Spurlos
An der Autobahn in der Nähe einer walisischen Küstenstadt werden mehrere Leichen gefunden. Ohne Köpfe und Hände - und daher zunächst nicht identifizierbar. Inspector Trevor Joseph weiß nicht, ob auch der vermisste Arzt Tim...
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Produktinformationen zu „Spurlos “
An der Autobahn in der Nähe einer walisischen Küstenstadt werden mehrere Leichen gefunden. Ohne Köpfe und Hände - und daher zunächst nicht identifizierbar. Inspector Trevor Joseph weiß nicht, ob auch der vermisste Arzt Tim Sherringham dem brutalen Autobahnmörder zum Opfer fiel. In der Stadt geht derweil das Gerücht, im Theater auf der alten Pier spuke es: Geisterhafte, als Pierrots verkleidete Gestalten werden gesichtet. Doch diese Clowns sind böse.
Lese-Probe zu „Spurlos “
Spurlos von Katherine John Aus dem Englischen von Thomas A. Merk
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Prolog
Die Autobahn war leer. Im wässrig-fahlen Licht des Mondes zog sie sich wie ein mattes, zinnfarbenes Band durch die Landschaft. Gesäumt wurde die Autobahn von einer dichten Hecke, die sie von einer angrenzenden Viehweide abtrennte. Aus dieser dunklen Hecke trat plötzlich eine seltsam gekleidete Gestalt hervor. Sie stellte sich an den Rand der Autobahn und wartete geduldig, bis sich die Scheinwerfer eines Autos näherten. Dann hob sie in einer fast flehentlich anmutenden Geste die Hände, die in weißen Handschuhen steckten. Der Fahrer des herannahenden Wagens sah den Mann und trat auf die Bremse. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich hatte eine Panne mit meinem Wagen. Etwa eine halbe Meile weiter vorn. Könnten Sie mich vielleicht in die Stadt mitnehmen?"Die Stimme, die durch das Seitenfenster hereindrang, klang kultiviert und höflich. „Natürlich. Steigen Sie ein."Der Fahrer hatte Mühe, seine Antwort zwanglos und freundlich klingen zu lassen. Schließlich wurde man nicht jeden Tag um vier Uhr früh von einem einsam am Rand der Autobahn stehenden Pierrot angehalten. Der Mann am Steuer beugte sich über den Sitz, öffnete die Beifahrertür und fragte: „Kommen Sie von einem Maskenball? „„Ach so."Der Pierrot lachte, doch es klang ein wenig gekünstelt. „Ich habe ganz vergessen, dass ich das Kostüm trage. Wahrscheinlich sehe ich ziemlich seltsam aus."Der Clown mit seiner Maske aus weißer und schwarzer Schminke wirkte, als würde er etwas auswendig Gelerntes herunterleiern, das er eigentlich nicht richtig verstand. „Haben Sie sich bei dem Unfall verletzt?«, fragte der Fahrer und betrachtete den Pierrot mit interessiertem, fachkundigem Blick. „Sind Sie vielleicht mit dem Kopf gegen das Lenkrad geschlagen?"„Nein, mir ist nichts passiert; es geht mir ausgezeichnet. Vielen Dank."Der Pierrot stieg in den Wagen und setzte sich auf den Beifahrersitz. Sogar im schwachen Licht der Innenbeleuchtung sah der Fahrer, dass das Kostüm nichts von einer flüchtig zusammengewürfelten Karnevalsverkleidung hatte, wie er sie so häufig auf Krankenhausbällen gesehen hatte. Der weitgeschnittene, an einen Pyjama erinnernde Anzug war aus mattschimmerndem Satin, und an seinen Ärmeln hingen, ebenso wie an dem kegelförmig zulaufenden Hut, dicke weiße Seidenbommeln. Das Kostüm sah nicht nur aufwendig und teuer aus, es wirkte außerdem so, als stamme es aus einer längst vergangenen Zeit, in der man mit solchen Sachen sehr viel mehr Aufwand getrieben hatte. Heutzutage wären selbst beim Stadttheater, das unter ständiger Finanzknappheit litt, anstatt der edlen Materialien wohl eher Krepppapier und billige Kunstseide zum Einsatz gekommen. Der Autofahrer ließ den Blick vom Kostüm des Pierrots hinauf zu seinem stark geschminkten Gesicht wandern. War es am Ende sogar eine Pierrette? Größe und Statur ließen zwar eher auf einen Mann schließen, aber die Stimme klang ziemlich hoch und seltsam verstellt, als gehörte sie ebenfalls zu der Verkleidung. „Ich fahre bis zum Stadtrand«, sagte der Fahrer, dem plötzlich wieder einfiel, weshalb er zu dieser unchristlichen Stunde auf der Autobahn unterwegs war. „Hilft Ihnen das weiter?"„Ja, das ist prima. Tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache."Der Clown steckte wie ein chinesischer Pantomime die Hände in die weiten Ärmel seines Kostüms. Der Fahrer legte den ersten Gang ein. Er fuhr jedoch nicht los, denn plötzlich bemerkte er, wie in der Hand des Pierrots ein langes Messer aufblitzte. Starr vor Schreck sah der Fahrer, wie es langsam, aber unerbittlich auf seinen Kopf zukam. Als die scharfe Spitze der Klinge sich knapp unterhalb seines linken Ohrs in seinen Hals bohrte, zuckte er zusammen; und ihm wurde schlagartig bewusst, dass das kein Albtraum war. Es geschah wirklich. Und zwar hier und jetzt. In einem verzweifelten Versuch, dem Pierrot die Waffe zu entwinden, riss der Fahrer die Hände hoch. Aber es war bereits zu spät. Noch bevor seine Finger das Messer erreichten, sanken sie schlaff nach unten und fielen mit einem dumpfen Geräusch auf das lederbezogene Lenkrad. Der Pierrot blieb noch einen Augenblick lang sitzen und sah schweigend zu, wie das Blut in pulsierenden Stößen aus der zerschnittenen Halsschlagader quoll und dem sterbenden Mann über den Oberkörper rann. Schließlich zog er das Messer aus der Wunde, wischte mit den behandschuhten Fingern seiner linken Hand das Blut von der Klinge und steckte sie zurück in die Scheide, die im Inneren seines weiten Kostümärmels verborgen war. Dann wandte er sich von dem zuckenden Körper ab, öffnete die Autotür und trat hinaus auf den geschotterten Randstreifen neben der Straße. Dort stellte er sich auf die Zehenspitzen und schnupperte mit hochgereckter Nase in die kühle Luft - wie ein wildes Tier, das nach einem ungewohnten Geruch sucht. Alles war still und friedlich. Dann ging der Pierrot um den Wagen herum und riss die Fahrertür auf. Der Tote fiel seitwärts aus dem Auto und schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf. Der Pierrot schlang die Arme um den Oberkörper des Leichnams und zerrte ihn fort, wobei er ihm wie ein Kind, das versucht, ein kaputtes Spielzeug wieder in Ordnung zu bringen, den herabbaumelnden Kopf auf die blutüberströmte Brust drückte. Keuchend vor Anstrengung schleppte er die leblose Last ins dichte Unterholz der angrenzenden Hecke. Die beiden verschwanden zwischen den im Wind schwankenden Zweigen der Büsche. Am östlichen Horizont kündete ein langsam heller werdender Streifen vom Anbruch eines neuen Tages. Bevor der Pierrot wieder aus dem Gebüsch hervorkam, nahm der Himmel erst eine silbrige, dann eine goldene Farbe an. Steifbeinig stieg der Clown die mit hohem Gras und allerlei Unkraut bewachsene Böschung zur Autobahn hinauf. Sein Atem ging stoßweise in kurzen, keuchenden Zügen, und seine Hände, in denen er die zu einem Bündel zusammengepackte Jacke des Toten hielt, zitterten stark. Nachdem er seinen Packen vorsichtig auf den Beifahrersitz des Wagens gelegt hatte, schlug er die Tür zu und ging um die Kühlerhaube herum auf die Fahrerseite. Aus dem nahen Wald war erster, zaghafter Vogelgesang zu hören. Der Pierrot ließ den Motor an, trat aufs Gas und lenkte den Wagen vom Standstreifen auf die menschenleere Autobahn. Ein paar Minuten später war das Auto nur noch ein dunkler Fleck am Horizont. Die Stelle, an der der Pierrot den Fahrer erstochen hatte, unterschied sich nicht vom Rest des Standstreifens - abgesehen von der dunklen Blutspur, die sich von der Fahrbahn ins Gebüsch zog. Der gelbliche Schimmer am östlichen Horizont wurde intensiver und verlieh der Unterseite der Wolken, aus denen erste Regentropfen fielen, einen opalartigen Glanz. Der Regen wurde immer stärker, bis schließlich ein veritabler Wolkenbruch herabprasselte und die Blutlache wegwusch. Autos rauschten vorbei, erst vereinzelt, dann zahlreicher, bis sie schließlich im morgendlichen Berufsverkehr fast Stoßstange an Stoßstange fuhren. Den Fahrern in diesen Wagen fiel an dieser Stelle nichts Besonderes auf. Sie wussten auch nicht, dass sie sich glücklich schätzen durften; denn für sie würde die Fahrt kein schreckliches Ende nehmen.
Kapitel eins
Das schrille Klingeln des Telefons beendete schlagartig die Ruhe in dem dunklen Schlafzimmer. Eine müde Hand kam unter der Bettdecke hervor, tastete sich zum Nachttisch und griff nach dem Hörer, wobei sie den Wecker neben dem Telefon umstieß. Während er mit einem dumpfen Geräusch auf dem Teppichboden aufschlug, unterdrückte Daisy Sherringham einen Fluch. „Dr. Sherringham?"„Welcher Dr. Sherringham?«, murmelte Daisy schlaftrunken. „Dr. Tim Sherringham."„Gott sei Dank."„Wie bitte?"„Moment«, erwiderte Daisy. Es war schlimm genug, vom Telefon aus einem kurzen, dringend benötigten Schlaf gerissen zu werden; da wollte sie nicht noch lange Erklärungen abgeben. „Tim«, sagte sie und rammte ihren Ellenbogen in das Durcheinander von Bettwäsche neben ihr. „Nicht schon wieder. Bitte nicht!"Tim zog sich das Kissen über den Kopf. „Sie haben versprochen, dass ich heute Nacht meine Ruhe habe."Ohne auf seine Proteste zu achten, tastete Daisy unter der Bettdecke nach seiner Hand und schloss seine Finger um den Telefonhörer, bevor sie aufstand und ins Bad ging. Aus dem Schlafzimmer hörte sie Tims verzweifeltes Flehen: „Bitte sag ihnen, dass ich krank bin. Oder tot. Auf jeden Fall nicht hier. Sag ihnen, was du willst, Daisy. Daisy?!"Warum mache ich das bloß mit?, fragte sich Daisy. Sie hatte fürchterlichen Durst, was wohl von dem Wein und dem Wodka kam, den sie am Abend getrunken hatte. Nachdem sie einen Zahnputzbecher mit kaltem Wasser gierig ausgetrunken hatte, betrachtete sie ihr Spiegelbild. Ihr langes schwarzes Haar war noch ganz matt und steif von dem Haarspray, das sie nur für Anlässe verwendete, die Tim sarkastisch „Einladungen bei Hofe"nannte. Ihr graute schon jetzt davor, das Zeug am Morgen wieder herauszubürsten, und sie fragte sich missmutig, wie viele - oder besser: wie wenige - Stunden dieser Morgen noch entfernt war. Auf Zehenspitzen reckte Daisy sich zum Spiegel hin und betrachtete ihre Augen aus der Nähe. Sie waren blutunterlaufen, und die dunklen Ringe unter ihnen hatten nichts mit verschmierter Mascara zu tun. Daisy sah so erschöpft aus, wie sie sich fühlte. Und dabei musste sie um Punkt neun im OP-Saal sein und der einzigen weiblichen Oberärztin im Krankenhaus assistieren, einer Frau, die als der Schrecken aller Assistenzärzte bekannt war. „Verdammter Mist!"Sie riss an der Schnur, mit der man das Licht im Badezimmer ausschaltete, und stapfte zurück ins Schlafzimmer. „Wie recht du hast."Tim war aufgestanden und streifte sich das weiße Hemd über den Kopf, das er erst vor einer Stunde ausgezogen und auf den Boden geworfen hatte. „Wenn du beim Ausziehen die Knöpfe aufmachen würdest, dann müsstest du das jetzt nicht tun«, bemerkte Daisy. „Was müsste ich nicht tun?"„Dir so bescheuert dein Hemd anziehen."Daisy betrachtete ihren Ehemann und war für einen Augenblick lang ganz woanders. Obwohl sie schon über ein halbes Jahr lang verheiratet waren, hatte sie sich immer noch nicht richtig daran gewöhnt. Was hatte Judy einmal über Tim gesagt? Dass er zu gut sei, um wahr zu sein. Von gutem Aussehen und von gutem Charakter - wo fand man so etwas denn heutzutage noch? Obwohl er seit über zwanzig Jahren keinen Fuß mehr auf amerikanischen Boden gesetzt hatte, war Tim noch immer der grundanständige amerikanische Junge, der mit seiner Körpergröße von einem Meter achtundneunzig, seiner schlanken Figur, dem schwarzgelockten Haar und den umwerfend blauen Augen zudem auch noch wie ein Filmstar aussah ... „Hör auf, mich so anzustarren."Daisy lächelte. „Wie starre ich dich denn an?"„Als würdest du dich am liebsten wieder ins Bett legen."„Und wie ich das will."Sie warf sich der Länge nach auf die zerwühlte Bettdecke. „Und irgendwie habe ich das Gefühl, als wäre es dir völlig schnuppe, ob ich auch wieder hineinkomme oder nicht."„Wenn ich nicht so müde wäre, hätte ich es sehr gerne«, antwortete Daisy. „Warum sind die Einladungen bei deinem Bruder bloß immer so anstrengend?"„Weil mein Bruder so anstrengend ist."Tim fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und sah sich im Zimmer um. „Aber ehrlich gesagt, wenn ich auf die Uhr schaue, muss ich leider sagen, dass Richard mit dem, was er sagt, irgendwie doch recht hat."„Was meinst du konkret?«, fragte Daisy schläfrig. „Dass es alles andere als prickelnd ist, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen zu werden. Sag mal, Daisy, hast du vielleicht eine Ahnung, wo meine Hose ist?"„Da, wo du sie hingeworfen hast«, erwiderte Daisy. „Neben meinem Bett."„Weißt du, was Richard mir gestern gesagt hat?"„Nein«, antwortete Daisy, die fast schon wieder eingeschlafen war. „Dass er in den vergangenen zehn Jahren nur ein einziges Mal mitten in der Nacht aufstehen musste. Das war, als Joannas Vater seinen Herzinfarkt hatte ..."Daisy kämpfte sich mühsam in einen wachen Zustand zurück. „Er hat dir wieder mal eine Stelle in seiner Klinik angeboten, stimmt's?"„Ja, das hat er«, erwiderte Tim trotzig. „Und ehrlich gesagt, im Augenblick kommt mir sein Angebot schon sehr verlockend vor."„Willst du wirklich in der Schickimicki-Klinik deines großen Bruders reichen alten Säcken den Blutdruck messen und dir tagein, tagaus ihre eingebildeten Wehwehchen anhören?"„Du bist eine unverbesserliche Marxistin, Daisy."„Na und?«, gab sie erregt zurück. „Mach mit deinem Leben, was du willst, aber lass mich dabei bitte aus dem Spiel. Mich wirst du nicht dazu bringen, für dich die Drecksarbeit zu machen, so wie Joanna für Richard. Ich habe keine Lust, ständig irgendwelche blöden Empfänge zu geben oder völlig überflüssige Studien für irgendeine Kosmetikfirma durchzuführen. Ich bleibe, wo ich bin ..."„Willst du denn auf immer und ewig Assistenzärztin bleiben? «, fragte Tim mit milder Stimme. „Nein, natürlich nicht!«, rief sie aus. „Ich liebe dich, wenn du wütend bist«, flüsterte er leise und nahm damit die Schärfe aus der Diskussion. „Deine Augen leuchten dann so wunderschön."Er legte sich neben sie ins Bett und gab ihr einen Kuss. „Wir reden morgen weiter «, sagte er mit einem Blick auf seine Armbanduhr. „Oder heute ... verdammt ... Oder irgendwann, wenn wir nicht mehr so müde sind."Er setzte sich auf und wandte sich von ihr ab. „Wenn wir darauf warten, dann besprechen wir das nie."Trotz des Ärgers, der immer noch in ihr brodelte, musste Daisy lächeln. „Vielleicht haben wir ja irgendwann einmal tatsächlich am selben Tag frei. Man kann nie wissen ..."„Bestimmt ist das der Tag, an dem die ganzen alten Oberärzte geschlossen in den Ruhestand treten."Sie kniete sich aufs Bett, schlang die Arme um Tims Nacken und zog ihren Mann zu sich. Nach einem weiteren Kuss fragte sie ihn: „Ist dein Kopfweh weg?"Er nickte. „Ehrlich?"„Ja."„Musst du denn wirklich schon gehen? Jetzt gleich? Sofort? „„Jetzt gleich. Sofort."Er befreite sich aus ihrer Umarmung. „Es geht um Mrs Hawkins. Gestern habe ich Bassett auf Knien angefleht, mich sie sofort operieren zu lassen. Mit einem schnellen, sauberen Kaiserschnitt am Nachmittag wäre alles erledigt gewesen. Aber was antwortet mir mein großmächtiger Chefarzt? ›Warten Sie bis Montag, Sherringham.‹ Und jetzt rufen sie mich an, dass ich sofort ins Krankenhaus und Mrs Hawkins operieren muss. Und das um ..."- er sah noch einmal auf die Uhr - „... zwanzig vor vier nach einer durchfeierten Nacht. Das hätten wir alles einfacher haben können."„Kannst du denn Auto fahren?«, fragte Daisy, während sie zurück unter die Bettdecke kroch. „Ich habe nicht so viel getrunken wie du, Liebling«, antwortete Tim und schritt langsam auf die Tür zu. „Außerdem habe ich keine andere Wahl. Wie es sich anhört, will Hawkins junior partout nicht mehr länger warten. Treffen wir uns um acht in der Kantine zum Frühstück?"„Du lädst mich immer in die besten Lokale ein ..."„Und ob ich das tue."Er blieb eine Sekunde lang in der offenen Tür stehen. „Ich liebe dich."„Ich dich auch."Die Versuchung, wieder einzuschlafen, war überwältigend groß. Daisy fielen die Augen zu, und sie glitt sanft hinüber in eine andere Welt, in der sie es mehr spürte als hörte, dass Tim den Raum verließ. Ihre letzten Gedanken beschäftigten sich mit Ärzten und der Tatsache, dass man nachts aus dem Bett geholt wurde. Warum hatten sie sich nicht einen Bauernhof gekauft oder waren Lokomotivführer geworden? Nein. Lokomotivführer mussten auch nachts arbeiten, und wenn in den frühen Morgenstunden eine Kuh kalbte, musste auch der Bauer in den Stall. Das wäre nichts anderes als ihr jetziges Leben. Ein paar Sekunden lang dachte Daisy noch darüber nach, dann überkam sie ein traumloser Schlaf, der alles andere auslöschte, selbst die Tatsache, dass Tim nicht mehr neben ihr im Bett lag. Das Piepen des Weckers, der immer noch neben dem Bett auf dem Boden lag, weckte Daisy auf. Ein paar Sekunden lang kämpfte sie mit ihrem Bedürfnis, ihn zum Schweigen zu bringen und sich noch eine Minute lang unter die Decke zu kuscheln. Aber dann setzte sie sich auf, öffnete die Augen und schlug die Bettdecke zurück. Tims dunkelbraune Fliege lag auf der Kommode neben ihrem Schmuck. War es wirklich so ein Aufwand, seine Sachen gleich beim Ausziehen aufzuräumen? Auf dem Weg zum Badezimmer musste sie über ihr Abendkleid aus schwarzem Taft steigen und nahm sich fest vor, es beim nächsten Mal sofort in den Schrank zu hängen. Was einem am Abend noch teuer und schick vorgekommen war, wirkte im hellen Licht des neuen Tages auf einmal billig und profan, und diese Erkenntnis war mindestens so unangenehm wie der Kater, der sie an diesem Morgen plagte. Daisy drehte den Mischhebel der Dusche auf fünfzehn Grad Celsius und bereitete sich innerlich auf den Anprall des kalten Wassers vor. Körper und Geist waren noch halb taub vom Schlaf. Hätte ihr Leben nur aus freien Abenden und Nächten bestanden, die sie mit Tim verbringen konnte, wäre die Welt für sie in Ordnung gewesen. Aber vielleicht würde einem ein solches Leben mit der Zeit langweilig, und sie würden freiwillig einen oder zwei Nachmittage in der Woche arbeiten, nach einem langen, faulen Vormittag, den sie mit Kaffeetrinken und Zeitunglesen verbracht hatten. So wie ihre Sonntage gewesen waren, als sie beide noch keinen so vollen Dienstplan gehabt hatten. Aber das war nur ein Wunschtraum. Er hatte mit der Realität, die für sie und Tim ein einziger, nicht enden wollender Stress war, leider nicht das Geringste zu tun. Bibbernd stellte Daisy die Dusche ab und griff nach dem Handtuch, um sich abzutrocknen. Zwanzig Minuten, nachdem sie aus dem Bett gestiegen war, schloss sie die Wohnungstür ab, fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss und verließ das Gebäude. Ungeduldig klapperte sie mit den Autoschlüsseln, während sie die Straße nach ihrem Fiat absuchte. Aber sie fand nur Tims Mercedes. „Du Schuft«, murmelte sie verärgert. Tim wusste genau, wie ungern sie mit seinem Wagen fuhr, ganz abgesehen davon, dass man als Assistenzärztin nicht mit einem solchen Luxusschlitten aufkreuzen konnte. Auch für Tim war das peinlich. Wenn sein Bruder ihnen schon einen Wagen zur Hochzeit schenken musste, hätte er besser irgendein unauffälliges kleines Fahrzeug wählen sollen und nicht dieses stinknoble Statussymbol, bei dem Daisy immer Angst hatte, dass sie beim Einparken seinen Metalliclack verkratzte. Sie öffnete die Fahrertür und warf, bevor sie einstieg, ihre Tasche auf die Rückbank. Wenigstens war so früh am Morgen noch nicht allzu viel Verkehr. In einer Stunde sah das ganz anders aus; da herrschte dann Berufsverkehr und auf den Straßen das Chaos. Während sie mit dem Sitz nach vorne rutschte, stellte Daisy sich mit einem gemeinen Lächeln vor, wie Tim sich in ihren kleinen Fiat hatte hineinzwängen müssen. Das letzte Mal hatte er sich dabei schmerzhaft das Knie angeschlagen. Der Gedanke an Tims Unannehmlichkeiten versöhnte sie ein wenig mit dem Mercedes. Sie startete den Motor und legte mit einem hörbaren Knirschen den Rückwärtsgang ein. Langsam und vorsichtig steuerte sie das breite Fahrzeug aus der Parklücke. Bis sie auf der Autobahn war, hatte sich Daisy an den Mercedes gewöhnt. „Der Wagen ist für die Autobahn gebaut«, hörte sie Tim sagen und trat aufs Gas. Sie lehnte sich zurück und entspannte sich. Es war kindisch, Richard Vorwürfe wegen des Autos zu machen. Tim verdankte seinem Bruder viel, nicht nur seine Ausbildung und die Wohnung, die ebenso wie der Wagen ein Hochzeitsgeschenk gewesen war. Wenn Tim es ihm nicht verboten hätte, hätte Richard ihnen noch viel mehr geschenkt. Was Daisys Minderwertigkeitskomplex gegenüber ihrer neuen Familie anbelangte, war diese Großzügigkeit allerdings nicht gerade hilfreich. Daisy, die aus der Mittelschicht stammte, hatte sich ihr Medizinstudium hart erarbeiten müssen und fand den Lebensstil der Sherringhams, mit dem sie durch Tim jetzt konfrontiert wurde, ziemlich gewöhnungsbedürftig. Da war zunächst einmal das zweihundert Jahre alte Herrenhaus, das Richard gehörte und das Tim immer noch als sein Zuhause bezeichnete. Daisy schaffte es einfach nicht, so wie er an der zweiflügeligen Eingangstür mit dem Butler ein paar lockere Worte zu wechseln. Alles in dem Haushalt - von der luxuriösen, geschmackvollen Inneneinrichtung bis hin zu den ausgeklügelt inszenierten Abendgesellschaften - gehörte ihrer Meinung nach nicht ins wirkliche Leben, sondern auf die Seiten eines High-Society-Magazins. Richard und seine Frau Joanna lebten in einer glanzvollen Welt, in der Geschmackloses und Widerwärtiges - also letztendlich die Wirklichkeit - nichts zu suchen hatten. Ihr Leben hätte eine gute Kulisse für einen glamourösen Hollywoodfilm abgegeben, aber Daisy war nun einmal jemand, der sich solche Streifen lieber vom Parkett aus mit einer Tüte Popcorn in den Händen ansah, als in ihnen mitzuspielen. Aber sie durfte ihr Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, nicht Richard und Joanna zum Vorwurf machen. Weder er noch sie hatten jemals auch nur andeutungsweise verlauten lassen, dass ihre Schwägerin ihnen weniger wert war als all die reichen und berühmten Leute, die sich im Anwesen der Sherringhams die Klinke in die Hand gaben. Obwohl Daisy ihrer Meinung nach sozialistischen Idealen nachhing und sich ihre Kleidung von der Stange kaufte, hatten sie Tims Frau mit offenen - wenn auch ein wenig kühlen - Armen in ihre Familie aufgenommen. Daisy hatte rasch erkannt, dass sich die etwas steife Art der beiden nicht nur auf sie beschränkte. Richard und Joanna behandelten alle Menschen zurückhaltend und distanziert - mit Ausnahme von Tim. Niemand konnte Tim gegenüber gleichgültig bleiben, auch sein Bruder nicht, obwohl Tim kein Teil von Richards Welt mehr war. Er hatte ihr Lebewohl gesagt. Aber hatte er das wirklich? Daisy spürte, dass es tief in ihrem Inneren erhebliche Zweifel gab. Tim hörte immer noch häufig auf Richard, und Richard lästerte ziemlich oft über das von der staatlichen Gesundheitsbehörde betriebene städtische Krankenhaus, in dem Tim und Daisy arbeiteten. Seine sarkastischen Bemerkungen über die veraltete technische Ausrüstung dort und die langen Wartelisten auf Operationen hatte Daisy noch immer im Ohr. Dabei vergaß Richard meistens, dass beides auf die ungenügenden finanziellen Mittel zurückzuführen war, die der Staat für seine Krankenhäuser zur Verfügung stellte. Eine weitere Folge dieser chronischen Unterfinanzierung war die Tatsache, dass Tim und Daisy ständig Überstunden und Bereitschaftsdienste schieben mussten und deshalb so gut wie kein Privatleben mehr hatten. Auch das war ein Grund dafür, dass jede von Richards Spitzen gegen das Krankenhaus Daisy durch Mark und Bein gingen. Sie hatte Angst, vor lauter Frustration über ihren Job in die Welt der Sherringhams hineingezogen und in etwas verwandelt zu werden, was Joanna als Inbegriff der idealen Frau ansah: perfekt frisiertes Haar, penibel lackierte Nägel und ein Gesicht, das man unter dicken Make-up-Schichten kaum wiedererkennen konnte. Dazu käme noch eine komplette Neuprogrammierung ihres Verhaltens, damit sie bei allen nur erdenklichen sozialen Anlässen immer nur den allerbesten Eindruck machte. Ihre Karriere hätte sich natürlich der von Tim unterzuordnen - so wie Joanna ihre Ambitionen als Psychiaterin zugunsten von Richards Plänen hatte aufgeben müssen. „Beim Privatleben geht es nicht um Quantität, sondern um Qualität, Richard."Diesen Satz hatte Tim zum ersten Mal geäußert, als Richard ihn zur Arbeit in dessen Klinik hatte überreden wollen, und sein erfrischendes Lachen danach wärmte Daisy noch heute das Herz. „Joanna und ihre Partys können mir den Buckel hinunterrutschen «, murmelte sie und glaubte, Joannas sündhaft teures Parfüm sogar noch hier im Wagen riechen zu können. Plötzlich wurde Daisy unsanft in die Gegenwart zurückgerissen, als ein roter Porsche sie mit grell aufgeblendeten Scheinwerfern von der rechten Spur scheuchte. „Vollidiot!«, rief sie dem Fahrer zu, der sie natürlich nicht hören konnte. Gib einem Mann mit grauen Schläfen einen Sportwagen, dachte sie, und er mutiert zum jugendlichen Raser, selbst wenn es ihn und andere Verkehrsteilnehmer das Leben kostet. Ihrem Ausbruch folgte eine tiefe Mutlosigkeit. Aus bitterer Erfahrung wusste sie, dass ihre Wut sinnlos und, schlimmer noch, destruktiv war. Wenn sie mit Tim zusammen war, dann wusste sie genau, dass er sie liebte und voll und ganz zu dem Leben stand, das sie gemeinsam führten. Es war albern, daran zu zweifeln, nur weil sie auf einer von Richards und Joannas blöden Partys gewesen war. Sie musste ihre Zweifel begraben. Sie musste positiv denken. Die guten Seiten ihres Lebens mit Tim sehen und sich keine Gedanken über etwaige schlechte Seiten machen, die vielleicht noch kommen würden. Was konnte sie außerdem schon tun, wenn Tim sich wirklich veränderte und auf Richards Drängen hin mit ihm zusammen die Leitung der Holbourne-and-Sherringham-Klinik übernahm? Daisy dachte an das letzte Wochenende, das Tim und sie gemeinsam verbracht hatten. War das vor einem Monat gewesen - oder vor zwei? Sie hatten mit ihrem Boot einen Ausflug an die Küste gemacht und drei Tage - und zwei Nächte - lang in einer einsamen Bucht vor Anker gelegen. Ohne Telefon, ohne Piepser, ohne Richard. Nur sie beide. Tim hatte recht: Es ging nicht um die Quantität, sondern um die Qualität der Zeit, die man gemeinsam verbrachte. Sie fuhr von der Autobahn herunter und kam über einen Zubringer ziemlich rasch zum Krankenhaus, wo sie den Mercedes auf einem der für Oberärzte reservierten Parkplätze abstellte. Auch wenn Tim ihren Fiat für die Hinfahrt zum Krankenhaus genommen hatte, würde er es sein, der mit dem Statussymbol nach Hause fuhr; das stand für sie fest. Daisy schnappte sich ihre Tasche vom Rücksitz und eilte mit raschen Schritten ins Krankenhaus. „Guten Morgen, Dr. Sherringham. Schönes Wetter heute."„Wunderbares Wetter, John."Sie lächelte den Portier an, während sie hinüber zu den Aufzügen ging und dabei auf ihre Uhr sah. Es war kurz vor acht. Daisy fragte sich, ob Tim wohl schon in der Kantine auf sie wartete oder ob er noch im OP war. Nachtdienste im Krankenhaus zogen sich oft bis weit in den Tag hinein, besonders auf der Entbindungsstation. „Nur faule Menschen fahren Lift«, hörte Daisy eine Stimme hinter sich sagen. „Wer aktiv und gesundheitsbewusst ist, nimmt die Treppe."„Heute darfst du für uns beide aktiv und gesundheitsbewusst sein, Judy«, erwiderte Daisy mit einem leisen Gähnen, während sie in die Aufzugkabine trat. „Ich habe nie behauptet, dass ich zu den Aktiven gehöre«, sagte Judy und trat neben sie. „Ich beobachte sie lediglich genau. Fährst du rauf zur Kantine?"Daisy nickte. „Du siehst ja nicht gerade taufrisch aus«, bemerkte Judy mit einem fröhlichen Grinsen und drückte den Knopf für den zehnten Stock. „Ist es denn bei dem Grillabend der Chirurgen gestern Abend so wild zugegangen?"„Ich war nicht auf dem Grillabend. Tims Bruder hatte zum Abendessen eingeladen."„Sieh mal einer an. Der berühmte Dr. Sherringham hat sich wieder einmal der beiden Plebejer selben Namens erbarmt. „„Genau."Daisy bereitete sich auf den leichten Stoß vor, den die Krankenhauslifts durch ihren abrupten Halt auslösten, wenn sie ihr Ziel erreichten. „Wo bist du denn heute Morgen?"„Bei der Schwangerschaftsberatung."Judy trat aus dem Fahrstuhl und öffnete die Tür zur Kantine. „Und du?"„Bei mir steht eine Operation an."„Doch nicht mit ..."„Ihrer Großmächtigkeit höchstpersönlich«, erklärte Daisy mit einem grimmigen Lächeln und nahm sich ein nicht allzu sauberes Tablett von dem Stapel an der Theke. Sie ließ den Blick durch die etwa halbvolle Kantine schweifen, konnte aber an keinem der Tische Tim entdecken. Anschließend wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu. „Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?"„Du darfst, aber ehrlich gesagt, hätte ich lieber einen Orangensaft. Der ist wenigstens aus fairem Handel. Wo ist eigentlich Tim?"„Er musste mitten in der Nacht zu einem Notfall. Das Hawkins- Baby."„Armer Tim. War bestimmt hart, so früh aufzustehen."„Besonders, wenn man um vier Uhr früh erst eine Stunde geschlafen hat."„Wem sagst du das?"Judy nahm einen Teller mit Toast von der Warmhalteplatte. „Möchtest du auch einen?"„Igitt."„Ich schätze mal, das soll heißen: Nein, danke, liebste Freundin."Judy packte Daisy am Arm. „Vorsicht! Da kommt die Nervensäge höchstpersönlich."Daisy schnappte sich ihren Kaffee und ging rasch zu einem Tisch in der hintersten Ecke des Raumes. Judy eilte ihr hinterher. „Er kommt zu uns."„Das tut er doch immer«, murmelte Daisy mit zusammengebissenen Zähnen. „Der ist bestimmt verliebt in dich."„Oder in dich«, konterte Judy. „Unmöglich. Ich bin eine verheiratete Frau."„Meinst du im Ernst, das hindert ein Arschloch wie Eric Hedley daran, eine Frau anzumachen?"Ein Schatten fiel über ihren Tisch. „Na, ihr Süßen, ist bei euch noch ein Plätzchen frei?"„Wir sind keine Süßen, wir sind Ärztinnen«, erwiderte Judy trocken. „Und da du dir eh schon einen Stuhl herangezogen hast, ist deine Frage völlig überflüssig."„Wo ist heute Morgen eigentlich unser blauäugiger Junge?«, fragte Eric. „Welcher blauäugige Junge?«, fragte Daisy, die nur zu genau wusste, dass Tim damit gemeint war. „Na, welcher denn schon? Tim natürlich, der Traum unserer schlaflosen Nächte."„Der Neid steht dir nicht gut, Eric«, schnurrte Judy sarkastisch. „Wir alle wissen, wie scharf du auf Tims Posten warst, aber zum Glück für die Menschheit hat ihn der Bessere gekriegt. „„Da wäre ich mir an deiner Stelle mal nicht so sicher«, konterte Eric rasch. „Ich komme gerade aus dem Kreißsaal. Mrs Hawkins' Fruchtblase ist um halb acht geplatzt, und das Baby ist in Lebensgefahr."Daisy starrte Eric an. „Aber Tim ist doch -"„Tim ist nirgendwo aufzutreiben«, unterbrach sie Eric. „Die piepsen ihn seit ..."- er blickte auf die Uhr - „... fünfunddreißig Minuten an; aber unser allseits geschätzter Oberarzt meldet sich nicht, obwohl er Bereitschaftsdienst hat."„Das ist ja lächerlich«, erwiderte Daisy. „Tim hat in aller Herrgottsfrühe die Wohnung verlassen."Eric hob fragend eine Augenbraue. „Also hier ist er jedenfalls nicht. Ich hatte heute Nachtdienst. Sechs Notfälle und keine Hilfe. Sie rufen jetzt Bassett an, und ich wäre als Chefarzt alles andere als erfreut, wenn man mich aus dem Bett schmeißen würde, bloß weil mein Oberarzt etwas Wichtigeres zu tun hat, als auf einen Notruf zu reagieren."„Tim ist kurz vor vier von zu Hause losgefahren«, sagte Daisy bestimmt. „Er hätte spätestens um halb fünf hier sein müssen."„Dann muss er so etwas wie ein Hellseher sein«, höhnte Eric. „Er wurde nämlich erst um halb acht von hier aus angerufen. Lasst mich raten."Er blickte Daisy direkt in die Augen. „Könnte es vielleicht möglich sein, dass unser Goldjunge seine Frau betrügt? Aber was immer er auch tut, sein großer Bruder wird es schon wieder richten. Schließlich hat der ja die mächtige Medizin-Mafia hinter sich."Ein Ausdruck selbstgefälliger Zufriedenheit huschte über Erics schwammiges Gesicht, das Daisy immer an das eines überfütterten, kastrierten Katers erinnerte. Sie hob ihre Kaffeetasse und schüttete den Inhalt in Erics Gesicht. Er schrie laut auf, aber Daisy wartete nicht, um herauszufinden, ob vor Schmerz oder vor Schreck. Vielmehr schob sie ihren Stuhl so heftig zurück, dass er umfiel, und rannte aus der Kantine, ohne sich um den von ihr hervorgerufenen Aufruhr zu kümmern. „Sei froh, dass das Kantinenkaffee war, sonst müsstest du dich jetzt in der Notaufnahme als Brandopfer behandeln lassen «, witzelte Judy. Dann eilte sie Daisy hinterher. Kurz vor dem Treppenhaus holte sie ihre Freundin ein und fragte: „Wo willst du hin?"„Auf die Entbindungsstation«, erwiderte Daisy, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. Judy legte ihr eine Hand auf den Arm. „Wenn Tim in Schwierigkeiten ist, wird er dich dort vielleicht nicht gerne sehen."„Falls er da ist und sich um Mrs Hawkins kümmert, nimmt er mich sowieso nicht wahr. Aber falls er mich braucht ..."„Ich komme mit«, beschloss Judy. „Nein ..."Daisy wandte sich ihr zu. „Nun mach schon«, befahl Judy, „sonst kommen wir beide zu spät zur Schicht."„Nein, Dr. Sherringham, Ihr Mann war heute noch nicht hier, und wir haben ihn auch nicht vor halb acht angerufen. Und nein, bei Ihnen zu Hause geht niemand ans Telefon. Ich kann ja verstehen, dass Sie sich Sorgen machen, aber ich muss mich jetzt um meine Patienten kümmern. Entschuldigen Sie mich bitte."Die Schwester drehte sich demonstrativ zu ihrem Rollwagen mit Medikamenten. Doch Daisy fragte weiter, obwohl die Krankenschwester ihr nun den Rücken zuwandte. „Und was ist mit dem Hawkins-Baby? „„Der Fötus war nicht lebensfähig."Es war eine sachliche Feststellung, wie man sie in einem Krankenhaus täglich hört, aber Daisy war jetzt für sachliche Feststellungen nicht allzu empfänglich. Sie ballte die Hände zu Fäusten und steckte sie tief in die Taschen ihres weißen Arztkittels. „Sonst noch etwas?«, fragte die Schwester spitz und drehte sich um. „Nein, nichts, vielen Dank."Daisy trat einen Schritt zur Seite und ließ die Schwester mit ihrem Rollwagen vorbeifahren. „Tim trifft daran keine Schuld«, sagte Judy. „Er hat mir erzählt, dass er bei Mrs Hawkins schon gestern einen Kaiserschnitt machen wollte."„Das macht das Baby auch nicht wieder lebendig«, erwiderte Daisy matt. „Außerdem ist das in der Medizin nun mal so. Manche Patienten kann man retten, andere verliert man. Haben sie dir das im Studium nicht beigebracht? Hier können wir jedenfalls nichts mehr tun, und es ist gleich halb neun."Judy nahm ihre Freundin am Arm und führte sie zum Hauptkorridor. „Wenn du nicht sofort in den OP gehst und dich umziehst, wird der heutige Tag das Waterloo für zwei Dr. Sherringhams."„Tim muss irgendwas zugestoßen sein. Er hat noch nie einen Notruf ignoriert."Daisy sah sich hektisch im Korridor um. „Er hat vielleicht einen Unfall gehabt oder ..."„Geh du zu deiner OP. Ich suche inzwischen nach Tim, und sobald ich ihn gefunden habe, gebe ich dir Bescheid."„Versprichst du mir das?"Daisy sah ihre Freundin mit dunklen, schmerzerfüllten Augen an. „Versprochen."Judy nahm Daisys Hand und drückte sie beruhigend. „Wahrscheinlich ist ihm ein anderer Notruf dazwischengekommen. Du weißt ja, wie Tim ist: erst Arzt, dann Ehemann. Ich dachte, das war dir klar, als du ihn geheiratet hast."„Glaubst du wirklich, dass es so war?«, fragte Daisy mit einem verzweifelten Unterton in der Stimme. „Natürlich."„Und du benachrichtigst mich, sobald du ihn gefunden hast?"„Sowieso. Und jetzt mach, dass du weiterkommst. Der Hausdrache hasst es, wenn man ihn warten lässt."Miss Palmer-Smith war an diesem Vormittag in Höchstform, und gegen Viertel nach neun hatte Daisy das Gefühl, dass sie und die anderen Assistenzärzte ganz persönlich für sämtliche Unzulänglichkeiten im Operationssaal - wenn nicht sogar im ganzen Krankenhaus - verantwortlich waren. Der routinemäßigen Entfernung eines Blinddarms folgte eine routinemäßige Bruchoperation, doch Daisy passierte es immer wieder, dass sie ein Kommando der Oberärztin entweder nicht hörte oder nicht richtig interpretierte. Und als sie durch eine beiläufige Bemerkung daran erinnert wurde, dass Miss Palmer-Smith eine persönliche Freundin von Richard war, ging es ihr auch nicht besser. Einige Minuten bevor der letzte Patient des Vormittags in den Operationssaal geschoben wurde, schaute Alan Cummins, Tims Kollege aus der Entbindungsstation, durch das runde Sichtfenster herein. Er blieb so lange, bis Daisy zu ihm blickte und er mit den Lippen den Satz formen konnte: „Tim ist hier im Krankenhaus."Dann verschwand er wieder. Der letzte Patient war eine Sie, und hatte sich Daisy bisher nur inkompetent gefühlt, kam sie sich jetzt wie eine Idiotin vor. Innerhalb der nächsten fünf Minuten ließ sie ein Instrument fallen, rempelte beim Zurückgehen eine Schwester an und schlug schmerzhaft mit ihrer Hüfte gegen den Operationstisch. „Haben wir noch irgendwelche Notfälle?«, fragte die Oberärztin, nachdem die eigentliche Operation beendet war und nur noch die Wunde zugenäht werden musste. „Nein, Miss Palmer-Smith«, antwortete Daisy hinter ihrer Gesichtsmaske. „Da bin ich aber froh. Nähen Sie bitte zu, Dr. Sherringham. „„Ja, Miss Palmer-Smith. Vielen Dank«, antwortete Daisy automatisch und fragte sich, weshalb sie der Oberärztin dankbar war. Vielleicht dafür, dass der Vormittag endlich vorbei war. Miss Palmer-Smith rauschte aus dem Operationssaal, und Daisy hatte alle Mühe, sich auf die Patientin zu konzentrieren. In ein paar Minuten würde sie Tim sehen und ihn fragen können, was das alles auf sich hatte. Hatte es vielleicht einen Unfall auf der Autobahn gegeben? Hatte er einen Verletzten betreuen müssen? Aber warum hatte Daisy dann auf der Fahrt ins Krankenhaus nichts gesehen? Und warum hatte er den Verletzten nicht hierherbringen lassen? Schließlich war das hier das einzige große Krankenhaus in weitem Umkreis. Es sei denn, er hatte ihn in Richards Klinik gebracht. Natürlich. Das musste es sein. Richards Klinik lag näher an der Stadt ... Die Gedanken flatterten durch Daisys Kopf wie Tauben, die sich um ein Stück Brot rauften. „Sind Sie bald fertig?«, fragte Mike Edmunds, der Narkosearzt. „Ich müsste wissen, wann ich sie wieder zurückholen kann."Daisy blickte hinüber zu dem schmalen Mann, der am Kopf der Patientin, halbverborgen hinter einem Gewirr aus Schläuchen und Flaschen, neben dem Operationstisch saß. „Eine Minute noch«, antwortete Daisy und spürte, wie ihre innere Spannung nachließ. Miss Palmer-Smith war eine erstklassige Chirurgin, das musste ihr der Neid lassen, aber die Atmosphäre, die sie beim Operieren verbreitete, konnte einem die Freude an der Arbeit gründlich vermiesen. Und das war weder für die Mitarbeiter noch für die Patienten gut. Mit großer Sorgfalt setzte Daisy die letzten Fäden im Unterleib der Patientin. „Sehr schön«, bemerkte Mike anerkennend. „Stopfst du eigentlich Tims Socken auch so gewissenhaft?"„Manchmal«, erwiderte Daisy geistesabwesend. „Übrigens, es tut mir leid, dass Tim Schwierigkeiten hat. Wenn ich euch irgendwie helfen kann ..."„Danke, Mike«, erwiderte Daisy und lächelte ihn an. Mikes ehrlich klingendes Angebot wärmte ihr das Herz. Außerdem würde sie bald - sehr bald - wieder bei Tim sein. Ob er vielleicht schon im Umkleideraum vor dem Operationssaal auf sie wartete? Beschwingt schnitt sie den letzten Faden ab. „Fertig!"„Ich bleibe noch eine Weile bei ihr«, sagte Mike, während er den Kopf der Patientin nach hinten neigte. „Und du gehst und holst dir einen Kaffee. Du siehst aus, als könntest du einen gebrauchen."
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Prolog
Die Autobahn war leer. Im wässrig-fahlen Licht des Mondes zog sie sich wie ein mattes, zinnfarbenes Band durch die Landschaft. Gesäumt wurde die Autobahn von einer dichten Hecke, die sie von einer angrenzenden Viehweide abtrennte. Aus dieser dunklen Hecke trat plötzlich eine seltsam gekleidete Gestalt hervor. Sie stellte sich an den Rand der Autobahn und wartete geduldig, bis sich die Scheinwerfer eines Autos näherten. Dann hob sie in einer fast flehentlich anmutenden Geste die Hände, die in weißen Handschuhen steckten. Der Fahrer des herannahenden Wagens sah den Mann und trat auf die Bremse. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich hatte eine Panne mit meinem Wagen. Etwa eine halbe Meile weiter vorn. Könnten Sie mich vielleicht in die Stadt mitnehmen?"Die Stimme, die durch das Seitenfenster hereindrang, klang kultiviert und höflich. „Natürlich. Steigen Sie ein."Der Fahrer hatte Mühe, seine Antwort zwanglos und freundlich klingen zu lassen. Schließlich wurde man nicht jeden Tag um vier Uhr früh von einem einsam am Rand der Autobahn stehenden Pierrot angehalten. Der Mann am Steuer beugte sich über den Sitz, öffnete die Beifahrertür und fragte: „Kommen Sie von einem Maskenball? „„Ach so."Der Pierrot lachte, doch es klang ein wenig gekünstelt. „Ich habe ganz vergessen, dass ich das Kostüm trage. Wahrscheinlich sehe ich ziemlich seltsam aus."Der Clown mit seiner Maske aus weißer und schwarzer Schminke wirkte, als würde er etwas auswendig Gelerntes herunterleiern, das er eigentlich nicht richtig verstand. „Haben Sie sich bei dem Unfall verletzt?«, fragte der Fahrer und betrachtete den Pierrot mit interessiertem, fachkundigem Blick. „Sind Sie vielleicht mit dem Kopf gegen das Lenkrad geschlagen?"„Nein, mir ist nichts passiert; es geht mir ausgezeichnet. Vielen Dank."Der Pierrot stieg in den Wagen und setzte sich auf den Beifahrersitz. Sogar im schwachen Licht der Innenbeleuchtung sah der Fahrer, dass das Kostüm nichts von einer flüchtig zusammengewürfelten Karnevalsverkleidung hatte, wie er sie so häufig auf Krankenhausbällen gesehen hatte. Der weitgeschnittene, an einen Pyjama erinnernde Anzug war aus mattschimmerndem Satin, und an seinen Ärmeln hingen, ebenso wie an dem kegelförmig zulaufenden Hut, dicke weiße Seidenbommeln. Das Kostüm sah nicht nur aufwendig und teuer aus, es wirkte außerdem so, als stamme es aus einer längst vergangenen Zeit, in der man mit solchen Sachen sehr viel mehr Aufwand getrieben hatte. Heutzutage wären selbst beim Stadttheater, das unter ständiger Finanzknappheit litt, anstatt der edlen Materialien wohl eher Krepppapier und billige Kunstseide zum Einsatz gekommen. Der Autofahrer ließ den Blick vom Kostüm des Pierrots hinauf zu seinem stark geschminkten Gesicht wandern. War es am Ende sogar eine Pierrette? Größe und Statur ließen zwar eher auf einen Mann schließen, aber die Stimme klang ziemlich hoch und seltsam verstellt, als gehörte sie ebenfalls zu der Verkleidung. „Ich fahre bis zum Stadtrand«, sagte der Fahrer, dem plötzlich wieder einfiel, weshalb er zu dieser unchristlichen Stunde auf der Autobahn unterwegs war. „Hilft Ihnen das weiter?"„Ja, das ist prima. Tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache."Der Clown steckte wie ein chinesischer Pantomime die Hände in die weiten Ärmel seines Kostüms. Der Fahrer legte den ersten Gang ein. Er fuhr jedoch nicht los, denn plötzlich bemerkte er, wie in der Hand des Pierrots ein langes Messer aufblitzte. Starr vor Schreck sah der Fahrer, wie es langsam, aber unerbittlich auf seinen Kopf zukam. Als die scharfe Spitze der Klinge sich knapp unterhalb seines linken Ohrs in seinen Hals bohrte, zuckte er zusammen; und ihm wurde schlagartig bewusst, dass das kein Albtraum war. Es geschah wirklich. Und zwar hier und jetzt. In einem verzweifelten Versuch, dem Pierrot die Waffe zu entwinden, riss der Fahrer die Hände hoch. Aber es war bereits zu spät. Noch bevor seine Finger das Messer erreichten, sanken sie schlaff nach unten und fielen mit einem dumpfen Geräusch auf das lederbezogene Lenkrad. Der Pierrot blieb noch einen Augenblick lang sitzen und sah schweigend zu, wie das Blut in pulsierenden Stößen aus der zerschnittenen Halsschlagader quoll und dem sterbenden Mann über den Oberkörper rann. Schließlich zog er das Messer aus der Wunde, wischte mit den behandschuhten Fingern seiner linken Hand das Blut von der Klinge und steckte sie zurück in die Scheide, die im Inneren seines weiten Kostümärmels verborgen war. Dann wandte er sich von dem zuckenden Körper ab, öffnete die Autotür und trat hinaus auf den geschotterten Randstreifen neben der Straße. Dort stellte er sich auf die Zehenspitzen und schnupperte mit hochgereckter Nase in die kühle Luft - wie ein wildes Tier, das nach einem ungewohnten Geruch sucht. Alles war still und friedlich. Dann ging der Pierrot um den Wagen herum und riss die Fahrertür auf. Der Tote fiel seitwärts aus dem Auto und schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf. Der Pierrot schlang die Arme um den Oberkörper des Leichnams und zerrte ihn fort, wobei er ihm wie ein Kind, das versucht, ein kaputtes Spielzeug wieder in Ordnung zu bringen, den herabbaumelnden Kopf auf die blutüberströmte Brust drückte. Keuchend vor Anstrengung schleppte er die leblose Last ins dichte Unterholz der angrenzenden Hecke. Die beiden verschwanden zwischen den im Wind schwankenden Zweigen der Büsche. Am östlichen Horizont kündete ein langsam heller werdender Streifen vom Anbruch eines neuen Tages. Bevor der Pierrot wieder aus dem Gebüsch hervorkam, nahm der Himmel erst eine silbrige, dann eine goldene Farbe an. Steifbeinig stieg der Clown die mit hohem Gras und allerlei Unkraut bewachsene Böschung zur Autobahn hinauf. Sein Atem ging stoßweise in kurzen, keuchenden Zügen, und seine Hände, in denen er die zu einem Bündel zusammengepackte Jacke des Toten hielt, zitterten stark. Nachdem er seinen Packen vorsichtig auf den Beifahrersitz des Wagens gelegt hatte, schlug er die Tür zu und ging um die Kühlerhaube herum auf die Fahrerseite. Aus dem nahen Wald war erster, zaghafter Vogelgesang zu hören. Der Pierrot ließ den Motor an, trat aufs Gas und lenkte den Wagen vom Standstreifen auf die menschenleere Autobahn. Ein paar Minuten später war das Auto nur noch ein dunkler Fleck am Horizont. Die Stelle, an der der Pierrot den Fahrer erstochen hatte, unterschied sich nicht vom Rest des Standstreifens - abgesehen von der dunklen Blutspur, die sich von der Fahrbahn ins Gebüsch zog. Der gelbliche Schimmer am östlichen Horizont wurde intensiver und verlieh der Unterseite der Wolken, aus denen erste Regentropfen fielen, einen opalartigen Glanz. Der Regen wurde immer stärker, bis schließlich ein veritabler Wolkenbruch herabprasselte und die Blutlache wegwusch. Autos rauschten vorbei, erst vereinzelt, dann zahlreicher, bis sie schließlich im morgendlichen Berufsverkehr fast Stoßstange an Stoßstange fuhren. Den Fahrern in diesen Wagen fiel an dieser Stelle nichts Besonderes auf. Sie wussten auch nicht, dass sie sich glücklich schätzen durften; denn für sie würde die Fahrt kein schreckliches Ende nehmen.
Kapitel eins
Das schrille Klingeln des Telefons beendete schlagartig die Ruhe in dem dunklen Schlafzimmer. Eine müde Hand kam unter der Bettdecke hervor, tastete sich zum Nachttisch und griff nach dem Hörer, wobei sie den Wecker neben dem Telefon umstieß. Während er mit einem dumpfen Geräusch auf dem Teppichboden aufschlug, unterdrückte Daisy Sherringham einen Fluch. „Dr. Sherringham?"„Welcher Dr. Sherringham?«, murmelte Daisy schlaftrunken. „Dr. Tim Sherringham."„Gott sei Dank."„Wie bitte?"„Moment«, erwiderte Daisy. Es war schlimm genug, vom Telefon aus einem kurzen, dringend benötigten Schlaf gerissen zu werden; da wollte sie nicht noch lange Erklärungen abgeben. „Tim«, sagte sie und rammte ihren Ellenbogen in das Durcheinander von Bettwäsche neben ihr. „Nicht schon wieder. Bitte nicht!"Tim zog sich das Kissen über den Kopf. „Sie haben versprochen, dass ich heute Nacht meine Ruhe habe."Ohne auf seine Proteste zu achten, tastete Daisy unter der Bettdecke nach seiner Hand und schloss seine Finger um den Telefonhörer, bevor sie aufstand und ins Bad ging. Aus dem Schlafzimmer hörte sie Tims verzweifeltes Flehen: „Bitte sag ihnen, dass ich krank bin. Oder tot. Auf jeden Fall nicht hier. Sag ihnen, was du willst, Daisy. Daisy?!"Warum mache ich das bloß mit?, fragte sich Daisy. Sie hatte fürchterlichen Durst, was wohl von dem Wein und dem Wodka kam, den sie am Abend getrunken hatte. Nachdem sie einen Zahnputzbecher mit kaltem Wasser gierig ausgetrunken hatte, betrachtete sie ihr Spiegelbild. Ihr langes schwarzes Haar war noch ganz matt und steif von dem Haarspray, das sie nur für Anlässe verwendete, die Tim sarkastisch „Einladungen bei Hofe"nannte. Ihr graute schon jetzt davor, das Zeug am Morgen wieder herauszubürsten, und sie fragte sich missmutig, wie viele - oder besser: wie wenige - Stunden dieser Morgen noch entfernt war. Auf Zehenspitzen reckte Daisy sich zum Spiegel hin und betrachtete ihre Augen aus der Nähe. Sie waren blutunterlaufen, und die dunklen Ringe unter ihnen hatten nichts mit verschmierter Mascara zu tun. Daisy sah so erschöpft aus, wie sie sich fühlte. Und dabei musste sie um Punkt neun im OP-Saal sein und der einzigen weiblichen Oberärztin im Krankenhaus assistieren, einer Frau, die als der Schrecken aller Assistenzärzte bekannt war. „Verdammter Mist!"Sie riss an der Schnur, mit der man das Licht im Badezimmer ausschaltete, und stapfte zurück ins Schlafzimmer. „Wie recht du hast."Tim war aufgestanden und streifte sich das weiße Hemd über den Kopf, das er erst vor einer Stunde ausgezogen und auf den Boden geworfen hatte. „Wenn du beim Ausziehen die Knöpfe aufmachen würdest, dann müsstest du das jetzt nicht tun«, bemerkte Daisy. „Was müsste ich nicht tun?"„Dir so bescheuert dein Hemd anziehen."Daisy betrachtete ihren Ehemann und war für einen Augenblick lang ganz woanders. Obwohl sie schon über ein halbes Jahr lang verheiratet waren, hatte sie sich immer noch nicht richtig daran gewöhnt. Was hatte Judy einmal über Tim gesagt? Dass er zu gut sei, um wahr zu sein. Von gutem Aussehen und von gutem Charakter - wo fand man so etwas denn heutzutage noch? Obwohl er seit über zwanzig Jahren keinen Fuß mehr auf amerikanischen Boden gesetzt hatte, war Tim noch immer der grundanständige amerikanische Junge, der mit seiner Körpergröße von einem Meter achtundneunzig, seiner schlanken Figur, dem schwarzgelockten Haar und den umwerfend blauen Augen zudem auch noch wie ein Filmstar aussah ... „Hör auf, mich so anzustarren."Daisy lächelte. „Wie starre ich dich denn an?"„Als würdest du dich am liebsten wieder ins Bett legen."„Und wie ich das will."Sie warf sich der Länge nach auf die zerwühlte Bettdecke. „Und irgendwie habe ich das Gefühl, als wäre es dir völlig schnuppe, ob ich auch wieder hineinkomme oder nicht."„Wenn ich nicht so müde wäre, hätte ich es sehr gerne«, antwortete Daisy. „Warum sind die Einladungen bei deinem Bruder bloß immer so anstrengend?"„Weil mein Bruder so anstrengend ist."Tim fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und sah sich im Zimmer um. „Aber ehrlich gesagt, wenn ich auf die Uhr schaue, muss ich leider sagen, dass Richard mit dem, was er sagt, irgendwie doch recht hat."„Was meinst du konkret?«, fragte Daisy schläfrig. „Dass es alles andere als prickelnd ist, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen zu werden. Sag mal, Daisy, hast du vielleicht eine Ahnung, wo meine Hose ist?"„Da, wo du sie hingeworfen hast«, erwiderte Daisy. „Neben meinem Bett."„Weißt du, was Richard mir gestern gesagt hat?"„Nein«, antwortete Daisy, die fast schon wieder eingeschlafen war. „Dass er in den vergangenen zehn Jahren nur ein einziges Mal mitten in der Nacht aufstehen musste. Das war, als Joannas Vater seinen Herzinfarkt hatte ..."Daisy kämpfte sich mühsam in einen wachen Zustand zurück. „Er hat dir wieder mal eine Stelle in seiner Klinik angeboten, stimmt's?"„Ja, das hat er«, erwiderte Tim trotzig. „Und ehrlich gesagt, im Augenblick kommt mir sein Angebot schon sehr verlockend vor."„Willst du wirklich in der Schickimicki-Klinik deines großen Bruders reichen alten Säcken den Blutdruck messen und dir tagein, tagaus ihre eingebildeten Wehwehchen anhören?"„Du bist eine unverbesserliche Marxistin, Daisy."„Na und?«, gab sie erregt zurück. „Mach mit deinem Leben, was du willst, aber lass mich dabei bitte aus dem Spiel. Mich wirst du nicht dazu bringen, für dich die Drecksarbeit zu machen, so wie Joanna für Richard. Ich habe keine Lust, ständig irgendwelche blöden Empfänge zu geben oder völlig überflüssige Studien für irgendeine Kosmetikfirma durchzuführen. Ich bleibe, wo ich bin ..."„Willst du denn auf immer und ewig Assistenzärztin bleiben? «, fragte Tim mit milder Stimme. „Nein, natürlich nicht!«, rief sie aus. „Ich liebe dich, wenn du wütend bist«, flüsterte er leise und nahm damit die Schärfe aus der Diskussion. „Deine Augen leuchten dann so wunderschön."Er legte sich neben sie ins Bett und gab ihr einen Kuss. „Wir reden morgen weiter «, sagte er mit einem Blick auf seine Armbanduhr. „Oder heute ... verdammt ... Oder irgendwann, wenn wir nicht mehr so müde sind."Er setzte sich auf und wandte sich von ihr ab. „Wenn wir darauf warten, dann besprechen wir das nie."Trotz des Ärgers, der immer noch in ihr brodelte, musste Daisy lächeln. „Vielleicht haben wir ja irgendwann einmal tatsächlich am selben Tag frei. Man kann nie wissen ..."„Bestimmt ist das der Tag, an dem die ganzen alten Oberärzte geschlossen in den Ruhestand treten."Sie kniete sich aufs Bett, schlang die Arme um Tims Nacken und zog ihren Mann zu sich. Nach einem weiteren Kuss fragte sie ihn: „Ist dein Kopfweh weg?"Er nickte. „Ehrlich?"„Ja."„Musst du denn wirklich schon gehen? Jetzt gleich? Sofort? „„Jetzt gleich. Sofort."Er befreite sich aus ihrer Umarmung. „Es geht um Mrs Hawkins. Gestern habe ich Bassett auf Knien angefleht, mich sie sofort operieren zu lassen. Mit einem schnellen, sauberen Kaiserschnitt am Nachmittag wäre alles erledigt gewesen. Aber was antwortet mir mein großmächtiger Chefarzt? ›Warten Sie bis Montag, Sherringham.‹ Und jetzt rufen sie mich an, dass ich sofort ins Krankenhaus und Mrs Hawkins operieren muss. Und das um ..."- er sah noch einmal auf die Uhr - „... zwanzig vor vier nach einer durchfeierten Nacht. Das hätten wir alles einfacher haben können."„Kannst du denn Auto fahren?«, fragte Daisy, während sie zurück unter die Bettdecke kroch. „Ich habe nicht so viel getrunken wie du, Liebling«, antwortete Tim und schritt langsam auf die Tür zu. „Außerdem habe ich keine andere Wahl. Wie es sich anhört, will Hawkins junior partout nicht mehr länger warten. Treffen wir uns um acht in der Kantine zum Frühstück?"„Du lädst mich immer in die besten Lokale ein ..."„Und ob ich das tue."Er blieb eine Sekunde lang in der offenen Tür stehen. „Ich liebe dich."„Ich dich auch."Die Versuchung, wieder einzuschlafen, war überwältigend groß. Daisy fielen die Augen zu, und sie glitt sanft hinüber in eine andere Welt, in der sie es mehr spürte als hörte, dass Tim den Raum verließ. Ihre letzten Gedanken beschäftigten sich mit Ärzten und der Tatsache, dass man nachts aus dem Bett geholt wurde. Warum hatten sie sich nicht einen Bauernhof gekauft oder waren Lokomotivführer geworden? Nein. Lokomotivführer mussten auch nachts arbeiten, und wenn in den frühen Morgenstunden eine Kuh kalbte, musste auch der Bauer in den Stall. Das wäre nichts anderes als ihr jetziges Leben. Ein paar Sekunden lang dachte Daisy noch darüber nach, dann überkam sie ein traumloser Schlaf, der alles andere auslöschte, selbst die Tatsache, dass Tim nicht mehr neben ihr im Bett lag. Das Piepen des Weckers, der immer noch neben dem Bett auf dem Boden lag, weckte Daisy auf. Ein paar Sekunden lang kämpfte sie mit ihrem Bedürfnis, ihn zum Schweigen zu bringen und sich noch eine Minute lang unter die Decke zu kuscheln. Aber dann setzte sie sich auf, öffnete die Augen und schlug die Bettdecke zurück. Tims dunkelbraune Fliege lag auf der Kommode neben ihrem Schmuck. War es wirklich so ein Aufwand, seine Sachen gleich beim Ausziehen aufzuräumen? Auf dem Weg zum Badezimmer musste sie über ihr Abendkleid aus schwarzem Taft steigen und nahm sich fest vor, es beim nächsten Mal sofort in den Schrank zu hängen. Was einem am Abend noch teuer und schick vorgekommen war, wirkte im hellen Licht des neuen Tages auf einmal billig und profan, und diese Erkenntnis war mindestens so unangenehm wie der Kater, der sie an diesem Morgen plagte. Daisy drehte den Mischhebel der Dusche auf fünfzehn Grad Celsius und bereitete sich innerlich auf den Anprall des kalten Wassers vor. Körper und Geist waren noch halb taub vom Schlaf. Hätte ihr Leben nur aus freien Abenden und Nächten bestanden, die sie mit Tim verbringen konnte, wäre die Welt für sie in Ordnung gewesen. Aber vielleicht würde einem ein solches Leben mit der Zeit langweilig, und sie würden freiwillig einen oder zwei Nachmittage in der Woche arbeiten, nach einem langen, faulen Vormittag, den sie mit Kaffeetrinken und Zeitunglesen verbracht hatten. So wie ihre Sonntage gewesen waren, als sie beide noch keinen so vollen Dienstplan gehabt hatten. Aber das war nur ein Wunschtraum. Er hatte mit der Realität, die für sie und Tim ein einziger, nicht enden wollender Stress war, leider nicht das Geringste zu tun. Bibbernd stellte Daisy die Dusche ab und griff nach dem Handtuch, um sich abzutrocknen. Zwanzig Minuten, nachdem sie aus dem Bett gestiegen war, schloss sie die Wohnungstür ab, fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss und verließ das Gebäude. Ungeduldig klapperte sie mit den Autoschlüsseln, während sie die Straße nach ihrem Fiat absuchte. Aber sie fand nur Tims Mercedes. „Du Schuft«, murmelte sie verärgert. Tim wusste genau, wie ungern sie mit seinem Wagen fuhr, ganz abgesehen davon, dass man als Assistenzärztin nicht mit einem solchen Luxusschlitten aufkreuzen konnte. Auch für Tim war das peinlich. Wenn sein Bruder ihnen schon einen Wagen zur Hochzeit schenken musste, hätte er besser irgendein unauffälliges kleines Fahrzeug wählen sollen und nicht dieses stinknoble Statussymbol, bei dem Daisy immer Angst hatte, dass sie beim Einparken seinen Metalliclack verkratzte. Sie öffnete die Fahrertür und warf, bevor sie einstieg, ihre Tasche auf die Rückbank. Wenigstens war so früh am Morgen noch nicht allzu viel Verkehr. In einer Stunde sah das ganz anders aus; da herrschte dann Berufsverkehr und auf den Straßen das Chaos. Während sie mit dem Sitz nach vorne rutschte, stellte Daisy sich mit einem gemeinen Lächeln vor, wie Tim sich in ihren kleinen Fiat hatte hineinzwängen müssen. Das letzte Mal hatte er sich dabei schmerzhaft das Knie angeschlagen. Der Gedanke an Tims Unannehmlichkeiten versöhnte sie ein wenig mit dem Mercedes. Sie startete den Motor und legte mit einem hörbaren Knirschen den Rückwärtsgang ein. Langsam und vorsichtig steuerte sie das breite Fahrzeug aus der Parklücke. Bis sie auf der Autobahn war, hatte sich Daisy an den Mercedes gewöhnt. „Der Wagen ist für die Autobahn gebaut«, hörte sie Tim sagen und trat aufs Gas. Sie lehnte sich zurück und entspannte sich. Es war kindisch, Richard Vorwürfe wegen des Autos zu machen. Tim verdankte seinem Bruder viel, nicht nur seine Ausbildung und die Wohnung, die ebenso wie der Wagen ein Hochzeitsgeschenk gewesen war. Wenn Tim es ihm nicht verboten hätte, hätte Richard ihnen noch viel mehr geschenkt. Was Daisys Minderwertigkeitskomplex gegenüber ihrer neuen Familie anbelangte, war diese Großzügigkeit allerdings nicht gerade hilfreich. Daisy, die aus der Mittelschicht stammte, hatte sich ihr Medizinstudium hart erarbeiten müssen und fand den Lebensstil der Sherringhams, mit dem sie durch Tim jetzt konfrontiert wurde, ziemlich gewöhnungsbedürftig. Da war zunächst einmal das zweihundert Jahre alte Herrenhaus, das Richard gehörte und das Tim immer noch als sein Zuhause bezeichnete. Daisy schaffte es einfach nicht, so wie er an der zweiflügeligen Eingangstür mit dem Butler ein paar lockere Worte zu wechseln. Alles in dem Haushalt - von der luxuriösen, geschmackvollen Inneneinrichtung bis hin zu den ausgeklügelt inszenierten Abendgesellschaften - gehörte ihrer Meinung nach nicht ins wirkliche Leben, sondern auf die Seiten eines High-Society-Magazins. Richard und seine Frau Joanna lebten in einer glanzvollen Welt, in der Geschmackloses und Widerwärtiges - also letztendlich die Wirklichkeit - nichts zu suchen hatten. Ihr Leben hätte eine gute Kulisse für einen glamourösen Hollywoodfilm abgegeben, aber Daisy war nun einmal jemand, der sich solche Streifen lieber vom Parkett aus mit einer Tüte Popcorn in den Händen ansah, als in ihnen mitzuspielen. Aber sie durfte ihr Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, nicht Richard und Joanna zum Vorwurf machen. Weder er noch sie hatten jemals auch nur andeutungsweise verlauten lassen, dass ihre Schwägerin ihnen weniger wert war als all die reichen und berühmten Leute, die sich im Anwesen der Sherringhams die Klinke in die Hand gaben. Obwohl Daisy ihrer Meinung nach sozialistischen Idealen nachhing und sich ihre Kleidung von der Stange kaufte, hatten sie Tims Frau mit offenen - wenn auch ein wenig kühlen - Armen in ihre Familie aufgenommen. Daisy hatte rasch erkannt, dass sich die etwas steife Art der beiden nicht nur auf sie beschränkte. Richard und Joanna behandelten alle Menschen zurückhaltend und distanziert - mit Ausnahme von Tim. Niemand konnte Tim gegenüber gleichgültig bleiben, auch sein Bruder nicht, obwohl Tim kein Teil von Richards Welt mehr war. Er hatte ihr Lebewohl gesagt. Aber hatte er das wirklich? Daisy spürte, dass es tief in ihrem Inneren erhebliche Zweifel gab. Tim hörte immer noch häufig auf Richard, und Richard lästerte ziemlich oft über das von der staatlichen Gesundheitsbehörde betriebene städtische Krankenhaus, in dem Tim und Daisy arbeiteten. Seine sarkastischen Bemerkungen über die veraltete technische Ausrüstung dort und die langen Wartelisten auf Operationen hatte Daisy noch immer im Ohr. Dabei vergaß Richard meistens, dass beides auf die ungenügenden finanziellen Mittel zurückzuführen war, die der Staat für seine Krankenhäuser zur Verfügung stellte. Eine weitere Folge dieser chronischen Unterfinanzierung war die Tatsache, dass Tim und Daisy ständig Überstunden und Bereitschaftsdienste schieben mussten und deshalb so gut wie kein Privatleben mehr hatten. Auch das war ein Grund dafür, dass jede von Richards Spitzen gegen das Krankenhaus Daisy durch Mark und Bein gingen. Sie hatte Angst, vor lauter Frustration über ihren Job in die Welt der Sherringhams hineingezogen und in etwas verwandelt zu werden, was Joanna als Inbegriff der idealen Frau ansah: perfekt frisiertes Haar, penibel lackierte Nägel und ein Gesicht, das man unter dicken Make-up-Schichten kaum wiedererkennen konnte. Dazu käme noch eine komplette Neuprogrammierung ihres Verhaltens, damit sie bei allen nur erdenklichen sozialen Anlässen immer nur den allerbesten Eindruck machte. Ihre Karriere hätte sich natürlich der von Tim unterzuordnen - so wie Joanna ihre Ambitionen als Psychiaterin zugunsten von Richards Plänen hatte aufgeben müssen. „Beim Privatleben geht es nicht um Quantität, sondern um Qualität, Richard."Diesen Satz hatte Tim zum ersten Mal geäußert, als Richard ihn zur Arbeit in dessen Klinik hatte überreden wollen, und sein erfrischendes Lachen danach wärmte Daisy noch heute das Herz. „Joanna und ihre Partys können mir den Buckel hinunterrutschen «, murmelte sie und glaubte, Joannas sündhaft teures Parfüm sogar noch hier im Wagen riechen zu können. Plötzlich wurde Daisy unsanft in die Gegenwart zurückgerissen, als ein roter Porsche sie mit grell aufgeblendeten Scheinwerfern von der rechten Spur scheuchte. „Vollidiot!«, rief sie dem Fahrer zu, der sie natürlich nicht hören konnte. Gib einem Mann mit grauen Schläfen einen Sportwagen, dachte sie, und er mutiert zum jugendlichen Raser, selbst wenn es ihn und andere Verkehrsteilnehmer das Leben kostet. Ihrem Ausbruch folgte eine tiefe Mutlosigkeit. Aus bitterer Erfahrung wusste sie, dass ihre Wut sinnlos und, schlimmer noch, destruktiv war. Wenn sie mit Tim zusammen war, dann wusste sie genau, dass er sie liebte und voll und ganz zu dem Leben stand, das sie gemeinsam führten. Es war albern, daran zu zweifeln, nur weil sie auf einer von Richards und Joannas blöden Partys gewesen war. Sie musste ihre Zweifel begraben. Sie musste positiv denken. Die guten Seiten ihres Lebens mit Tim sehen und sich keine Gedanken über etwaige schlechte Seiten machen, die vielleicht noch kommen würden. Was konnte sie außerdem schon tun, wenn Tim sich wirklich veränderte und auf Richards Drängen hin mit ihm zusammen die Leitung der Holbourne-and-Sherringham-Klinik übernahm? Daisy dachte an das letzte Wochenende, das Tim und sie gemeinsam verbracht hatten. War das vor einem Monat gewesen - oder vor zwei? Sie hatten mit ihrem Boot einen Ausflug an die Küste gemacht und drei Tage - und zwei Nächte - lang in einer einsamen Bucht vor Anker gelegen. Ohne Telefon, ohne Piepser, ohne Richard. Nur sie beide. Tim hatte recht: Es ging nicht um die Quantität, sondern um die Qualität der Zeit, die man gemeinsam verbrachte. Sie fuhr von der Autobahn herunter und kam über einen Zubringer ziemlich rasch zum Krankenhaus, wo sie den Mercedes auf einem der für Oberärzte reservierten Parkplätze abstellte. Auch wenn Tim ihren Fiat für die Hinfahrt zum Krankenhaus genommen hatte, würde er es sein, der mit dem Statussymbol nach Hause fuhr; das stand für sie fest. Daisy schnappte sich ihre Tasche vom Rücksitz und eilte mit raschen Schritten ins Krankenhaus. „Guten Morgen, Dr. Sherringham. Schönes Wetter heute."„Wunderbares Wetter, John."Sie lächelte den Portier an, während sie hinüber zu den Aufzügen ging und dabei auf ihre Uhr sah. Es war kurz vor acht. Daisy fragte sich, ob Tim wohl schon in der Kantine auf sie wartete oder ob er noch im OP war. Nachtdienste im Krankenhaus zogen sich oft bis weit in den Tag hinein, besonders auf der Entbindungsstation. „Nur faule Menschen fahren Lift«, hörte Daisy eine Stimme hinter sich sagen. „Wer aktiv und gesundheitsbewusst ist, nimmt die Treppe."„Heute darfst du für uns beide aktiv und gesundheitsbewusst sein, Judy«, erwiderte Daisy mit einem leisen Gähnen, während sie in die Aufzugkabine trat. „Ich habe nie behauptet, dass ich zu den Aktiven gehöre«, sagte Judy und trat neben sie. „Ich beobachte sie lediglich genau. Fährst du rauf zur Kantine?"Daisy nickte. „Du siehst ja nicht gerade taufrisch aus«, bemerkte Judy mit einem fröhlichen Grinsen und drückte den Knopf für den zehnten Stock. „Ist es denn bei dem Grillabend der Chirurgen gestern Abend so wild zugegangen?"„Ich war nicht auf dem Grillabend. Tims Bruder hatte zum Abendessen eingeladen."„Sieh mal einer an. Der berühmte Dr. Sherringham hat sich wieder einmal der beiden Plebejer selben Namens erbarmt. „„Genau."Daisy bereitete sich auf den leichten Stoß vor, den die Krankenhauslifts durch ihren abrupten Halt auslösten, wenn sie ihr Ziel erreichten. „Wo bist du denn heute Morgen?"„Bei der Schwangerschaftsberatung."Judy trat aus dem Fahrstuhl und öffnete die Tür zur Kantine. „Und du?"„Bei mir steht eine Operation an."„Doch nicht mit ..."„Ihrer Großmächtigkeit höchstpersönlich«, erklärte Daisy mit einem grimmigen Lächeln und nahm sich ein nicht allzu sauberes Tablett von dem Stapel an der Theke. Sie ließ den Blick durch die etwa halbvolle Kantine schweifen, konnte aber an keinem der Tische Tim entdecken. Anschließend wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu. „Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?"„Du darfst, aber ehrlich gesagt, hätte ich lieber einen Orangensaft. Der ist wenigstens aus fairem Handel. Wo ist eigentlich Tim?"„Er musste mitten in der Nacht zu einem Notfall. Das Hawkins- Baby."„Armer Tim. War bestimmt hart, so früh aufzustehen."„Besonders, wenn man um vier Uhr früh erst eine Stunde geschlafen hat."„Wem sagst du das?"Judy nahm einen Teller mit Toast von der Warmhalteplatte. „Möchtest du auch einen?"„Igitt."„Ich schätze mal, das soll heißen: Nein, danke, liebste Freundin."Judy packte Daisy am Arm. „Vorsicht! Da kommt die Nervensäge höchstpersönlich."Daisy schnappte sich ihren Kaffee und ging rasch zu einem Tisch in der hintersten Ecke des Raumes. Judy eilte ihr hinterher. „Er kommt zu uns."„Das tut er doch immer«, murmelte Daisy mit zusammengebissenen Zähnen. „Der ist bestimmt verliebt in dich."„Oder in dich«, konterte Judy. „Unmöglich. Ich bin eine verheiratete Frau."„Meinst du im Ernst, das hindert ein Arschloch wie Eric Hedley daran, eine Frau anzumachen?"Ein Schatten fiel über ihren Tisch. „Na, ihr Süßen, ist bei euch noch ein Plätzchen frei?"„Wir sind keine Süßen, wir sind Ärztinnen«, erwiderte Judy trocken. „Und da du dir eh schon einen Stuhl herangezogen hast, ist deine Frage völlig überflüssig."„Wo ist heute Morgen eigentlich unser blauäugiger Junge?«, fragte Eric. „Welcher blauäugige Junge?«, fragte Daisy, die nur zu genau wusste, dass Tim damit gemeint war. „Na, welcher denn schon? Tim natürlich, der Traum unserer schlaflosen Nächte."„Der Neid steht dir nicht gut, Eric«, schnurrte Judy sarkastisch. „Wir alle wissen, wie scharf du auf Tims Posten warst, aber zum Glück für die Menschheit hat ihn der Bessere gekriegt. „„Da wäre ich mir an deiner Stelle mal nicht so sicher«, konterte Eric rasch. „Ich komme gerade aus dem Kreißsaal. Mrs Hawkins' Fruchtblase ist um halb acht geplatzt, und das Baby ist in Lebensgefahr."Daisy starrte Eric an. „Aber Tim ist doch -"„Tim ist nirgendwo aufzutreiben«, unterbrach sie Eric. „Die piepsen ihn seit ..."- er blickte auf die Uhr - „... fünfunddreißig Minuten an; aber unser allseits geschätzter Oberarzt meldet sich nicht, obwohl er Bereitschaftsdienst hat."„Das ist ja lächerlich«, erwiderte Daisy. „Tim hat in aller Herrgottsfrühe die Wohnung verlassen."Eric hob fragend eine Augenbraue. „Also hier ist er jedenfalls nicht. Ich hatte heute Nachtdienst. Sechs Notfälle und keine Hilfe. Sie rufen jetzt Bassett an, und ich wäre als Chefarzt alles andere als erfreut, wenn man mich aus dem Bett schmeißen würde, bloß weil mein Oberarzt etwas Wichtigeres zu tun hat, als auf einen Notruf zu reagieren."„Tim ist kurz vor vier von zu Hause losgefahren«, sagte Daisy bestimmt. „Er hätte spätestens um halb fünf hier sein müssen."„Dann muss er so etwas wie ein Hellseher sein«, höhnte Eric. „Er wurde nämlich erst um halb acht von hier aus angerufen. Lasst mich raten."Er blickte Daisy direkt in die Augen. „Könnte es vielleicht möglich sein, dass unser Goldjunge seine Frau betrügt? Aber was immer er auch tut, sein großer Bruder wird es schon wieder richten. Schließlich hat der ja die mächtige Medizin-Mafia hinter sich."Ein Ausdruck selbstgefälliger Zufriedenheit huschte über Erics schwammiges Gesicht, das Daisy immer an das eines überfütterten, kastrierten Katers erinnerte. Sie hob ihre Kaffeetasse und schüttete den Inhalt in Erics Gesicht. Er schrie laut auf, aber Daisy wartete nicht, um herauszufinden, ob vor Schmerz oder vor Schreck. Vielmehr schob sie ihren Stuhl so heftig zurück, dass er umfiel, und rannte aus der Kantine, ohne sich um den von ihr hervorgerufenen Aufruhr zu kümmern. „Sei froh, dass das Kantinenkaffee war, sonst müsstest du dich jetzt in der Notaufnahme als Brandopfer behandeln lassen «, witzelte Judy. Dann eilte sie Daisy hinterher. Kurz vor dem Treppenhaus holte sie ihre Freundin ein und fragte: „Wo willst du hin?"„Auf die Entbindungsstation«, erwiderte Daisy, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. Judy legte ihr eine Hand auf den Arm. „Wenn Tim in Schwierigkeiten ist, wird er dich dort vielleicht nicht gerne sehen."„Falls er da ist und sich um Mrs Hawkins kümmert, nimmt er mich sowieso nicht wahr. Aber falls er mich braucht ..."„Ich komme mit«, beschloss Judy. „Nein ..."Daisy wandte sich ihr zu. „Nun mach schon«, befahl Judy, „sonst kommen wir beide zu spät zur Schicht."„Nein, Dr. Sherringham, Ihr Mann war heute noch nicht hier, und wir haben ihn auch nicht vor halb acht angerufen. Und nein, bei Ihnen zu Hause geht niemand ans Telefon. Ich kann ja verstehen, dass Sie sich Sorgen machen, aber ich muss mich jetzt um meine Patienten kümmern. Entschuldigen Sie mich bitte."Die Schwester drehte sich demonstrativ zu ihrem Rollwagen mit Medikamenten. Doch Daisy fragte weiter, obwohl die Krankenschwester ihr nun den Rücken zuwandte. „Und was ist mit dem Hawkins-Baby? „„Der Fötus war nicht lebensfähig."Es war eine sachliche Feststellung, wie man sie in einem Krankenhaus täglich hört, aber Daisy war jetzt für sachliche Feststellungen nicht allzu empfänglich. Sie ballte die Hände zu Fäusten und steckte sie tief in die Taschen ihres weißen Arztkittels. „Sonst noch etwas?«, fragte die Schwester spitz und drehte sich um. „Nein, nichts, vielen Dank."Daisy trat einen Schritt zur Seite und ließ die Schwester mit ihrem Rollwagen vorbeifahren. „Tim trifft daran keine Schuld«, sagte Judy. „Er hat mir erzählt, dass er bei Mrs Hawkins schon gestern einen Kaiserschnitt machen wollte."„Das macht das Baby auch nicht wieder lebendig«, erwiderte Daisy matt. „Außerdem ist das in der Medizin nun mal so. Manche Patienten kann man retten, andere verliert man. Haben sie dir das im Studium nicht beigebracht? Hier können wir jedenfalls nichts mehr tun, und es ist gleich halb neun."Judy nahm ihre Freundin am Arm und führte sie zum Hauptkorridor. „Wenn du nicht sofort in den OP gehst und dich umziehst, wird der heutige Tag das Waterloo für zwei Dr. Sherringhams."„Tim muss irgendwas zugestoßen sein. Er hat noch nie einen Notruf ignoriert."Daisy sah sich hektisch im Korridor um. „Er hat vielleicht einen Unfall gehabt oder ..."„Geh du zu deiner OP. Ich suche inzwischen nach Tim, und sobald ich ihn gefunden habe, gebe ich dir Bescheid."„Versprichst du mir das?"Daisy sah ihre Freundin mit dunklen, schmerzerfüllten Augen an. „Versprochen."Judy nahm Daisys Hand und drückte sie beruhigend. „Wahrscheinlich ist ihm ein anderer Notruf dazwischengekommen. Du weißt ja, wie Tim ist: erst Arzt, dann Ehemann. Ich dachte, das war dir klar, als du ihn geheiratet hast."„Glaubst du wirklich, dass es so war?«, fragte Daisy mit einem verzweifelten Unterton in der Stimme. „Natürlich."„Und du benachrichtigst mich, sobald du ihn gefunden hast?"„Sowieso. Und jetzt mach, dass du weiterkommst. Der Hausdrache hasst es, wenn man ihn warten lässt."Miss Palmer-Smith war an diesem Vormittag in Höchstform, und gegen Viertel nach neun hatte Daisy das Gefühl, dass sie und die anderen Assistenzärzte ganz persönlich für sämtliche Unzulänglichkeiten im Operationssaal - wenn nicht sogar im ganzen Krankenhaus - verantwortlich waren. Der routinemäßigen Entfernung eines Blinddarms folgte eine routinemäßige Bruchoperation, doch Daisy passierte es immer wieder, dass sie ein Kommando der Oberärztin entweder nicht hörte oder nicht richtig interpretierte. Und als sie durch eine beiläufige Bemerkung daran erinnert wurde, dass Miss Palmer-Smith eine persönliche Freundin von Richard war, ging es ihr auch nicht besser. Einige Minuten bevor der letzte Patient des Vormittags in den Operationssaal geschoben wurde, schaute Alan Cummins, Tims Kollege aus der Entbindungsstation, durch das runde Sichtfenster herein. Er blieb so lange, bis Daisy zu ihm blickte und er mit den Lippen den Satz formen konnte: „Tim ist hier im Krankenhaus."Dann verschwand er wieder. Der letzte Patient war eine Sie, und hatte sich Daisy bisher nur inkompetent gefühlt, kam sie sich jetzt wie eine Idiotin vor. Innerhalb der nächsten fünf Minuten ließ sie ein Instrument fallen, rempelte beim Zurückgehen eine Schwester an und schlug schmerzhaft mit ihrer Hüfte gegen den Operationstisch. „Haben wir noch irgendwelche Notfälle?«, fragte die Oberärztin, nachdem die eigentliche Operation beendet war und nur noch die Wunde zugenäht werden musste. „Nein, Miss Palmer-Smith«, antwortete Daisy hinter ihrer Gesichtsmaske. „Da bin ich aber froh. Nähen Sie bitte zu, Dr. Sherringham. „„Ja, Miss Palmer-Smith. Vielen Dank«, antwortete Daisy automatisch und fragte sich, weshalb sie der Oberärztin dankbar war. Vielleicht dafür, dass der Vormittag endlich vorbei war. Miss Palmer-Smith rauschte aus dem Operationssaal, und Daisy hatte alle Mühe, sich auf die Patientin zu konzentrieren. In ein paar Minuten würde sie Tim sehen und ihn fragen können, was das alles auf sich hatte. Hatte es vielleicht einen Unfall auf der Autobahn gegeben? Hatte er einen Verletzten betreuen müssen? Aber warum hatte Daisy dann auf der Fahrt ins Krankenhaus nichts gesehen? Und warum hatte er den Verletzten nicht hierherbringen lassen? Schließlich war das hier das einzige große Krankenhaus in weitem Umkreis. Es sei denn, er hatte ihn in Richards Klinik gebracht. Natürlich. Das musste es sein. Richards Klinik lag näher an der Stadt ... Die Gedanken flatterten durch Daisys Kopf wie Tauben, die sich um ein Stück Brot rauften. „Sind Sie bald fertig?«, fragte Mike Edmunds, der Narkosearzt. „Ich müsste wissen, wann ich sie wieder zurückholen kann."Daisy blickte hinüber zu dem schmalen Mann, der am Kopf der Patientin, halbverborgen hinter einem Gewirr aus Schläuchen und Flaschen, neben dem Operationstisch saß. „Eine Minute noch«, antwortete Daisy und spürte, wie ihre innere Spannung nachließ. Miss Palmer-Smith war eine erstklassige Chirurgin, das musste ihr der Neid lassen, aber die Atmosphäre, die sie beim Operieren verbreitete, konnte einem die Freude an der Arbeit gründlich vermiesen. Und das war weder für die Mitarbeiter noch für die Patienten gut. Mit großer Sorgfalt setzte Daisy die letzten Fäden im Unterleib der Patientin. „Sehr schön«, bemerkte Mike anerkennend. „Stopfst du eigentlich Tims Socken auch so gewissenhaft?"„Manchmal«, erwiderte Daisy geistesabwesend. „Übrigens, es tut mir leid, dass Tim Schwierigkeiten hat. Wenn ich euch irgendwie helfen kann ..."„Danke, Mike«, erwiderte Daisy und lächelte ihn an. Mikes ehrlich klingendes Angebot wärmte ihr das Herz. Außerdem würde sie bald - sehr bald - wieder bei Tim sein. Ob er vielleicht schon im Umkleideraum vor dem Operationssaal auf sie wartete? Beschwingt schnitt sie den letzten Faden ab. „Fertig!"„Ich bleibe noch eine Weile bei ihr«, sagte Mike, während er den Kopf der Patientin nach hinten neigte. „Und du gehst und holst dir einen Kaffee. Du siehst aus, als könntest du einen gebrauchen."
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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Autoren-Porträt von Katherine John
Katherine John ist die Tochter einer deutschen Mutter und eines walisischen Vaters. Sie wurde in Pontypridd geboren und studierte Englisch und Soziologie in Swansea. Katherine John lebte in Amerika und Europa, bevor sie nach Wales zurückkehrte und sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrer Familie auf der Gower-Halbinsel in der Nähe von Swansea.
Bibliographische Angaben
- Autor: Katherine John
- 2014, 1, 480 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655958
- ISBN-13: 9783863655952
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