Obendrüber da schneit es
Ein Weihnachts-Familienroman. Der große ZDF-Weihnachtsfilm
In einem Mietshaus herrschen zu Weihnachten Hektik, Ärger und Einsamkeit. Nur ein kleines Mädchen lässt sich den Glauben ans Christkind nicht nehmen und schenkt der Hausgemeinschaft ein Fest voller Hoffnung und Liebe.
Berührender Weihnachtsroman.
Berührender Weihnachtsroman.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Obendrüber da schneit es “
In einem Mietshaus herrschen zu Weihnachten Hektik, Ärger und Einsamkeit. Nur ein kleines Mädchen lässt sich den Glauben ans Christkind nicht nehmen und schenkt der Hausgemeinschaft ein Fest voller Hoffnung und Liebe.
Berührender Weihnachtsroman.
Berührender Weihnachtsroman.
Klappentext zu „Obendrüber da schneit es “
'In einem Mietshaus herrschen zu Weihnachten Hektik, Ärger und Einsamkeit. Nur ein kleines Mädchen lässt sich den Glauben ans Christkind nicht nehmen und schenkt der Hausgemeinschaft ein Fest voller Hoffnung und Liebe.
Lese-Probe zu „Obendrüber da schneit es “
Obendrüber da schneit es von Astrid Ruppert1
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Noch träumt die Frau, und der Tag kennt keinen ihrer Gedanken. Dunkel locken sich ihre Haare auf dem Kopfkissen, das sie im Schlaf zerknäult hat, denn sie schläft so unruhig, als ob sie bis in ihren Schlaf hinein ahnt, dass der Morgen naht. Sie versucht, wieder hinabzutauchen in die Tiefe ihres Traumes. Sie will noch nicht auftauchen. Sie will lieber weiter tauchen.
Immer weiter, immer tiefer. Bis auf den Grund dieses Schlafes will sie sinken und dort bleiben. An einem Ort, wo es nicht zählt, ob es Tag ist oder Nacht. Oder nichts.
Die Tage vor Weihnachten sind die dunkelsten Tage des Jahres, und vor ihrem Fenster wartet der schwarze Morgen zwischen den Häuserzeilen des Straßengeflechts.
Die Augen der Frau sind fest geschlossen, und so kann sie den Sternschnuppenregen der Ursiden nicht sehen, der im Dezemberdunkel des Himmels kurz aufglimmt. Selbst wenn ihr Blick jetzt gerade zum Fenster ginge, sie würde das Leuchten vermutlich für eine Erscheinung halten, die ihre Netzhaut ihr vorgaukelt. Sie würde dem Himmelslicht nichts glauben. Keineswegs würde sie ihm folgen, wie es die Wanderer aus dem Morgenland vor 2000 Jahren getan haben. Sie glaubt nicht mehr an Zeichen und Wunder. Sie glaubt an den Schlaf.
Noch träumt die Frau. Doch bald wird sie aufwachen und in diesem Tag landen wie in einem fremden Element. Sie wird sich fühlen wie ein Fisch, den eine Welle am Strand vergessen hat und dem das Wasser zum Atmen fehlt, bis eine neue Welle ihn wieder mitnimmt in die erlösende Tiefe des Meeres. Sie träumt.
In ihrem Traum ist sie nicht allein.
Der Tag vor Weihnachten kann ein schöner Tag sein, wenn man nicht allein ist. Ein Tag ganz voll von etwas. Voller Erwartung und geschäftiger Vorbereitung. Wenn noch furchtbar viel zu tun ist, wenn sich schon morgens Gänseduft mit dem Aroma von süßem Zimt und dem harzigen Geruch frischen Tannengrüns verbindet, um in wilden Duftstrudeln gemeinsam durch die Lüfte zu schwirren, dann kann einem geradezu schwindelig davon werden.
So voll kann dieser Tag sein. Und so leer, wenn etwas fehlt. Wenn die schönsten Düfte eine erloschene Liebe umwirbeln, genau dann ist man verloren. Wenn es nach Weihnachten riecht, lauert die Einsamkeit im schön geschmückten Zimmer, direkt neben dem Verlust und dem Schmerz und dem Weihnachtsbaum, vor dessen Funkeln man sich fürchtet, weil es alles noch schlimmer macht.
Es ist noch dunkel, und die Straßen sind leer. Hinter den Fenstern gehen die ersten Lichter an. Der Tag beginnt.
Als er aufwachte, war es wie jeden Morgen. Kaum hatte er bemerkt, dass es Tag wurde, mit einem verschwommenen Gefühl, dem das Bewusstsein noch keine Worte verleihen konnte, war der Schmerz schon da. Scharf und unverkennbar, im unteren Rücken. Jeden Morgen wurde er beim Aufwachen von ihm begrüßt. Wortlos wie sein eigenes Erwachen, aber keineswegs so verschwommen. Er hatte die Augen noch nicht geöffnet, sah noch nicht, dass es draußen allmählich dämmerte, da spürte er schon seinen alten, schmerzenden Körper. Manchmal wachte er auch davon auf, dass sein Ischias mit einer scharfen Spitze bis ins Bein strahlte. Als ob die Schärfe des Schmerzes für alles herhalten müsste, was sein Alter verwischte. Er hatte sich im Schlaf wieder auf die Seite gedreht, dann war es immer besonders schlimm. Selbst sein eigenes, mageres Körpergewicht machte seinen Knochen zu schaffen. Er versuchte erst gar nicht die Augen zu öffnen, er tastete sich gleich mit einem Arm bis an den Bettrand und stieß sich nach hinten ab, sodass er ächzend auf dem Rücken zu liegen kam. Das war das Einzige, was immer half. Mühsam sortierte er seine Gliedmaßen. So würde er eine Weile liegen bleiben müssen, und dann konnte er langsam ans Aufstehen denken. Jeden Morgen das Gleiche. Jeden Morgen ärgerte er sich, dass er nicht mehr einfach die Beine aus dem Bett schwingen konnte wie früher. Dass er warten musste, bis seine Knochen sich bequemten, auf ihn zu hören. Er öffnete die Augen und starrte an die Decke, die im kalten Dämmerlicht des Winter- morgens grau und reglos zurückstarrte. Irgendwann würde der Schmerz schwächer werden, und er würde das Bett verlassen können. Doch der Ärger blieb den ganzen Tag.
Miriam schaute auf die leere Teetasse, die sie in der Hand hielt. Das Porzellan fühlte sich schon ganz kalt an. Wahrscheinlich hatte sie eine ganze Weile einfach so dagesessen und es wieder einmal gar nicht bemerkt. Kleine Abwesenheit. Das passierte ihr ständig. Dabei hatte sie heute wirklich keine Zeit, abwesend zu sein und einfach nur so herumzusitzen. Sie musste noch so viel erledigen, furchtbar viel erledigen, und dabei so tun, als wäre alles in Ordnung. Als wäre es ganz toll, dass heute der Tag vor Weihnachten war. Und als wäre sie glücklich und geschäftig, und als gäbe es nichts Schöneres in ihrem Leben als diesen glücklichen und geschäftigen Tag. Sie könnte es aber auch genauso gut lassen.
Sie könnte einfach in der Küche sitzen bleiben, ihre Tasse erneut mit heißem Tee füllen und sich daran wärmen. Das würde ihr vollkommen genügen. Das heiße Porzellan in ihrer Hand zu halten und zu spüren, wie es allmählich abkühlte zu einem nichtssagenden Lauwarm. Das wäre gar nicht unangenehm. Manchmal sehnte sie sich richtiggehend nach lauwarm. Aber irgendwann läge die Tasse kalt wie Stein in ihrer Hand, und die Kälte würde durch ihren Körper bis zum Herzen ziehen. Vielleicht wäre aber auch das gar nicht unangenehm.
Heiß oder kalt, Miriam wusste nicht mehr, was gut für sie war. Sie hatte es einmal gewusst, sehr gut sogar, aber seit einigen Monaten hatte sie es vergessen. Manchmal glaubte sie schier zu verglühen an all der brennenden Verzweiflung, die in ihr tobte. Doch wenn sie dann ihre Stirn an das kühle Fensterglas legte, fror sie plötzlich so sehr, dass sie das Gefühl hatte, nichts und niemand auf der Welt könnte sie jemals wieder wärmen. Das stimmte nicht ganz. Sie wusste genau, wer sie wärmen könnte. Aber sie wusste auch, er würde es nie wieder tun.
Miriam erhob sich, um die Tasse in die Spüle zu stellen. Sie würde auch diesen Tag überstehen. Sie hatte vorgestern überstanden und gestern. Gestern war gestern. Heute war heute. Heute war jetzt. Und jetzt war es an der Zeit, die Tasse abzustellen und geschäftig und glücklich zu sein. Was danach kam, darum würde sie sich danach kümmern.
Als sie zu den Briefkästen gehen wollte, um nach Post zu schauen, hörte sie, wie der Alte von oben die Treppe herunterschlurfte. Es war geradezu unverschämt, wie griesgrämig er durch seine missmutigen Falten vor sich hin starrte. Wenn sie ihm jetzt schon am Morgen begegnete, würde sie den halben Tag wieder schlechte Laune haben. Ihre Laune war sowieso nicht sehr stabil. Aber wenigstens strengte sie sich an. Im Gegensatz zu diesem Griesgram da draußen. Als sie ihm nach ihrem Einzug vor einigen Wochen mit Julchen im Treppenhaus begegnet war, hatte sie versucht, sich kurz vorzustellen. Guten Tag, wir wohnen jetzt hier, auf gute Nachbarschaft, was man eben so sagt. Na, hoffentlich, hatte er gebrummt, das hatte ihr für den Rest des Tages die Stimmung verdorben. Eigentlich hatte sie gehofft, dass sie die Nachbarn schnell kennen- lernen würden, damit Julchen immer wusste, wo sie im Notfall mal klingeln könnte. Aber an seine Tür würde Julchen bestimmt niemals freiwillig klopfen. »Dann eben nicht!«, hatte sie ihm hinterher gemurmelt. »Dieser Herr Griesgram wird wahrscheinlich nicht unser bester Freund in diesem Haus! Aber es gibt ja noch andere Nachbarn ...« Sie hoffte so, dass sie sich hier wohlfühlten. Sie mussten es schön haben hier. Sie mussten es einfach schön haben. Es war so wichtig für sie und Julchen, ein neues, schönes Zuhause zu haben. Sie hatte es sich ja wirklich nicht ausgesucht, den Umzug nicht, und alles andere auch nicht. Aber sie war gar nicht gefragt worden. Es war einfach so passiert. Es hatte mit ein paar Worten angefangen, von denen sie gedacht hatte, sie würde sie niemals hören, und doch hatte Miriam sie hören müssen. Wort für Wort hatte sie ihm zuhören müssen, während sie immer noch gehofft hatte, das wäre alles ein Witz oder ein Traum, und gleich wäre alles wieder gut. Aber es wurde nicht wieder gut. Es hatte diese Worte gegeben, und dann war das Leben, das sie geführt hatte, vorbei. Jetzt war sie alleine. Eine dieser alleinerziehenden Mütter, zu denen sie nie hatte gehören wollen. Die sie, wenn sie ehrlich war, immer ein bisschen bemitleidet hatte. Sie lehnte den Kopf an den Türrahmen und hörte, wie die Schritte des alten Mannes langsam an ihrer Tür vorbeischlurften. Sie hatte sich vorgenommen, nie zu schlurfen. Sie hatte sich vorgenommen, sich immer zusammenzureißen und es zu schaffen.
Der Briefkasten war voll. Beim Hinaufgehen blätterte sie einen kleinen Weihnachtskatalog durch, der sich anscheinend ein paar Wochen verspätet hatte. Das Schönste zum Fest. Für die ganze Familie. Für die ganze glückliche Familie unterm Tannenbaum. Apfel, Nuss und Mandelkern. Ein kleines Mädchen mit glänzenden Augen in einem dunkelroten Samtkleid. Eine hübsche Mama, die die Kerzen anzündet. Ein lächelnder Papa. Sie schluckte. Da war wieder dieses Beben in der Magengrube. Konnte das nicht einfach mal aufhören? Sie ging langsam die Treppe nach oben. Sie sollte das Heft zuklappen, das wusste sie, sie sollte es zuklappen und in den Müll werfen, aber stattdessen blätterte sie auch noch um auf die nächste Seite. Auf dieser Seite saß die Mama im rot karierten Flanellschlafanzug mit gemütlich angezogenen Beinen auf dem Sofa und schaute ihren Kindern beim Spielen zu, während der Papa gerade das Frühstück machte. Alle lächelten, die Wangen so rot wie die Äpfel im Korb, die Augen so hell wie die Kerzen am Baum. Alle waren glücklich.
Der gut aussehende Model-Papa hatte sich auch nicht in seine blonde Assistentin verliebt, mit der er Weihnachten in New York verbringt, Eisbahn, Rockefeller Center, Weihnachtslichter überall. Der Model-Papa war zu Hause und machte seiner glücklichen Familie Frühstück.
Das Gefühl in ihrem Magen schoss in Wellen durch ihren ganzen Körper. Fast so, als müsste sie sich übergeben. Wie soll ich das bloß überstehen?, dachte Miriam.
Weihnachten. Ihr Herz raste, und es schnürte ihr den Hals zu. Sie schloss die Augen und lehnte sich an die Wand. Sie sah die Äpfel glänzen und roch das glückliche Tannengrün aus dem Katalog heraus. Wie soll ich das bloß schaffen, dachte sie, wie bloß, wie bloß?, und zwang sich ruhig zu atmen, obwohl das Schluchzen schon im Hals lauerte und herauswollte und ihr die Luft nahm. Jetzt kein Heulkrampf. Bitte. Nur jetzt nicht losschluchzen, dachte sie, während sie spürte, wie die Tränen ihr schon in die Augen stiegen. Weihnachten war doch eine Zumutung in dieser Situation. Fest der Liebe. Fest der Familie. Für alle anderen war es das, nur für sie nicht. Für sie war es ein Fest der gescheiterten Familie, der gescheiterten Liebe, für sie war es ein Fest, das wehtat, wenn man besonders glücklich sein sollte, so verdammt glücklich wie die Familie im Katalog. Von überall her strahlten sie diese glücklichen Familien an. Was für eine gequirlte Scheiße. Sie versuchte tief durchzuatmen. Morgen war Heiligabend, und sie würde es irgendwie schaffen. Sie würde den Tannenbaum schmücken wie immer, mit den roten Schleifen und den Kugeln und all ihrem geliebten Baumschmuck, den sie seit Jahren sammelte, und sie würde lächeln und den Plätzchenteller auffüllen und viel zu viele Geschenke unter den Baum legen, damit die Päckchen unterm Baum sich nicht so verloren fühlten wie sie. Sie putzte sich laut die Nase. Vielleicht würde es ja auch noch schneien. Das wäre doch wundervoll. Wenn sie wenigstens Schnee hätten! Weiße Flocken, die vor dem Fenster tanzten. Schnee würde sie bestimmt beruhigen. Vielleicht würde der Schnee ihren Schmerz dämpfen,
© ullstein
Noch träumt die Frau, und der Tag kennt keinen ihrer Gedanken. Dunkel locken sich ihre Haare auf dem Kopfkissen, das sie im Schlaf zerknäult hat, denn sie schläft so unruhig, als ob sie bis in ihren Schlaf hinein ahnt, dass der Morgen naht. Sie versucht, wieder hinabzutauchen in die Tiefe ihres Traumes. Sie will noch nicht auftauchen. Sie will lieber weiter tauchen.
Immer weiter, immer tiefer. Bis auf den Grund dieses Schlafes will sie sinken und dort bleiben. An einem Ort, wo es nicht zählt, ob es Tag ist oder Nacht. Oder nichts.
Die Tage vor Weihnachten sind die dunkelsten Tage des Jahres, und vor ihrem Fenster wartet der schwarze Morgen zwischen den Häuserzeilen des Straßengeflechts.
Die Augen der Frau sind fest geschlossen, und so kann sie den Sternschnuppenregen der Ursiden nicht sehen, der im Dezemberdunkel des Himmels kurz aufglimmt. Selbst wenn ihr Blick jetzt gerade zum Fenster ginge, sie würde das Leuchten vermutlich für eine Erscheinung halten, die ihre Netzhaut ihr vorgaukelt. Sie würde dem Himmelslicht nichts glauben. Keineswegs würde sie ihm folgen, wie es die Wanderer aus dem Morgenland vor 2000 Jahren getan haben. Sie glaubt nicht mehr an Zeichen und Wunder. Sie glaubt an den Schlaf.
Noch träumt die Frau. Doch bald wird sie aufwachen und in diesem Tag landen wie in einem fremden Element. Sie wird sich fühlen wie ein Fisch, den eine Welle am Strand vergessen hat und dem das Wasser zum Atmen fehlt, bis eine neue Welle ihn wieder mitnimmt in die erlösende Tiefe des Meeres. Sie träumt.
In ihrem Traum ist sie nicht allein.
Der Tag vor Weihnachten kann ein schöner Tag sein, wenn man nicht allein ist. Ein Tag ganz voll von etwas. Voller Erwartung und geschäftiger Vorbereitung. Wenn noch furchtbar viel zu tun ist, wenn sich schon morgens Gänseduft mit dem Aroma von süßem Zimt und dem harzigen Geruch frischen Tannengrüns verbindet, um in wilden Duftstrudeln gemeinsam durch die Lüfte zu schwirren, dann kann einem geradezu schwindelig davon werden.
So voll kann dieser Tag sein. Und so leer, wenn etwas fehlt. Wenn die schönsten Düfte eine erloschene Liebe umwirbeln, genau dann ist man verloren. Wenn es nach Weihnachten riecht, lauert die Einsamkeit im schön geschmückten Zimmer, direkt neben dem Verlust und dem Schmerz und dem Weihnachtsbaum, vor dessen Funkeln man sich fürchtet, weil es alles noch schlimmer macht.
Es ist noch dunkel, und die Straßen sind leer. Hinter den Fenstern gehen die ersten Lichter an. Der Tag beginnt.
Als er aufwachte, war es wie jeden Morgen. Kaum hatte er bemerkt, dass es Tag wurde, mit einem verschwommenen Gefühl, dem das Bewusstsein noch keine Worte verleihen konnte, war der Schmerz schon da. Scharf und unverkennbar, im unteren Rücken. Jeden Morgen wurde er beim Aufwachen von ihm begrüßt. Wortlos wie sein eigenes Erwachen, aber keineswegs so verschwommen. Er hatte die Augen noch nicht geöffnet, sah noch nicht, dass es draußen allmählich dämmerte, da spürte er schon seinen alten, schmerzenden Körper. Manchmal wachte er auch davon auf, dass sein Ischias mit einer scharfen Spitze bis ins Bein strahlte. Als ob die Schärfe des Schmerzes für alles herhalten müsste, was sein Alter verwischte. Er hatte sich im Schlaf wieder auf die Seite gedreht, dann war es immer besonders schlimm. Selbst sein eigenes, mageres Körpergewicht machte seinen Knochen zu schaffen. Er versuchte erst gar nicht die Augen zu öffnen, er tastete sich gleich mit einem Arm bis an den Bettrand und stieß sich nach hinten ab, sodass er ächzend auf dem Rücken zu liegen kam. Das war das Einzige, was immer half. Mühsam sortierte er seine Gliedmaßen. So würde er eine Weile liegen bleiben müssen, und dann konnte er langsam ans Aufstehen denken. Jeden Morgen das Gleiche. Jeden Morgen ärgerte er sich, dass er nicht mehr einfach die Beine aus dem Bett schwingen konnte wie früher. Dass er warten musste, bis seine Knochen sich bequemten, auf ihn zu hören. Er öffnete die Augen und starrte an die Decke, die im kalten Dämmerlicht des Winter- morgens grau und reglos zurückstarrte. Irgendwann würde der Schmerz schwächer werden, und er würde das Bett verlassen können. Doch der Ärger blieb den ganzen Tag.
Miriam schaute auf die leere Teetasse, die sie in der Hand hielt. Das Porzellan fühlte sich schon ganz kalt an. Wahrscheinlich hatte sie eine ganze Weile einfach so dagesessen und es wieder einmal gar nicht bemerkt. Kleine Abwesenheit. Das passierte ihr ständig. Dabei hatte sie heute wirklich keine Zeit, abwesend zu sein und einfach nur so herumzusitzen. Sie musste noch so viel erledigen, furchtbar viel erledigen, und dabei so tun, als wäre alles in Ordnung. Als wäre es ganz toll, dass heute der Tag vor Weihnachten war. Und als wäre sie glücklich und geschäftig, und als gäbe es nichts Schöneres in ihrem Leben als diesen glücklichen und geschäftigen Tag. Sie könnte es aber auch genauso gut lassen.
Sie könnte einfach in der Küche sitzen bleiben, ihre Tasse erneut mit heißem Tee füllen und sich daran wärmen. Das würde ihr vollkommen genügen. Das heiße Porzellan in ihrer Hand zu halten und zu spüren, wie es allmählich abkühlte zu einem nichtssagenden Lauwarm. Das wäre gar nicht unangenehm. Manchmal sehnte sie sich richtiggehend nach lauwarm. Aber irgendwann läge die Tasse kalt wie Stein in ihrer Hand, und die Kälte würde durch ihren Körper bis zum Herzen ziehen. Vielleicht wäre aber auch das gar nicht unangenehm.
Heiß oder kalt, Miriam wusste nicht mehr, was gut für sie war. Sie hatte es einmal gewusst, sehr gut sogar, aber seit einigen Monaten hatte sie es vergessen. Manchmal glaubte sie schier zu verglühen an all der brennenden Verzweiflung, die in ihr tobte. Doch wenn sie dann ihre Stirn an das kühle Fensterglas legte, fror sie plötzlich so sehr, dass sie das Gefühl hatte, nichts und niemand auf der Welt könnte sie jemals wieder wärmen. Das stimmte nicht ganz. Sie wusste genau, wer sie wärmen könnte. Aber sie wusste auch, er würde es nie wieder tun.
Miriam erhob sich, um die Tasse in die Spüle zu stellen. Sie würde auch diesen Tag überstehen. Sie hatte vorgestern überstanden und gestern. Gestern war gestern. Heute war heute. Heute war jetzt. Und jetzt war es an der Zeit, die Tasse abzustellen und geschäftig und glücklich zu sein. Was danach kam, darum würde sie sich danach kümmern.
Als sie zu den Briefkästen gehen wollte, um nach Post zu schauen, hörte sie, wie der Alte von oben die Treppe herunterschlurfte. Es war geradezu unverschämt, wie griesgrämig er durch seine missmutigen Falten vor sich hin starrte. Wenn sie ihm jetzt schon am Morgen begegnete, würde sie den halben Tag wieder schlechte Laune haben. Ihre Laune war sowieso nicht sehr stabil. Aber wenigstens strengte sie sich an. Im Gegensatz zu diesem Griesgram da draußen. Als sie ihm nach ihrem Einzug vor einigen Wochen mit Julchen im Treppenhaus begegnet war, hatte sie versucht, sich kurz vorzustellen. Guten Tag, wir wohnen jetzt hier, auf gute Nachbarschaft, was man eben so sagt. Na, hoffentlich, hatte er gebrummt, das hatte ihr für den Rest des Tages die Stimmung verdorben. Eigentlich hatte sie gehofft, dass sie die Nachbarn schnell kennen- lernen würden, damit Julchen immer wusste, wo sie im Notfall mal klingeln könnte. Aber an seine Tür würde Julchen bestimmt niemals freiwillig klopfen. »Dann eben nicht!«, hatte sie ihm hinterher gemurmelt. »Dieser Herr Griesgram wird wahrscheinlich nicht unser bester Freund in diesem Haus! Aber es gibt ja noch andere Nachbarn ...« Sie hoffte so, dass sie sich hier wohlfühlten. Sie mussten es schön haben hier. Sie mussten es einfach schön haben. Es war so wichtig für sie und Julchen, ein neues, schönes Zuhause zu haben. Sie hatte es sich ja wirklich nicht ausgesucht, den Umzug nicht, und alles andere auch nicht. Aber sie war gar nicht gefragt worden. Es war einfach so passiert. Es hatte mit ein paar Worten angefangen, von denen sie gedacht hatte, sie würde sie niemals hören, und doch hatte Miriam sie hören müssen. Wort für Wort hatte sie ihm zuhören müssen, während sie immer noch gehofft hatte, das wäre alles ein Witz oder ein Traum, und gleich wäre alles wieder gut. Aber es wurde nicht wieder gut. Es hatte diese Worte gegeben, und dann war das Leben, das sie geführt hatte, vorbei. Jetzt war sie alleine. Eine dieser alleinerziehenden Mütter, zu denen sie nie hatte gehören wollen. Die sie, wenn sie ehrlich war, immer ein bisschen bemitleidet hatte. Sie lehnte den Kopf an den Türrahmen und hörte, wie die Schritte des alten Mannes langsam an ihrer Tür vorbeischlurften. Sie hatte sich vorgenommen, nie zu schlurfen. Sie hatte sich vorgenommen, sich immer zusammenzureißen und es zu schaffen.
Der Briefkasten war voll. Beim Hinaufgehen blätterte sie einen kleinen Weihnachtskatalog durch, der sich anscheinend ein paar Wochen verspätet hatte. Das Schönste zum Fest. Für die ganze Familie. Für die ganze glückliche Familie unterm Tannenbaum. Apfel, Nuss und Mandelkern. Ein kleines Mädchen mit glänzenden Augen in einem dunkelroten Samtkleid. Eine hübsche Mama, die die Kerzen anzündet. Ein lächelnder Papa. Sie schluckte. Da war wieder dieses Beben in der Magengrube. Konnte das nicht einfach mal aufhören? Sie ging langsam die Treppe nach oben. Sie sollte das Heft zuklappen, das wusste sie, sie sollte es zuklappen und in den Müll werfen, aber stattdessen blätterte sie auch noch um auf die nächste Seite. Auf dieser Seite saß die Mama im rot karierten Flanellschlafanzug mit gemütlich angezogenen Beinen auf dem Sofa und schaute ihren Kindern beim Spielen zu, während der Papa gerade das Frühstück machte. Alle lächelten, die Wangen so rot wie die Äpfel im Korb, die Augen so hell wie die Kerzen am Baum. Alle waren glücklich.
Der gut aussehende Model-Papa hatte sich auch nicht in seine blonde Assistentin verliebt, mit der er Weihnachten in New York verbringt, Eisbahn, Rockefeller Center, Weihnachtslichter überall. Der Model-Papa war zu Hause und machte seiner glücklichen Familie Frühstück.
Das Gefühl in ihrem Magen schoss in Wellen durch ihren ganzen Körper. Fast so, als müsste sie sich übergeben. Wie soll ich das bloß überstehen?, dachte Miriam.
Weihnachten. Ihr Herz raste, und es schnürte ihr den Hals zu. Sie schloss die Augen und lehnte sich an die Wand. Sie sah die Äpfel glänzen und roch das glückliche Tannengrün aus dem Katalog heraus. Wie soll ich das bloß schaffen, dachte sie, wie bloß, wie bloß?, und zwang sich ruhig zu atmen, obwohl das Schluchzen schon im Hals lauerte und herauswollte und ihr die Luft nahm. Jetzt kein Heulkrampf. Bitte. Nur jetzt nicht losschluchzen, dachte sie, während sie spürte, wie die Tränen ihr schon in die Augen stiegen. Weihnachten war doch eine Zumutung in dieser Situation. Fest der Liebe. Fest der Familie. Für alle anderen war es das, nur für sie nicht. Für sie war es ein Fest der gescheiterten Familie, der gescheiterten Liebe, für sie war es ein Fest, das wehtat, wenn man besonders glücklich sein sollte, so verdammt glücklich wie die Familie im Katalog. Von überall her strahlten sie diese glücklichen Familien an. Was für eine gequirlte Scheiße. Sie versuchte tief durchzuatmen. Morgen war Heiligabend, und sie würde es irgendwie schaffen. Sie würde den Tannenbaum schmücken wie immer, mit den roten Schleifen und den Kugeln und all ihrem geliebten Baumschmuck, den sie seit Jahren sammelte, und sie würde lächeln und den Plätzchenteller auffüllen und viel zu viele Geschenke unter den Baum legen, damit die Päckchen unterm Baum sich nicht so verloren fühlten wie sie. Sie putzte sich laut die Nase. Vielleicht würde es ja auch noch schneien. Das wäre doch wundervoll. Wenn sie wenigstens Schnee hätten! Weiße Flocken, die vor dem Fenster tanzten. Schnee würde sie bestimmt beruhigen. Vielleicht würde der Schnee ihren Schmerz dämpfen,
© ullstein
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Autoren-Porträt von Astrid Ruppert
Astrid Ruppert wurde 1964 im Saarland geboren und wuchs in Fulda auf. Nach dem Studium der Anglistik in Canterbury und Marburg begann sie in der Fernsehbranche zu arbeiten. Sie lebt heute mit ihrer Tochter in Wiesbaden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Astrid Ruppert
- 2012, 1. Aufl., 220 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283926
- ISBN-13: 9783548283920
- Erscheinungsdatum: 14.11.2012
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