Die Tore der Welt / Kingsbridge Bd.2
Historischer Roman. Das TV-Event zum Roman in Sat.1
145 Wochen stand "Die Tore der Welt" auf der Bestsellerliste - nun ist Ken Folletts gewaltiges Mittelalter-Epos in einer aufwendigen Verfilmung auf Sat.1 zu sehen. Den ersten Teil "Die Säulen der Erde" sahen im Herbst 2010 über 6...
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Produktinformationen zu „Die Tore der Welt / Kingsbridge Bd.2 “
145 Wochen stand "Die Tore der Welt" auf der Bestsellerliste - nun ist Ken Folletts gewaltiges Mittelalter-Epos in einer aufwendigen Verfilmung auf Sat.1 zu sehen. Den ersten Teil "Die Säulen der Erde" sahen im Herbst 2010 über 6 Millionen Menschen.
England im 14. Jahrhundert: In der Stadt Kingsbridge begegnen sich vier junge Menschen, deren Wege sich auf dramatische Weise verflechten. Liebe und Hass, Krieg und Pest, Ehrgeiz und Rache werden ihr Leben bestimmen, während der Turm der alten Kathedrale zum Symbol einer neuen Welt heranwächst, für die selbst der Himmel keine Grenze mehr ist.
"Wer einmal angefangen hat zu lesen, will nur noch eins: wissen, wie es mit den Charakteren weitergeht. Dieses Buch macht süchtig!"
BRIGITTE
145 Wochen stand "Die Tore der Welt" auf der Bestsellerliste - nun ist Ken Folletts gewaltiges Mittelalter-Epos in einer Verfilmung auf SAT.1 zu sehen. Den erste Teil "Die Säulen der Erde" sahen im Herbst 2010 über 6 Millionen Menschen.
Klappentext zu „Die Tore der Welt / Kingsbridge Bd.2 “
England im Jahre 1327. Vier junge Menschen versuchen in England ihr Glück zu machen: der rebellische Merthin, ein Nachfahre des großen Baumeisters Jack. Sein Bruder Ralph, der in den Ritterstand aufstrebt. Das Mädchen Caris, das sich nach Freiheit sehnt. Und Gwenda, die Tochter eines Taglöhners, die nur der Liebe folgen will.Und da ist noch Godwyn, ein aufstrebender Mönch, der nur ein Ziel vor Augen hat. Er will Prior der Abtei von Kingsbridge werden. Um jeden Preis.Die lang ersehnte Fortsetzung des Weltbestsellers Die Säulen der Erde
Jetzt als großer Vierteiler im Fernsehen
Mit 32 Seiten Filmfotos in Farbe
und Leseprobe "Sturz der Titanen"
Lese-Probe zu „Die Tore der Welt / Kingsbridge Bd.2 “
Die Tore der Welt von Ken FollettErster Teil
November 1327
Kapitel 1
... mehr
Gwenda war acht Jahre alt, aber sie fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit.
Darum hatte sie auch keine Angst, als sie die Augen öffnete und ringsum alles finster war. Gwenda wusste, wo sie sich befand: in der Priorei von Kingsbridge, in dem langen Steingebäude, das alle »Hospital« nannten. Sie lag auf dem Boden, auf einem Lager aus Stroh. Neben ihr lag ihre Mutter; an dem warmen, milchigen Geruch erkannte Gwenda, dass sie gerade den Säugling stillte, der noch keinen Namen hatte. Neben Ma lag Pa, und neben dem wiederum lag Gwendas älterer Bruder, der zwölfjährige Philemon. In Wahrheit hieß er Holger, doch im Alter von zehn Jahren hatte er beschlossen, Mönch zu werden, und überall verkündet, er habe seinen Namen in Philemon geändert, weil das frommer klänge. Tatsächlich redeten die meisten Leute ihn nun mit Philemon an; nur Ma und Pa sagten immer noch Holger zu ihm.
Das Hospital war überfüllt, und obwohl Gwenda die anderen Familien nicht sehen konnte, die auf dem Boden lagen, dicht an dicht wie Schafe in einem Pferch, so roch sie doch den ranzigen Gestank ihrer warmen Leiber. Wenn der Tag anbrach, war Allerheiligen, ein Sonntag dieses Jahr und daher ein ganz besonderer Feiertag. Umso schrecklicher war die Nacht davor: Samhain, eine gefährliche Zeit, in der böse Geister ungehindert um die Häuser zogen. Deshalb waren Hunderte von Menschen aus den umliegenden Dörfern nach Kingsbridge gekommen - so wie Gwendas Familie -, um Samhain auf dem heiligen Boden der Priorei zu verbringen und bei Sonnenaufgang am Hochamt zu Allerheiligen teilzunehmen.
Gwenda war wachsam, denn wie jeder vernünftige Mensch hatte sie Angst vor bösen Geistern, doch mehr noch als böse Geister fürchtete sie, was sie während des Hochamts würde tun müssen.
Und so starrte sie in die Dunkelheit und versuchte, nicht an das zu denken, was ihr Angst machte. Sie wusste, dass sich an der Wand gegenüber ein Bogenfenster befand. Es gab kein Glas - nur die wichtigsten Gebäude hatten Glas -, aber ein Leinentuch hielt die kalte Herbstluft draußen. Trotzdem konnte Gwenda dort, wo das Fenster sein sollte, einen schwachen grauen Fleck erkennen. Sie war froh. Sie wollte den Morgen nicht kommen sehen.
Gwenda sah nichts, hörte jedoch umso mehr: Schnarchen und Husten und das Rascheln des Strohs, sobald jemand sich im Schlaf bewegte. Ein Kind schrie, als wäre es aus einem bösen Traum erwacht, verstummte jedoch nach ein paar raschen gemurmelten Koseworten. Dann und wann sprach jemand - unverständliche Halbworte, wie man sie im Schlaf von sich gibt. Von irgendwo kamen die Geräusche zweier Menschen, die das taten, was auch Gwendas Eltern taten, worüber sie aber nie redeten - das, was Gwenda »Grunzen « nannte, denn sie kannte kein anderes Wort dafür.
Viel zu schnell für Gwenda wurde es hell, doch es war bloß ein Mönch, der am Ostende des langen Raums, hinter dem Altar, mit einer Kerze in der Hand aus einer Tür kam. Er stellte die Kerze auf den Altar, zündete einen Wachsstock daran an und ging damit herum, um die Wandlampen zu entzünden. Dabei flackerte sein langer Schatten jedes Mal die Wand hinauf, und der Wachsstock traf sich mit einem Schattenwachsstock am Docht der Lampe.
Das zunehmende Licht fiel auf zusammengekauerte Gestalten auf dem Boden, in graubraune Mäntel gewickelt oder auf der Suche nach Wärme an ihre Nachbarn gedrängt. Kranke lagerten am Altar, weil sie dort am meisten von der Heiligkeit des Ortes profitieren konnten. Am gegenüber liegenden Ende führte eine Treppe in den oberen Stock hinauf, wo sich die Kammern für adelige Besucher befanden, in denen zurzeit der Graf von Shiring mit einem Teil seiner Familie wohnte.
Der Mönch beugte sich über Gwenda, um die Lampe über ihrem Kopf zu entzünden. Dabei schaute er ihr in die Augen und lächelte. Gwenda musterte sein Gesicht im flackernden Schein der Flamme und erkannte ihn als Bruder Godwyn. Er war jung und gut aussehend, und am vergangenen Abend hatte er freundlich mit Philemon gesprochen.
Neben Gwenda war eine andere Familie aus ihrem Dorf: Samuel, ein wohlhabender Bauer mit großem Landbesitz, sowie seine Frau und seine beiden Söhne. Der jüngere, Wulfric, war ein sechsjähriger Lausebengel, der es für das Lustigste auf der Welt hielt, mit Eicheln nach Mädchen zu werfen und dann schnell wegzurennen.
Gwendas Familie war arm. Ihr Vater besaß kein Land; er verdingte sich bei jedem als Arbeiter, der ihn bezahlen wollte. Im Sommer gab es immer Arbeit, doch nach der Ernte, wenn die kalte Jahreszeit begann, litt die Familie oft Hunger.
Deshalb musste Gwenda stehlen.
Sie stellte sich vor, wie es wäre, geschnappt zu werden: eine grobe Männerhand, die sie am Arm packte und unbarmherzig festhielt, während sie sich hilflos wand; eine tiefe, grausame Stimme, die sagte: »Sieh an, eine kleine Diebin«; dann die Pein und die Demütigung der Auspeitschung und schließlich, am allerschlimmsten, der Schmerz und das Entsetzen, wenn man ihr die Hand abhackte.
Gwendas Vater hatte diese Strafe bereits erdulden müssen. Sein linker Arm endete in einem hässlichen, verschrumpelten Stumpf. Zwar kam er mit einer Hand recht gut zurecht; er konnte mit der Schaufel arbeiten, ein Pferd satteln und sogar ein Netz knüpfen, um Vögel zu fangen. Trotzdem wurde er im Frühling stets als letzter Tagelöhner eingestellt und im Herbst als erster wieder entlassen. Und das Dorf verlassen und sich anderswo Arbeit suchen, das konnte er nicht, denn die fehlende Hand brandmarkte ihn als Dieb, sodass ihn niemand in Lohn und Brot nehmen würde. Wenn er unterwegs war, band er sich einen ausgestopften Handschuh an den Stumpf, damit ihm nicht gleich jeder Fremde aus dem Weg ging; doch die Menschen ließen sich nie lange von diesem Schwindel täuschen.
Gwenda hatte die Bestrafung ihres Vaters nicht mit eigenen Augen gesehen - da war sie noch nicht auf der Welt gewesen -, aber sie hatte es sich oft vorgestellt, und nun konnte sie nicht anders, als sich immer wieder auszumalen, wie ihr das gleiche Schicksal widerfuhr. Vor ihrem geistigen Auge sah sie bereits die Axt auf ihr Handgelenk niedersausen, sah, wie sie Fleisch und Knochen durchdrang und ihr die Hand vom Arm trennte, sodass sie nie wieder angenäht werden konnte. Sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu schreien.
Die Leute standen auf, streckten sich, gähnten und rieben sich die Gesichter. Auch Gwenda erhob sich und schüttelte ihre Kleider aus. Alles, was sie am Leibe trug, hatte zuvor ihrem älteren Bruder gehört: das wollene Hemd, das ihr bis zu den Knien reichte, und der Kittel, der an der Hüfte mit einem Hanfseil zusammengebunden war. Ihre Schuhe hatten einst Schnürsenkel gehabt, doch die Löcher waren gerissen, die Senkel verschwunden, und so band Gwenda sich die Schuhe mit geflochtenem Stroh fest. Als sie schließlich ihr Haar unter eine Kappe aus Eichhörnchenschwänzen geschoben hatte, war sie fertig angezogen.
Gwenda schaute zu ihrem Vater; dieser deutete unauffällig zu einer Familie auf der anderen Seite, einem Paar mittleren Alters mit zwei Söhnen, nur wenig älter als Gwenda. Der Mann war klein und schmächtig, mit lockigem rotem Bart. Er schnallte sich ein Schwert um, was erkennen ließ, dass er Soldat oder Ritter war, denn gewöhnlichen Leuten war es nicht gestattet, Schwerter zu tragen. Sein Weib war eine dünne Frau, schroff und herrisch und mit mürrischem Gesicht. Während Gwenda sie musterte, nickte Bruder Godwyn respektvoll und sagte: »Guten Morgen, Sir Gerald, Lady Maud.«
Nun sah Gwenda auch, was die Aufmerksamkeit ihres Vaters erregt hatte. Sir Gerald trug am Gürtel eine Börse, die an einem Lederriemen hing. Die Börse war prall gefüllt. Sie sah aus, als enthielte sie mehrere Hundert kleine, dünne Silberpennys, Halfpennys und Farthings, die Währung in England. Das war so viel Geld, wie Gwendas Pa in einem Jahr verdiente - falls er denn Arbeit fand. In jedem Fall wäre das mehr als genug, um die Familie bis zur Aussaat im Frühling zu ernähren. Vielleicht enthielt die Börse sogar Goldmünzen aus fremden Ländern, Florine aus Florenz zum Beispiel oder Dukaten aus Venedig.
Gwenda trug ein kleines Messer in einer Holzscheide an einer Kordel um ihren Hals. Die scharfe Klinge würde das Lederband rasch durchtrennen, sodass die Börse in ihre kleine Hand fallen konnte ... es sei denn, Sir Gerald spürte etwas und packte sie, bevor sie die Beute in Sicherheit bringen konnte.
Godwyn hob die Stimme, um sich über das Gemurmel im Hospital hinweg verständlich zu machen. »Um der Liebe Christi willen, der uns Mildtätigkeit lehrt, wird nach dem Hochamt an Allerheiligen ein Frühstück ausgegeben«, verkündete er. »Bis dahin gibt es klares Trinkwasser aus dem Brunnen im Hof. Und vergesst nicht, die Latrinen draußen zu benutzen. Hier drinnen wird nicht gepisst!«
Die Mönche und Nonnen waren sehr streng, was Reinlichkeit betraf. Vergangene Nacht hatte Bruder Godwyn einen sechsjährigen Jungen dabei erwischt, wie er in eine Ecke gepinkelt hatte, und daraufhin die gesamte Familie vor die Tür gesetzt. Weil sie keinen Penny gehabt hatten, um in einem Gasthaus unterzukommen, hatten sie die kalte Oktobernacht zitternd auf dem Steinboden im nördlichen Vorbau der Kathedrale verbringen müssen. Auch Tiere waren verboten. Hop, Gwendas dreibeiniger Hund, war ebenfalls vor die Tür gesetzt worden. Sie fragte sich, wo er wohl genächtigt hatte.
Als alle Lampen entzündet waren, öffnete Godwyn die große Holztür nach draußen. Die Nachtluft brannte in Gwendas Ohren und auf ihrer Nasenspitze. Die Gäste, die über Nacht geblieben waren, zogen die Mäntel um die Schultern und schlurften hinaus. Als Sir Gerald und seine Familie sich in Bewegung setzten, reihten Ma und Pa sich hinter ihnen ein, und Gwenda und Philemon folgten ihnen auf dem Fuß.
Bis jetzt hatte zumeist Philemon das Stehlen übernommen, doch gestern war er auf dem Markt von Kingsbridge beinahe gefasst worden. Er hatte einen kleinen Krug mit kostbarem Öl vom Stand eines italienischen Händlers stibitzt, das gute Stück jedoch zu Boden fallen lassen, sodass jeder ihn gesehen hatte. Zum Glück war der Krug nicht zerbrochen, doch Philemon hatte so tun müssen, als hätte er ihn aus Versehen von dem Stand heruntergestoßen.
Und noch etwas setzte Philemons Diebeskarriere ein Ende: Bis vor Kurzem war er klein und unscheinbar gewesen, wie Gwenda, doch im letzten Jahr war er mehrere Zoll gewachsen; seine Stimme war tief geworden und seine Bewegungen unbeholfen, als könne er sich nicht an seinen neuen, größeren Körper gewöhnen. Vergangenen Abend, nach dem Vorfall mit dem Ölkrug, hatte Papa verkündet, Philemon sei nun zu groß für ernsthafte Diebereien; daher fiele diese Aufgabe fortan Gwenda zu.
Das war auch der Grund, weshalb sie fast die ganze Nacht wach gelegen hatte.
Nun gingen sie durch die Tür und sahen zwei Reihen zitternder Nonnen, die Fackeln in die Höhe hielten, um den Weg vom Hospital zum großen Westportal der Kathedrale von Kingsbridge zu erleuchten. Schatten flackerten am Rande des Fackelscheins. Es sah aus, als tollten die Geister und Kobolde der Nacht dicht außerhalb des Sichtfeldes umher und nur die Frömmigkeit der Nonnen hielte sie vom Näherkommen ab.
Gwenda rechnete damit, dass Hop draußen auf sie wartete, doch der Hund war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte er ja einen warmen Schlafplatz gefunden. Während sie zur Kirche gingen, achtete Pa sorgsam darauf, dass sie stets ganz in der Nähe von Sir Gerald blieben. Gwenda quiekte, als jemand von hinten schmerzhaft an ihrem Haar zerrte. Wenn das nicht so ein vermaledeiter Kobold gewesen war! Doch als sie sich umdrehte, sah sie Wulfric, den sechsjährigen Plagegeist aus der Nachbarschaft. Lachend sprang er aus ihrer Reichweite - geradewegs in die Arme seines Vaters. Der knurrte: »Benimm dich!«, und gab ihm eine Kopfnuss, worauf Wulfric in Tränen ausbrach.
Die Kathedrale war ein gestaltloser Koloss, der düster und gewaltig über der dicht gedrängten Menschenmenge aufragte und von dem sich nur die unteren Teile deutlich erkennen ließen: Bögen und Mittelpfosten wurden durch das unstete Fackellicht in Orange und Rot getaucht. Die Prozession wurde langsamer, als sie sich dem Eingang des Gotteshauses näherte, und Gwenda konnte eine Gruppe von Stadtbewohnern ausmachen, die aus der anderen Richtung kam; es waren Hunderte, vielleicht sogar Tausende, schätzte Gwenda... obwohl sie nicht sicher war, denn sie konnte gerade mal bis zehn zählen.
Die Menschenmenge schob sich durch die Vorhalle. Das unstete Fackellicht fiel auf die Statuen an den Gewänden und ließ sie einen zuckenden Tanz aufführen. In den unteren Zonen gab es finstere Dämonen und schreckliche Untiere. Gwenda sah Drachen und Greife, einen Bären mit Menschenkopf und sogar einen Hund mit zwei Leibern, jedoch nur einer Schnauze. Sie riss die Augen auf und schluckte, so schrecklich war das alles anzuschauen. Da gab es Bestien, die mit Menschen kämpften; sogar einen Teufel, der einem Mann eine Schlinge um den Hals legte; daneben waren ein fuchsartiges Untier, das eine Frau an den Haaren zog, und ein Adler, der mit den Klauen einen nackten Mann aufspießte. Über diesen gottlosen Kreaturen standen die Heiligen unter schützenden Baldachinen. Darüber wiederum thronten die Apostel. Dann, in dem Bogenfeld gleich über der Tür, stand der heilige Petrus mit seinem Schlüssel, und der heilige Paulus mit einer Schriftrolle in der Hand schaute betend zu Jesus hinauf.
Gwenda wusste, dass Jesus die Menschen lehrte, nicht zu sündigen, und dass Sünder von Dämonen gepeinigt wurden, doch Menschen machten ihr mehr Angst als Dämonen. Wenn es ihr nicht gelang, Sir Geralds Börse zu stehlen, würde Pa sie verprügeln. Und schlimmer noch: Dann hätte ihre Familie nichts zu essen außer Suppe mit Eicheln. Gwenda und Philemon müssten wochenlang hungern. Mas Brüste würden austrocknen, und das neue Baby würde genauso sterben wie die beiden davor. Pa würde tagelang verschwinden, und wenn er zurückkam, hätte er nicht mehr dabei als einen dürren Reiher oder ein paar Eichhörnchen. Hungrig zu sein war schlimmer, als verprügelt zu werden. Es tat länger weh.
Gwenda hatte das Stehlen erlernt, kaum dass sie laufen konnte: einen Apfel von einem Stand, ein frisch gelegtes Ei von der Henne des Nachbarn, ein arglos von einem Säufer liegen gelassenes Messer in einer Schänke. Aber Geld zu entwenden war etwas anderes. Wenn man sie dabei erwischte, wie sie Sir Gerald seine Börse stibitzte, würde es ihr nichts nützen, in bittere Tränen auszubrechen und darauf zu hoffen, dass man Gnade vor Recht ergehen ließ wie damals, als sie der weichherzigen Nonne die hübschen Lederschuhe gestohlen hatte. Die Börse eines Ritters zu schneiden war keine lässliche Kindersünde; es war ein Erwachsenenverbrechen, und dementsprechend würde man sie bestrafen.
Gwenda versuchte, nicht darüber nachzudenken. Sie war klein, geschickt und flink, und sie würde sich die Börse so schnell und lautlos schnappen wie ein Geist ... vorausgesetzt, sie konnte ihr Zittern im Zaum halten.
Die Kirche war bereits voller Menschen. In den Seitenschiffen hielten kapuzenverhüllte Mönche Fackeln, die ein unstetes rotes Licht verbreiteten. Die hohen Säulen des Hauptschiffs verschwanden in der Dunkelheit des mächtigen Gewölbes. Gwenda hielt sich dicht bei Sir Gerald, als die Menschenmenge in Richtung Altar drängte. Der rotbärtige Ritter und seine dünne Frau bemerkten Gwenda nicht, und ihre beiden Söhne schenkten ihr ebenso wenig Beachtung wie den Kathedralenwänden. Gwendas Familie ließ sich zurückfallen, und das Mädchen verlor sie aus dem Blick.
Das Hauptschiff füllte sich nun rasch. Gwenda hatte noch nie so viele Menschen an einem Ort gesehen: Hier ging es geschäftiger zu als am Markttag auf dem grasbewachsenen Kathedralenvorplatz. Fröhlich begrüßten die Menschen einander. Im Gotteshaus fühlten sie sich vor bösen Geistern sicher. Ihre Stimmen hallten gespenstisch in dem riesigen Kircheninnern wider und schienen aus allen Richtungen zugleich zu kommen.
Dann läutete die Glocke, und die Menge verstummte.
Sir Gerald stand bei einer Familie aus der Stadt. Die Leute trugen Mäntel aus feinem Stoff; vermutlich waren sie reiche Wollhändler. Neben dem Ritter stand ein Mädchen von ungefähr zehn Jahren. Gwenda schob sich hinter die beiden, wobei sie versuchte, so unauffällig wie möglich zu sein, doch zu ihrem Entsetzen schaute das Mädchen sie plötzlich an und lächelte beruhigend, als wollte es sagen: Hab keine Angst!
Am Rand der Menge löschten die Mönche ihre Fackeln, eine nach der anderen, bis das Innere der Kirche in völlige Dunkelheit getaucht war.
Gwenda atmete auf, fragte sich jedoch, ob das reiche Mädchen sich später an sie erinnern würde. Das Mädchen hatte sie nicht bloß flüchtig gemustert, wie die meisten Menschen; sie hatte Gwenda in die Augen geschaut, hatte erkannt, dass sie sich fürchtete, und sie freundlich angelächelt. Doch es waren Hunderte von Kindern in der Kathedrale, und in dem trüben Licht konnte das Mädchen sich unmöglich Gwendas Gesichtszüge eingeprägt haben ... oder? Gwenda versuchte, diesen beängstigenden Gedanken zu verdrängen.
Unsichtbar in der Dunkelheit schob sie sich vor und schlüpfte geräuschlos zwischen die beiden Gestalten. Sie spürte die weiche Wolle des Mädchenmantels auf der einen Seite und den steiferen Stoff des alten Waffenrocks, den der Ritter trug, auf der anderen. Jetzt musste sie nur noch den Armausstrecken, ein rascher Schnitt - und die Börse gehörte ihr.
Gwenda griff an ihr Halsband und zog das kleine Messer aus der Scheide.
In die Stille hinein erklang ein fürchterlicher Schrei. Gwenda hatte damit gerechnet - Mama hatte ihr erklärt, was während des Gottesdienstes so alles vor sich ging -, trotzdem erschrak sie bis ins Mark. Es klang, als würde jemand gefoltert.
Dann ertönte ein hartes Trommeln, als schlüge jemand auf eine Metallplatte. Weitere Geräusche folgten: schrilles Heulen, irres Lachen, ein Jagdhorn, Rasseln, Tierstimmen, eine zersprungene Glocke. In der Gemeinde begann ein Kind zu plärren; andere fielen ein. Ein paar Erwachsene lachten nervös. Sie wussten, dass die Mönche diese Geräusche machten, doch es war eine höllische Kakophonie.
Jetzt ist nicht der geeignete Augenblick, um sich die Börse zu schnappen, dachte Gwenda ängstlich. Alle waren angespannt und wachsam. Der Ritter würde jede noch so leichte Berührung bemerken.
Der teuflische Lärm wurde lauter. Dann kam ein neues Geräusch hinzu: Musik. Zuerst war sie so leise, dass Gwenda nicht sicher war, ob sie die Klänge wirklich hörte, doch nach und nach wurden sie lauter: Die Nonnen sangen. Gwenda spürte, wie Spannung sie erfasste.
Und dann war es so weit. Gwenda bewegte sich so lautlos wie ein Schatten und so leicht wie die Luft, als sie sich Sir Gerald zuwandte. Sie wusste genau, was er trug: eine dicke Wollrobe, an der Hüfte von einem breiten, metallbeschlagenen Gürtel gehalten, an dem seine Börse mit einem Lederband befestigt war. Über der Robe trug er einen bestickten Waffenrock, ein edles, jedoch abgetragenes Stück mit gelben Knöpfen aus Bein. Er hatte ihn hoch zugeknöpft, doch zwei, drei Köpfe standen noch offen - entweder aus Nachlässigkeit oder weil der Weg vom Hospital in die Kirche so kurz gewesen war.
So sanft und vorsichtig sie konnte, legte Gwenda eine schmale Hand auf des Ritters Rock. Sie stellte sich vor, ihre Hand sei eine Spinne, die so leicht und lautlos dahinhuschte, dass Sir Gerald sie unmöglich zu spüren vermochte. Diese Spinnenhand ließ Gwenda nun vorn über den Rock huschen, dann unter den Rocksaum und an dem schweren Gürtel entlang, bis sie die Börse ertastete.
Der Höllenlärm verebbte, während die Musik immer lauter erschallte. In den vorderen Reihen erhob sich ehrfürchtiges Raunen. Gwenda konnte nichts sehen, aber sie wusste, dass auf dem Altar eine Lampe entzündet worden war, die eine Reliquie beleuchtete: einen prachtvoll beschnitzten Kasten aus Ebenholz und Gold, in dem sich die Gebeine des heiligen Adolphus befanden. Als vorhin das Licht in der Kirche erlosch, war der Kasten noch nicht da gewesen, doch nun - o Wunder! - stand er dort. Die Menge drängte nach vorn; alle wollten der heiligen Reliquie nahe sein. Als Gwenda zwischen Sir Gerald und dem Mann vor ihm eingequetscht wurde, hob sie die rechte Hand und setzte die Messerklinge ans Band der Börse.
Das Leder war zäh, und mit dem ersten Streich gelang es ihr nicht, das Band durchzuschneiden. Sie sägte nach Leibeskräften und hoffte verzweifelt, Sir Gerald möge von der Szene am Altar so sehr gefesselt sein, dass er nicht bemerkte, was direkt vor seiner Nase geschah. Gwenda hob kurz den Blick und sah voller Schrecken, dass sie wieder die Umrisse der Menschen erkennen konnte: Die Mönche und Nonnen zündeten Kerzen an. Jeden Augenblick würde es deutlich heller werden!
Gwenda riss kräftig an dem Messer und spürte, wie das Band nachgab. Sir Gerald knurrte leise. Hatte er etwas gespürt, oder war es eine Reaktion auf das Spektakel am Altar? Die Börse fiel und landete in Gwendas Hand, war aber zu groß, als dass das Mädchen sie hätte fangen können, und drohte ihren Fingern zu entgleiten. Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete Gwenda, sie fallen zu lassen und inmitten der Menschenmenge auf dem Boden zu verlieren; dann bekam sie den Beutel zu fassen und hielt ihn fest.
Erleichterung durchströmte Gwenda wie eine Welle.
Doch noch immer schwebte sie in großer Gefahr. Ihr Herz schlug so laut, dass sie glaubte, jeder müsse es hören. Rasch drehte sie sich um, sodass sie dem Ritter den Rücken zukehrte. Noch in der Bewegung stopfte sie die Börse vorne in ihren Kittel, wo der schwere Lederbeutel jedoch eine verdächtige Wölbung bildete, die ihr über den Gürtel hing wie der Bauch eines alten Mannes. Gwenda schob die Börse zur Seite, wo sie sie wenigstens teilweise mit dem Arm verdecken konnte. Zwar wäre sie da noch immer zu sehen, wenn das Licht heller wurde, doch es gab keinen besseren Platz, um sie zu verstecken.
Gwenda schob das Messer wieder in die Scheide. Jetzt musste sie rasch verschwinden, ehe Sir Gerald seinen Verlust bemerkte. Doch das Gedränge der Gläubigen, das ihr eben noch geholfen hatte, die Börse unbemerkt an sich zu nehmen, hinderte sie nun an der Flucht. Sie versuchte, rückwärtszugehen und sich zwischen den Leibern hindurchzuzwängen, doch noch immer zog es die Leute nach vorn, so begierig waren sie, einen Blick auf die Gebeine des Heiligen zu werfen. Gwenda saß in der Falle. Sie konnte sich nicht bewegen, stand noch immer genau vor dem Mann, den sie bestohlen hatte.
Eine Stimme sagte ihr ins Ohr: »Alles in Ordnung?«
Es war das reiche Mädchen. Gwenda kämpfte gegen die aufkeimende Panik an. Sie musste unsichtbar sein. Ein hilfsbereites, älteres Kind konnte sie jetzt am allerwenigsten gebrauchen. Sie schwieg. »Seid vorsichtig«, sagte das Mädchen zu den Leuten um sie herum. »Ihr zerquetscht ja das arme kleine Ding!«
Gwenda hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Die Fürsorglichkeit des Mädchens würde noch dazu führen, dass man ihr die Hand abhackte!
In dem verzweifelten Versuch davonzukommen drückte sie dem Mann vor sich die Hände ins Kreuz und stieß sich nach hinten ab. Doch das brachte ihr lediglich die Aufmerksamkeit Sir Geralds ein.
»Oh, du armes Ding! Du kannst nichts sehen, weil du so klein bist, nicht wahr?«, sagte der Bestohlene mit freundlicher Stimme, und zu Gwendas Entsetzen packte er sie unter den Armen und hob sie hoch.
Sie war hilflos. Sir Geralds große Hand in ihrer Achselhöhle war nur zwei Fingerbreit von der Börse entfernt. Gwenda drehte sich nach vorne, sodass er nur ihren Hinterkopf sehen konnte, und schaute über die Menge hinweg zum Altar, wo die Mönche und Nonnen weitere Kerzen entzündeten und zu Ehren des Heiligen fromme Lieder sangen. Hinter ihnen drang ein schwacher Lichtschein durch das große Rosettenfenster an der Ostfassade: Der Morgen brach an und jagte die bösen Geister davon. Der dämonische Lärm war nun gänzlich verstummt, und der Gesang schwoll noch immer an. Ein großer, gut aussehender Mönch trat an den Altar. Gwenda erkannte ihn als Anthony, den Prior von Kingsbridge. Er hob die Hände zum Segen und sagte laut: »Und wieder einmal wurden das Böse und die Dunkelheit dieser Welt durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Harmonie und das Licht von Gottes heiliger Kirche verbannt.«
»Amen!«, dröhnte es durch die Kathedrale, und alle schlugen das Kreuzzeichen, womit die Zeremonie endete.
Gwenda wand sich im Griff des Ritters, und Sir Gerald verstand und setzte sie ab. Das Gesicht noch immer von ihm abgewandt, schob Gwenda sich an ihm vorbei und hielt auf den hinteren Teil der Menge zu. Die Menschen drängten jetzt nicht mehr zum Altar, und so konnte Gwenda sich zwischen ihnen hindurchzwängen. Je weiter sie nach hinten kam, desto leichter wurde es für sie, bis sie sich schließlich am großen Westportal wiederfand, wo ihre Familie bereits auf sie und die Beute wartete.
Pa schaute sie erwartungsvoll an, bereit, wütend zu werden, sollte sie versagt haben. Gwenda holte die Börse aus ihrem Hemd und warf sie ihm zu; sie war froh, das Ding loszuwerden. Pa fing die Börse auf, drehte sich ein wenig zur Seite und warf einen verstohlenen Blick hinein. Gwenda sah ihn grinsen. Dann reichte er die Börse an Ma weiter, die sie rasch in den Falten der Decke verschwinden ließ, die sie um das Baby gewickelt hatte.
Das Martyrium war vorbei, die Gefahr jedoch nicht. »Ein Mädchen hat mich bemerkt«, berichtete Gwenda und hörte die schrille Angst in ihrer Stimme.
Zorn loderte in Pas kleinen, dunklen Augen auf. »Hat dieses Mädchen gesehen, was du getan hast?«
»Nein, aber sie hat zu den Leuten gesagt, sie sollten mich nicht totquetschen, und da hat der Ritter mich hochgehoben, damit ich besser sehen kann.« Ma stieß ein leises Stöhnen aus.
Pa sagte: »Dann hat er dein Gesicht gesehen?«
»Ich habe versucht, es von ihm wegzudrehen.«
»Trotzdem ist es besser, wenn er dir nicht noch mal über den Weg läuft«, sagte Pa. »Wir gehen nicht mehr ins Hospital zurück. Wir frühstücken in einer Schänke.«
Ma sagte: »Wir können uns nicht den ganzen Tag verstecken.«
»Nein, aber wir können in der Menge untertauchen.«
Gwenda atmete ein wenig auf. Offenbar hielt Pa die Situation nicht für gar so gefährlich. Gwenda war froh, dass nun er wieder das Kommando übernahm und sie von der Verantwortung befreite.
»Außerdem«, fuhr Pa fort, »habe ich den wässrigen Brei der Mönche satt. Ich will Brot und Fleisch. Jetzt können wir's uns leisten!«
Sie traten aus der Kirche hinaus in die Morgendämmerung. Der Himmel war perlgrau. Gwenda wollte Mas Hand halten, aber das Baby fing zu schreien an, und Ma war abgelenkt. Dann erblickte Gwenda einen kleinen, dreibeinigen Hund mit schwarzem Gesicht, der mit vertrautem Humpeln auf den Kathedralenplatz lief. »Hop!«, rief Gwenda, hob ihn hoch und drückte ihn an sich.
Übersetzung: Rainer Schumacher und Dietmar Schmidt
Copyright © 2008 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Gwenda war acht Jahre alt, aber sie fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit.
Darum hatte sie auch keine Angst, als sie die Augen öffnete und ringsum alles finster war. Gwenda wusste, wo sie sich befand: in der Priorei von Kingsbridge, in dem langen Steingebäude, das alle »Hospital« nannten. Sie lag auf dem Boden, auf einem Lager aus Stroh. Neben ihr lag ihre Mutter; an dem warmen, milchigen Geruch erkannte Gwenda, dass sie gerade den Säugling stillte, der noch keinen Namen hatte. Neben Ma lag Pa, und neben dem wiederum lag Gwendas älterer Bruder, der zwölfjährige Philemon. In Wahrheit hieß er Holger, doch im Alter von zehn Jahren hatte er beschlossen, Mönch zu werden, und überall verkündet, er habe seinen Namen in Philemon geändert, weil das frommer klänge. Tatsächlich redeten die meisten Leute ihn nun mit Philemon an; nur Ma und Pa sagten immer noch Holger zu ihm.
Das Hospital war überfüllt, und obwohl Gwenda die anderen Familien nicht sehen konnte, die auf dem Boden lagen, dicht an dicht wie Schafe in einem Pferch, so roch sie doch den ranzigen Gestank ihrer warmen Leiber. Wenn der Tag anbrach, war Allerheiligen, ein Sonntag dieses Jahr und daher ein ganz besonderer Feiertag. Umso schrecklicher war die Nacht davor: Samhain, eine gefährliche Zeit, in der böse Geister ungehindert um die Häuser zogen. Deshalb waren Hunderte von Menschen aus den umliegenden Dörfern nach Kingsbridge gekommen - so wie Gwendas Familie -, um Samhain auf dem heiligen Boden der Priorei zu verbringen und bei Sonnenaufgang am Hochamt zu Allerheiligen teilzunehmen.
Gwenda war wachsam, denn wie jeder vernünftige Mensch hatte sie Angst vor bösen Geistern, doch mehr noch als böse Geister fürchtete sie, was sie während des Hochamts würde tun müssen.
Und so starrte sie in die Dunkelheit und versuchte, nicht an das zu denken, was ihr Angst machte. Sie wusste, dass sich an der Wand gegenüber ein Bogenfenster befand. Es gab kein Glas - nur die wichtigsten Gebäude hatten Glas -, aber ein Leinentuch hielt die kalte Herbstluft draußen. Trotzdem konnte Gwenda dort, wo das Fenster sein sollte, einen schwachen grauen Fleck erkennen. Sie war froh. Sie wollte den Morgen nicht kommen sehen.
Gwenda sah nichts, hörte jedoch umso mehr: Schnarchen und Husten und das Rascheln des Strohs, sobald jemand sich im Schlaf bewegte. Ein Kind schrie, als wäre es aus einem bösen Traum erwacht, verstummte jedoch nach ein paar raschen gemurmelten Koseworten. Dann und wann sprach jemand - unverständliche Halbworte, wie man sie im Schlaf von sich gibt. Von irgendwo kamen die Geräusche zweier Menschen, die das taten, was auch Gwendas Eltern taten, worüber sie aber nie redeten - das, was Gwenda »Grunzen « nannte, denn sie kannte kein anderes Wort dafür.
Viel zu schnell für Gwenda wurde es hell, doch es war bloß ein Mönch, der am Ostende des langen Raums, hinter dem Altar, mit einer Kerze in der Hand aus einer Tür kam. Er stellte die Kerze auf den Altar, zündete einen Wachsstock daran an und ging damit herum, um die Wandlampen zu entzünden. Dabei flackerte sein langer Schatten jedes Mal die Wand hinauf, und der Wachsstock traf sich mit einem Schattenwachsstock am Docht der Lampe.
Das zunehmende Licht fiel auf zusammengekauerte Gestalten auf dem Boden, in graubraune Mäntel gewickelt oder auf der Suche nach Wärme an ihre Nachbarn gedrängt. Kranke lagerten am Altar, weil sie dort am meisten von der Heiligkeit des Ortes profitieren konnten. Am gegenüber liegenden Ende führte eine Treppe in den oberen Stock hinauf, wo sich die Kammern für adelige Besucher befanden, in denen zurzeit der Graf von Shiring mit einem Teil seiner Familie wohnte.
Der Mönch beugte sich über Gwenda, um die Lampe über ihrem Kopf zu entzünden. Dabei schaute er ihr in die Augen und lächelte. Gwenda musterte sein Gesicht im flackernden Schein der Flamme und erkannte ihn als Bruder Godwyn. Er war jung und gut aussehend, und am vergangenen Abend hatte er freundlich mit Philemon gesprochen.
Neben Gwenda war eine andere Familie aus ihrem Dorf: Samuel, ein wohlhabender Bauer mit großem Landbesitz, sowie seine Frau und seine beiden Söhne. Der jüngere, Wulfric, war ein sechsjähriger Lausebengel, der es für das Lustigste auf der Welt hielt, mit Eicheln nach Mädchen zu werfen und dann schnell wegzurennen.
Gwendas Familie war arm. Ihr Vater besaß kein Land; er verdingte sich bei jedem als Arbeiter, der ihn bezahlen wollte. Im Sommer gab es immer Arbeit, doch nach der Ernte, wenn die kalte Jahreszeit begann, litt die Familie oft Hunger.
Deshalb musste Gwenda stehlen.
Sie stellte sich vor, wie es wäre, geschnappt zu werden: eine grobe Männerhand, die sie am Arm packte und unbarmherzig festhielt, während sie sich hilflos wand; eine tiefe, grausame Stimme, die sagte: »Sieh an, eine kleine Diebin«; dann die Pein und die Demütigung der Auspeitschung und schließlich, am allerschlimmsten, der Schmerz und das Entsetzen, wenn man ihr die Hand abhackte.
Gwendas Vater hatte diese Strafe bereits erdulden müssen. Sein linker Arm endete in einem hässlichen, verschrumpelten Stumpf. Zwar kam er mit einer Hand recht gut zurecht; er konnte mit der Schaufel arbeiten, ein Pferd satteln und sogar ein Netz knüpfen, um Vögel zu fangen. Trotzdem wurde er im Frühling stets als letzter Tagelöhner eingestellt und im Herbst als erster wieder entlassen. Und das Dorf verlassen und sich anderswo Arbeit suchen, das konnte er nicht, denn die fehlende Hand brandmarkte ihn als Dieb, sodass ihn niemand in Lohn und Brot nehmen würde. Wenn er unterwegs war, band er sich einen ausgestopften Handschuh an den Stumpf, damit ihm nicht gleich jeder Fremde aus dem Weg ging; doch die Menschen ließen sich nie lange von diesem Schwindel täuschen.
Gwenda hatte die Bestrafung ihres Vaters nicht mit eigenen Augen gesehen - da war sie noch nicht auf der Welt gewesen -, aber sie hatte es sich oft vorgestellt, und nun konnte sie nicht anders, als sich immer wieder auszumalen, wie ihr das gleiche Schicksal widerfuhr. Vor ihrem geistigen Auge sah sie bereits die Axt auf ihr Handgelenk niedersausen, sah, wie sie Fleisch und Knochen durchdrang und ihr die Hand vom Arm trennte, sodass sie nie wieder angenäht werden konnte. Sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu schreien.
Die Leute standen auf, streckten sich, gähnten und rieben sich die Gesichter. Auch Gwenda erhob sich und schüttelte ihre Kleider aus. Alles, was sie am Leibe trug, hatte zuvor ihrem älteren Bruder gehört: das wollene Hemd, das ihr bis zu den Knien reichte, und der Kittel, der an der Hüfte mit einem Hanfseil zusammengebunden war. Ihre Schuhe hatten einst Schnürsenkel gehabt, doch die Löcher waren gerissen, die Senkel verschwunden, und so band Gwenda sich die Schuhe mit geflochtenem Stroh fest. Als sie schließlich ihr Haar unter eine Kappe aus Eichhörnchenschwänzen geschoben hatte, war sie fertig angezogen.
Gwenda schaute zu ihrem Vater; dieser deutete unauffällig zu einer Familie auf der anderen Seite, einem Paar mittleren Alters mit zwei Söhnen, nur wenig älter als Gwenda. Der Mann war klein und schmächtig, mit lockigem rotem Bart. Er schnallte sich ein Schwert um, was erkennen ließ, dass er Soldat oder Ritter war, denn gewöhnlichen Leuten war es nicht gestattet, Schwerter zu tragen. Sein Weib war eine dünne Frau, schroff und herrisch und mit mürrischem Gesicht. Während Gwenda sie musterte, nickte Bruder Godwyn respektvoll und sagte: »Guten Morgen, Sir Gerald, Lady Maud.«
Nun sah Gwenda auch, was die Aufmerksamkeit ihres Vaters erregt hatte. Sir Gerald trug am Gürtel eine Börse, die an einem Lederriemen hing. Die Börse war prall gefüllt. Sie sah aus, als enthielte sie mehrere Hundert kleine, dünne Silberpennys, Halfpennys und Farthings, die Währung in England. Das war so viel Geld, wie Gwendas Pa in einem Jahr verdiente - falls er denn Arbeit fand. In jedem Fall wäre das mehr als genug, um die Familie bis zur Aussaat im Frühling zu ernähren. Vielleicht enthielt die Börse sogar Goldmünzen aus fremden Ländern, Florine aus Florenz zum Beispiel oder Dukaten aus Venedig.
Gwenda trug ein kleines Messer in einer Holzscheide an einer Kordel um ihren Hals. Die scharfe Klinge würde das Lederband rasch durchtrennen, sodass die Börse in ihre kleine Hand fallen konnte ... es sei denn, Sir Gerald spürte etwas und packte sie, bevor sie die Beute in Sicherheit bringen konnte.
Godwyn hob die Stimme, um sich über das Gemurmel im Hospital hinweg verständlich zu machen. »Um der Liebe Christi willen, der uns Mildtätigkeit lehrt, wird nach dem Hochamt an Allerheiligen ein Frühstück ausgegeben«, verkündete er. »Bis dahin gibt es klares Trinkwasser aus dem Brunnen im Hof. Und vergesst nicht, die Latrinen draußen zu benutzen. Hier drinnen wird nicht gepisst!«
Die Mönche und Nonnen waren sehr streng, was Reinlichkeit betraf. Vergangene Nacht hatte Bruder Godwyn einen sechsjährigen Jungen dabei erwischt, wie er in eine Ecke gepinkelt hatte, und daraufhin die gesamte Familie vor die Tür gesetzt. Weil sie keinen Penny gehabt hatten, um in einem Gasthaus unterzukommen, hatten sie die kalte Oktobernacht zitternd auf dem Steinboden im nördlichen Vorbau der Kathedrale verbringen müssen. Auch Tiere waren verboten. Hop, Gwendas dreibeiniger Hund, war ebenfalls vor die Tür gesetzt worden. Sie fragte sich, wo er wohl genächtigt hatte.
Als alle Lampen entzündet waren, öffnete Godwyn die große Holztür nach draußen. Die Nachtluft brannte in Gwendas Ohren und auf ihrer Nasenspitze. Die Gäste, die über Nacht geblieben waren, zogen die Mäntel um die Schultern und schlurften hinaus. Als Sir Gerald und seine Familie sich in Bewegung setzten, reihten Ma und Pa sich hinter ihnen ein, und Gwenda und Philemon folgten ihnen auf dem Fuß.
Bis jetzt hatte zumeist Philemon das Stehlen übernommen, doch gestern war er auf dem Markt von Kingsbridge beinahe gefasst worden. Er hatte einen kleinen Krug mit kostbarem Öl vom Stand eines italienischen Händlers stibitzt, das gute Stück jedoch zu Boden fallen lassen, sodass jeder ihn gesehen hatte. Zum Glück war der Krug nicht zerbrochen, doch Philemon hatte so tun müssen, als hätte er ihn aus Versehen von dem Stand heruntergestoßen.
Und noch etwas setzte Philemons Diebeskarriere ein Ende: Bis vor Kurzem war er klein und unscheinbar gewesen, wie Gwenda, doch im letzten Jahr war er mehrere Zoll gewachsen; seine Stimme war tief geworden und seine Bewegungen unbeholfen, als könne er sich nicht an seinen neuen, größeren Körper gewöhnen. Vergangenen Abend, nach dem Vorfall mit dem Ölkrug, hatte Papa verkündet, Philemon sei nun zu groß für ernsthafte Diebereien; daher fiele diese Aufgabe fortan Gwenda zu.
Das war auch der Grund, weshalb sie fast die ganze Nacht wach gelegen hatte.
Nun gingen sie durch die Tür und sahen zwei Reihen zitternder Nonnen, die Fackeln in die Höhe hielten, um den Weg vom Hospital zum großen Westportal der Kathedrale von Kingsbridge zu erleuchten. Schatten flackerten am Rande des Fackelscheins. Es sah aus, als tollten die Geister und Kobolde der Nacht dicht außerhalb des Sichtfeldes umher und nur die Frömmigkeit der Nonnen hielte sie vom Näherkommen ab.
Gwenda rechnete damit, dass Hop draußen auf sie wartete, doch der Hund war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte er ja einen warmen Schlafplatz gefunden. Während sie zur Kirche gingen, achtete Pa sorgsam darauf, dass sie stets ganz in der Nähe von Sir Gerald blieben. Gwenda quiekte, als jemand von hinten schmerzhaft an ihrem Haar zerrte. Wenn das nicht so ein vermaledeiter Kobold gewesen war! Doch als sie sich umdrehte, sah sie Wulfric, den sechsjährigen Plagegeist aus der Nachbarschaft. Lachend sprang er aus ihrer Reichweite - geradewegs in die Arme seines Vaters. Der knurrte: »Benimm dich!«, und gab ihm eine Kopfnuss, worauf Wulfric in Tränen ausbrach.
Die Kathedrale war ein gestaltloser Koloss, der düster und gewaltig über der dicht gedrängten Menschenmenge aufragte und von dem sich nur die unteren Teile deutlich erkennen ließen: Bögen und Mittelpfosten wurden durch das unstete Fackellicht in Orange und Rot getaucht. Die Prozession wurde langsamer, als sie sich dem Eingang des Gotteshauses näherte, und Gwenda konnte eine Gruppe von Stadtbewohnern ausmachen, die aus der anderen Richtung kam; es waren Hunderte, vielleicht sogar Tausende, schätzte Gwenda... obwohl sie nicht sicher war, denn sie konnte gerade mal bis zehn zählen.
Die Menschenmenge schob sich durch die Vorhalle. Das unstete Fackellicht fiel auf die Statuen an den Gewänden und ließ sie einen zuckenden Tanz aufführen. In den unteren Zonen gab es finstere Dämonen und schreckliche Untiere. Gwenda sah Drachen und Greife, einen Bären mit Menschenkopf und sogar einen Hund mit zwei Leibern, jedoch nur einer Schnauze. Sie riss die Augen auf und schluckte, so schrecklich war das alles anzuschauen. Da gab es Bestien, die mit Menschen kämpften; sogar einen Teufel, der einem Mann eine Schlinge um den Hals legte; daneben waren ein fuchsartiges Untier, das eine Frau an den Haaren zog, und ein Adler, der mit den Klauen einen nackten Mann aufspießte. Über diesen gottlosen Kreaturen standen die Heiligen unter schützenden Baldachinen. Darüber wiederum thronten die Apostel. Dann, in dem Bogenfeld gleich über der Tür, stand der heilige Petrus mit seinem Schlüssel, und der heilige Paulus mit einer Schriftrolle in der Hand schaute betend zu Jesus hinauf.
Gwenda wusste, dass Jesus die Menschen lehrte, nicht zu sündigen, und dass Sünder von Dämonen gepeinigt wurden, doch Menschen machten ihr mehr Angst als Dämonen. Wenn es ihr nicht gelang, Sir Geralds Börse zu stehlen, würde Pa sie verprügeln. Und schlimmer noch: Dann hätte ihre Familie nichts zu essen außer Suppe mit Eicheln. Gwenda und Philemon müssten wochenlang hungern. Mas Brüste würden austrocknen, und das neue Baby würde genauso sterben wie die beiden davor. Pa würde tagelang verschwinden, und wenn er zurückkam, hätte er nicht mehr dabei als einen dürren Reiher oder ein paar Eichhörnchen. Hungrig zu sein war schlimmer, als verprügelt zu werden. Es tat länger weh.
Gwenda hatte das Stehlen erlernt, kaum dass sie laufen konnte: einen Apfel von einem Stand, ein frisch gelegtes Ei von der Henne des Nachbarn, ein arglos von einem Säufer liegen gelassenes Messer in einer Schänke. Aber Geld zu entwenden war etwas anderes. Wenn man sie dabei erwischte, wie sie Sir Gerald seine Börse stibitzte, würde es ihr nichts nützen, in bittere Tränen auszubrechen und darauf zu hoffen, dass man Gnade vor Recht ergehen ließ wie damals, als sie der weichherzigen Nonne die hübschen Lederschuhe gestohlen hatte. Die Börse eines Ritters zu schneiden war keine lässliche Kindersünde; es war ein Erwachsenenverbrechen, und dementsprechend würde man sie bestrafen.
Gwenda versuchte, nicht darüber nachzudenken. Sie war klein, geschickt und flink, und sie würde sich die Börse so schnell und lautlos schnappen wie ein Geist ... vorausgesetzt, sie konnte ihr Zittern im Zaum halten.
Die Kirche war bereits voller Menschen. In den Seitenschiffen hielten kapuzenverhüllte Mönche Fackeln, die ein unstetes rotes Licht verbreiteten. Die hohen Säulen des Hauptschiffs verschwanden in der Dunkelheit des mächtigen Gewölbes. Gwenda hielt sich dicht bei Sir Gerald, als die Menschenmenge in Richtung Altar drängte. Der rotbärtige Ritter und seine dünne Frau bemerkten Gwenda nicht, und ihre beiden Söhne schenkten ihr ebenso wenig Beachtung wie den Kathedralenwänden. Gwendas Familie ließ sich zurückfallen, und das Mädchen verlor sie aus dem Blick.
Das Hauptschiff füllte sich nun rasch. Gwenda hatte noch nie so viele Menschen an einem Ort gesehen: Hier ging es geschäftiger zu als am Markttag auf dem grasbewachsenen Kathedralenvorplatz. Fröhlich begrüßten die Menschen einander. Im Gotteshaus fühlten sie sich vor bösen Geistern sicher. Ihre Stimmen hallten gespenstisch in dem riesigen Kircheninnern wider und schienen aus allen Richtungen zugleich zu kommen.
Dann läutete die Glocke, und die Menge verstummte.
Sir Gerald stand bei einer Familie aus der Stadt. Die Leute trugen Mäntel aus feinem Stoff; vermutlich waren sie reiche Wollhändler. Neben dem Ritter stand ein Mädchen von ungefähr zehn Jahren. Gwenda schob sich hinter die beiden, wobei sie versuchte, so unauffällig wie möglich zu sein, doch zu ihrem Entsetzen schaute das Mädchen sie plötzlich an und lächelte beruhigend, als wollte es sagen: Hab keine Angst!
Am Rand der Menge löschten die Mönche ihre Fackeln, eine nach der anderen, bis das Innere der Kirche in völlige Dunkelheit getaucht war.
Gwenda atmete auf, fragte sich jedoch, ob das reiche Mädchen sich später an sie erinnern würde. Das Mädchen hatte sie nicht bloß flüchtig gemustert, wie die meisten Menschen; sie hatte Gwenda in die Augen geschaut, hatte erkannt, dass sie sich fürchtete, und sie freundlich angelächelt. Doch es waren Hunderte von Kindern in der Kathedrale, und in dem trüben Licht konnte das Mädchen sich unmöglich Gwendas Gesichtszüge eingeprägt haben ... oder? Gwenda versuchte, diesen beängstigenden Gedanken zu verdrängen.
Unsichtbar in der Dunkelheit schob sie sich vor und schlüpfte geräuschlos zwischen die beiden Gestalten. Sie spürte die weiche Wolle des Mädchenmantels auf der einen Seite und den steiferen Stoff des alten Waffenrocks, den der Ritter trug, auf der anderen. Jetzt musste sie nur noch den Armausstrecken, ein rascher Schnitt - und die Börse gehörte ihr.
Gwenda griff an ihr Halsband und zog das kleine Messer aus der Scheide.
In die Stille hinein erklang ein fürchterlicher Schrei. Gwenda hatte damit gerechnet - Mama hatte ihr erklärt, was während des Gottesdienstes so alles vor sich ging -, trotzdem erschrak sie bis ins Mark. Es klang, als würde jemand gefoltert.
Dann ertönte ein hartes Trommeln, als schlüge jemand auf eine Metallplatte. Weitere Geräusche folgten: schrilles Heulen, irres Lachen, ein Jagdhorn, Rasseln, Tierstimmen, eine zersprungene Glocke. In der Gemeinde begann ein Kind zu plärren; andere fielen ein. Ein paar Erwachsene lachten nervös. Sie wussten, dass die Mönche diese Geräusche machten, doch es war eine höllische Kakophonie.
Jetzt ist nicht der geeignete Augenblick, um sich die Börse zu schnappen, dachte Gwenda ängstlich. Alle waren angespannt und wachsam. Der Ritter würde jede noch so leichte Berührung bemerken.
Der teuflische Lärm wurde lauter. Dann kam ein neues Geräusch hinzu: Musik. Zuerst war sie so leise, dass Gwenda nicht sicher war, ob sie die Klänge wirklich hörte, doch nach und nach wurden sie lauter: Die Nonnen sangen. Gwenda spürte, wie Spannung sie erfasste.
Und dann war es so weit. Gwenda bewegte sich so lautlos wie ein Schatten und so leicht wie die Luft, als sie sich Sir Gerald zuwandte. Sie wusste genau, was er trug: eine dicke Wollrobe, an der Hüfte von einem breiten, metallbeschlagenen Gürtel gehalten, an dem seine Börse mit einem Lederband befestigt war. Über der Robe trug er einen bestickten Waffenrock, ein edles, jedoch abgetragenes Stück mit gelben Knöpfen aus Bein. Er hatte ihn hoch zugeknöpft, doch zwei, drei Köpfe standen noch offen - entweder aus Nachlässigkeit oder weil der Weg vom Hospital in die Kirche so kurz gewesen war.
So sanft und vorsichtig sie konnte, legte Gwenda eine schmale Hand auf des Ritters Rock. Sie stellte sich vor, ihre Hand sei eine Spinne, die so leicht und lautlos dahinhuschte, dass Sir Gerald sie unmöglich zu spüren vermochte. Diese Spinnenhand ließ Gwenda nun vorn über den Rock huschen, dann unter den Rocksaum und an dem schweren Gürtel entlang, bis sie die Börse ertastete.
Der Höllenlärm verebbte, während die Musik immer lauter erschallte. In den vorderen Reihen erhob sich ehrfürchtiges Raunen. Gwenda konnte nichts sehen, aber sie wusste, dass auf dem Altar eine Lampe entzündet worden war, die eine Reliquie beleuchtete: einen prachtvoll beschnitzten Kasten aus Ebenholz und Gold, in dem sich die Gebeine des heiligen Adolphus befanden. Als vorhin das Licht in der Kirche erlosch, war der Kasten noch nicht da gewesen, doch nun - o Wunder! - stand er dort. Die Menge drängte nach vorn; alle wollten der heiligen Reliquie nahe sein. Als Gwenda zwischen Sir Gerald und dem Mann vor ihm eingequetscht wurde, hob sie die rechte Hand und setzte die Messerklinge ans Band der Börse.
Das Leder war zäh, und mit dem ersten Streich gelang es ihr nicht, das Band durchzuschneiden. Sie sägte nach Leibeskräften und hoffte verzweifelt, Sir Gerald möge von der Szene am Altar so sehr gefesselt sein, dass er nicht bemerkte, was direkt vor seiner Nase geschah. Gwenda hob kurz den Blick und sah voller Schrecken, dass sie wieder die Umrisse der Menschen erkennen konnte: Die Mönche und Nonnen zündeten Kerzen an. Jeden Augenblick würde es deutlich heller werden!
Gwenda riss kräftig an dem Messer und spürte, wie das Band nachgab. Sir Gerald knurrte leise. Hatte er etwas gespürt, oder war es eine Reaktion auf das Spektakel am Altar? Die Börse fiel und landete in Gwendas Hand, war aber zu groß, als dass das Mädchen sie hätte fangen können, und drohte ihren Fingern zu entgleiten. Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete Gwenda, sie fallen zu lassen und inmitten der Menschenmenge auf dem Boden zu verlieren; dann bekam sie den Beutel zu fassen und hielt ihn fest.
Erleichterung durchströmte Gwenda wie eine Welle.
Doch noch immer schwebte sie in großer Gefahr. Ihr Herz schlug so laut, dass sie glaubte, jeder müsse es hören. Rasch drehte sie sich um, sodass sie dem Ritter den Rücken zukehrte. Noch in der Bewegung stopfte sie die Börse vorne in ihren Kittel, wo der schwere Lederbeutel jedoch eine verdächtige Wölbung bildete, die ihr über den Gürtel hing wie der Bauch eines alten Mannes. Gwenda schob die Börse zur Seite, wo sie sie wenigstens teilweise mit dem Arm verdecken konnte. Zwar wäre sie da noch immer zu sehen, wenn das Licht heller wurde, doch es gab keinen besseren Platz, um sie zu verstecken.
Gwenda schob das Messer wieder in die Scheide. Jetzt musste sie rasch verschwinden, ehe Sir Gerald seinen Verlust bemerkte. Doch das Gedränge der Gläubigen, das ihr eben noch geholfen hatte, die Börse unbemerkt an sich zu nehmen, hinderte sie nun an der Flucht. Sie versuchte, rückwärtszugehen und sich zwischen den Leibern hindurchzuzwängen, doch noch immer zog es die Leute nach vorn, so begierig waren sie, einen Blick auf die Gebeine des Heiligen zu werfen. Gwenda saß in der Falle. Sie konnte sich nicht bewegen, stand noch immer genau vor dem Mann, den sie bestohlen hatte.
Eine Stimme sagte ihr ins Ohr: »Alles in Ordnung?«
Es war das reiche Mädchen. Gwenda kämpfte gegen die aufkeimende Panik an. Sie musste unsichtbar sein. Ein hilfsbereites, älteres Kind konnte sie jetzt am allerwenigsten gebrauchen. Sie schwieg. »Seid vorsichtig«, sagte das Mädchen zu den Leuten um sie herum. »Ihr zerquetscht ja das arme kleine Ding!«
Gwenda hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Die Fürsorglichkeit des Mädchens würde noch dazu führen, dass man ihr die Hand abhackte!
In dem verzweifelten Versuch davonzukommen drückte sie dem Mann vor sich die Hände ins Kreuz und stieß sich nach hinten ab. Doch das brachte ihr lediglich die Aufmerksamkeit Sir Geralds ein.
»Oh, du armes Ding! Du kannst nichts sehen, weil du so klein bist, nicht wahr?«, sagte der Bestohlene mit freundlicher Stimme, und zu Gwendas Entsetzen packte er sie unter den Armen und hob sie hoch.
Sie war hilflos. Sir Geralds große Hand in ihrer Achselhöhle war nur zwei Fingerbreit von der Börse entfernt. Gwenda drehte sich nach vorne, sodass er nur ihren Hinterkopf sehen konnte, und schaute über die Menge hinweg zum Altar, wo die Mönche und Nonnen weitere Kerzen entzündeten und zu Ehren des Heiligen fromme Lieder sangen. Hinter ihnen drang ein schwacher Lichtschein durch das große Rosettenfenster an der Ostfassade: Der Morgen brach an und jagte die bösen Geister davon. Der dämonische Lärm war nun gänzlich verstummt, und der Gesang schwoll noch immer an. Ein großer, gut aussehender Mönch trat an den Altar. Gwenda erkannte ihn als Anthony, den Prior von Kingsbridge. Er hob die Hände zum Segen und sagte laut: »Und wieder einmal wurden das Böse und die Dunkelheit dieser Welt durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Harmonie und das Licht von Gottes heiliger Kirche verbannt.«
»Amen!«, dröhnte es durch die Kathedrale, und alle schlugen das Kreuzzeichen, womit die Zeremonie endete.
Gwenda wand sich im Griff des Ritters, und Sir Gerald verstand und setzte sie ab. Das Gesicht noch immer von ihm abgewandt, schob Gwenda sich an ihm vorbei und hielt auf den hinteren Teil der Menge zu. Die Menschen drängten jetzt nicht mehr zum Altar, und so konnte Gwenda sich zwischen ihnen hindurchzwängen. Je weiter sie nach hinten kam, desto leichter wurde es für sie, bis sie sich schließlich am großen Westportal wiederfand, wo ihre Familie bereits auf sie und die Beute wartete.
Pa schaute sie erwartungsvoll an, bereit, wütend zu werden, sollte sie versagt haben. Gwenda holte die Börse aus ihrem Hemd und warf sie ihm zu; sie war froh, das Ding loszuwerden. Pa fing die Börse auf, drehte sich ein wenig zur Seite und warf einen verstohlenen Blick hinein. Gwenda sah ihn grinsen. Dann reichte er die Börse an Ma weiter, die sie rasch in den Falten der Decke verschwinden ließ, die sie um das Baby gewickelt hatte.
Das Martyrium war vorbei, die Gefahr jedoch nicht. »Ein Mädchen hat mich bemerkt«, berichtete Gwenda und hörte die schrille Angst in ihrer Stimme.
Zorn loderte in Pas kleinen, dunklen Augen auf. »Hat dieses Mädchen gesehen, was du getan hast?«
»Nein, aber sie hat zu den Leuten gesagt, sie sollten mich nicht totquetschen, und da hat der Ritter mich hochgehoben, damit ich besser sehen kann.« Ma stieß ein leises Stöhnen aus.
Pa sagte: »Dann hat er dein Gesicht gesehen?«
»Ich habe versucht, es von ihm wegzudrehen.«
»Trotzdem ist es besser, wenn er dir nicht noch mal über den Weg läuft«, sagte Pa. »Wir gehen nicht mehr ins Hospital zurück. Wir frühstücken in einer Schänke.«
Ma sagte: »Wir können uns nicht den ganzen Tag verstecken.«
»Nein, aber wir können in der Menge untertauchen.«
Gwenda atmete ein wenig auf. Offenbar hielt Pa die Situation nicht für gar so gefährlich. Gwenda war froh, dass nun er wieder das Kommando übernahm und sie von der Verantwortung befreite.
»Außerdem«, fuhr Pa fort, »habe ich den wässrigen Brei der Mönche satt. Ich will Brot und Fleisch. Jetzt können wir's uns leisten!«
Sie traten aus der Kirche hinaus in die Morgendämmerung. Der Himmel war perlgrau. Gwenda wollte Mas Hand halten, aber das Baby fing zu schreien an, und Ma war abgelenkt. Dann erblickte Gwenda einen kleinen, dreibeinigen Hund mit schwarzem Gesicht, der mit vertrautem Humpeln auf den Kathedralenplatz lief. »Hop!«, rief Gwenda, hob ihn hoch und drückte ihn an sich.
Übersetzung: Rainer Schumacher und Dietmar Schmidt
Copyright © 2008 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Ken Follett
Ken Follett, geboren 1949 in Wales, von Beruf Journalist, wurde mit seinem Thriller 'Die Nadel' weltberühmt. Brillante Erzählkunst verbindet sich in seinen Büchern mit fundierter Sachkenntnis. 2013 wurde er mit dem Edgar Award ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ken Follett
- Altersempfehlung: 16 - 99 Jahre
- 2012, 1344 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Schumacher, Rainer; Schmidt, Dietmar
- Übersetzer: Rainer Schumacher, Dietmar Schmidt
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404167899
- ISBN-13: 9783404167890
- Erscheinungsdatum: 12.10.2012
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