karten und Messinstrumenten hing das Foto eines Mädchens in der Uniform des ATS. Madge Donat himmelte den gut aussehenden Bryan an, und auch er hielt ihr schon seit geraumer Zeit die Treue.
Wie nach der Taktvorgabe eines energischen Dirigenten bei der Ouvertüre eröffnete die deutsche Flak das Feuer auf die zuerst ankommenden Maschinen. Bryan hatte das Sperrfeuer Sekunden vorher geahnt und James ein Zeichen gegeben, den Kurs des Geschwaders zu verlassen. Von dem Moment an waren sie fürs Erste in der Gewalt des Teufels.
»Wenn du willst, dass wir hier noch weiter runtergehen, dann schrammen wir der Maschine den Arsch ab«, grunzte James zwanzig Minuten später.
»Und wenn wir auf zweihundert Fuß hängen bleiben, siehst du auf den Fotos nichts«, kam es von hinten zurück.
Bryan hatte Recht. Über dem Zielgebiet schneite es, und Windböen wirbelten den Schnee auf. Man musste schon dicht genug heranfliegen, dann gab es immer wieder Löcher, in denen sich fotografieren ließ.
Seit sie dem Sperrfeuer über Magdeburg ausgewichen waren, hatte sich niemand mehr für sie interessiert. Vermutlich hatte man ihre Existenz noch nicht mal bemerkt. James würde alles dafür tun, dass es dabei blieb.
James schrie durch den Lärm nach hinten zu Bryan, er habe deutsche Jagdflugzeuge gesehen, die raketenartige Dinger abfeuerten. Ein Aufblitzen, gefolgt von einer heftigen Explosion.
»Die deutsche Luftwaffe taugt doch nicht mal zum Tontaubenschießen «, hatte sich am gestrigen Abend ein amerikanischer Pilot in breitem Kentucky-Akzent lustig gemacht. Das Lachen war ihm heute vermutlich vergangen.
»Und jetzt nach hundertachtunddreißig Grad Süd!« Bryan beobachtete das Schneemeer unter sich. »Da unten ist die Hauptstraße von Heidenau. Siehst du die Kreuzung? Gut, dann lass uns der Abzweigung in Richtung Höhenzug folgen.«
Sie flogen jetzt nur noch knapp zweihundert Stundenkilometer, und der gesamte Rumpf dröhnte unheilschwanger.
»James, hier musst du im Zickzack über die Straße fliegen. Aber pass auf! Ein paar von den Hängen nach Süden zu können ziemlich steil sein. Kannst du etwas sehen? Das Gebiet zwischen hier und Geising kommt mir verdächtig vor.«
»Ich sehe so gut wie gar nichts, nur dass die Straße recht breit zu sein scheint. Wozu braucht man in einer so gottverlassenen Gegend eine so breite Straße?«
»Hab ich mich auch gefragt. Kannst du jetzt südwärts drehen? Guck mal, die Bäume da. Ganz schön dicht, das Dickicht, oder?«
»Meinst du, das sind Tarnnetze?«
»Kann schon sein.« Wenn es hier Fabriken gab, mussten sie in die Hänge hineingebaut sein. Bryan hatte da seine Zweifel. Wurde eine solche Anlage erst einmal entdeckt, würden die Erdwälle bei intensivem Präzisionsbombardement niemals ausreichend Sicherheit bieten. »Das ist eine Finte, James! Nichts hier in der Nähe deutet auf irgendwelche neuen Fabrikanlagen hin.«
Für diesen Fall lautete der Befehl, sie sollten nordwärts an der Eisenbahnstrecke auf Heidenau zufliegen, nach Westen in Richtung Freital abdrehen und der Eisenbahnstrecke in Richtung Chemnitz folgen. Erst an der Eisenbahnstrecke nach Waldheim sollten sie Kurs auf Nord und dann Nordost nehmen. Die Russen hatten darum gebeten, das gesamte Schienennetz gründlich abzufotografieren. Bei Leningrad machten die russischen Truppen mächtig Druck, sie drohten, die gesamte deutsche Front aufzurollen. Ihrer Ansicht nach liefen bei Dresden die wichtigsten Versorgungslinien der Deutschen zusammen. Erst wenn dieser Eisenbahnknotenpunkt lahmgelegt wäre, würde den deutschen Divisionen an der Ostfront der Nachschub ausgehen. Die Frage war nur, wie man das am effizientesten anstellte. Bryan blickte auf den Bahnkörper unter sich.
Die Gleisanlagen waren mit Schnee bedeckt. Viel würde man auf seinen Fotos nicht erkennen können.
Ohne jede Vorwarnung krachte es gerade mal einen halben Meter hinter Bryans Sitz. Ehe Bryan sich umdrehen konnte, beschleunigte James bereits und zog die Maschine fast senkrecht hoch. Bryan befestigte den Karabinerhaken am Sitz und spürte, wie unter ihm die lauwarme Luft aus der Kabine gesaugt wurde.
Das ausgefranste Loch im Rumpf war etwa faustgroß, das Austrittsloch in der Decke tellergroß. Es war nur ein einzelnes Projektil eines kleinkalibrigen Flakgeschosses gewesen.
Sie hatten also doch etwas übersehen.
Der Motor heulte bei dem steilen Aufstieg so ohrenbetäubend, dass sie nicht mal hören konnten, ob sie noch weiter beschossen wurden.
»Ist das da hinten ernst?«, schrie James durch den Fluglärm und nickte, als er die Antwort hörte. »Dann geht's jetzt also los!« Im selben Moment vollführte er mit der Maschine einen Looping, legte sie leicht auf die Seite und ließ sie dann im Sturzflug fallen. Wenige Sekunden später begannen die Maschinenpistolen der Mustang zu ticken. Direkt auf sie gerichtetes Mündungsfeuer wies ihnen den Weg.
Inmitten des todbringenden Feuerhagels musste sich etwas befinden, von dem die Deutschen nur sehr ungern wollten, dass andere davon erfuhren.
Während das Flakpersonal am Boden versuchte, sie ins Visier zu nehmen, ließ James das Flugzeug unruhig von einer Seite zur anderen schwenken. Die Kanonen waren nicht zu sehen, aber das Geräusch war unmissverständlich: Flakzwilling 40.
Kurz über dem Boden richtete James die Maschine ruckartig auf. Sie hatten nur diese eine Chance. Das Gebiet war etwa zwei bis drei Kilometer breit. Es erforderte jetzt mehr Glück als Verstand, wenn sie hier noch brauchbare Bilder machen wollten.
Die Landschaft rauschte unter ihnen hinweg. Graue Felder und weiße Wirbel wechselten sich mit Baumgipfeln und Gebäuden ab. Das Gebiet, über das sie hinwegdonnerten, war von hohen Zäunen umgeben. Aus dem Inneren der Wachtürme schickte man ihnen eine Maschinengewehrsalve nach der anderen entgegen. In diesen Lagern hielten sie die Zwangsarbeiter gefangen. Leuchtspurgeschosse aus einem Walddickicht unter ihnen ließen James instinktiv weiter die Flughöhe reduzieren und direkt auf die Baumwipfel zufliegen. Mehrere ihrer eigenen Maschinengewehrsalven trafen tief zwischen die Stämme, woraufhin es dort still wurde.
Dann streifte James fast die Wipfel der Fichten, als er das Flugzeug direkt über eine ausgedehnte gräuliche Fläche aus Tarnnetzen, Mauern, Eisenbahnwaggons und Haufen von Gütern gleiten ließ. Bryan hatte jede Menge zu fotografieren. Wenige Sekunden später zogen sie wieder aufwärts und drehten ab.
»Okay?«
Bryan nickte, klopfte James auf die Schulter und betete, die Kanonen unter ihnen mochten ihre einzigen Widersacher sein.
Aber das waren sie nicht.
»James! Die Motorhaube! Siehst du das?« Natürlich sah er es. Eine Ecke der Haube ragte in die Luft. Ob der Sturzflug, ein Treff er oder die Druckwellen das Teil losgerissen hatten, spielte keine Rolle. Es war nicht gut.
»Geh runter mit der Geschwindigkeit, James. Und ist dir klar, was das bedeutet? Wir werden das Bombergeschwader nicht mehr erreichen.«
»Sag einfach, was du für richtig hältst.«
»Wir folgen der Eisenbahn. Wenn die ihre Jagdflugzeuge auf uns hetzen, werden sie denken, wir hauen direkt nach Westen ab. Ich behalte den Luftraum um uns herum im Auge, okay?«
Der Rückflug würde ewig dauern.
Allmählich wurde die Landschaft unter ihnen flacher. An einem klaren Tag hätten sie den Horizont ringsum sehen können. Aber ohne das Unwetter würde man sie eben auch kilometerweit hören können.
»Wie zum Teufel willst du uns denn bloß heil nach Hause bringen, James?«, fragte Bryan leise.
Ein Blick auf die Karte war überflüssig. Ihre Chancen waren minimal.
»Behalt du nur deinen Schirm im Auge, mehr kannst du nicht tun«, kam es von vorn. »Ich glaube, die Klappe hält noch, solange wir nicht deutlich schneller fliegen müssen.«
»Also auf kürzestem Weg zurück.«
»Nördlich von Chemnitz! Danke, Bryan, ja.«
»Wir sind verrückt!«
»Nein. Nicht wir.«
Die Bahnstrecke unter ihnen war keine Nebenstrecke. Früher oder später würde ein Munitionszug oder ein Truppentransport auftauchen. Mit der kleinen, leicht einzustellenden Doppelkanone oder diesen Flak-38-Zwanzig-Millimeter-Antiluftschutzkanonen wären sie im Handumdrehen erledigt. Und dann waren da auch noch die Messerschmitts. Man würde sie für leichte Beute halten. Nahkampf und Abschuss. Länger würde der Kampfbericht nicht ausfallen.
Bryan wollte James gerade vorschlagen, selbst die Maschine zu Boden zu bringen, bevor es der Feind tun würde. Seine Philosophie war so einfach wie pragmatisch: Lieber in Gefangenschaft als tot.
Er legte James die Hand auf den Oberarm und rüttelte ihn leicht.
»Die haben uns im Visier, James«, sagte er. Kommentarlos drückte James die Maschine nach unten.
»Naundorf voraus. Du musst nördlich daran vorbei ...« Bryan sah den Schatten des Feindes über sich. »James! Direkt über uns!« James riss den Flieger mit einem gewaltigen Ruck weg von der Erde.
Bei der Beschleunigung ächzte und vibrierte die ganze Maschine. Durch das Loch hinter Bryan wurde bei dem jähen Aufstieg die Luft aus der Kabine gesaugt. James' Bordkanonen dröhnten, noch bevor Bryan ihr Ziel ausmachen konnte. Eine unbarmherzige Salve in den Bauch stoppte die angreifende Messerschmitt sofort: Die Explosion war tödlich.
Der Pilot würde nicht einmal mehr merken, wie ihm geschah.
Es krachte ein paarmal, ohne dass Bryan erkennen konnte, wo. Dann lagen sie urplötzlich gerade in der Luft. Bryan starrte auf James' Hinterkopf, als wartete er auf eine Reaktion. Von vorn hörte man ein Brausen, das Dreieck der Motorhaube hatte sich losgerissen und die Frontscheibe zerschmettert. James wackelte leicht mit dem Kopf, gab aber keinen Laut von sich.
Dann kippte er vornüber, das Gesicht zur Seite gedreht.
Das Motorengeräusch wurde lauter. Der Rumpf der Maschine schlug mit solcher Wucht durch sämtliche Luftschichten hindurch abwärts, dass es in allen Fugen ächzte. Bryan riss an seinem Gurt und warf sich über James, packte den Steuerknüppel und zog ihn gewaltsam in Richtung des reglosen Körpers. Blut strömte über James' Wange. Das Metallteil hatte ihn an der Schläfe getroffen und den größten Teil seines Ohrläppchens abgetrennt.
Da riss sich krachend ein weiteres Teil der Motorhaube los und trudelte über die linke Tragfläche. Ein unheilverkündendes Knarren veranlasste Bryan, für sie beide eine Entscheidung zu treffen. Er löste James' Sicherheitsgurt.
Im selben Moment wurde ein Teil des Cockpits explosionsartig losgerissen und Bryan aus dem Sitz geschleudert. Er packte James unter den Armen und zerrte ihn mit sich hinaus in den eisigen Wind auf die Tragfläche. Da sackte auch schon die Maschine unter ihnen weg. Bryan konnte seinen Kameraden nicht mehr halten, spürte aber noch den Zug von James' Reißleine. James hing sekundenlang schlaff im Wind. Dann öffnete sich sein Fallschirm.
Bryans Finger waren eisig, als er die eigene Reißleine zog. Er hörte den Knall des Fallschirms über sich und gleichzeitig am Boden knatternde Schüsse. Verräterische Lichtpunkte drangen schwach durch das Schneetreiben.
Die Maschine kippte zur Seite und stürzte weit hinter ihnen ab. Die Suche nach den beiden Piloten würde nicht leicht werden. Jetzt aber musste Bryan erst einmal aufpassen, dass er James und seinen Fallschirm nicht aus den Augen verlor.
Der Aufprall war unerwartet brutal. Der Boden war steinhart gefroren, die Ackerfurchen waren wie aus Beton gegossen. Während Bryan noch ächzend und stöhnend dort lag, füllte der Wind den losgelösten Fallschirm aufs Neue und trieb ihn über das Feld. Bryans Fliegeroverall war zerrissen, er selbst hatte den Sprung jedoch einigermaßen überstanden.
Dann wurde Bryan Zeuge von James' extrem unsanfter Landung. Es sah aus, als würde dessen gesamte untere Körperhälfte zerschellen.
Allen Regeln zum Trotz ließ Bryan seinen Fallschirm davonfliegen und humpelte über die Ackerfurchen zu James. Ein paar Zaunpfähle markierten eine alte Koppel. Pferde waren keine da, die waren sicher alle längst geschlachtet. James' Fallschirm hatte sich zwischen Holz und Rinde einer der Latten verhakt.
Bryan sah sich um. Es herrschte vollkommene Stille. Windböen wirbelten den Schnee auf. Bryan packte die tanzende Fallschirmseide und zog sich an Nähten, Bindungen und Schnüren vorbei bis zu seinem Freund, der reglos dalag.
Erst bei der dritten Berührung kippte James auf die Seite. Widerstrebend gab der Reißverschluss nach. Bryans eiskalte Fingerspitzen gruben sich unter die groben Kleidungsstücke. Die Wärme, auf die er dabei stieß, tat fast weh.
Bryan hielt die Luft an, bis er endlich James' schwachen Puls fühlte.
Als der Wind sich schließlich legte, hatte es auch aufgehört zu schneien. Noch immer war alles ganz still.
Bryan schleifte den schwach atmenden James zum nächstgelegenen Dickicht. Die Baumwipfel waren nackt, die Stürme hatten die Bäume leergefegt, und Äste, Blätter und Zweige lagen nun in Haufen am Boden und boten den beiden Piloten etwas Schutz.
»Hier liegt so viel Feuerholz herum, da können keine Siedlungen in der Nähe sein«, murmelte er halblaut vor sich hin. Die Angst um James versuchte er gar nicht erst hochkommen zu lassen.
»Was hast du gesagt?« James ließ sich willenlos durch den Schnee schleppen, bis Bryan auf die Knie fiel und vorsichtig James' Kopf auf seinen Schoß zog.
»James! Was ist passiert?«
»Ist - ist was passiert?« Noch hatte er die Augen nicht ganz geöffnet. Sein Blick war nach oben auf Bryan gerichtet und flackerte unkontrolliert. Dann drehte James den Kopf und blickte über die schwarz-weiße Landschaft. »Wo sind wir?«
»Abgestürzt, James. Bist du schwer verletzt?«
»Keine Ahnung.«
»Kannst du deine Beine spüren?«
»Die sind verflucht kalt.«
»Kannst du sie fühlen, James?«
»Verdammt, ja! Ich sag doch, die sind scheißkalt. An was für einen gottverlassenen Ort hast du mich eigentlich verschleppt? «
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Übersetzung: Hannes Thiess und Marieke Heimburger
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Autoren-Porträt von Jussi Adler-Olsen
Jussi Adler-Olsen, geb. am 2.8.1950 in Kopenhagen, studierte Medizin, Soziologie, Politische Geschichte und Film und arbeitete in vielen verschiedenen Berufen. Er gilt als bestverkaufter dänischer Krimiautor. Jussi Adler-Olsen ist verheiratet und Vater eines Sohnes.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jussi Adler-Olsen
- 2013, 1, 623 Seiten, Maße: 13,5 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652975
- ISBN-13: 9783863652975
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