Das Ritual der Rache / Commissario Montalbano Bd.13
Commissario Montalbanos dreizehnter Fall. Roman
Nahe der sizilianischen Stadt Vigata wird eine Leiche gefunden. Commissario Montalbano fühlt sich an die Judas-Geschichte erinnert: Der Tote wurde in 30 Stücke zerteilt und im "Töpferland" verscharrt. Zuvor war er durch einen Genickschuss hingerichtet worden.
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Produktinformationen zu „Das Ritual der Rache / Commissario Montalbano Bd.13 “
Nahe der sizilianischen Stadt Vigata wird eine Leiche gefunden. Commissario Montalbano fühlt sich an die Judas-Geschichte erinnert: Der Tote wurde in 30 Stücke zerteilt und im "Töpferland" verscharrt. Zuvor war er durch einen Genickschuss hingerichtet worden.
Klappentext zu „Das Ritual der Rache / Commissario Montalbano Bd.13 “
Im Umland von Vigàta liegt ein Toter in einem Plastiksack. In dreißig Teile zerstückelt, der Schuss in den Nacken deutet auf Rache wegen Verrats hin. Commissario Montalbano fühlt sich an eine Geschichte aus dem Evangelium erinnert: an den Verrat des Judas. Die blühende Fantasie eines Commissario? Oder die Tat eines bibelfesten Mafioso?Mörderische Raffinesse, mediterranes Flair und ein Feuerwerk an temperamentvollen Dialogen - Andrea Camilleri versprüht nachhaltig das Lebensgefühl seiner sizilianischen Heimat.
Lese-Probe zu „Das Ritual der Rache / Commissario Montalbano Bd.13 “
Das Ritual der Rache von Andrea CamilleriEins
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Lautes, unablässiges Klopfen an der Haustür weckte ihn auf. Ein verzweifeltes Hämmern mit Händen und Füßen. Eigentümlich war nur, dass keiner klingelte. Er blickte zum Fenster: Durch die geschlossenen Läden drang nicht die frühe Morgendämmerung, draußen herrschte noch tiefe Dunkelheit. Oder besser gesagt, durch das Fenster fiel gelegentlich ein tückischer Blitz, in dessen Licht das Zimmer zu erstarren schien, gefolgt von einem Donnern, das die Scheiben klirren ließ. Tags zuvor hatte das Gewitter angefangen, und es wurde immer heftiger. Jedoch, und das war merkwürdig, war das Tosen des Meeres nicht zu hören, das inzwischen den Strand bis unterhalb der Veranda verschlungen haben musste. Er tastete suchend nach dem Fuß der Nachttischlampe, drückte auf den Knopf, der klick machte, doch das Licht ging nicht an. War die Birne durchgebrannt oder gab es keinen Strom? Er stand auf, und ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken. Durch den Fensterladen drangen nicht nur Blitze, sondern auch schneidend kalter Wind. Der Lichtschalter für die Deckenlampe ließ ebenfalls kein Licht aufflammen. Vielleicht war der Strom wegen des Gewitters ausgefallen.
Das Klopfen hörte nicht auf. In diesem Aufruhr meinte er auch eine Stimme zu hören, die verzweifelt nach ihm rief.
»Ich komm ja schon, ich komm ja schon!«, rief er.
Weil er nackt geschlafen hatte, suchte er nach etwas, das er sich überwerfen konnte, doch er fand nichts. Er war sich sicher, dass er die Hose über den Stuhl am Fußende des Bettes gelegt hatte. Vielleicht war sie hinuntergefallen. Aber er konnte nicht noch weitere Zeit mit Suchen vergeuden. Er ging zur Haustür.
»Wer ist denn da?«, fragte er, ohne zu öffnen.
»Bonetti-Alderighi. Machen Sie auf, schnell!«
Er war völlig überrumpelt, ein Schwindelgefühl erfasste ihn. Der Polizeipräsident? Was hatte das denn zu bedeuten? Oder sollte das ein blöder Streich sein?
»Einen Augenblick.«
Er holte schnell die Taschenlampe, die er in der Schublade des Esszimmertischs aufbewahrte, knipste sie an und öffnete. Wie versteinert blieb er stehen, als er den Polizeipräsidenten völlig durchnässt vom Regen vor sich sah. Bonetti-Alderighi trug einen schwarzen Hut und einen Regenmantel, dessen linker Ärmel zerrissen war.
»Lassen Sie mich durch.«
Montalbano trat zur Seite, und der andere ging an ihm vorbei. Der Commissario folgte ihm automatisch, fast wie ein Schlafwandler, und vergaß, die Tür zu schließen, die nun im Sturmwind schlug. Sobald Bonetti-Alderighi in Reichweite des erstbesten Stuhls war, setzte er sich, oder vielmehr: Er brach auf ihm zusammen. Vor Montalbanos erschütterten Blicken vergrub er sein Gesicht in den Händen und fing an zu weinen.
Mit der Geschwindigkeit eines Flugzeugs vor dem Abheben rasten die Fragen durch Montalbanos Kopf. Sie tauchten auf und verschwanden wieder, sie formten sich und vergingen derart rasch, dass es ihm unmöglich war, auch nur eine von ihnen klar und deutlich festzuhalten. Er war nicht einmal in der Lage, den Mund aufzumachen.
»Können Sie mich in Ihrem Haus verstecken?«, fragte ihn der Polizeipräsident mit ängstlicher Dringlichkeit. Verstecken? Wieso musste sich der Polizeipräsident verstecken? Wollte er untertauchen? Was hatte er verbrochen? Wer war hinter ihm her?
»Ich ... ich verstehe nicht, was ...«
Bonetti-Alderighi sah ihn fassungslos an.
»Ja, was denn, Montalbano, Sie wissen noch gar nichts?« »Nein.«
»Die Mafia hat heute Nacht die Macht übernommen!« »Was sagen Sie da?! «
»Was hatten Sie denn gedacht, wie es in unserem unglücklichen Land weitergehen würde? Ein nettes Gesetz hier, ein nettes Gesetz da, und am Ende landen wir dort, wo wir jetzt stehen. Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?«
»So... sofort.«
Ihm war gleich klar, dass der Polizeipräsident nicht mehr ganz bei sich war. Vielleicht hatte er ja einen Autounfall gehabt und redete nun wirres Zeug, weil er unter Schock stand. Am besten, er rief im Polizeipräsidium an. Vielleicht war es auch besser, einen Arzt zu rufen. Jedenfalls durfte der arme Kerl zunächst keinen Verdacht schöpfen. Daher musste er fürs Erste auf Bonetti-Alderighi eingehen.
Er betrat die Küche, drückte aus Gewohnheit wieder auf den Lichtschalter, und das Licht ging an. Er füllte ein Glas, kehrte zurück und hielt an der Tür inne, wie gelähmt. Eine der heutzutage üblichen Skulpturen, die den Titel »Männlicher Akt mit Glas in der Hand« hätte tragen können.
Das Zimmer war zwar hell, aber Bonetti-Alderighi war verschwunden. An seiner Stelle saß ein vierschrötiger kleiner Mann mit einer Schiebermütze auf dem Kopf, den er sofort erkannte. Totò Riina! Er war aus dem Gefängnis entlassen worden! Demnach war Bonetti-Alderighi also gar nicht übergeschnappt. Das, was er ihm gesagt hatte, war die schlichte Wahrheit!
»Bonasira«, sagte Riina in breitestem Sizilianisch. »Verzeihen Sie Zeit und Umstände meines Besuchs, aber ich bin in Eile, und draußen wartet ein Hubschrauber auf mich, der mich gleich nach Rom bringt, wo ich die Regierung zusammenstellen werde. Den einen oder anderen Namen habe ich schon: Bernardo Provenzano, stellvertretender Ministerpräsident, einen der Caruana-Brüder als Außenminister, Leoluca Bagarella als Verteidigungsminister ... Zu Ihnen komme ich mit einer Frage, die Sie, Montalbano, mir jetzt sofort mit Ja oder Nein beantworten müssen. Wollen Sie mein Innenminister werden?«
Doch bevor Montalbano antworten konnte, tauchte Catarella im Zimmer auf. Er musste durch die offen stehende Tür hereingekommen sein. Er hielt den Revolver in der Hand und zielte auf den Commissario. Dabei liefen ihm dicke Tränen über das Gesicht.
»Dottori, wenn Sie jetzt Ja sagen zu diesem Verbrecher da, dann bring ich Sie persönlich selbst um!«
Doch durch das Reden hatte er sich ablenken lassen, und schneller als eine Schlange glitt Riina auf ihn zu, entwand ihm den Revolver und schoss. Das Licht im Zimmer erlosch und...
Montalbano erwachte. Das einzig Echte an seinem Traum war das Gewitter, in dem die offen gelassenen Fensterläden schlugen. Er stand auf, machte sie zu und legte sich wieder hin, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte. Vier Uhr morgens. Er wollte wieder einschlafen, doch hinter hartnäckig geschlossenen Augenlidern fand er sich wieder im Zwiegespräch mit Montalbano zwei.
Was sollte dieser Traum bedeuten?
Wieso willst du eine tiefere Bedeutung darin erkennen, Montalbà? Kommt es nicht häufiger vor, dass du beschissene Träume hast, 'tschuldigung, Träume ohne Hand und Fuß?
Das behauptest du, dass sie weder Hand noch Fuß haben, weil du nicht mehr Verstand hast als ein Stück Vieh. Du siehst das so, aber geh mal zu Herrn Freud und erzähl ihm davon, dann wirst du schon sehen, was der da alles herausliest!
Warum sollte ich zu Herrn Freud gehen und ihm meine Träume erzählen?
Weil du, wenn du es nicht schaffst, dir den Traum zu erklären oder ihn dir deuten zu lassen, nicht mehr einschlafen kannst.
Okay, von mir aus. Dann frag.
Was hat dich am meisten erschreckt von all dem, was du geträumt hast?
Der Umstand des fliegenden Wechsels.
Welcher?
Dass auf Bonetti-Alderighis Platz Totò Rüna saß, als ich aus der Küche zurückkam.
Drück dich genauer aus.
Dass auf dem Platz des Polizeipräsidenten, des Vertreters des Gesetzes, die Nummer eins der Mafia saß, der Boss aller Gesetzesgegner.
Du sagst mir also gerade, dass du in deinem Zimmer, in deinem Haus, inmitten all deiner Besitztümer sowohl das Gesetz beherbergt hast als auch die Verkörperung all dessen, was außerhalb des Gesetzes steht.
Ja, und?
Kann es nicht sein, dass die Demarkationslinie zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit in dir jeden Tag etwas mehr verschwimmt?
Jetzt red keinen Stuss!
Dann betrachten wir es doch mal von einer anderen Seite. Worum haben sie dich gebeten?
Bonetti-Alderighi hat mich gebeten, ihn zu verstecken. Er hat mich um Hilfe gebeten.
Und das hat dich erstaunt?
Natürlich!
Und worum hat dich Riina gebeten?
Sein Innenminister zu werden.
Und das hat dich erstaunt?
Na ja, schon ...
Hat dich das genauso erstaunt wie die Bitte des Polizeipräsidenten, ihm zu helfen? Oder mehr? Oder weniger? Antworte ehrlich.
Na ja. Weniger.
Wieso hat dich das weniger erstaunt? Ist es denn normal für dich, dass ein Mafiaboss dich bittet, für ihn zu arbeiten?
Nein, das ist doch gar nicht die Frage. Riina war in diesem Augenblick ja kein Mafiaboss mehr, sondern jemand, der Ministerpräsident werden sollte! Und in seiner Eigenschaft als künftiger Ministerpräsident hat er mich gebeten, mit ihm zusammenzuarbeiten!
Halt. Hier geht es um zwei verschiedene Dinge. Entweder denkst du, die Tatsache, dass er Ministerpräsident wird, löscht alle seine früheren Verbrechen aus, einschließlich der Morde und Massaker, oder du gehörst zu den Bullen, die unter allen Umständen demjenigen dienen, der an der Macht ist, ohne sich darum zu scheren, wer er eigentlich ist, ob er ein anständiger Mensch ist oder ein Verbrecher, ob er Faschist ist oder Kommunist. Zu welcher der beiden Kategorien zählst du dich?
So nicht! Da machst du es dir zu einfach!
Wieso?
Weil Catarella aufgetaucht ist!
Und welche Bedeutung siehst du darin?
Dass ich Riinas Vorschlag tatsächlich abgelehnt habe. Aber du hast doch nicht einmal den Mund aufgemacht!
Das Nein habe ich durch Catarella gesagt. Er taucht auf, zielt mit dem Revolver auf mich und sagt zu mir, er würde mich umbringen, wenn ich einwillige. Catarella steht doch für mein Gewissen.
Was heißt das denn nun wieder, was dir da gerade herausgerutscht ist? Catarella soll dein Gewissen sein?
Wieso denn nicht? Erinnerst du dich, was ich dem Journalisten geantwortet habe, der mich eines Tages fragte, ob ich an Schutzengel glaube? Ich habe Ja gesagt. Und da hat er mich gefragt, ob ich jemals einen gesehen hätte. Und ich habe gesagt, ich würde meinen jeden Tag sehen. Hat er auch einen Namen?, fragte der Journalist. Und ich sofort: Er heißt Catarella. Das habe ich natürlich im Spaß gesagt. Aber hinterher, bei genauerem Nachdenken, habe ich begriffen, dass das gar nicht so sehr als Spaß gemeint war, sondern dass eigentlich sehr viel Wahrheit darin lag.
Was folgt daraus?
Dass die ganze Geschichte andersherum ausgelegt werden muss. Die Szene mit Catarella heißt doch, dass ich, statt Riinas Vorschlag anzunehmen, vor allem bereit war, mich zu erschießen.
Montalbà, bist du sicher, dass Freud sie so gedeutet hätte? Soll ich dir was sagen? Dieser Freud kann mir mal im Mondschein begegnen! Und jetzt lass mich schlafen, ich bin müde.
Als er aufwachte, war es schon nach neun. Zwar waren keine Blitze mehr zu sehen und auch kein Donner mehr zu hören, doch das Wetter draußen musste ekelhaft sein. Wer zwang ihn eigentlich aufzustehen? Die beiden alten Narben verursachten ihm Beschwerden, und auch irgendein Zipperlein, unerfreulicher Begleiter des Alters, war zusammen mit ihm wach geworden. Lieber noch ein paar Stunden schlafen. Er stand auf, ging ins Esszimmer, zog den Telefonstecker heraus, legte sich wieder hin, deckte sich zu und schloss die Augen.
Kaum eine halbe Stunde später schlug er sie wieder auf. Grund dafür war das ununterbrochene Schrillen des Telefons. Aber wie zum Teufel konnte es so schrillen, wo er doch sicher war, dass er den Stecker herausgezogen hatte? Wenn es also nicht das Telefon war, woher kam dann das Klingeln? Von der Türglocke natürlich, du Vollidiot! Er hatte das Gefühl, als würde in seinem Kopf so etwas wie Motoröl herumwirbeln, dickflüssig und klebrig. Er entdeckte seine Hose auf dem Boden, zog sie über und ging fluchend die Tür öffnen. Da stand Catarella, ganz außer Atem.
»Ah, Dottori, Dottori ...«
»Hör zu, kein Wort, nicht sprechen. Ich sage dir, wann du den Mund aufmachen darfst. Ich leg mich jetzt hin, du gehst in die Küche, machst mir einen starken Espresso, gießt ihn in eine große Tasse, rührst drei Löffelchen Zucker hinein und bringst ihn mir. Und dann erzählst du mir, was du mir zu erzählen hast.«
Als Catarella mit der dampfenden Tasse zu ihm zurückkehrte, musste er ihn wach rütteln. In den zehn Minuten war Montalbano wieder fest eingeschlafen. Was ist eigentlich los?, fragte er sich, während er den Espresso trank, der ihm wie dünne Malzkaffeebrühe vorkam. Heißt es nicht, dass man im Alter für gewöhnlich eher weniger Schlaf braucht? Aber wie kommt es dann, dass ich mehr Schlaf brauche, je älter ich werde?
»Dottori, wie ist der Espresso?«
»Hervorragend, Catarè.«
Und er lief ins Bad, um sich den Mund auszuspülen, sonst hätte er sich übergeben müssen.
»Catarè, ist die Sache dringend?«
»Wie man's nimmt, Dottori.«
»Dann warte, bis ich geduscht und mir was angezogen habe.«
Frisch und angekleidet ging er in die Küche und machte sich einen Espresso, der diesen Namen verdiente.
Als er wieder im Esszimmer war, fand er Catarella vor der Glastür, die auf die Veranda führte. Er hatte die Fensterläden geöffnet.
Es goss in Strömen. Das Meer war bis unterhalb der Veranda vorgedrungen, die hin und wieder beim Sog einer allzu heftigen Welle ruckelte.
»Darf ich jetzt reden, Dottori?«, fragte Catarella.
»Ja.«
»Dottori, sie haben einen Toten gefunden.«
Na, was für eine Entdeckung! Da musste wohl die Leiche von jemandem wieder aufgetaucht sein, der den weißen Tod gestorben war, wie die Journalisten das nannten, wenn jemand plötzlich spurlos verschwand. Aber warum musste man dem Tod überhaupt eine Farbe geben? Der weiße Tod! Als gäbe es auch einen grünen, einen gelben und so weiter. Wenn man dem Tod wirklich eine Farbe geben wollte, dann konnte es nur Schwarz sein, Pechschwarz.
»Frisch von heute?«
»Das haben sie mir nicht gesagt, Dottori.«
»Und wo hat man ihn gefunden?«
»Auf dem Land, Dottori. Ortsteil Pizzutello.«
Na klar! Eine unwegsame, gottverlassene Gegend voller Geröllfelder und Gestrüpp, wo eine Leiche heimisch werden konnte, ohne jemals entdeckt zu werden.
»Ist schon einer von unseren Leuten hingefahren?«
»Jaja, Dottori. Fazio und Dottori Augello sind schon vor Ort.«
»Und warum bist du dann hergekommen und gehst mir auf die Nerven?«
»Dottori, ich bitte um Verständigung und Vergebnis, aber Dottori Augello hat mich angerufen und mir gesagt, ich soll Ihnen sagen, dass Ihre Anwesenheit persönlich selbst am Ort unverzichtbar wäre. Und weil das Telefon, das von Ihnen also, nicht geantwortet hat, bin ich mit dem Jippi gekommen, um Sie abzuholen.«
»Warum mit dem Jeep?«
»Weil das Auto nicht an den Ort daselbst gelangen kann, Dottori.«
»Na gut, fahren wir.«
»Dottori, er hat mir auch noch gesagt, ich soll Ihnen sagen, dass es besser ist, wenn Sie Stiefel anziehen und Ihren Kopf mit einem Hut bedecken und einen Regenmantel anziehen.«
Montalbanos von einem Feuerwerk an Flüchen und Verwünschungen begleiteter Gefühlsausbruch ließ Catarella vor Schreck erstarren.
Nichts deutete darauf hin, dass der sintflutartige Regen vorhatte nachzulassen. Sie fuhren praktisch blind, denn die Scheibenwischer schafften es nicht, das Wasser beiseitezuschieben. Außerdem war der letzte Kilometer vor der Stelle, wo man die Leiche gefunden hatte, ein Mittelding zwischen einer Achterbahn und einem gerade stattfindenden Erdbeben der Stärke sieben auf der Richterskala. Die schlechte Laune des Commissario lud sich mit zentnerschwer lastendem Schweigen auf, das Catarella so nervös machte, dass er es fertigbrachte, auch nicht eine einzige der Vertiefungen auszulassen, die der Regen in kleine Seen verwandelt hatte.
»Hast du auch den Rettungsring dabei?«
Catarella antwortete nicht, er wäre am liebsten selbst der Tote gewesen, den sie sich nun anschauen wollten. Montalbanos Magen musste sich irgendwann umgestülpt haben, sodass er wieder den ekelhaften Geschmack der Malzkaffeebrühe im Mund hatte, die Catarella ihm zubereitet hatte.
Endlich hielten sie, der göttlichen Vorsehung sei Dank, neben dem anderen Jeep, mit dem Augello und Fazio gekommen waren. Nur dass weit und breit keine Spur von Augello oder von Fazio oder von irgendeiner Leiche zu sehen war. »Spielen wir vielleicht Verstecken?«, erkundigte sich Montalbano.
»Dottori, mir wurde gesagt, dass ich anhalten soll, sobald und wenn ich ihren Jippi sehen würde.«
»Mach dich mal bemerkbar.«
»Wie soll ich mich denn bemerkbar machen, Dottori?« »Wie sollst du dich wohl bemerkbar machen, Catarè? Mit der Klarinette? Oder dem Tenorsaxophon? Hup einfach mal!«
»Die Hupe hupt nicht, Dottori.«
»Dann bedeutet das wohl, dass wir hier bis in die Nacht warten müssen.«
Er zündete sich eine Zigarette an. Als er fertig geraucht hatte, traf Catarella eine Entscheidung.
»Dottori, ich werde sie suchen gehen. Weil der Jippi ja nun da steht, wo er steht, würde ja die Möglichkeit bestehen, dass sie sich möglicherweise ganz nahe hier in der Nähe aufhalten.«
»Nimm meinen Regenmantel.«
»Nein, Dottori, das kann ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil, Dottori, der Regenmantel ein ziviles Kleidungsstück ist, und ich bin in Uniform.«
»Wer sieht dich hier denn schon?«
»Dottori, Uniform bleibt Uniform.«
Er öffnete die Tür, stieg aus, sagte »Ah!« und war weg.
Er war so schnell verschwunden, dass Montalbano Angst hatte, Catarella könnte in einen Graben voller Wasser gestürzt sein und würde jetzt ertrinken. Eilig stieg auch er aus, und im Nu schlitterte er auf dem Hintern etwa zehn Meter einen schlammigen Abhang hinunter, an dessen Ende Catarella nun stand und aussah wie eine Skulptur aus frischem Ton.
»Ich hab den Jippi direkt am Rand des Abhangs geparkt und hab es nicht bemerkt, Dottori.«
»Das hab ich verstanden, Catarè. Und wie kommen wir jetzt wieder hoch?«
»Haben Sie gesehen, dass linker Hand ein Weg abgeht, Dottori? Ich gehe vor und Sie folgen mir vorsichtig hinterher, Dottori, denn es ist sehr rutschig.«
Nach fünfzig Metern ging der Weg in eine Rechtskurve über. Der dichte Regen machte auch auf kurze Distanz jede Sicht unmöglich. Plötzlich hörte Montalbano, dass ihn von oben jemand rief.
»Dottore, hier sind wir.«
Er hob den Blick. Fazio stand auf einer Art Anhöhe, zu der man gelangte, wenn man drei in die Erde gegrabene Stufen hochstieg. Er schützte sich mit einem riesigen rot-gelben Regenschirm, wie Schäfer ihn haben. Wo hatte er den nur aufgetrieben? Um die drei Treppen hinaufzusteigen, brauchte Montalbano Catarella, der ihn von hinten schob, und Fazio, der ihn mit der Hand hochzog. Das ist doch nichts mehr für mich, dieses Leben, dachte er bitter. Die Anhöhe war ein winziger Platz vor dem mannshohen Eingang zu einer Grotte. Kaum war der Commissario drinnen, hielt er inne. In der Grotte war es warm, ein Feuer brannte in einem Kreis aus Steinen, vom Gewölbe hing eine Petroleumlampe herunter, wie man sie an Karren hängt, und spendete ausreichend Licht. Ein Mann um die sechzig mit Pfeife im Mund und Mimì saßen auf Hockern aus Zweigen und spielten Karten auf einem Tischchen, das ebenfalls aus Zweigen geflochten war. Hin und wieder tranken sie einen Schluck Wein aus einer auf dem Boden stehenden Flasche. Eine Schäferidylle. Und das umso mehr, als von der Leiche auch nicht die geringste Spur zu sehen war. Der Sechzigjährige grüßte ihn, Mimì nicht. Seit einem Monat hatte Mimì der gesamten Schöpfung den Krieg erklärt.
»Den Toten hat dieser Herr da entdeckt, der mit Dottor Augello Karten spielt«, sagte Fazio und deutete auf den Mann. »Er heißt Pasquale Ajena, und dieses Stück Land hier gehört ihm. Er kommt jeden Tag her. Und er hat sich die Grotte ein wenig eingerichtet, weil er hier drinnen isst, sich ausruht oder die Landschaft betrachtet.«
»Darf ich die ganz bescheidene Frage äußern, wo zum Teufel der Tote ist?«
»Wie es aussieht, Dottore, befindet er sich ungefähr fünfzig Meter weiter unten.«
»Was soll das heißen ›Wie es aussieht‹? Ihr habt ihn noch nicht gesehen?«
»Nein. Pasquale Ajena hat uns gesagt, dass die Stelle praktisch unerreichbar ist, wenn der Regen nicht aufhört.« »Aber hier hört der Regen frühestens, allerfrühestens heute Abend auf.«
»In einer Stunde werden die Wolken aufreißen«, schaltete sich Ajena entschieden ein. »Garantiert. Danach sehen wir weiter.«
»Und was machen wir hier so lange?«
»Haben Sie heute Morgen schon etwas gegessen?«, fragte Ajena.
»Nein.«
»Wollen Sie ein Stück frischen Käse mit einer schönen Scheibe Weizenbrot von gestern?«
Montalbano ging auf der Stelle das Herz auf, und ein Hauch von Fröhlichkeit hielt Einzug.
»Warum nicht?«
Ajena stand auf, öffnete einen großen Sack, der an einem Nagel hing, zog ein Stück Brot heraus, einen ganzen Käselaib und eine weitere Flasche Wein. Er schob die Karten beiseite und stellte alles auf das Tischchen. Dann zog er aus einer Hosentasche eine Art Klappmesser, öffnete es und legte es neben das Brot.
»Bedienen Sie sich.«
Das taten sie.
»Wollen Sie mir denn nicht wenigstens sagen, wie Sie die Leiche gefunden haben?«, fragte Montalbano mit vollem Mund.
»Oh nein!«, brach es aus Mimì Augello hervor. »Zuerst muss er das Spiel zu Ende spielen. Ich habe noch kein einziges gewonnen!«
Mimì verlor auch dieses Spiel und wollte seine Revanche und danach eine weitere Revanche. Montalbano, Fazio und Catarella, der sich vor dem Feuer trocknete, verschlangen den Käse, der so unglaublich zart war, dass er auf der Zunge zerging, und tranken die ganze Flasche aus.
So verfloss eine Stunde.
Und dann rissen die Wolken auf, wie Ajena es vorhergesagt hatte.
...
Übersetzung: Moshe Kahn
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. kG, Köln
Lautes, unablässiges Klopfen an der Haustür weckte ihn auf. Ein verzweifeltes Hämmern mit Händen und Füßen. Eigentümlich war nur, dass keiner klingelte. Er blickte zum Fenster: Durch die geschlossenen Läden drang nicht die frühe Morgendämmerung, draußen herrschte noch tiefe Dunkelheit. Oder besser gesagt, durch das Fenster fiel gelegentlich ein tückischer Blitz, in dessen Licht das Zimmer zu erstarren schien, gefolgt von einem Donnern, das die Scheiben klirren ließ. Tags zuvor hatte das Gewitter angefangen, und es wurde immer heftiger. Jedoch, und das war merkwürdig, war das Tosen des Meeres nicht zu hören, das inzwischen den Strand bis unterhalb der Veranda verschlungen haben musste. Er tastete suchend nach dem Fuß der Nachttischlampe, drückte auf den Knopf, der klick machte, doch das Licht ging nicht an. War die Birne durchgebrannt oder gab es keinen Strom? Er stand auf, und ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken. Durch den Fensterladen drangen nicht nur Blitze, sondern auch schneidend kalter Wind. Der Lichtschalter für die Deckenlampe ließ ebenfalls kein Licht aufflammen. Vielleicht war der Strom wegen des Gewitters ausgefallen.
Das Klopfen hörte nicht auf. In diesem Aufruhr meinte er auch eine Stimme zu hören, die verzweifelt nach ihm rief.
»Ich komm ja schon, ich komm ja schon!«, rief er.
Weil er nackt geschlafen hatte, suchte er nach etwas, das er sich überwerfen konnte, doch er fand nichts. Er war sich sicher, dass er die Hose über den Stuhl am Fußende des Bettes gelegt hatte. Vielleicht war sie hinuntergefallen. Aber er konnte nicht noch weitere Zeit mit Suchen vergeuden. Er ging zur Haustür.
»Wer ist denn da?«, fragte er, ohne zu öffnen.
»Bonetti-Alderighi. Machen Sie auf, schnell!«
Er war völlig überrumpelt, ein Schwindelgefühl erfasste ihn. Der Polizeipräsident? Was hatte das denn zu bedeuten? Oder sollte das ein blöder Streich sein?
»Einen Augenblick.«
Er holte schnell die Taschenlampe, die er in der Schublade des Esszimmertischs aufbewahrte, knipste sie an und öffnete. Wie versteinert blieb er stehen, als er den Polizeipräsidenten völlig durchnässt vom Regen vor sich sah. Bonetti-Alderighi trug einen schwarzen Hut und einen Regenmantel, dessen linker Ärmel zerrissen war.
»Lassen Sie mich durch.«
Montalbano trat zur Seite, und der andere ging an ihm vorbei. Der Commissario folgte ihm automatisch, fast wie ein Schlafwandler, und vergaß, die Tür zu schließen, die nun im Sturmwind schlug. Sobald Bonetti-Alderighi in Reichweite des erstbesten Stuhls war, setzte er sich, oder vielmehr: Er brach auf ihm zusammen. Vor Montalbanos erschütterten Blicken vergrub er sein Gesicht in den Händen und fing an zu weinen.
Mit der Geschwindigkeit eines Flugzeugs vor dem Abheben rasten die Fragen durch Montalbanos Kopf. Sie tauchten auf und verschwanden wieder, sie formten sich und vergingen derart rasch, dass es ihm unmöglich war, auch nur eine von ihnen klar und deutlich festzuhalten. Er war nicht einmal in der Lage, den Mund aufzumachen.
»Können Sie mich in Ihrem Haus verstecken?«, fragte ihn der Polizeipräsident mit ängstlicher Dringlichkeit. Verstecken? Wieso musste sich der Polizeipräsident verstecken? Wollte er untertauchen? Was hatte er verbrochen? Wer war hinter ihm her?
»Ich ... ich verstehe nicht, was ...«
Bonetti-Alderighi sah ihn fassungslos an.
»Ja, was denn, Montalbano, Sie wissen noch gar nichts?« »Nein.«
»Die Mafia hat heute Nacht die Macht übernommen!« »Was sagen Sie da?! «
»Was hatten Sie denn gedacht, wie es in unserem unglücklichen Land weitergehen würde? Ein nettes Gesetz hier, ein nettes Gesetz da, und am Ende landen wir dort, wo wir jetzt stehen. Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?«
»So... sofort.«
Ihm war gleich klar, dass der Polizeipräsident nicht mehr ganz bei sich war. Vielleicht hatte er ja einen Autounfall gehabt und redete nun wirres Zeug, weil er unter Schock stand. Am besten, er rief im Polizeipräsidium an. Vielleicht war es auch besser, einen Arzt zu rufen. Jedenfalls durfte der arme Kerl zunächst keinen Verdacht schöpfen. Daher musste er fürs Erste auf Bonetti-Alderighi eingehen.
Er betrat die Küche, drückte aus Gewohnheit wieder auf den Lichtschalter, und das Licht ging an. Er füllte ein Glas, kehrte zurück und hielt an der Tür inne, wie gelähmt. Eine der heutzutage üblichen Skulpturen, die den Titel »Männlicher Akt mit Glas in der Hand« hätte tragen können.
Das Zimmer war zwar hell, aber Bonetti-Alderighi war verschwunden. An seiner Stelle saß ein vierschrötiger kleiner Mann mit einer Schiebermütze auf dem Kopf, den er sofort erkannte. Totò Riina! Er war aus dem Gefängnis entlassen worden! Demnach war Bonetti-Alderighi also gar nicht übergeschnappt. Das, was er ihm gesagt hatte, war die schlichte Wahrheit!
»Bonasira«, sagte Riina in breitestem Sizilianisch. »Verzeihen Sie Zeit und Umstände meines Besuchs, aber ich bin in Eile, und draußen wartet ein Hubschrauber auf mich, der mich gleich nach Rom bringt, wo ich die Regierung zusammenstellen werde. Den einen oder anderen Namen habe ich schon: Bernardo Provenzano, stellvertretender Ministerpräsident, einen der Caruana-Brüder als Außenminister, Leoluca Bagarella als Verteidigungsminister ... Zu Ihnen komme ich mit einer Frage, die Sie, Montalbano, mir jetzt sofort mit Ja oder Nein beantworten müssen. Wollen Sie mein Innenminister werden?«
Doch bevor Montalbano antworten konnte, tauchte Catarella im Zimmer auf. Er musste durch die offen stehende Tür hereingekommen sein. Er hielt den Revolver in der Hand und zielte auf den Commissario. Dabei liefen ihm dicke Tränen über das Gesicht.
»Dottori, wenn Sie jetzt Ja sagen zu diesem Verbrecher da, dann bring ich Sie persönlich selbst um!«
Doch durch das Reden hatte er sich ablenken lassen, und schneller als eine Schlange glitt Riina auf ihn zu, entwand ihm den Revolver und schoss. Das Licht im Zimmer erlosch und...
Montalbano erwachte. Das einzig Echte an seinem Traum war das Gewitter, in dem die offen gelassenen Fensterläden schlugen. Er stand auf, machte sie zu und legte sich wieder hin, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte. Vier Uhr morgens. Er wollte wieder einschlafen, doch hinter hartnäckig geschlossenen Augenlidern fand er sich wieder im Zwiegespräch mit Montalbano zwei.
Was sollte dieser Traum bedeuten?
Wieso willst du eine tiefere Bedeutung darin erkennen, Montalbà? Kommt es nicht häufiger vor, dass du beschissene Träume hast, 'tschuldigung, Träume ohne Hand und Fuß?
Das behauptest du, dass sie weder Hand noch Fuß haben, weil du nicht mehr Verstand hast als ein Stück Vieh. Du siehst das so, aber geh mal zu Herrn Freud und erzähl ihm davon, dann wirst du schon sehen, was der da alles herausliest!
Warum sollte ich zu Herrn Freud gehen und ihm meine Träume erzählen?
Weil du, wenn du es nicht schaffst, dir den Traum zu erklären oder ihn dir deuten zu lassen, nicht mehr einschlafen kannst.
Okay, von mir aus. Dann frag.
Was hat dich am meisten erschreckt von all dem, was du geträumt hast?
Der Umstand des fliegenden Wechsels.
Welcher?
Dass auf Bonetti-Alderighis Platz Totò Rüna saß, als ich aus der Küche zurückkam.
Drück dich genauer aus.
Dass auf dem Platz des Polizeipräsidenten, des Vertreters des Gesetzes, die Nummer eins der Mafia saß, der Boss aller Gesetzesgegner.
Du sagst mir also gerade, dass du in deinem Zimmer, in deinem Haus, inmitten all deiner Besitztümer sowohl das Gesetz beherbergt hast als auch die Verkörperung all dessen, was außerhalb des Gesetzes steht.
Ja, und?
Kann es nicht sein, dass die Demarkationslinie zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit in dir jeden Tag etwas mehr verschwimmt?
Jetzt red keinen Stuss!
Dann betrachten wir es doch mal von einer anderen Seite. Worum haben sie dich gebeten?
Bonetti-Alderighi hat mich gebeten, ihn zu verstecken. Er hat mich um Hilfe gebeten.
Und das hat dich erstaunt?
Natürlich!
Und worum hat dich Riina gebeten?
Sein Innenminister zu werden.
Und das hat dich erstaunt?
Na ja, schon ...
Hat dich das genauso erstaunt wie die Bitte des Polizeipräsidenten, ihm zu helfen? Oder mehr? Oder weniger? Antworte ehrlich.
Na ja. Weniger.
Wieso hat dich das weniger erstaunt? Ist es denn normal für dich, dass ein Mafiaboss dich bittet, für ihn zu arbeiten?
Nein, das ist doch gar nicht die Frage. Riina war in diesem Augenblick ja kein Mafiaboss mehr, sondern jemand, der Ministerpräsident werden sollte! Und in seiner Eigenschaft als künftiger Ministerpräsident hat er mich gebeten, mit ihm zusammenzuarbeiten!
Halt. Hier geht es um zwei verschiedene Dinge. Entweder denkst du, die Tatsache, dass er Ministerpräsident wird, löscht alle seine früheren Verbrechen aus, einschließlich der Morde und Massaker, oder du gehörst zu den Bullen, die unter allen Umständen demjenigen dienen, der an der Macht ist, ohne sich darum zu scheren, wer er eigentlich ist, ob er ein anständiger Mensch ist oder ein Verbrecher, ob er Faschist ist oder Kommunist. Zu welcher der beiden Kategorien zählst du dich?
So nicht! Da machst du es dir zu einfach!
Wieso?
Weil Catarella aufgetaucht ist!
Und welche Bedeutung siehst du darin?
Dass ich Riinas Vorschlag tatsächlich abgelehnt habe. Aber du hast doch nicht einmal den Mund aufgemacht!
Das Nein habe ich durch Catarella gesagt. Er taucht auf, zielt mit dem Revolver auf mich und sagt zu mir, er würde mich umbringen, wenn ich einwillige. Catarella steht doch für mein Gewissen.
Was heißt das denn nun wieder, was dir da gerade herausgerutscht ist? Catarella soll dein Gewissen sein?
Wieso denn nicht? Erinnerst du dich, was ich dem Journalisten geantwortet habe, der mich eines Tages fragte, ob ich an Schutzengel glaube? Ich habe Ja gesagt. Und da hat er mich gefragt, ob ich jemals einen gesehen hätte. Und ich habe gesagt, ich würde meinen jeden Tag sehen. Hat er auch einen Namen?, fragte der Journalist. Und ich sofort: Er heißt Catarella. Das habe ich natürlich im Spaß gesagt. Aber hinterher, bei genauerem Nachdenken, habe ich begriffen, dass das gar nicht so sehr als Spaß gemeint war, sondern dass eigentlich sehr viel Wahrheit darin lag.
Was folgt daraus?
Dass die ganze Geschichte andersherum ausgelegt werden muss. Die Szene mit Catarella heißt doch, dass ich, statt Riinas Vorschlag anzunehmen, vor allem bereit war, mich zu erschießen.
Montalbà, bist du sicher, dass Freud sie so gedeutet hätte? Soll ich dir was sagen? Dieser Freud kann mir mal im Mondschein begegnen! Und jetzt lass mich schlafen, ich bin müde.
Als er aufwachte, war es schon nach neun. Zwar waren keine Blitze mehr zu sehen und auch kein Donner mehr zu hören, doch das Wetter draußen musste ekelhaft sein. Wer zwang ihn eigentlich aufzustehen? Die beiden alten Narben verursachten ihm Beschwerden, und auch irgendein Zipperlein, unerfreulicher Begleiter des Alters, war zusammen mit ihm wach geworden. Lieber noch ein paar Stunden schlafen. Er stand auf, ging ins Esszimmer, zog den Telefonstecker heraus, legte sich wieder hin, deckte sich zu und schloss die Augen.
Kaum eine halbe Stunde später schlug er sie wieder auf. Grund dafür war das ununterbrochene Schrillen des Telefons. Aber wie zum Teufel konnte es so schrillen, wo er doch sicher war, dass er den Stecker herausgezogen hatte? Wenn es also nicht das Telefon war, woher kam dann das Klingeln? Von der Türglocke natürlich, du Vollidiot! Er hatte das Gefühl, als würde in seinem Kopf so etwas wie Motoröl herumwirbeln, dickflüssig und klebrig. Er entdeckte seine Hose auf dem Boden, zog sie über und ging fluchend die Tür öffnen. Da stand Catarella, ganz außer Atem.
»Ah, Dottori, Dottori ...«
»Hör zu, kein Wort, nicht sprechen. Ich sage dir, wann du den Mund aufmachen darfst. Ich leg mich jetzt hin, du gehst in die Küche, machst mir einen starken Espresso, gießt ihn in eine große Tasse, rührst drei Löffelchen Zucker hinein und bringst ihn mir. Und dann erzählst du mir, was du mir zu erzählen hast.«
Als Catarella mit der dampfenden Tasse zu ihm zurückkehrte, musste er ihn wach rütteln. In den zehn Minuten war Montalbano wieder fest eingeschlafen. Was ist eigentlich los?, fragte er sich, während er den Espresso trank, der ihm wie dünne Malzkaffeebrühe vorkam. Heißt es nicht, dass man im Alter für gewöhnlich eher weniger Schlaf braucht? Aber wie kommt es dann, dass ich mehr Schlaf brauche, je älter ich werde?
»Dottori, wie ist der Espresso?«
»Hervorragend, Catarè.«
Und er lief ins Bad, um sich den Mund auszuspülen, sonst hätte er sich übergeben müssen.
»Catarè, ist die Sache dringend?«
»Wie man's nimmt, Dottori.«
»Dann warte, bis ich geduscht und mir was angezogen habe.«
Frisch und angekleidet ging er in die Küche und machte sich einen Espresso, der diesen Namen verdiente.
Als er wieder im Esszimmer war, fand er Catarella vor der Glastür, die auf die Veranda führte. Er hatte die Fensterläden geöffnet.
Es goss in Strömen. Das Meer war bis unterhalb der Veranda vorgedrungen, die hin und wieder beim Sog einer allzu heftigen Welle ruckelte.
»Darf ich jetzt reden, Dottori?«, fragte Catarella.
»Ja.«
»Dottori, sie haben einen Toten gefunden.«
Na, was für eine Entdeckung! Da musste wohl die Leiche von jemandem wieder aufgetaucht sein, der den weißen Tod gestorben war, wie die Journalisten das nannten, wenn jemand plötzlich spurlos verschwand. Aber warum musste man dem Tod überhaupt eine Farbe geben? Der weiße Tod! Als gäbe es auch einen grünen, einen gelben und so weiter. Wenn man dem Tod wirklich eine Farbe geben wollte, dann konnte es nur Schwarz sein, Pechschwarz.
»Frisch von heute?«
»Das haben sie mir nicht gesagt, Dottori.«
»Und wo hat man ihn gefunden?«
»Auf dem Land, Dottori. Ortsteil Pizzutello.«
Na klar! Eine unwegsame, gottverlassene Gegend voller Geröllfelder und Gestrüpp, wo eine Leiche heimisch werden konnte, ohne jemals entdeckt zu werden.
»Ist schon einer von unseren Leuten hingefahren?«
»Jaja, Dottori. Fazio und Dottori Augello sind schon vor Ort.«
»Und warum bist du dann hergekommen und gehst mir auf die Nerven?«
»Dottori, ich bitte um Verständigung und Vergebnis, aber Dottori Augello hat mich angerufen und mir gesagt, ich soll Ihnen sagen, dass Ihre Anwesenheit persönlich selbst am Ort unverzichtbar wäre. Und weil das Telefon, das von Ihnen also, nicht geantwortet hat, bin ich mit dem Jippi gekommen, um Sie abzuholen.«
»Warum mit dem Jeep?«
»Weil das Auto nicht an den Ort daselbst gelangen kann, Dottori.«
»Na gut, fahren wir.«
»Dottori, er hat mir auch noch gesagt, ich soll Ihnen sagen, dass es besser ist, wenn Sie Stiefel anziehen und Ihren Kopf mit einem Hut bedecken und einen Regenmantel anziehen.«
Montalbanos von einem Feuerwerk an Flüchen und Verwünschungen begleiteter Gefühlsausbruch ließ Catarella vor Schreck erstarren.
Nichts deutete darauf hin, dass der sintflutartige Regen vorhatte nachzulassen. Sie fuhren praktisch blind, denn die Scheibenwischer schafften es nicht, das Wasser beiseitezuschieben. Außerdem war der letzte Kilometer vor der Stelle, wo man die Leiche gefunden hatte, ein Mittelding zwischen einer Achterbahn und einem gerade stattfindenden Erdbeben der Stärke sieben auf der Richterskala. Die schlechte Laune des Commissario lud sich mit zentnerschwer lastendem Schweigen auf, das Catarella so nervös machte, dass er es fertigbrachte, auch nicht eine einzige der Vertiefungen auszulassen, die der Regen in kleine Seen verwandelt hatte.
»Hast du auch den Rettungsring dabei?«
Catarella antwortete nicht, er wäre am liebsten selbst der Tote gewesen, den sie sich nun anschauen wollten. Montalbanos Magen musste sich irgendwann umgestülpt haben, sodass er wieder den ekelhaften Geschmack der Malzkaffeebrühe im Mund hatte, die Catarella ihm zubereitet hatte.
Endlich hielten sie, der göttlichen Vorsehung sei Dank, neben dem anderen Jeep, mit dem Augello und Fazio gekommen waren. Nur dass weit und breit keine Spur von Augello oder von Fazio oder von irgendeiner Leiche zu sehen war. »Spielen wir vielleicht Verstecken?«, erkundigte sich Montalbano.
»Dottori, mir wurde gesagt, dass ich anhalten soll, sobald und wenn ich ihren Jippi sehen würde.«
»Mach dich mal bemerkbar.«
»Wie soll ich mich denn bemerkbar machen, Dottori?« »Wie sollst du dich wohl bemerkbar machen, Catarè? Mit der Klarinette? Oder dem Tenorsaxophon? Hup einfach mal!«
»Die Hupe hupt nicht, Dottori.«
»Dann bedeutet das wohl, dass wir hier bis in die Nacht warten müssen.«
Er zündete sich eine Zigarette an. Als er fertig geraucht hatte, traf Catarella eine Entscheidung.
»Dottori, ich werde sie suchen gehen. Weil der Jippi ja nun da steht, wo er steht, würde ja die Möglichkeit bestehen, dass sie sich möglicherweise ganz nahe hier in der Nähe aufhalten.«
»Nimm meinen Regenmantel.«
»Nein, Dottori, das kann ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil, Dottori, der Regenmantel ein ziviles Kleidungsstück ist, und ich bin in Uniform.«
»Wer sieht dich hier denn schon?«
»Dottori, Uniform bleibt Uniform.«
Er öffnete die Tür, stieg aus, sagte »Ah!« und war weg.
Er war so schnell verschwunden, dass Montalbano Angst hatte, Catarella könnte in einen Graben voller Wasser gestürzt sein und würde jetzt ertrinken. Eilig stieg auch er aus, und im Nu schlitterte er auf dem Hintern etwa zehn Meter einen schlammigen Abhang hinunter, an dessen Ende Catarella nun stand und aussah wie eine Skulptur aus frischem Ton.
»Ich hab den Jippi direkt am Rand des Abhangs geparkt und hab es nicht bemerkt, Dottori.«
»Das hab ich verstanden, Catarè. Und wie kommen wir jetzt wieder hoch?«
»Haben Sie gesehen, dass linker Hand ein Weg abgeht, Dottori? Ich gehe vor und Sie folgen mir vorsichtig hinterher, Dottori, denn es ist sehr rutschig.«
Nach fünfzig Metern ging der Weg in eine Rechtskurve über. Der dichte Regen machte auch auf kurze Distanz jede Sicht unmöglich. Plötzlich hörte Montalbano, dass ihn von oben jemand rief.
»Dottore, hier sind wir.«
Er hob den Blick. Fazio stand auf einer Art Anhöhe, zu der man gelangte, wenn man drei in die Erde gegrabene Stufen hochstieg. Er schützte sich mit einem riesigen rot-gelben Regenschirm, wie Schäfer ihn haben. Wo hatte er den nur aufgetrieben? Um die drei Treppen hinaufzusteigen, brauchte Montalbano Catarella, der ihn von hinten schob, und Fazio, der ihn mit der Hand hochzog. Das ist doch nichts mehr für mich, dieses Leben, dachte er bitter. Die Anhöhe war ein winziger Platz vor dem mannshohen Eingang zu einer Grotte. Kaum war der Commissario drinnen, hielt er inne. In der Grotte war es warm, ein Feuer brannte in einem Kreis aus Steinen, vom Gewölbe hing eine Petroleumlampe herunter, wie man sie an Karren hängt, und spendete ausreichend Licht. Ein Mann um die sechzig mit Pfeife im Mund und Mimì saßen auf Hockern aus Zweigen und spielten Karten auf einem Tischchen, das ebenfalls aus Zweigen geflochten war. Hin und wieder tranken sie einen Schluck Wein aus einer auf dem Boden stehenden Flasche. Eine Schäferidylle. Und das umso mehr, als von der Leiche auch nicht die geringste Spur zu sehen war. Der Sechzigjährige grüßte ihn, Mimì nicht. Seit einem Monat hatte Mimì der gesamten Schöpfung den Krieg erklärt.
»Den Toten hat dieser Herr da entdeckt, der mit Dottor Augello Karten spielt«, sagte Fazio und deutete auf den Mann. »Er heißt Pasquale Ajena, und dieses Stück Land hier gehört ihm. Er kommt jeden Tag her. Und er hat sich die Grotte ein wenig eingerichtet, weil er hier drinnen isst, sich ausruht oder die Landschaft betrachtet.«
»Darf ich die ganz bescheidene Frage äußern, wo zum Teufel der Tote ist?«
»Wie es aussieht, Dottore, befindet er sich ungefähr fünfzig Meter weiter unten.«
»Was soll das heißen ›Wie es aussieht‹? Ihr habt ihn noch nicht gesehen?«
»Nein. Pasquale Ajena hat uns gesagt, dass die Stelle praktisch unerreichbar ist, wenn der Regen nicht aufhört.« »Aber hier hört der Regen frühestens, allerfrühestens heute Abend auf.«
»In einer Stunde werden die Wolken aufreißen«, schaltete sich Ajena entschieden ein. »Garantiert. Danach sehen wir weiter.«
»Und was machen wir hier so lange?«
»Haben Sie heute Morgen schon etwas gegessen?«, fragte Ajena.
»Nein.«
»Wollen Sie ein Stück frischen Käse mit einer schönen Scheibe Weizenbrot von gestern?«
Montalbano ging auf der Stelle das Herz auf, und ein Hauch von Fröhlichkeit hielt Einzug.
»Warum nicht?«
Ajena stand auf, öffnete einen großen Sack, der an einem Nagel hing, zog ein Stück Brot heraus, einen ganzen Käselaib und eine weitere Flasche Wein. Er schob die Karten beiseite und stellte alles auf das Tischchen. Dann zog er aus einer Hosentasche eine Art Klappmesser, öffnete es und legte es neben das Brot.
»Bedienen Sie sich.«
Das taten sie.
»Wollen Sie mir denn nicht wenigstens sagen, wie Sie die Leiche gefunden haben?«, fragte Montalbano mit vollem Mund.
»Oh nein!«, brach es aus Mimì Augello hervor. »Zuerst muss er das Spiel zu Ende spielen. Ich habe noch kein einziges gewonnen!«
Mimì verlor auch dieses Spiel und wollte seine Revanche und danach eine weitere Revanche. Montalbano, Fazio und Catarella, der sich vor dem Feuer trocknete, verschlangen den Käse, der so unglaublich zart war, dass er auf der Zunge zerging, und tranken die ganze Flasche aus.
So verfloss eine Stunde.
Und dann rissen die Wolken auf, wie Ajena es vorhergesagt hatte.
...
Übersetzung: Moshe Kahn
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. kG, Köln
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Autoren-Porträt von Andrea Camilleri
Andrea Camilleri is an internationally bestselling author. He lives in Rome.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Camilleri
- 2014, 4. Aufl., 283 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Moshe Kahn
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404169107
- ISBN-13: 9783404169108
- Erscheinungsdatum: 10.02.2014
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