Das Schweigen der Toten
Seit Menschengedenken hat sich in Perry Hollow kein Gewaltverbrechen ereignet. Doch an diesem Morgen wird ein Bürger des kleinen Ortes gefunden: in einem Sarg, die Lippen zugenäht, der Körper ausgeblutet.
Während sich Kat Campbell,...
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Produktinformationen zu „Das Schweigen der Toten “
Seit Menschengedenken hat sich in Perry Hollow kein Gewaltverbrechen ereignet. Doch an diesem Morgen wird ein Bürger des kleinen Ortes gefunden: in einem Sarg, die Lippen zugenäht, der Körper ausgeblutet.
Während sich Kat Campbell, Sheriff der kleinen Stadt, an die Ermittlungen macht, geht bei der Perry Hollow Gazette der Text für eine weitere Traueranzeige ein. Todeszeit: in einer halben Stunde.
»Ein äußerst überzeugendes, vor Blut nur so triefendes Debüt«
Kirkus Reviews
Während sich Kat Campbell, Sheriff der kleinen Stadt, an die Ermittlungen macht, geht bei der Perry Hollow Gazette der Text für eine weitere Traueranzeige ein. Todeszeit: in einer halben Stunde.
»Ein äußerst überzeugendes, vor Blut nur so triefendes Debüt«
Kirkus Reviews
Lese-Probe zu „Das Schweigen der Toten “
Das Schweigen der Toten von Todd Ritter Prolog
Der Schmerz brachte ihn schlagartig wieder zu Bewusstsein. Ein starkes, gleichmäßiges Pochen, das vom Mund ausging und noch in der Backe und im Hals pulsierte. Er wollte stöhnen - der Schmerz verlangte danach -, aber es gelang ihm nicht. Sooft er einen Laut von sich zu geben versuchte, wurden die Qualen noch größer.
Er blieb still und lauschte seinem stockenden Atem. Als er die Augen aufschlug, sah er nur Dunkelheit, etwas streifte seine Wimpern.
Ein Tuch. Schwer und rau.
Man hatte ihm die Augen verbunden.
Sein Gesicht war feucht, von Blut, wie es schien. Es rann ihm über die Wange. Auch der Mund war voll davon. Es sammelte sich zwischen den Zähnen.
Blut. Jetzt war er sicher. Er schmeckte es.
Er lag auf dem Rücken, starr ausgestreckt. Als er versuchte, die Arme zu bewegen, rührten sie sich nicht. Arme, Beine, der Rumpf und sein Kopf waren fest mit einem Seil umwickelt. Es zwang seine Schultern nach hinten, die von fünfzig Jahren harter Arbeit auf dem Feld krumm geworden waren.
Er geriet in Panik, atmete schneller, schnaufte wie eine Lokomotive, die Fahrt aufnahm. Er versuchte, um Hilfe zu rufen, doch der Mund wollte sich nicht öffnen. Die Lippen klebten aufeinander, und der Schmerz wurde unerträglich. Sein Ächzen fand keinen Ausweg, blieb in der Kehle stecken.
Da begriff er, was geschehen war. Der Schmerz brachte Klarheit und schärfte seine Sinne.
Jemand hatte ihm den Mund versiegelt.
Noch einmal versuchte er zu schreien, in der Hoffnung, allein mit dem Druck die Blockade durchbrechen zu können. Das Geräusch, das dabei herauskam, war ihm vertraut. Er hatte es auf der Farm immer wieder gehört - das schrille Kreischen direkt vor der Schlachtung. Nur gab diesmal er es von sich.
... mehr
Er hörte noch etwas anderes.
Schritte.
Es war noch jemand da.
»Halt still, dann ist es nicht ganz so schlimm«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit.
Er spürte warmen Atem am Ohr, eine Hand, die sein Kinn umfasste und den Kopf festhielt.
Etwas drückte gegen seinen Hals. Kalt. Scharf. Einen Moment lang spürte er einen leichten Druck, eine beunruhigende Spannung. Dann drang das kalte, scharfe Etwas durch seine Haut und in seinen Körper ein, teilte das Fleisch.
Blut sprudelte aus ihm heraus, ergoss sich über Schultern und Haare. Hilflos lag er da, fühlte sich wie ein frisch geschlachtetes Tier. Mit jedem Herzschlag quoll ein weiterer Schwall aus ihm hervor.
Diesmal war der Schmerz unerträglich. Es war nicht mehr nur in seinem Mund.
Es war in ihm.
Es war überall.
Er schrie. Nicht laut, aber in seinem Kopf. Die Sirenen des Entsetzens hallten von den Schädelknochen wider. Der scharfe, kalte Gegenstand blieb in seinem Hals. Der Schmerz war so überwältigend, er vernichtete seine Gedanken, seine stummen Schreie. Er vernichtete alles, bis in seinem Kopf nichts mehr war, nur noch Schmerz.
Und Angst.
Und, schließlich, Dunkelheit.
Kapitel 1
»Chief Campbell!«
Kaum hatte Kat ihren Fuß auf den Gehweg gesetzt, rief jemand so laut ihren Namen, dass es auf der ganzen Main Street zu hören war. Sie war gerade bei Big Joe's gewesen, einem Starbucks-Verschnitt, und hielt einen extragroßen Becher Kaffee in der Hand, der auch so teuer gewesen war wie bei Starbucks. Vier Dollar. Normalerweise hätte sie sich darüber geärgert. Aber es war ein grauer, kalter Morgen, und sie brauchte unbedingt einen Kaffee, der ein bisschen wärmte und für einen klaren Kopf sorgte. Bedauerlicherweise hörte sie nun schon zum zweiten Mal ihren Namen, was sie daran hinderte, den ersten heißgeliebten Schluck zu nehmen.
»Hey, Chief!«
Es war Jasper Fox, Besitzer eines Blumenladens, der mit dem Namen Awesome Blossoms geschlagen war. Trotz der Kälte glänzte sein Gesicht vor Schweiß, als er auf sie zugelaufen kam.
»Ich bin beklaut worden.«
Kat hielt mit dem Kaffeebecher vor dem Mund inne und blinzelte ungläubig. Diebstahldelikte kamen in Perry Hollow ungefähr so häufig vor wie eine Sonnenfi nsternis. In den von Kiefern gesäumten Straßen mit ihren verschlafenen alten Fassaden gab es selten Ärger.
»Beklaut? Sind Sie sicher?«
Jasper hatte einen absurden Schnurrbart, dessen Spitzen wie zwei schmutzige Eiszapfen von seinem Gesicht hingen. Sein Anblick erinnerte Kat immer an ein Walross. An diesem Morgen hing der Schnurrbart noch tiefer herab als sonst.
»Ich muss es ja wohl wissen«, sagte Jasper.
Seine beleidigte Miene verriet, dass er eine andere Reaktion erwartet hatte. Irgendwas Tatkräftiges, Entschlossenes. Vielleicht wäre Kat seinen Erwartungen halbwegs gerecht geworden, hätte sie Gelegenheit gehabt, ihren Kaffee zu trinken. Stattdessen ließ sie den Becher sinken und betrachtete, wie Jasper sie betrachtete.
Sie wusste, was ihm durch den Kopf ging. Sie las es seinen Augen ab. Er sah eine Frau, die einen Meter fünfzig groß war, fünf Kilo Übergewicht hatte und auf die vierzig zuging. Eine Frau, die ihre blonden Haare dunkler tönte, um ernst genommen zu werden. Eine Frau mit verquollenen Augen, weil die Heizung streikte und ihr Sohn die halbe Nacht gehustet hatte. Vor allem sah er eine Frau, die in Uniform und mit Polizeimarke auf dem Gehweg herumlungerte, statt unverzüglich die Ermittlungen im ersten Fall von Diebstahl aufzunehmen, den es in dieser Stadt seit über einem Jahr gab.
Kat fragte: »Was ist Ihnen denn geklaut worden?«
»Ich zeig's Ihnen.«
Sie folgte ihm über die Main Street, die schneller wach wurde als sie selbst. Lisa Gunzelman schloss ihren Antiquitätenladen auf, und Adrienne Wellington zupfte im Schaufenster ihrer Boutique an einem geblümten Kleid herum. Auch auf der anderen Straßenseite bereiteten sich die Ladenbesitzer auf einen neuen Geschäftstag in Perry Hollow, Pennsylvania, vor.
Ihre Mühe war umsonst. Seit dem Ansturm vor Weihnachten kamen nur noch wenige Kunden, einfach, weil es im Januar und Februar zum Einkaufen zu kalt war. Jetzt war Mitte März, und obwohl in den Schaufenstern bereits kurze Hosen, Sonnenbrillen und Tank-Tops ausgestellt waren, ließ der Frühling auf sich warten. Vor zwei Tagen erst hatte ein heftiger Nordoststurm fast fünfzehn Zentimeter Neuschnee über der Stadt ausgeschüttet. Darauf war arktische Kälte gefolgt, die die Schneeberge am Straßenrand hatte gefrieren lassen. Um einen solchen ging Kat herum, als sie Jasper in seinen Laden folgte, der nur zwei Türen von der Boutique entfernt lag.
Im Inneren von Awesome Blossoms steuerte er geradewegs auf die Hintertür zu und öffnete sie. Kat ging hinter ihm her und befand sich auf einem leeren, spiegelglatten Parkplatz hinter dem Haus. Erst jetzt verstand sie, worum es ging. Jaspers Lieferwagen - ein weitverbreiteter weißer Ford, auf dessen Seitenwände der Name seines Ladens gemalt war - war in der Nacht gestohlen worden.
»Sind Sie sicher, dass Sie ihn hier abgestellt haben?«
»Natürlich.«
»Sie finden die Frage vielleicht überflüssig«, sagte Kat. »Aber das muss ich wissen, wenn Sie wollen, dass ich Ihren Wagen wiederfi nde.«
Jasper zeigte auf einen eisfreien Fleck. »Da hat er gestanden. «
»Hat außer Ihnen sonst noch jemand Schlüssel für den Wagen?«
»Im Handschuhfach liegen Ersatzschlüssel für den Fall, dass jemand anders Ware ausliefern muss.«
»Lassen Sie mich raten. Sie haben den Wagen nie abgeschlossen. «
Jasper konnte sich die Antwort sparen. Sein Schnauzbart sprach für ihn. Er hing schlaff herab und bestätigte Kats Vermutung.
Fahrlässig, aber durchaus nachvollziehbar. Perry Hollow war die Art Stadt, in der man den Zündschlüssel stecken lassen und sicher sein konnte, dass das Auto nicht gestohlen wurde. Bis jetzt, offenbar.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Wir werden den Wagen finden. In der Stadt weiß jeder, wie er aussieht. Wahrscheinlich haben ein paar Teenager eine Spritztour gemacht und ihn hinter dem Shop and Save abgestellt.«
Kat hatte angenommen, Jasper wäre nach dieser Theorie erleichtert, aber er verzog besorgt das Gesicht.
»Im Handschuhfach war noch etwas, Chief.«
»Was?«
Jasper zögerte einen Moment. »Eine Pistole.«
Kat ächzte. Das war vielleicht nicht angemessen, aber immerhin besser, als dem ersten Impuls nachzugeben und dem Floristen an die Gurgel zu springen. Wie konnte man nur so dumm sein, eine Waffe im Handschuhfach eines nicht abgeschlossenen Lieferwagens liegen zu lassen? Und warum hatte er überhaupt eine Pistole?
»Zu meiner Sicherheit«, antwortete Jasper auf die unausgesprochene Frage, die wie eine Wäscheleine zwischen ihnen in der Luft hing. »Falls ich überfallen werde. Das Ding ist angemeldet und alles.«
Dass er in seinem Wagen überfallen würde, stand nicht zu befürchten, es sei denn, er lieferte auch in West Philadelphia aus.
»War sie geladen?«, fragte Kat.
Jasper nickte traurig, das Problem war also größer als bislang angenommen. Sie musste den Wagen finden. Pronto. Und hoffentlich lag die Pistole noch an ihrem Platz.
Mit zügigen Schritten ging sie durch den Laden zurück auf die Main Street. Als sie ihren schwarzweiß lackierten Crown Vic erreichte - er stand Gott sei Dank immer noch vor Big Joe's -, hörte sie, dass Deputy Carl Bauersox über Funk mit ihr Kontakt aufzunehmen versuchte.
Carl, ihr einziger Stellvertreter, hatte Nachtschicht. Kat war normalerweise um diese Uhrzeit auf dem Revier, um ihn abzulösen, und Carl wollte wohl wissen, wann er endlich nach Hause gehen konnte.
Kat griff nach dem Funkgerät. »Bin gleich da, Carl.«
»Wir haben ein Problem, Chief.«
Kat bezweifelte das. Zwei Delikte an einem Tag wären für Perry Hollow ein Rekord. Wahrscheinlich saß irgendeine Katze auf einem Baum fest, was in Carls Welt schon ein großes Problem darstellte.
»Ein Lkw-Fahrer hat angerufen und gesagt, dass am Rand der Old Mill Road eine Holzkiste steht.«
Kat bemerkte, dass sie immer noch den Kaffeebecher in der Hand hielt, ohne etwas getrunken zu haben. Sie hob ihn an die Lippen und fragte, bevor sie den ersten Schluck nahm: »Warum bist du noch nicht hin und hast die Kiste weggeschafft?«
»Weil es nicht einfach bloß eine Kiste ist.«
Kat hielt inne. Schon wieder. »Nicht einfach bloß eine Kiste? Was soll das heißen?«
»Na, dieser Mann schwört, es wäre ein Sarg.«
Ein Sarg. Am Straßenrand. Blödsinn. Der Lkw-Fahrer hatte sich geirrt. Es war bloß eine Kiste, und sie musste dafür sorgen, dass sie weggeräumt wurde, ehe es deswegen zu einem Verkehrsunfall kommen und womöglich ein echter Sarg nötig sein würde.
»Ich sehe mir das an«, sagte sie. »In der Zwischenzeit könntest du mir einen Gefallen tun und nach Jasper Fox' Lieferwagen fahnden lassen. Er ist vergangene Nacht gestohlen worden.«
Von der Waffe im Handschuhfach sagte sie nichts. Carl war ungefähr so verschwiegen wie ein Kleinkind. Wenn er davon wüsste, würde es innerhalb einer Stunde die ganze Stadt erfahren.
»Wird gemacht, Chief«, sagte Carl und legte auf. Widerwillig stellte Kat den Becher ab, startete den Crown Vic und fuhr in Richtung Old Mill Road.
Die Kiste stand tatsächlich am Straßenrand, auf gefrorenem Schnee. Der Lkw-Fahrer hatte zwar von einem Sarg gesprochen, doch als gute Polizistin weigerte Kat sich, voreilige Spekulationen anzustellen. Der Schnee reflektierte das Sonnenlicht, und sie blinzelte durch die Windschutzscheibe, um den länglichen Kasten aus unbehandeltem Holz zu mustern. Wahrscheinlich Kiefer, wenn sie einen Tipp hätte abgeben sollen, was sie jedoch nicht wollte.
Sie stieg aus dem Auto. Ihr Atem formte flüchtige Wölkchen, die der frostige Wind davontrug. Es war viel zu kalt für März, was Kat aus verschiedenen Gründen störte. Zum einen machte sie der verlängerte Winter depressiv, zum anderen hielt er die Touristen fern, von denen die meisten Bewohner Perry Hollows abhängig waren.
Außerdem sah Kat in der Kälte eine Warnung vor drohendem Unheil. Sie war so schneidend, so unnatürlich.
Als sie endlich dazu kam, ihren Kaffee zu trinken, war er lauwarm. Um sich gegen die Kälte zu wappnen, blieb ihr nichts anderes als ihr Parka. Sie zog den Reißverschluss bis unters Kinn.
Die ominöse Kiste sah tatsächlich wie ein grob gezimmerter Sarg aus. Sie war fast zwei Meter lang, neunzig Zentimeter breit und sechzig hoch, also groß genug für eine Leiche.
Sie hockte sich vor die Kiste und suchte nach Hinweisen auf ihre Herkunft oder, besser noch, auf den Bestimmungsort, nach einer ins Holz getackerten Rechnung etwa oder einem Firmenlogo. Vergeblich. Sie fuhr mit der Hand über den Deckel und über die Seiten. Die Kiste war offenbar von einem Laien gebaut worden. Jeder Fachmann hätte dem Holz zumindest ein wenig Schliff gegeben.
Kat beugte sich näher heran, schnupperte und nahm den Geruch harziger Kiefer wahr. Wie vermutet.
Sie wollte glauben, die Kiste sei einfach von einem Lastwagen gefallen, doch ihr Instinkt sagte etwas anderes. Die Kanten und Oberflächen wiesen keinerlei Schäden auf. Auch auf der Straße waren keine Schleifspuren oder Holzsplitter zu sehen. Die Kiste konnte unmöglich von einem Lastwagen gefallen sein.
Es war kein Zufall, dass sie am Straßenrand stand. Jemand hatte sie dort abgestellt und gewollt, dass sie gefunden wird.
Nach dieser ersten Überprüfung sah Kat keinen Grund mehr, das Unvermeidliche weiter aufzuschieben. Ob Sarg oder nicht, die Kiste musste geöffnet werden. Sie versuchte, den Deckel anzuheben, und bemerkte, dass er an allen vier Ecken und an den Längsseiten an jeweils zwei Stellen vernagelt war. Sie ging zu ihrem Streifenwagen, holte ein Brecheisen aus dem Kofferraum und kehrte zu der Kiste zurück. Mithilfe des Eisens ließ sich der Deckel ohne Weiteres öffnen.
Als Erstes sah sie ein Paar gelbbrauner Arbeitsstiefel, dann eine dreckverschmierte Hose mit Latz über einem roten Flanellhemd und schließlich das vom Kragen umrahmte Gesicht eines Mannes Ende sechzig.
Unwillkürlich wich Kat zurück. Auf halbem Weg zwischen der Kiste und ihrem Auto drehte sie sich zur Seite und schlug eine Hand vor den Mund. Die andere drückte sie in die rechte Seite, wo der Schreck zu sitzen schien.
Nach einer Minute zwang sich Kat, einen zweiten Blick in die Kiste zu werfen. Es versetzte ihr einen zweiten Schlag, als sie bemerkte, dass sie den Toten kannte.
Er hieß George Winnick und hatte einen Hof mit über zwanzig Hektar Land am Stadtrand von Perry Hollow bewirtschaftet. Kat kannte ihn nicht besonders gut. Sie hatten sich im Supermarkt oder auf der Straße gegrüßt, sonst aber kaum ein Wort miteinander gewechselt. Aber er war eine feste Größe in der Stadt, sie wusste, dass er schwer arbeitete, anständig und verlässlich war. Kat konnte sich nicht vorstellen, aus welchem Grund er hier an der Old Mill Road in einer Kiste aus Kiefernholz lag.
»George«, flüsterte sie und näherte sich dem Toten. »Was ist passiert?«
Der Leichnam war in den Sarg gestopft worden wie eine Puppe in einen Schuhkarton. Die Arme waren über der Brust gekreuzt, sodass die Hände auf den Schultern lagen. Hände, Hals und Gesicht waren so fahl wie das aschfarbene Haar.
Zwei blankpolierte Pennys lagen auf den Augen, unter buschigen grauen Brauen. Beide Münzen zeigten die Kopfseite - das Profil von Abraham Lincoln. Die Wirkung war gespenstisch. Die Pennys sahen selbst wie Augen aus, starr und leblos.
Eine Wunde erstreckte sich über die linke Seite seines Halses, halb verdeckt vom Kragen. Kat schob den Stoff beiseite und starrte auf eine Schnittwunde, rund zehn Zentimeter lang und mit schwarzem Faden vernäht, an dem gefrorenes Blut klebte.
Auch auf den Lippen war Blut, das auf den ersten Blick aussah wie vereistes, von Rost verunreinigtes Wasser, eine harte Kruste, unter der wiederum ein im Zickzack- stich vernähter schwarzer Faden zu sehen war.
George Winnick war der Mund zugenäht worden.
Kat schnappte nach Luft, so heftig fuhr ihr wieder der Schmerz in die Rippen, ein überwältigender Eindruck, teils Ekel, teils Entsetzen. Aber sie schaffte es, zum Streifenwagen zu gehen und Carl anzufunken.
»Hör mir gut zu«, sagte sie. »Ruf den Rettungsdienst. Er soll sich sofort auf den Weg machen.«
»Ist was in der Kiste?«
»Ja. George Winnick.«
Carl reagierte, wie Kat erwartet hatte - er murmelte ein Gebet. Sie wartete. Nachdem er amen gesagt hatte, fragte er: »Wie ist er gestorben?«
»Ich weiß es nicht. Wir müssen jedenfalls den County- Sheriff verständigen. Er soll einen Gerichtsmediziner mitbringen. Wir brauchen Hilfe, denn das hier -«
Sie stockte, als ihr klar wurde, dass sie für das hier keine Worte hatte, geschweige denn eine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte. Sie wusste nur, dass sie richtig gelegen hatte, was die unbarmherzige Kälte betraf. Sie war ein schlechtes Omen.
Ein sehr schlechtes.
Kapitel 2
In jeder Todesanzeige steht eine Zeile, die Auskunft darüber gibt, wer wann woran gestorben ist. Sie wird in Amerika auch death sentence genannt, was gleichzeitig »Todesstrafe« bedeutet. Henry Goll, der von Berufs wegen Nachrufe verfasste, hatte an diesem Wortspiel Gefallen. Für ihn zielte der Begriff auf eine tiefere, dunkle Wahrheit: Mit der Geburt sind wir alle zum Tode verurteilt.
Zu Henrys Pflichten gehörte es, darauf zu achten, dass jede in der Perry Hollow Gazette abgedruckte Todesanzeige eine solche Zeile enthielt. Im Allgemeinen stellte das kein Problem dar. Wer einen Todesfall in der Familie zu beklagen hatte, wandte sich an den einzigen Bestatter im ganzen County, der wiederum Henry per Fax informierte. Der saß in seinem winzigen Büro und formulierte dann einen respektvollen Überblick über das Leben des Dahingeschiedenen. Zuerst kam der death sentence. Er war wie das Fleisch am Knochen: das Einzige, was den Leser wirklich interessierte. Alles andere - Familie, Beruf, Erfolge - war Beiwerk.
Henry wusste, dass mit den Angaben zum Tod von George Winnick irgendetwas nicht stimmte. Außer einem Namen und dem Todeszeitpunkt waren ihm keinerlei Informationen zu entnehmen.
George Winnick aus Perry Hollow starb am 14. März um 22:45 Uhr im Alter von 67 Jahren. Henry schrieb schon seit fünf Jahren Nachrufe für die Gazette und war Experte darin, Falschmeldungen aufzudecken, die in alarmierender Häufigkeit auf seinem Schreibtisch landeten. Er konnte zwar nicht verstehen, wie irgendjemand Scherze damit treiben konnte, aber viele machten das. Die schlimmsten Übeltäter waren Teenager, die einen verhassten Lehrer für tot erklärten. Viele solcher Meldungen kamen aber auch von Freunden eines angeblich Toten, meistens während eines runden Geburtstags. Henry passte darauf auf, dass nichts dergleichen in der Zeitung erschien. Wenn er zum Beispiel las, jemand sei an seinem fünfzigsten Geburtstag gestorben, warf er die Meldung automatisch in den Papierkorb.
Fast wäre er so auch mit dem Fax verfahren, das auf ihn wartete, als er an diesem Morgen sein Büro betrat. Weil aber an dem angegebenen Alter und Datum nichts verdächtig zu sein schien, hielt er es für besser, nachzuprüfen, ob es sich tatsächlich um eine Falschmeldung handelte, ehe er sie dem Müll überantwortete.
Er rief im Bestattungsinstitut McNeil an - sein erster und einziger Anruf an diesem Tag. Es war ein kleines Unternehmen am Ende der Oak Street, von Vater und Sohn geführt, die in Perry Hollow das Monopol in Sachen Tod hatten. Wenn jemand wusste, wer in der Stadt gestorben war, dann waren es die Leute von McNeil.
Deana Swan, die Telefonistin, ging schon nach dem ersten Klingeln ans Telefon.
»McNeil Bestattungen«, meldete sie sich mit gelangweilter Stimme. »Mein Name ist Deana. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Henry räusperte sich. »Henry Goll von der Perry Hollow Gazette.«
»Hey, Henry«, begrüßte ihn Deana salopp.
»Ich habe eine Frage zu einem Fax, das ich bekommen habe.«
»Warum sagen Sie eigentlich nicht erst mal ›Hallo‹ zu mir?«
»Wie bitte?«, entgegnete er verwirrt.
»Sie rufen jeden Tag an und kommen immer gleich zur Sache. Kein Gruß, kein Schwätzchen. Warum nicht?«
Henry suchte nach Worten. »Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich nicht so interessant.«
Deanas »So ein Unsinn« überraschte ihn, zumal sie ihren Gedanken nicht weiter ausführte. Henry fand sich vollkommen uninteressant.
»Glauben Sie mir«, sagte er. »So ist es.«
Henry log nicht. Früher war er vielleicht mal interessant gewesen, aber seit fünf Jahren lebte er zurückgezogen und nur für seine Arbeit. Tag für Tag betrat er Punkt neun sein Büro in der dritten Etage. Er machte eine Stunde Pause, in der er am Schreibtisch zu Mittag aß, und arbeitete bis sechs. Wenn er ging, verließ er das Verlagshaus über die Hintertreppe, um keinem Kollegen von der Redaktion über den Weg zu laufen. Zu Hause angekommen, trainierte er genau eine Stunde lang. Danach machte er sich etwas zu essen, sah fern, meist irgendeinen alten Film, oder las ein Buch, bis er müde wurde. Morgens frühstückte er, packte sein Lunchpaket für die Mittagspause und ging zur Arbeit.
Diese immergleiche Routine und die Tatsache, dass er sein bleiches Gesicht nie in der Redaktion zeigte, hatten ihm den Spitznamen Henry Ghoul - der Leichenfl edderer - eingebracht.
Alle glaubten, er hätte keine Ahnung, dass er hinter seinem Rücken so genannt wurde. Aber er wusste es. Und wie das Wort death sentence fand er auch diesen Spitznamen auf amüsante Weise angemessen. Er war das Phantom der Redaktion, der seltsame Kauz, der über Tote schrieb. Manchmal verhielt er sich absichtlich dementsprechend, schlich wie ein Gespenst über die Hintertreppe und ließ aus seinem Büro unter dem Dach düstere Musik erklingen.
»Nun, ob interessant oder nicht«, sagte Deana, »besuchen Sie mich doch mal. Wir könnten zusammen Mittagessen gehen.«
Ihr Vorschlag verblüffte ihn noch mehr.
»Das ist wahrscheinlich keine gute Idee«, erwiderte Henry.
»Warum? Ich weiß nicht einmal, wie Sie aussehen.«
Henry strich unwillkürlich mit den Fingerkuppen über die Narbe, die an seinem linken Ohr begann, im Mundwinkel durch Ober- und Unterlippe verlief und am Kinn endete. Er befühlte die wulstige Haut über dem linken Auge, den Brandfleck, der sich dunkelrot von seiner hellen Haut absetzte. Morgens war er immer besonders dunkel und wurde im Verlauf des Tages ein wenig heller.
»Um nochmal auf das Fax zurückzukommen«, sagte er.
Deana verbarg ihre Enttäuschung nicht, sie war ihrer Stimme deutlich anzuhören. »Natürlich. Wie lautet der Name?«
»George Winnick. Ich frage mich, ob die Meldung richtig ist.«
Henry hörte sie mit Papier rascheln und auf einer Tastatur klappern.
»Wir haben hier nichts über ihn«, erklärte sie schließlich. »Ist das Fax von uns gekommen?«
Henry sagte ihr, dass es von überhaupt keinem Bestattungsunternehmen gekommen war - was auch für unlautere Absicht sprach. Weil er dem nichts hinzuzufügen hatte, bedankte er sich bei Deana für die Hilfe und legte auf, bevor sie Gelegenheit hatte, ihren Vorschlag zu wiederholen. Dann griff er nach dem Fax mit der Meldung vom Tod George Winnicks, zerknüllte es zu einem festen kleinen Ball und warf es in den Papierkorb.
Den restlichen Vormittag über verfasste Henry Nachrufe auf Leute, die tatsächlich gestorben waren - insgesamt vier. Zwei Todesfälle waren von auswärtigen Bestattungsunternehmen gemeldet worden, zwei hatte ihm Deana zugefaxt. Auf dem zweiten Fax war unter dem Firmenlogo in ihrer Handschrift zu lesen: »Tut mir leid, wenn ich Sie in Verlegenheit gebracht habe.«
Das hatte sie allerdings, vor allem, weil sie Henry in seiner Routine gestört hatte.
Er arbeitete so, wie er lebte: ohne jegliche Spontanität. In seinem lückenlos durchorganisierten Büro hatte jedes Detail seinen Platz und seinen Zweck. Die Schreibtischlampe beleuchtete einen engen, fensterlosen Raum. Im Bücherregal lag wohlgeordnet jede Menge Quellenmaterial. Das Faxgerät stand in unmittelbarer Nähe und lieferte ihm den Stoff für seine Arbeit.
Wenn er schrieb, spielte er eine der vielen tragischen Opern ab, die er auf der Festplatte seines Computers gespeichert hatte. An diesem Morgen hörte er Wagners Tristan und Isolde. Die Musik lenkte ihn nicht etwa ab, im Gegenteil, die furiosen Orchesterklänge, Bravourarien und die Geschichte einer zum Scheitern verurteilten Liebe halfen ihm, in Stimmung zu kommen und über jene zu schreiben, die ihre sterbliche Hülle verlassen hatten. Als Isolde an gebrochenem Herzen starb, hatte er seine Arbeit für diesen Vormittag erledigt.
Zu Mittag aß er pünktlich um zwölf, das gleiche wie am Vortag - ein Putensandwich und einen kleinen Salat, von zu Hause mitgebracht, dazu eine Flasche Mineralwasser aus dem Getränkeautomaten im Verlagshaus.
Im Pausenraum stand ein Reporter vor einem Snack- Automaten und schien unschlüssig. Er schenkte Henry ein gequältes Lächeln, das dieser nicht erwiderte. Henry Ghoul lächelte nie.
Der Reporter hieß Martin Swan. Er sah auf seine Art gut aus und wirkte wie ein ehemaliger Footballstar, der in der Arbeitswelt Fuß zu fassen versuchte. Sein weißes Hemd war auf Taille geschneidert, und die seidene Krawatte hing auf einer breiten Brust, unter der sich ein Bierbäuchlein auszubilden begann. Henry wusste von ihm nur, dass er Deanas Bruder war. Solche Zufälle gab es in einer so kleinen Stadt wie Perry Hollow nicht selten. Weil sie über die Schwester irgendwie miteinander in Beziehung standen, fühlte sich Martin immer genötigt, mit Henry ein Gespräch anzufangen, wobei er aber meist einen recht gleichgültigen Eindruck machte. Heute war es anders.
»Sie werden von meiner Schwester bald eine Todesanzeige bekommen«, sagte er.
Henry stand an dem benachbarten Automaten und suchte in der Tasche nach Kleingeld. »Wie kommen Sie darauf?«
Martins Stimme klang ungewöhnlich lebhaft. »Haben Sie denn noch nicht gehört, was passiert ist?«
»Was ist denn passiert?«
»Es hat heute Morgen einen Mord gegeben. Chief Campbell hat das Opfer in einem Sarg an der Old Mill Road gefunden. Gruselig. Der arme George.«
Der Name machte Henry stutzig. »George Winnick?«
Martin nickte. »Haben Sie ihn gekannt?«
Henry fühlte einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Er wunderte und fürchtete sich zugleich. Dieser Zufall war so unglaublich, dass man sich unweigerlich ein bisschen fürchten musste.
»Wann wurde er gefunden?«
»Ich glaube, gegen acht oder so«, antwortete Martin. »Ist Ihnen was zu Ohren gekommen? Ich mach was über die Geschichte, deshalb interessiert's mich natürlich. «
Henry verließ wortlos den Pausenraum, eilte über die Treppe nach oben, stürzte in sein Büro und durchwühlte den Papierkorb, bis er das zusammengeknüllte Stück Papier gefunden hatte.
In der oberen linken Ecke war abzulesen, wann das Fax abgeschickt worden war. Henry las die Meldung drei Mal und konnte es immer weniger glauben. Wieder fuhr ihm ein kalter Schauer über den Rücken, der nun aber nicht mehr abzuklingen schien. Er steckte das Fax in die Tasche, schnappte sich seinen Mantel und rannte nach draußen.
Kapitel 3
Nick Donnelly saß einem hässlichen Mann gegenüber, daran gab es nichts zu deuteln. Das lag in diesem Fall eindeutig nicht im Auge des Betrachters. Er war abgrundtief hässlich, doch Nick konnte seinen Blick nicht von ihm wenden. Er war fasziniert von diesen pockennarbigen Wangen, den fettigen Haaren und dem Gebiss, das ihn an einen angeknabberten Maiskolben erinnerte.
Es musste eine Folter sein, so abstoßend auszusehen, dachte Nick. Zum Glück konnte er es nicht wirklich nachempfinden. Er selbst entstammte einem wohlgeratenen Clan schwarzhaariger Iren, deren Körper und Gesichter von Michelangelo gemeißelt zu sein schienen. Dazu kam noch das schalkhafte Lächeln, das Nick von seinem Vater geerbt hatte. Nick wusste, dass er verteufelt gut aussah.
Aber dieser andere Vogel - dieser Edgar Sewell am anderen Ende des Tisches - hatte es wahrscheinlich verdammt schwer im Leben. Immer gehänselt und mit Hohn und Spott bedacht zu werden, schrecklich. Bestimmt tat er sich selbst leid, sooft er in den Spiegel blickte. Aber das entschuldigte nicht, was er getan hatte. Nichts konnte das entschuldigen, egal, wie hässlich er war.
»Verraten Sie's mir, Edgar«, sagte Nick. »Warum haben Sie das getan?«
Edgar steckte in einem orangefarbenen Overall. Er blickte auf seine Handschellen und murmelte: »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
Die Stimme passte zu seinem Aussehen. Sie war unerträglich, quietschend und brüchig, eine Zumutung für Nicks Ohren.
»Wiederholen Sie's.«
»Wozu?«
»Weil ich Ihnen helfen möchte.«
Das war gelogen. Bei Edgar Sewell, dem Mörder von drei kleinen Mädchen, waren Hopfen und Malz verloren. Er würde den Rest seines Lebens in diesem Scheißgefängnis am Stadtrand von Philadelphia zubringen müssen. Trotzdem wollte Nick dahintersteigen, wie dieser Kerl tickte und was ihn veranlasst hatte, diese scheußlichen Verbrechen zu begehen. Vielleicht würde es ihm dabei helfen, anderen Mördern das Handwerk zu legen, die unschuldigen und ahnungslosen Opfern auflauerten. Darum fragte er nach.
»Sie haben mir gesagt, ich soll das machen«, antwortete Edgar.
»Wer?«
»Die Stimmen.«
Die alte Leier. Nick hatte in der vergangenen Woche vier Mörder vernommen, und Edgar war der dritte, der diese Ausrede benutzte. Aber es war nur blödes Gewäsch, um die wahren Motive zu kaschieren. Leute wie Edgar töteten nicht auf Geheiß irgendwelcher ominöser Stimmen. Sie töteten aus Verlangen.
»Wie haben diese Stimmen geklungen?«
»Weiß ich nicht mehr.«
Nick lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Interessant. Wenn mir jemand zuflüsterte, ich solle kleine Mädchen abschlachten, würde ich mich an die Stimme wahrscheinlich sehr genau erinnern.«
Edgar schlug einen anderen Ton an. »Doch, ich erinnere mich.«
»Erzählen Sie.«
Edgar ließ sich Zeit. Er legte seinen linken Daumen an die Lippen und leckte daran. Die Zunge kreiste um den Daumennagel. Ähnliches war Nick schon bei zwei anderen Mördern aufgefallen, eine Marotte, die auf eine frühkindliche Störung hinzuweisen schien.
Als Edgar bemerkte, dass Nick ihn beobachtete, nahm er den Daumen vom Mund und sagte: »Elvis.«
Originell, dachte Nick. Die beiden anderen hatten den Leibhaftigen vorgeschoben. Aber diese offensichtliche Lüge machte ihn auch sauer. Nach einer geschlagenen Stunde hatte er immer noch nichts Neues von Edgar Sewell erfahren. Es wurde langsam Zeit, ihn zum Reden zu bringen.
Nick griff in seine Aktentasche, die am Stuhlbein lehnte, und entnahm ihr einen braunen Umschlag, in dem drei Fotos steckten. Auf dem ersten war ein dunkelhaariges Mädchen zu sehen, das schüchtern in die Kamera lächelte. Nick schob es Edgar über die Tischplatte hin.
»Lainie Hamilton. Erinnern Sie sich an sie?«
Edgar wandte den Kopf zur Seite und starrte die Wand an.
»Ich weiß, dass Sie sich erinnern«, fuhr Nick fort. »Sie war acht und wohnte im Stockwerk unter Ihnen. Ronette, ihre Mutter, war Prostituierte, wie Ihre Mutter. Am
1. Juni 1980 haben Sie ihr zwanzig Dollar gegeben, um Sex mit ihr zu haben. Na, klingelt's?« Edgar steckte den Daumen in den Mund und schüttelte den Kopf. »Sie hat Sie abblitzen lassen, stimmt's? Hat Sie ausgelacht und womöglich gesagt, dass Sie ihr viel zu hässlich sind. Sie sind nach oben zurück in Ihre Wohnung gegangen und haben geschmollt. Als Ronette dann in der Nacht auf den Strich gegangen ist, sind Sie wieder nach unten geschlichen, haben die Tür aufgebrochen und Lai- nie getötet.«
Edgar nahm kurz den Daumen aus dem Mund und sagte: »Das haben mir die Stimmen befohlen.«
»Es gab keine Stimmen«, entgegnete Nick eine Spur ungehaltener. »Da waren nur Sie, und Sie allein haben aus eigenem Antrieb die kleine achtjährige Lainie umgebracht. Und offenbar hat Ihnen das so gut gefallen, dass Sie sich sechs Monate später an der Tochter einer anderen Prostituierten vergangen haben.«
Nick warf das zweite Foto auf den Tisch.
»Und dann haben Sie es wieder getan.«
Das dritte Foto war, wie die beiden anderen, von Edgar Sewell höchstpersönlich aufgenommen worden. Es waren Bilder seiner Opfer - das jüngste sechs, das älteste elf Jahre -, die ihren Mörder aus unschuldigen Augen betrachteten.
Edgar warf einen Blick darauf. »Sie haben es verdient.« »Wer? Die Mädchen?« »Ihre Mütter. Diese dreckigen Flittchen. Halten sich für was Besseres und sind in Wirklichkeit miese, kleine Nutten. Haben sich lustig gemacht über mich, genauso wie -«
»Ihre Mutter?«
Edgar nickte so heftig mit dem Kopf, dass Nick um den Daumen fürchtete, der bis zum Anschlag im Mund steckte. Kurz darauf verblüffte Edgar ihn mit einer Reaktion, die Nick den beiden anderen Mördern bei der Vernehmung nicht hatte entlocken können.
Er weinte.
Die Vernehmung war vorbei. Nick wusste, dass aus Edgar kein Wort mehr herauszubekommen sein würde. Was bedeutete, dass er nun ins nächste Gefängnis fahren musste - ins Centre County -, um dann, wenn so viel Zeit blieb, noch zwei weitere aufzusuchen.
Bevor Nick sich auf den Weg machte, ging er auf die Besuchertoilette, die über einer Tankstelle lag. Eine Kloschüssel, ein Urinal. Auch das Waschbecken war ekelhaft verdreckt. Nick spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und versuchte, nach Möglichkeit nichts zu berühren. Aus dem Spiegel starrte ihm ein hohläugiger Mann entgegen.
Himmel, er war hundemüde. Dies war bereits die zweite Woche, in der er einen Mörder nach dem anderen zu vernehmen hatte, und all die Gespräche und all die Autofahrten schlauchten ihn zusehends. Aber es würde sich lohnen, das hoffte er jedenfalls.
Er trocknete das Gesicht ab, verließ die Toilette und dann auch das Gefängnis, erleichtert, wieder im Freien zu sein, raus aus den vergitterten Zellen mit all ihrem Schmutz. Seine Stimmung erholte sich so weit, dass er ein Liedchen pfeifen konnte, einen kleinen »Folsom Prison Blues« zu Ehren seiner näheren Umgebung.
Die gute Stimmung hielt nicht lange vor. Als er den Parkplatz erreichte, sah er sich unerwartetem Besuch gegenüber.
Captain Gloria Ambrose, seine unmittelbare Vorgesetzte bei der Kriminalpolizei von Pennsylvania, lehnte an dem zivilen Fahrzeug, das sie hergebracht hatte. Um sich warm zu halten, hatte sie die Arme um den Leib geschlungen, ließ sie aber sinken, als sie ihn erblickte. Typisch Gloria. Versuchte immer, taffer zu wirken, als sie in Wirklichkeit war.
»Wie hast du mich gefunden?«
»Du hast einen offiziellen Antrag zur Vernehmung eines Strafgefangenen eingereicht«, antwortete Gloria. »War ganz einfach. Vielleicht erklärst du mir mal, wieso du Gefangene vernimmst, obwohl du Urlaub hast.«
Nick hatte tatsächlich Urlaub. Und wie er seine freie Zeit verbrachte, war seine Sache.
»Was hast du?«, fragte er gereizt. »Du bist doch nicht gekommen, um mich an meinen Urlaub zu erinnern.«
Er ahnte den Grund. Gloria brauchte nichts zu sagen. Ihre Anwesenheit sprach für sich.
»Er hat wieder zugeschlagen.«
»Wo?«
»In einem kleinen Nest namens Perry Hollow. Rund fünfundvierzig Autominuten von hier entfernt. Deine Kollegen sind schon vor Ort.«
»Ich nehme an, du willst, dass ich das Team komplett mache«, sagte Nick.
Gloria hatte offenbar genug von der Kälte und verkroch sich in ihrem Wagen. »Das bleibt dir überlassen«, erwiderte sie und warf einen Blick auf die graue Gefängniswand hinter Nick. »Wie gesagt, du hast Urlaub.«
Sie zog die Tür zu und ließ Nick im kalten Wind und mit der einen Frage zurück, die er noch nicht gestellt hatte. Er wollte gerade ans Fenster klopfen, als sich die Scheibe automatisch senkte.
»Keine Sorge«, sagte sie mit ernstem Blick. »Ich werde über deine außerberuflichen Aktivitäten kein Wort verlieren. Aber wenn du das nächste Mal Urlaub anmeldest, dann nimm ihn auch. Du machst dir viel zu viel Stress, Donnelly. Das ist nicht gesund. Es wäre besser, du entspannst dich zur Abwechslung mal.«
Nick fuhr in Begleitung der Rolling Stones nach Perry Hollow. Für eine längere Autofahrt waren Jaggers spastische Stimme und der unerbittliche Sound der Band genau das Richtige. »Satisfaction«, »Gimme Shelter« und »Brown Sugar« trieben ihn auf dem Highway voran. Als die Band Sympathie für den Teufel aufbrachte, hatte er Perry Hollow erreicht, wo ein Teufel anderer Art gerade einen der Bewohner gefordert hatte.
Der Tatort war schnell gefunden. Am Rand der Stadt hatte sich eine größere Menschenmenge versammelt. Die Straße war gesperrt, und er musste seinen Wagen nah an der Böschung parken.
Mit einem Blick durch die Windschutzscheibe verschaffte er sich einen ersten Eindruck. Neugierige reckten jenseits der Absperrung die Hälse und tuschelten miteinander. Die meisten waren sichtlich schockiert. Auf der anderen Seite hielten sich Beamte des Sheriffbüros und der Landespolizei auf. Auch sie tuschelten miteinander und wirkten ratlos bis entsetzt.
Unbeeindruckt zeigten sich nur drei Gestalten, die Nick gut kannte, denn sie arbeiteten für ihn.
Tony Vasquez war der Erste, der Nick entdeckte, als der mit gezücktem Ausweis unter dem Absperrband durchtauchte.
»Na bitte, ich hab's doch gesagt«, grüßte Tony und lupfte den Schirm seiner Mütze. Er trug als Einziger aus dem Team eine Uniform, in der er als Bodybuilder eine ziemlich einschüchternde Figur machte, was ihm, wie Nick wusste, ganz gut gefiel. Er trug sie aber auch mit Stolz. Nur zwei Prozent der Landespolizisten hatten einen lateinamerikanischen Hintergrund, und Tony war einer der besten. Und bei seinen Statistiken hatte er allen Grund, stolz zu sein.
»Wir haben Wetten darauf abgeschlossen, ob du kommst oder nicht«, sagte er. »Ich habe gewonnen.«
»Wie viel?«
»Einen Zwanziger von Cassie und die Aussicht, im Bankdrücken gegen Rudy anzutreten.«
»Gratuliere, Vasquez.«
Rudy Taylor, der Bankdrücker, kniete am Straßenrand vor einem Schneefleck.
»Ist das die Stelle, wo er gefunden wurde?«, fragte Nick.
Rudy nickte. »Zu Tode gekommen ist er aber woanders. «
»Woran siehst du das?«
»Hier ist kein Blut. Keine Kampfspuren. Nur die Kiste, in der er steckte.«
Rudy Taylor war der schräge Vogel im Team. Er war klein und spindeldürr und hatte einen Topfschnitt, der ihn aussehen ließ, als wäre er an der Grundschule der Vorsitzende des Physik-Clubs. Als Kriminaltechniker aber war er spitze. Wenn er einen Tatort unter die Lupe nahm, fand er in fünf Minuten mehr Indizien als ein ganzes Team in einer Stunde.
»Irgendwelche Reifen- oder Fußspuren?«, fragte Nick.
Rudy erhob sich und stampfte zu Demonstrationszwecken über den hartgefrorenen Boden. »Auf dem Eis zeigt sich nicht viel. Ich habe allerdings da drüben auf dem Schneefleck was entdeckt.«
Er deutete auf einen Fußabdruck, der mit einem kleinen gelben Schild als Indiz markiert war.
»Schon gewachst?« Nick bezog sich auf ein Wachsmittel aus der Sprühdose, mit dem Abdrücke auch im Schnee kopiert werden konnten, ohne zerstört zu werden.
»Ja«, antwortete Rudy. »Der Abdruck stammt von der Person, die den Fund gemeldet hat.«
»Wo ist der Leichnam?«
»Er wurde vor einer Viertelstunde in die Gerichtsmedizin gebracht«, antwortete Cassie Lieberfarb, die ebenfalls zu Nicks Team gehörte. Sie stand hinter ihm und trug eine Baseballkappe der Polizeimannschaft auf ihren krausen, orangefarbenen Haaren. Die Füße steckten in den knallgrünen Galoschen, die sie als ihre Profiler-Stiefel bezeichnete.
»Wie war's in Florida?«, fragte sie und musterte Nicks Gesicht.
»Heiß und sonnig.«
»Und warum bist du so käsig?«
Nick zuckte die Achseln. »Ich hab mich eingecremt. Zur Sache, wer ist das Opfer?«
»Ein Mann, weiße Hautfarbe, Mitte sechzig«, antwortete Tony.
»Also einer aus der Zielgruppe unseres Freundes«, fügte Cassie hinzu.
»Wann wird die Autopsie vorgenommen?«
»Um vier.«
Nick zählte auf, was noch an diesem Tag zu tun war. Er und Cassie würden sich die Leiche ansehen, ehe sie unters Messer kam. Derweil sollte Rudy die Zusammenstellung und Untersuchung der Beweismittel beaufsichtigen. Tony bekam die Aufgabe, den besten Mitarbeiter des Sheriffbüros ausfindig zu machen und mit ihm Klinken zu putzen. Nick und seine Leute ahnten, wer der Täter war, hatten aber immer noch keinen Schimmer, warum er tötete.
»Wurde das Opfer bereits identifiziert?«, fragte er.
»Ja, von der Frau, die ihn gefunden hat.«
»Wer ist sie?«
»Chief der hiesigen Polizeistation.«
»Ich will mit ihr sprechen.«
Cassie zeigte auf eine Frau in Uniform in einer Gruppe von Polizisten, die sie um Haupteslänge überragten.
»Da ist sie«, sagte Cassie. »Ihr Name ist Kat Camp- bell.«
Nick betrachtete sie. Die Frau machte einen erschöpften Eindruck. Sie hatte dunkle Ringe unter den freundlichen Augen und hielt sich mit ihren hängenden Schultern wie jemand, der eine schwere Last auf dem Buckel trug. Das konnte passieren, wenn man im eigenen Hinterhof einen Mord entdeckte.
»Sind Sie Chief Campbell?«, fragte Nick, als er auf sie zuging.
Sie nickte. »Und Sie leiten hier die Ermittlungen?«
»Ja.« Er gab ihr die Hand. »Nick Donnelly. Vom BCI.«
Sie musterte seine zivile Kleidung und suchte vergeblich nach Hinweisen auf seinen Dienstrang. Weil es die nicht gab, half ihr Nick aus der Verlegenheit.
»Ich bin Lieutenant«, sagte er, »aber nur auf dem Papier. In Wirklichkeit gehöre ich einem Team an, das Schwerverbrecher zu schnappen versucht.«
»Wir sind Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar.«
»Damit wir uns richtig verstehen. Der Sheriff hat uns den Fall übertragen. Damit ist die Landespolizei, genauer gesagt das BCI, für die Ermittlungen zuständig. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
Kat deutete ein Kopfnicken an. »Verstanden.«
»Gut. Wie mir gesagt wurde, haben Sie die Leiche gefunden. «
Kat berichtete kurz, was sie am Morgen gesehen und anschließend unternommen hatte, vom Auffi nden der Kiste bis zur Absperrung des Fundortes - alles genau nach Vorschrift. Das hörte Nick gern. Manche Kleinstadtpolizisten schadeten mehr, als sie nutzten.
»Sie kannten das Opfer, nicht wahr?«
»Nur vom Sehen. Perry Hollow ist ein kleines Nest. Mit der Zeit kennt jeder jeden.«
Ihre Stimme zitterte ein wenig, und Nick fürchtete schon, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde, doch es gelang ihr, die Fassung zu wahren.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Hier hat es noch nie einen Mordfall gegeben. Ein schlimmer Tag für uns alle.«
Daran zweifelte Nick keinen Augenblick. Für Chief Campbell war es bestimmt der schlimmste Tag ihrer Amtszeit. Dabei ahnte sie nicht einmal, was hinter der Sache steckte, und der Tag war noch nicht zu Ende.
© 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Er hörte noch etwas anderes.
Schritte.
Es war noch jemand da.
»Halt still, dann ist es nicht ganz so schlimm«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit.
Er spürte warmen Atem am Ohr, eine Hand, die sein Kinn umfasste und den Kopf festhielt.
Etwas drückte gegen seinen Hals. Kalt. Scharf. Einen Moment lang spürte er einen leichten Druck, eine beunruhigende Spannung. Dann drang das kalte, scharfe Etwas durch seine Haut und in seinen Körper ein, teilte das Fleisch.
Blut sprudelte aus ihm heraus, ergoss sich über Schultern und Haare. Hilflos lag er da, fühlte sich wie ein frisch geschlachtetes Tier. Mit jedem Herzschlag quoll ein weiterer Schwall aus ihm hervor.
Diesmal war der Schmerz unerträglich. Es war nicht mehr nur in seinem Mund.
Es war in ihm.
Es war überall.
Er schrie. Nicht laut, aber in seinem Kopf. Die Sirenen des Entsetzens hallten von den Schädelknochen wider. Der scharfe, kalte Gegenstand blieb in seinem Hals. Der Schmerz war so überwältigend, er vernichtete seine Gedanken, seine stummen Schreie. Er vernichtete alles, bis in seinem Kopf nichts mehr war, nur noch Schmerz.
Und Angst.
Und, schließlich, Dunkelheit.
Kapitel 1
»Chief Campbell!«
Kaum hatte Kat ihren Fuß auf den Gehweg gesetzt, rief jemand so laut ihren Namen, dass es auf der ganzen Main Street zu hören war. Sie war gerade bei Big Joe's gewesen, einem Starbucks-Verschnitt, und hielt einen extragroßen Becher Kaffee in der Hand, der auch so teuer gewesen war wie bei Starbucks. Vier Dollar. Normalerweise hätte sie sich darüber geärgert. Aber es war ein grauer, kalter Morgen, und sie brauchte unbedingt einen Kaffee, der ein bisschen wärmte und für einen klaren Kopf sorgte. Bedauerlicherweise hörte sie nun schon zum zweiten Mal ihren Namen, was sie daran hinderte, den ersten heißgeliebten Schluck zu nehmen.
»Hey, Chief!«
Es war Jasper Fox, Besitzer eines Blumenladens, der mit dem Namen Awesome Blossoms geschlagen war. Trotz der Kälte glänzte sein Gesicht vor Schweiß, als er auf sie zugelaufen kam.
»Ich bin beklaut worden.«
Kat hielt mit dem Kaffeebecher vor dem Mund inne und blinzelte ungläubig. Diebstahldelikte kamen in Perry Hollow ungefähr so häufig vor wie eine Sonnenfi nsternis. In den von Kiefern gesäumten Straßen mit ihren verschlafenen alten Fassaden gab es selten Ärger.
»Beklaut? Sind Sie sicher?«
Jasper hatte einen absurden Schnurrbart, dessen Spitzen wie zwei schmutzige Eiszapfen von seinem Gesicht hingen. Sein Anblick erinnerte Kat immer an ein Walross. An diesem Morgen hing der Schnurrbart noch tiefer herab als sonst.
»Ich muss es ja wohl wissen«, sagte Jasper.
Seine beleidigte Miene verriet, dass er eine andere Reaktion erwartet hatte. Irgendwas Tatkräftiges, Entschlossenes. Vielleicht wäre Kat seinen Erwartungen halbwegs gerecht geworden, hätte sie Gelegenheit gehabt, ihren Kaffee zu trinken. Stattdessen ließ sie den Becher sinken und betrachtete, wie Jasper sie betrachtete.
Sie wusste, was ihm durch den Kopf ging. Sie las es seinen Augen ab. Er sah eine Frau, die einen Meter fünfzig groß war, fünf Kilo Übergewicht hatte und auf die vierzig zuging. Eine Frau, die ihre blonden Haare dunkler tönte, um ernst genommen zu werden. Eine Frau mit verquollenen Augen, weil die Heizung streikte und ihr Sohn die halbe Nacht gehustet hatte. Vor allem sah er eine Frau, die in Uniform und mit Polizeimarke auf dem Gehweg herumlungerte, statt unverzüglich die Ermittlungen im ersten Fall von Diebstahl aufzunehmen, den es in dieser Stadt seit über einem Jahr gab.
Kat fragte: »Was ist Ihnen denn geklaut worden?«
»Ich zeig's Ihnen.«
Sie folgte ihm über die Main Street, die schneller wach wurde als sie selbst. Lisa Gunzelman schloss ihren Antiquitätenladen auf, und Adrienne Wellington zupfte im Schaufenster ihrer Boutique an einem geblümten Kleid herum. Auch auf der anderen Straßenseite bereiteten sich die Ladenbesitzer auf einen neuen Geschäftstag in Perry Hollow, Pennsylvania, vor.
Ihre Mühe war umsonst. Seit dem Ansturm vor Weihnachten kamen nur noch wenige Kunden, einfach, weil es im Januar und Februar zum Einkaufen zu kalt war. Jetzt war Mitte März, und obwohl in den Schaufenstern bereits kurze Hosen, Sonnenbrillen und Tank-Tops ausgestellt waren, ließ der Frühling auf sich warten. Vor zwei Tagen erst hatte ein heftiger Nordoststurm fast fünfzehn Zentimeter Neuschnee über der Stadt ausgeschüttet. Darauf war arktische Kälte gefolgt, die die Schneeberge am Straßenrand hatte gefrieren lassen. Um einen solchen ging Kat herum, als sie Jasper in seinen Laden folgte, der nur zwei Türen von der Boutique entfernt lag.
Im Inneren von Awesome Blossoms steuerte er geradewegs auf die Hintertür zu und öffnete sie. Kat ging hinter ihm her und befand sich auf einem leeren, spiegelglatten Parkplatz hinter dem Haus. Erst jetzt verstand sie, worum es ging. Jaspers Lieferwagen - ein weitverbreiteter weißer Ford, auf dessen Seitenwände der Name seines Ladens gemalt war - war in der Nacht gestohlen worden.
»Sind Sie sicher, dass Sie ihn hier abgestellt haben?«
»Natürlich.«
»Sie finden die Frage vielleicht überflüssig«, sagte Kat. »Aber das muss ich wissen, wenn Sie wollen, dass ich Ihren Wagen wiederfi nde.«
Jasper zeigte auf einen eisfreien Fleck. »Da hat er gestanden. «
»Hat außer Ihnen sonst noch jemand Schlüssel für den Wagen?«
»Im Handschuhfach liegen Ersatzschlüssel für den Fall, dass jemand anders Ware ausliefern muss.«
»Lassen Sie mich raten. Sie haben den Wagen nie abgeschlossen. «
Jasper konnte sich die Antwort sparen. Sein Schnauzbart sprach für ihn. Er hing schlaff herab und bestätigte Kats Vermutung.
Fahrlässig, aber durchaus nachvollziehbar. Perry Hollow war die Art Stadt, in der man den Zündschlüssel stecken lassen und sicher sein konnte, dass das Auto nicht gestohlen wurde. Bis jetzt, offenbar.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Wir werden den Wagen finden. In der Stadt weiß jeder, wie er aussieht. Wahrscheinlich haben ein paar Teenager eine Spritztour gemacht und ihn hinter dem Shop and Save abgestellt.«
Kat hatte angenommen, Jasper wäre nach dieser Theorie erleichtert, aber er verzog besorgt das Gesicht.
»Im Handschuhfach war noch etwas, Chief.«
»Was?«
Jasper zögerte einen Moment. »Eine Pistole.«
Kat ächzte. Das war vielleicht nicht angemessen, aber immerhin besser, als dem ersten Impuls nachzugeben und dem Floristen an die Gurgel zu springen. Wie konnte man nur so dumm sein, eine Waffe im Handschuhfach eines nicht abgeschlossenen Lieferwagens liegen zu lassen? Und warum hatte er überhaupt eine Pistole?
»Zu meiner Sicherheit«, antwortete Jasper auf die unausgesprochene Frage, die wie eine Wäscheleine zwischen ihnen in der Luft hing. »Falls ich überfallen werde. Das Ding ist angemeldet und alles.«
Dass er in seinem Wagen überfallen würde, stand nicht zu befürchten, es sei denn, er lieferte auch in West Philadelphia aus.
»War sie geladen?«, fragte Kat.
Jasper nickte traurig, das Problem war also größer als bislang angenommen. Sie musste den Wagen finden. Pronto. Und hoffentlich lag die Pistole noch an ihrem Platz.
Mit zügigen Schritten ging sie durch den Laden zurück auf die Main Street. Als sie ihren schwarzweiß lackierten Crown Vic erreichte - er stand Gott sei Dank immer noch vor Big Joe's -, hörte sie, dass Deputy Carl Bauersox über Funk mit ihr Kontakt aufzunehmen versuchte.
Carl, ihr einziger Stellvertreter, hatte Nachtschicht. Kat war normalerweise um diese Uhrzeit auf dem Revier, um ihn abzulösen, und Carl wollte wohl wissen, wann er endlich nach Hause gehen konnte.
Kat griff nach dem Funkgerät. »Bin gleich da, Carl.«
»Wir haben ein Problem, Chief.«
Kat bezweifelte das. Zwei Delikte an einem Tag wären für Perry Hollow ein Rekord. Wahrscheinlich saß irgendeine Katze auf einem Baum fest, was in Carls Welt schon ein großes Problem darstellte.
»Ein Lkw-Fahrer hat angerufen und gesagt, dass am Rand der Old Mill Road eine Holzkiste steht.«
Kat bemerkte, dass sie immer noch den Kaffeebecher in der Hand hielt, ohne etwas getrunken zu haben. Sie hob ihn an die Lippen und fragte, bevor sie den ersten Schluck nahm: »Warum bist du noch nicht hin und hast die Kiste weggeschafft?«
»Weil es nicht einfach bloß eine Kiste ist.«
Kat hielt inne. Schon wieder. »Nicht einfach bloß eine Kiste? Was soll das heißen?«
»Na, dieser Mann schwört, es wäre ein Sarg.«
Ein Sarg. Am Straßenrand. Blödsinn. Der Lkw-Fahrer hatte sich geirrt. Es war bloß eine Kiste, und sie musste dafür sorgen, dass sie weggeräumt wurde, ehe es deswegen zu einem Verkehrsunfall kommen und womöglich ein echter Sarg nötig sein würde.
»Ich sehe mir das an«, sagte sie. »In der Zwischenzeit könntest du mir einen Gefallen tun und nach Jasper Fox' Lieferwagen fahnden lassen. Er ist vergangene Nacht gestohlen worden.«
Von der Waffe im Handschuhfach sagte sie nichts. Carl war ungefähr so verschwiegen wie ein Kleinkind. Wenn er davon wüsste, würde es innerhalb einer Stunde die ganze Stadt erfahren.
»Wird gemacht, Chief«, sagte Carl und legte auf. Widerwillig stellte Kat den Becher ab, startete den Crown Vic und fuhr in Richtung Old Mill Road.
Die Kiste stand tatsächlich am Straßenrand, auf gefrorenem Schnee. Der Lkw-Fahrer hatte zwar von einem Sarg gesprochen, doch als gute Polizistin weigerte Kat sich, voreilige Spekulationen anzustellen. Der Schnee reflektierte das Sonnenlicht, und sie blinzelte durch die Windschutzscheibe, um den länglichen Kasten aus unbehandeltem Holz zu mustern. Wahrscheinlich Kiefer, wenn sie einen Tipp hätte abgeben sollen, was sie jedoch nicht wollte.
Sie stieg aus dem Auto. Ihr Atem formte flüchtige Wölkchen, die der frostige Wind davontrug. Es war viel zu kalt für März, was Kat aus verschiedenen Gründen störte. Zum einen machte sie der verlängerte Winter depressiv, zum anderen hielt er die Touristen fern, von denen die meisten Bewohner Perry Hollows abhängig waren.
Außerdem sah Kat in der Kälte eine Warnung vor drohendem Unheil. Sie war so schneidend, so unnatürlich.
Als sie endlich dazu kam, ihren Kaffee zu trinken, war er lauwarm. Um sich gegen die Kälte zu wappnen, blieb ihr nichts anderes als ihr Parka. Sie zog den Reißverschluss bis unters Kinn.
Die ominöse Kiste sah tatsächlich wie ein grob gezimmerter Sarg aus. Sie war fast zwei Meter lang, neunzig Zentimeter breit und sechzig hoch, also groß genug für eine Leiche.
Sie hockte sich vor die Kiste und suchte nach Hinweisen auf ihre Herkunft oder, besser noch, auf den Bestimmungsort, nach einer ins Holz getackerten Rechnung etwa oder einem Firmenlogo. Vergeblich. Sie fuhr mit der Hand über den Deckel und über die Seiten. Die Kiste war offenbar von einem Laien gebaut worden. Jeder Fachmann hätte dem Holz zumindest ein wenig Schliff gegeben.
Kat beugte sich näher heran, schnupperte und nahm den Geruch harziger Kiefer wahr. Wie vermutet.
Sie wollte glauben, die Kiste sei einfach von einem Lastwagen gefallen, doch ihr Instinkt sagte etwas anderes. Die Kanten und Oberflächen wiesen keinerlei Schäden auf. Auch auf der Straße waren keine Schleifspuren oder Holzsplitter zu sehen. Die Kiste konnte unmöglich von einem Lastwagen gefallen sein.
Es war kein Zufall, dass sie am Straßenrand stand. Jemand hatte sie dort abgestellt und gewollt, dass sie gefunden wird.
Nach dieser ersten Überprüfung sah Kat keinen Grund mehr, das Unvermeidliche weiter aufzuschieben. Ob Sarg oder nicht, die Kiste musste geöffnet werden. Sie versuchte, den Deckel anzuheben, und bemerkte, dass er an allen vier Ecken und an den Längsseiten an jeweils zwei Stellen vernagelt war. Sie ging zu ihrem Streifenwagen, holte ein Brecheisen aus dem Kofferraum und kehrte zu der Kiste zurück. Mithilfe des Eisens ließ sich der Deckel ohne Weiteres öffnen.
Als Erstes sah sie ein Paar gelbbrauner Arbeitsstiefel, dann eine dreckverschmierte Hose mit Latz über einem roten Flanellhemd und schließlich das vom Kragen umrahmte Gesicht eines Mannes Ende sechzig.
Unwillkürlich wich Kat zurück. Auf halbem Weg zwischen der Kiste und ihrem Auto drehte sie sich zur Seite und schlug eine Hand vor den Mund. Die andere drückte sie in die rechte Seite, wo der Schreck zu sitzen schien.
Nach einer Minute zwang sich Kat, einen zweiten Blick in die Kiste zu werfen. Es versetzte ihr einen zweiten Schlag, als sie bemerkte, dass sie den Toten kannte.
Er hieß George Winnick und hatte einen Hof mit über zwanzig Hektar Land am Stadtrand von Perry Hollow bewirtschaftet. Kat kannte ihn nicht besonders gut. Sie hatten sich im Supermarkt oder auf der Straße gegrüßt, sonst aber kaum ein Wort miteinander gewechselt. Aber er war eine feste Größe in der Stadt, sie wusste, dass er schwer arbeitete, anständig und verlässlich war. Kat konnte sich nicht vorstellen, aus welchem Grund er hier an der Old Mill Road in einer Kiste aus Kiefernholz lag.
»George«, flüsterte sie und näherte sich dem Toten. »Was ist passiert?«
Der Leichnam war in den Sarg gestopft worden wie eine Puppe in einen Schuhkarton. Die Arme waren über der Brust gekreuzt, sodass die Hände auf den Schultern lagen. Hände, Hals und Gesicht waren so fahl wie das aschfarbene Haar.
Zwei blankpolierte Pennys lagen auf den Augen, unter buschigen grauen Brauen. Beide Münzen zeigten die Kopfseite - das Profil von Abraham Lincoln. Die Wirkung war gespenstisch. Die Pennys sahen selbst wie Augen aus, starr und leblos.
Eine Wunde erstreckte sich über die linke Seite seines Halses, halb verdeckt vom Kragen. Kat schob den Stoff beiseite und starrte auf eine Schnittwunde, rund zehn Zentimeter lang und mit schwarzem Faden vernäht, an dem gefrorenes Blut klebte.
Auch auf den Lippen war Blut, das auf den ersten Blick aussah wie vereistes, von Rost verunreinigtes Wasser, eine harte Kruste, unter der wiederum ein im Zickzack- stich vernähter schwarzer Faden zu sehen war.
George Winnick war der Mund zugenäht worden.
Kat schnappte nach Luft, so heftig fuhr ihr wieder der Schmerz in die Rippen, ein überwältigender Eindruck, teils Ekel, teils Entsetzen. Aber sie schaffte es, zum Streifenwagen zu gehen und Carl anzufunken.
»Hör mir gut zu«, sagte sie. »Ruf den Rettungsdienst. Er soll sich sofort auf den Weg machen.«
»Ist was in der Kiste?«
»Ja. George Winnick.«
Carl reagierte, wie Kat erwartet hatte - er murmelte ein Gebet. Sie wartete. Nachdem er amen gesagt hatte, fragte er: »Wie ist er gestorben?«
»Ich weiß es nicht. Wir müssen jedenfalls den County- Sheriff verständigen. Er soll einen Gerichtsmediziner mitbringen. Wir brauchen Hilfe, denn das hier -«
Sie stockte, als ihr klar wurde, dass sie für das hier keine Worte hatte, geschweige denn eine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte. Sie wusste nur, dass sie richtig gelegen hatte, was die unbarmherzige Kälte betraf. Sie war ein schlechtes Omen.
Ein sehr schlechtes.
Kapitel 2
In jeder Todesanzeige steht eine Zeile, die Auskunft darüber gibt, wer wann woran gestorben ist. Sie wird in Amerika auch death sentence genannt, was gleichzeitig »Todesstrafe« bedeutet. Henry Goll, der von Berufs wegen Nachrufe verfasste, hatte an diesem Wortspiel Gefallen. Für ihn zielte der Begriff auf eine tiefere, dunkle Wahrheit: Mit der Geburt sind wir alle zum Tode verurteilt.
Zu Henrys Pflichten gehörte es, darauf zu achten, dass jede in der Perry Hollow Gazette abgedruckte Todesanzeige eine solche Zeile enthielt. Im Allgemeinen stellte das kein Problem dar. Wer einen Todesfall in der Familie zu beklagen hatte, wandte sich an den einzigen Bestatter im ganzen County, der wiederum Henry per Fax informierte. Der saß in seinem winzigen Büro und formulierte dann einen respektvollen Überblick über das Leben des Dahingeschiedenen. Zuerst kam der death sentence. Er war wie das Fleisch am Knochen: das Einzige, was den Leser wirklich interessierte. Alles andere - Familie, Beruf, Erfolge - war Beiwerk.
Henry wusste, dass mit den Angaben zum Tod von George Winnick irgendetwas nicht stimmte. Außer einem Namen und dem Todeszeitpunkt waren ihm keinerlei Informationen zu entnehmen.
George Winnick aus Perry Hollow starb am 14. März um 22:45 Uhr im Alter von 67 Jahren. Henry schrieb schon seit fünf Jahren Nachrufe für die Gazette und war Experte darin, Falschmeldungen aufzudecken, die in alarmierender Häufigkeit auf seinem Schreibtisch landeten. Er konnte zwar nicht verstehen, wie irgendjemand Scherze damit treiben konnte, aber viele machten das. Die schlimmsten Übeltäter waren Teenager, die einen verhassten Lehrer für tot erklärten. Viele solcher Meldungen kamen aber auch von Freunden eines angeblich Toten, meistens während eines runden Geburtstags. Henry passte darauf auf, dass nichts dergleichen in der Zeitung erschien. Wenn er zum Beispiel las, jemand sei an seinem fünfzigsten Geburtstag gestorben, warf er die Meldung automatisch in den Papierkorb.
Fast wäre er so auch mit dem Fax verfahren, das auf ihn wartete, als er an diesem Morgen sein Büro betrat. Weil aber an dem angegebenen Alter und Datum nichts verdächtig zu sein schien, hielt er es für besser, nachzuprüfen, ob es sich tatsächlich um eine Falschmeldung handelte, ehe er sie dem Müll überantwortete.
Er rief im Bestattungsinstitut McNeil an - sein erster und einziger Anruf an diesem Tag. Es war ein kleines Unternehmen am Ende der Oak Street, von Vater und Sohn geführt, die in Perry Hollow das Monopol in Sachen Tod hatten. Wenn jemand wusste, wer in der Stadt gestorben war, dann waren es die Leute von McNeil.
Deana Swan, die Telefonistin, ging schon nach dem ersten Klingeln ans Telefon.
»McNeil Bestattungen«, meldete sie sich mit gelangweilter Stimme. »Mein Name ist Deana. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Henry räusperte sich. »Henry Goll von der Perry Hollow Gazette.«
»Hey, Henry«, begrüßte ihn Deana salopp.
»Ich habe eine Frage zu einem Fax, das ich bekommen habe.«
»Warum sagen Sie eigentlich nicht erst mal ›Hallo‹ zu mir?«
»Wie bitte?«, entgegnete er verwirrt.
»Sie rufen jeden Tag an und kommen immer gleich zur Sache. Kein Gruß, kein Schwätzchen. Warum nicht?«
Henry suchte nach Worten. »Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich nicht so interessant.«
Deanas »So ein Unsinn« überraschte ihn, zumal sie ihren Gedanken nicht weiter ausführte. Henry fand sich vollkommen uninteressant.
»Glauben Sie mir«, sagte er. »So ist es.«
Henry log nicht. Früher war er vielleicht mal interessant gewesen, aber seit fünf Jahren lebte er zurückgezogen und nur für seine Arbeit. Tag für Tag betrat er Punkt neun sein Büro in der dritten Etage. Er machte eine Stunde Pause, in der er am Schreibtisch zu Mittag aß, und arbeitete bis sechs. Wenn er ging, verließ er das Verlagshaus über die Hintertreppe, um keinem Kollegen von der Redaktion über den Weg zu laufen. Zu Hause angekommen, trainierte er genau eine Stunde lang. Danach machte er sich etwas zu essen, sah fern, meist irgendeinen alten Film, oder las ein Buch, bis er müde wurde. Morgens frühstückte er, packte sein Lunchpaket für die Mittagspause und ging zur Arbeit.
Diese immergleiche Routine und die Tatsache, dass er sein bleiches Gesicht nie in der Redaktion zeigte, hatten ihm den Spitznamen Henry Ghoul - der Leichenfl edderer - eingebracht.
Alle glaubten, er hätte keine Ahnung, dass er hinter seinem Rücken so genannt wurde. Aber er wusste es. Und wie das Wort death sentence fand er auch diesen Spitznamen auf amüsante Weise angemessen. Er war das Phantom der Redaktion, der seltsame Kauz, der über Tote schrieb. Manchmal verhielt er sich absichtlich dementsprechend, schlich wie ein Gespenst über die Hintertreppe und ließ aus seinem Büro unter dem Dach düstere Musik erklingen.
»Nun, ob interessant oder nicht«, sagte Deana, »besuchen Sie mich doch mal. Wir könnten zusammen Mittagessen gehen.«
Ihr Vorschlag verblüffte ihn noch mehr.
»Das ist wahrscheinlich keine gute Idee«, erwiderte Henry.
»Warum? Ich weiß nicht einmal, wie Sie aussehen.«
Henry strich unwillkürlich mit den Fingerkuppen über die Narbe, die an seinem linken Ohr begann, im Mundwinkel durch Ober- und Unterlippe verlief und am Kinn endete. Er befühlte die wulstige Haut über dem linken Auge, den Brandfleck, der sich dunkelrot von seiner hellen Haut absetzte. Morgens war er immer besonders dunkel und wurde im Verlauf des Tages ein wenig heller.
»Um nochmal auf das Fax zurückzukommen«, sagte er.
Deana verbarg ihre Enttäuschung nicht, sie war ihrer Stimme deutlich anzuhören. »Natürlich. Wie lautet der Name?«
»George Winnick. Ich frage mich, ob die Meldung richtig ist.«
Henry hörte sie mit Papier rascheln und auf einer Tastatur klappern.
»Wir haben hier nichts über ihn«, erklärte sie schließlich. »Ist das Fax von uns gekommen?«
Henry sagte ihr, dass es von überhaupt keinem Bestattungsunternehmen gekommen war - was auch für unlautere Absicht sprach. Weil er dem nichts hinzuzufügen hatte, bedankte er sich bei Deana für die Hilfe und legte auf, bevor sie Gelegenheit hatte, ihren Vorschlag zu wiederholen. Dann griff er nach dem Fax mit der Meldung vom Tod George Winnicks, zerknüllte es zu einem festen kleinen Ball und warf es in den Papierkorb.
Den restlichen Vormittag über verfasste Henry Nachrufe auf Leute, die tatsächlich gestorben waren - insgesamt vier. Zwei Todesfälle waren von auswärtigen Bestattungsunternehmen gemeldet worden, zwei hatte ihm Deana zugefaxt. Auf dem zweiten Fax war unter dem Firmenlogo in ihrer Handschrift zu lesen: »Tut mir leid, wenn ich Sie in Verlegenheit gebracht habe.«
Das hatte sie allerdings, vor allem, weil sie Henry in seiner Routine gestört hatte.
Er arbeitete so, wie er lebte: ohne jegliche Spontanität. In seinem lückenlos durchorganisierten Büro hatte jedes Detail seinen Platz und seinen Zweck. Die Schreibtischlampe beleuchtete einen engen, fensterlosen Raum. Im Bücherregal lag wohlgeordnet jede Menge Quellenmaterial. Das Faxgerät stand in unmittelbarer Nähe und lieferte ihm den Stoff für seine Arbeit.
Wenn er schrieb, spielte er eine der vielen tragischen Opern ab, die er auf der Festplatte seines Computers gespeichert hatte. An diesem Morgen hörte er Wagners Tristan und Isolde. Die Musik lenkte ihn nicht etwa ab, im Gegenteil, die furiosen Orchesterklänge, Bravourarien und die Geschichte einer zum Scheitern verurteilten Liebe halfen ihm, in Stimmung zu kommen und über jene zu schreiben, die ihre sterbliche Hülle verlassen hatten. Als Isolde an gebrochenem Herzen starb, hatte er seine Arbeit für diesen Vormittag erledigt.
Zu Mittag aß er pünktlich um zwölf, das gleiche wie am Vortag - ein Putensandwich und einen kleinen Salat, von zu Hause mitgebracht, dazu eine Flasche Mineralwasser aus dem Getränkeautomaten im Verlagshaus.
Im Pausenraum stand ein Reporter vor einem Snack- Automaten und schien unschlüssig. Er schenkte Henry ein gequältes Lächeln, das dieser nicht erwiderte. Henry Ghoul lächelte nie.
Der Reporter hieß Martin Swan. Er sah auf seine Art gut aus und wirkte wie ein ehemaliger Footballstar, der in der Arbeitswelt Fuß zu fassen versuchte. Sein weißes Hemd war auf Taille geschneidert, und die seidene Krawatte hing auf einer breiten Brust, unter der sich ein Bierbäuchlein auszubilden begann. Henry wusste von ihm nur, dass er Deanas Bruder war. Solche Zufälle gab es in einer so kleinen Stadt wie Perry Hollow nicht selten. Weil sie über die Schwester irgendwie miteinander in Beziehung standen, fühlte sich Martin immer genötigt, mit Henry ein Gespräch anzufangen, wobei er aber meist einen recht gleichgültigen Eindruck machte. Heute war es anders.
»Sie werden von meiner Schwester bald eine Todesanzeige bekommen«, sagte er.
Henry stand an dem benachbarten Automaten und suchte in der Tasche nach Kleingeld. »Wie kommen Sie darauf?«
Martins Stimme klang ungewöhnlich lebhaft. »Haben Sie denn noch nicht gehört, was passiert ist?«
»Was ist denn passiert?«
»Es hat heute Morgen einen Mord gegeben. Chief Campbell hat das Opfer in einem Sarg an der Old Mill Road gefunden. Gruselig. Der arme George.«
Der Name machte Henry stutzig. »George Winnick?«
Martin nickte. »Haben Sie ihn gekannt?«
Henry fühlte einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Er wunderte und fürchtete sich zugleich. Dieser Zufall war so unglaublich, dass man sich unweigerlich ein bisschen fürchten musste.
»Wann wurde er gefunden?«
»Ich glaube, gegen acht oder so«, antwortete Martin. »Ist Ihnen was zu Ohren gekommen? Ich mach was über die Geschichte, deshalb interessiert's mich natürlich. «
Henry verließ wortlos den Pausenraum, eilte über die Treppe nach oben, stürzte in sein Büro und durchwühlte den Papierkorb, bis er das zusammengeknüllte Stück Papier gefunden hatte.
In der oberen linken Ecke war abzulesen, wann das Fax abgeschickt worden war. Henry las die Meldung drei Mal und konnte es immer weniger glauben. Wieder fuhr ihm ein kalter Schauer über den Rücken, der nun aber nicht mehr abzuklingen schien. Er steckte das Fax in die Tasche, schnappte sich seinen Mantel und rannte nach draußen.
Kapitel 3
Nick Donnelly saß einem hässlichen Mann gegenüber, daran gab es nichts zu deuteln. Das lag in diesem Fall eindeutig nicht im Auge des Betrachters. Er war abgrundtief hässlich, doch Nick konnte seinen Blick nicht von ihm wenden. Er war fasziniert von diesen pockennarbigen Wangen, den fettigen Haaren und dem Gebiss, das ihn an einen angeknabberten Maiskolben erinnerte.
Es musste eine Folter sein, so abstoßend auszusehen, dachte Nick. Zum Glück konnte er es nicht wirklich nachempfinden. Er selbst entstammte einem wohlgeratenen Clan schwarzhaariger Iren, deren Körper und Gesichter von Michelangelo gemeißelt zu sein schienen. Dazu kam noch das schalkhafte Lächeln, das Nick von seinem Vater geerbt hatte. Nick wusste, dass er verteufelt gut aussah.
Aber dieser andere Vogel - dieser Edgar Sewell am anderen Ende des Tisches - hatte es wahrscheinlich verdammt schwer im Leben. Immer gehänselt und mit Hohn und Spott bedacht zu werden, schrecklich. Bestimmt tat er sich selbst leid, sooft er in den Spiegel blickte. Aber das entschuldigte nicht, was er getan hatte. Nichts konnte das entschuldigen, egal, wie hässlich er war.
»Verraten Sie's mir, Edgar«, sagte Nick. »Warum haben Sie das getan?«
Edgar steckte in einem orangefarbenen Overall. Er blickte auf seine Handschellen und murmelte: »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
Die Stimme passte zu seinem Aussehen. Sie war unerträglich, quietschend und brüchig, eine Zumutung für Nicks Ohren.
»Wiederholen Sie's.«
»Wozu?«
»Weil ich Ihnen helfen möchte.«
Das war gelogen. Bei Edgar Sewell, dem Mörder von drei kleinen Mädchen, waren Hopfen und Malz verloren. Er würde den Rest seines Lebens in diesem Scheißgefängnis am Stadtrand von Philadelphia zubringen müssen. Trotzdem wollte Nick dahintersteigen, wie dieser Kerl tickte und was ihn veranlasst hatte, diese scheußlichen Verbrechen zu begehen. Vielleicht würde es ihm dabei helfen, anderen Mördern das Handwerk zu legen, die unschuldigen und ahnungslosen Opfern auflauerten. Darum fragte er nach.
»Sie haben mir gesagt, ich soll das machen«, antwortete Edgar.
»Wer?«
»Die Stimmen.«
Die alte Leier. Nick hatte in der vergangenen Woche vier Mörder vernommen, und Edgar war der dritte, der diese Ausrede benutzte. Aber es war nur blödes Gewäsch, um die wahren Motive zu kaschieren. Leute wie Edgar töteten nicht auf Geheiß irgendwelcher ominöser Stimmen. Sie töteten aus Verlangen.
»Wie haben diese Stimmen geklungen?«
»Weiß ich nicht mehr.«
Nick lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Interessant. Wenn mir jemand zuflüsterte, ich solle kleine Mädchen abschlachten, würde ich mich an die Stimme wahrscheinlich sehr genau erinnern.«
Edgar schlug einen anderen Ton an. »Doch, ich erinnere mich.«
»Erzählen Sie.«
Edgar ließ sich Zeit. Er legte seinen linken Daumen an die Lippen und leckte daran. Die Zunge kreiste um den Daumennagel. Ähnliches war Nick schon bei zwei anderen Mördern aufgefallen, eine Marotte, die auf eine frühkindliche Störung hinzuweisen schien.
Als Edgar bemerkte, dass Nick ihn beobachtete, nahm er den Daumen vom Mund und sagte: »Elvis.«
Originell, dachte Nick. Die beiden anderen hatten den Leibhaftigen vorgeschoben. Aber diese offensichtliche Lüge machte ihn auch sauer. Nach einer geschlagenen Stunde hatte er immer noch nichts Neues von Edgar Sewell erfahren. Es wurde langsam Zeit, ihn zum Reden zu bringen.
Nick griff in seine Aktentasche, die am Stuhlbein lehnte, und entnahm ihr einen braunen Umschlag, in dem drei Fotos steckten. Auf dem ersten war ein dunkelhaariges Mädchen zu sehen, das schüchtern in die Kamera lächelte. Nick schob es Edgar über die Tischplatte hin.
»Lainie Hamilton. Erinnern Sie sich an sie?«
Edgar wandte den Kopf zur Seite und starrte die Wand an.
»Ich weiß, dass Sie sich erinnern«, fuhr Nick fort. »Sie war acht und wohnte im Stockwerk unter Ihnen. Ronette, ihre Mutter, war Prostituierte, wie Ihre Mutter. Am
1. Juni 1980 haben Sie ihr zwanzig Dollar gegeben, um Sex mit ihr zu haben. Na, klingelt's?« Edgar steckte den Daumen in den Mund und schüttelte den Kopf. »Sie hat Sie abblitzen lassen, stimmt's? Hat Sie ausgelacht und womöglich gesagt, dass Sie ihr viel zu hässlich sind. Sie sind nach oben zurück in Ihre Wohnung gegangen und haben geschmollt. Als Ronette dann in der Nacht auf den Strich gegangen ist, sind Sie wieder nach unten geschlichen, haben die Tür aufgebrochen und Lai- nie getötet.«
Edgar nahm kurz den Daumen aus dem Mund und sagte: »Das haben mir die Stimmen befohlen.«
»Es gab keine Stimmen«, entgegnete Nick eine Spur ungehaltener. »Da waren nur Sie, und Sie allein haben aus eigenem Antrieb die kleine achtjährige Lainie umgebracht. Und offenbar hat Ihnen das so gut gefallen, dass Sie sich sechs Monate später an der Tochter einer anderen Prostituierten vergangen haben.«
Nick warf das zweite Foto auf den Tisch.
»Und dann haben Sie es wieder getan.«
Das dritte Foto war, wie die beiden anderen, von Edgar Sewell höchstpersönlich aufgenommen worden. Es waren Bilder seiner Opfer - das jüngste sechs, das älteste elf Jahre -, die ihren Mörder aus unschuldigen Augen betrachteten.
Edgar warf einen Blick darauf. »Sie haben es verdient.« »Wer? Die Mädchen?« »Ihre Mütter. Diese dreckigen Flittchen. Halten sich für was Besseres und sind in Wirklichkeit miese, kleine Nutten. Haben sich lustig gemacht über mich, genauso wie -«
»Ihre Mutter?«
Edgar nickte so heftig mit dem Kopf, dass Nick um den Daumen fürchtete, der bis zum Anschlag im Mund steckte. Kurz darauf verblüffte Edgar ihn mit einer Reaktion, die Nick den beiden anderen Mördern bei der Vernehmung nicht hatte entlocken können.
Er weinte.
Die Vernehmung war vorbei. Nick wusste, dass aus Edgar kein Wort mehr herauszubekommen sein würde. Was bedeutete, dass er nun ins nächste Gefängnis fahren musste - ins Centre County -, um dann, wenn so viel Zeit blieb, noch zwei weitere aufzusuchen.
Bevor Nick sich auf den Weg machte, ging er auf die Besuchertoilette, die über einer Tankstelle lag. Eine Kloschüssel, ein Urinal. Auch das Waschbecken war ekelhaft verdreckt. Nick spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und versuchte, nach Möglichkeit nichts zu berühren. Aus dem Spiegel starrte ihm ein hohläugiger Mann entgegen.
Himmel, er war hundemüde. Dies war bereits die zweite Woche, in der er einen Mörder nach dem anderen zu vernehmen hatte, und all die Gespräche und all die Autofahrten schlauchten ihn zusehends. Aber es würde sich lohnen, das hoffte er jedenfalls.
Er trocknete das Gesicht ab, verließ die Toilette und dann auch das Gefängnis, erleichtert, wieder im Freien zu sein, raus aus den vergitterten Zellen mit all ihrem Schmutz. Seine Stimmung erholte sich so weit, dass er ein Liedchen pfeifen konnte, einen kleinen »Folsom Prison Blues« zu Ehren seiner näheren Umgebung.
Die gute Stimmung hielt nicht lange vor. Als er den Parkplatz erreichte, sah er sich unerwartetem Besuch gegenüber.
Captain Gloria Ambrose, seine unmittelbare Vorgesetzte bei der Kriminalpolizei von Pennsylvania, lehnte an dem zivilen Fahrzeug, das sie hergebracht hatte. Um sich warm zu halten, hatte sie die Arme um den Leib geschlungen, ließ sie aber sinken, als sie ihn erblickte. Typisch Gloria. Versuchte immer, taffer zu wirken, als sie in Wirklichkeit war.
»Wie hast du mich gefunden?«
»Du hast einen offiziellen Antrag zur Vernehmung eines Strafgefangenen eingereicht«, antwortete Gloria. »War ganz einfach. Vielleicht erklärst du mir mal, wieso du Gefangene vernimmst, obwohl du Urlaub hast.«
Nick hatte tatsächlich Urlaub. Und wie er seine freie Zeit verbrachte, war seine Sache.
»Was hast du?«, fragte er gereizt. »Du bist doch nicht gekommen, um mich an meinen Urlaub zu erinnern.«
Er ahnte den Grund. Gloria brauchte nichts zu sagen. Ihre Anwesenheit sprach für sich.
»Er hat wieder zugeschlagen.«
»Wo?«
»In einem kleinen Nest namens Perry Hollow. Rund fünfundvierzig Autominuten von hier entfernt. Deine Kollegen sind schon vor Ort.«
»Ich nehme an, du willst, dass ich das Team komplett mache«, sagte Nick.
Gloria hatte offenbar genug von der Kälte und verkroch sich in ihrem Wagen. »Das bleibt dir überlassen«, erwiderte sie und warf einen Blick auf die graue Gefängniswand hinter Nick. »Wie gesagt, du hast Urlaub.«
Sie zog die Tür zu und ließ Nick im kalten Wind und mit der einen Frage zurück, die er noch nicht gestellt hatte. Er wollte gerade ans Fenster klopfen, als sich die Scheibe automatisch senkte.
»Keine Sorge«, sagte sie mit ernstem Blick. »Ich werde über deine außerberuflichen Aktivitäten kein Wort verlieren. Aber wenn du das nächste Mal Urlaub anmeldest, dann nimm ihn auch. Du machst dir viel zu viel Stress, Donnelly. Das ist nicht gesund. Es wäre besser, du entspannst dich zur Abwechslung mal.«
Nick fuhr in Begleitung der Rolling Stones nach Perry Hollow. Für eine längere Autofahrt waren Jaggers spastische Stimme und der unerbittliche Sound der Band genau das Richtige. »Satisfaction«, »Gimme Shelter« und »Brown Sugar« trieben ihn auf dem Highway voran. Als die Band Sympathie für den Teufel aufbrachte, hatte er Perry Hollow erreicht, wo ein Teufel anderer Art gerade einen der Bewohner gefordert hatte.
Der Tatort war schnell gefunden. Am Rand der Stadt hatte sich eine größere Menschenmenge versammelt. Die Straße war gesperrt, und er musste seinen Wagen nah an der Böschung parken.
Mit einem Blick durch die Windschutzscheibe verschaffte er sich einen ersten Eindruck. Neugierige reckten jenseits der Absperrung die Hälse und tuschelten miteinander. Die meisten waren sichtlich schockiert. Auf der anderen Seite hielten sich Beamte des Sheriffbüros und der Landespolizei auf. Auch sie tuschelten miteinander und wirkten ratlos bis entsetzt.
Unbeeindruckt zeigten sich nur drei Gestalten, die Nick gut kannte, denn sie arbeiteten für ihn.
Tony Vasquez war der Erste, der Nick entdeckte, als der mit gezücktem Ausweis unter dem Absperrband durchtauchte.
»Na bitte, ich hab's doch gesagt«, grüßte Tony und lupfte den Schirm seiner Mütze. Er trug als Einziger aus dem Team eine Uniform, in der er als Bodybuilder eine ziemlich einschüchternde Figur machte, was ihm, wie Nick wusste, ganz gut gefiel. Er trug sie aber auch mit Stolz. Nur zwei Prozent der Landespolizisten hatten einen lateinamerikanischen Hintergrund, und Tony war einer der besten. Und bei seinen Statistiken hatte er allen Grund, stolz zu sein.
»Wir haben Wetten darauf abgeschlossen, ob du kommst oder nicht«, sagte er. »Ich habe gewonnen.«
»Wie viel?«
»Einen Zwanziger von Cassie und die Aussicht, im Bankdrücken gegen Rudy anzutreten.«
»Gratuliere, Vasquez.«
Rudy Taylor, der Bankdrücker, kniete am Straßenrand vor einem Schneefleck.
»Ist das die Stelle, wo er gefunden wurde?«, fragte Nick.
Rudy nickte. »Zu Tode gekommen ist er aber woanders. «
»Woran siehst du das?«
»Hier ist kein Blut. Keine Kampfspuren. Nur die Kiste, in der er steckte.«
Rudy Taylor war der schräge Vogel im Team. Er war klein und spindeldürr und hatte einen Topfschnitt, der ihn aussehen ließ, als wäre er an der Grundschule der Vorsitzende des Physik-Clubs. Als Kriminaltechniker aber war er spitze. Wenn er einen Tatort unter die Lupe nahm, fand er in fünf Minuten mehr Indizien als ein ganzes Team in einer Stunde.
»Irgendwelche Reifen- oder Fußspuren?«, fragte Nick.
Rudy erhob sich und stampfte zu Demonstrationszwecken über den hartgefrorenen Boden. »Auf dem Eis zeigt sich nicht viel. Ich habe allerdings da drüben auf dem Schneefleck was entdeckt.«
Er deutete auf einen Fußabdruck, der mit einem kleinen gelben Schild als Indiz markiert war.
»Schon gewachst?« Nick bezog sich auf ein Wachsmittel aus der Sprühdose, mit dem Abdrücke auch im Schnee kopiert werden konnten, ohne zerstört zu werden.
»Ja«, antwortete Rudy. »Der Abdruck stammt von der Person, die den Fund gemeldet hat.«
»Wo ist der Leichnam?«
»Er wurde vor einer Viertelstunde in die Gerichtsmedizin gebracht«, antwortete Cassie Lieberfarb, die ebenfalls zu Nicks Team gehörte. Sie stand hinter ihm und trug eine Baseballkappe der Polizeimannschaft auf ihren krausen, orangefarbenen Haaren. Die Füße steckten in den knallgrünen Galoschen, die sie als ihre Profiler-Stiefel bezeichnete.
»Wie war's in Florida?«, fragte sie und musterte Nicks Gesicht.
»Heiß und sonnig.«
»Und warum bist du so käsig?«
Nick zuckte die Achseln. »Ich hab mich eingecremt. Zur Sache, wer ist das Opfer?«
»Ein Mann, weiße Hautfarbe, Mitte sechzig«, antwortete Tony.
»Also einer aus der Zielgruppe unseres Freundes«, fügte Cassie hinzu.
»Wann wird die Autopsie vorgenommen?«
»Um vier.«
Nick zählte auf, was noch an diesem Tag zu tun war. Er und Cassie würden sich die Leiche ansehen, ehe sie unters Messer kam. Derweil sollte Rudy die Zusammenstellung und Untersuchung der Beweismittel beaufsichtigen. Tony bekam die Aufgabe, den besten Mitarbeiter des Sheriffbüros ausfindig zu machen und mit ihm Klinken zu putzen. Nick und seine Leute ahnten, wer der Täter war, hatten aber immer noch keinen Schimmer, warum er tötete.
»Wurde das Opfer bereits identifiziert?«, fragte er.
»Ja, von der Frau, die ihn gefunden hat.«
»Wer ist sie?«
»Chief der hiesigen Polizeistation.«
»Ich will mit ihr sprechen.«
Cassie zeigte auf eine Frau in Uniform in einer Gruppe von Polizisten, die sie um Haupteslänge überragten.
»Da ist sie«, sagte Cassie. »Ihr Name ist Kat Camp- bell.«
Nick betrachtete sie. Die Frau machte einen erschöpften Eindruck. Sie hatte dunkle Ringe unter den freundlichen Augen und hielt sich mit ihren hängenden Schultern wie jemand, der eine schwere Last auf dem Buckel trug. Das konnte passieren, wenn man im eigenen Hinterhof einen Mord entdeckte.
»Sind Sie Chief Campbell?«, fragte Nick, als er auf sie zuging.
Sie nickte. »Und Sie leiten hier die Ermittlungen?«
»Ja.« Er gab ihr die Hand. »Nick Donnelly. Vom BCI.«
Sie musterte seine zivile Kleidung und suchte vergeblich nach Hinweisen auf seinen Dienstrang. Weil es die nicht gab, half ihr Nick aus der Verlegenheit.
»Ich bin Lieutenant«, sagte er, »aber nur auf dem Papier. In Wirklichkeit gehöre ich einem Team an, das Schwerverbrecher zu schnappen versucht.«
»Wir sind Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar.«
»Damit wir uns richtig verstehen. Der Sheriff hat uns den Fall übertragen. Damit ist die Landespolizei, genauer gesagt das BCI, für die Ermittlungen zuständig. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
Kat deutete ein Kopfnicken an. »Verstanden.«
»Gut. Wie mir gesagt wurde, haben Sie die Leiche gefunden. «
Kat berichtete kurz, was sie am Morgen gesehen und anschließend unternommen hatte, vom Auffi nden der Kiste bis zur Absperrung des Fundortes - alles genau nach Vorschrift. Das hörte Nick gern. Manche Kleinstadtpolizisten schadeten mehr, als sie nutzten.
»Sie kannten das Opfer, nicht wahr?«
»Nur vom Sehen. Perry Hollow ist ein kleines Nest. Mit der Zeit kennt jeder jeden.«
Ihre Stimme zitterte ein wenig, und Nick fürchtete schon, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde, doch es gelang ihr, die Fassung zu wahren.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Hier hat es noch nie einen Mordfall gegeben. Ein schlimmer Tag für uns alle.«
Daran zweifelte Nick keinen Augenblick. Für Chief Campbell war es bestimmt der schlimmste Tag ihrer Amtszeit. Dabei ahnte sie nicht einmal, was hinter der Sache steckte, und der Tag war noch nicht zu Ende.
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Autoren-Porträt von Todd Ritter
Todd Ritter, geboren im ländlichen Pennsylvania, begann seine Karriere als Filmkritiker und war dann als Polizeireporter tätig. Seit vielen Jahren ist er Journalist bei The Star-Ledger, New Jerseys größter Tageszeitung. Er schreibt erfolgreich Theaterstücke und Kurzgeschichten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Todd Ritter
- 2014, 1, 398 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863654137
- ISBN-13: 9783863654139
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