Europas Drahtzieher
Wer in Brüssel wirklich regiert - Österreich-Ausgabe
Europa bestimmt die Schlagzeilen. Erst die Krise, nun die Europa-Wahlen im Mai. Die Brüssel-Korrespondenten Cerstin Gammelin (Süddeutsche Zeitung) und Raimund Löw (ORF) lassen uns hinter die Kulissen schauen. Spannend und entlang vertraulicher...
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Produktinformationen zu „Europas Drahtzieher “
Klappentext zu „Europas Drahtzieher “
Europa bestimmt die Schlagzeilen. Erst die Krise, nun die Europa-Wahlen im Mai. Die Brüssel-Korrespondenten Cerstin Gammelin (Süddeutsche Zeitung) und Raimund Löw (ORF) lassen uns hinter die Kulissen schauen. Spannend und entlang vertraulicher Wortlaut-Protokolle erzählen sie, wie 28 Staats- und Regierungschefs auf Gipfeltreffen um Staatsschulden pokern, Rettungsfonds mit Milliarden füllen und welche drastischen Mittel Angela Merkel gegen Defizitsünder durchsetzen will. Sie zeigen, wie die Europäische Kommission zum Einfallstor für Lobbyisten wird und die Tabak-Industrie sich das Wohlwollen der Mitgliedstaaten erkauft. Sie berichten, welche Pläne für eine europaweite Sozialpolitik in den Schubladen der Kommission liegen, wie eine gemeinsame Außenpolitik aussehen könnte und ob die Bankenunion ein Schritt hin zu den Vereinigten Staaten von Europa ist.Durch die Gipfel-Protokolle kommt man Merkel, Hollande und Faymann nahe wie nie zuvor und erhält ein bestechend scharfes Bild der Zeitgeschichte. Ein erhellender Insider-Report über Europas Machtzentrale und darüber, wer dort wirklich das Sagen hat.
Ein spannender Krisenbericht von zwei kompetenten Brüsseler Journalisten. Dieser Wirtschaftskrimi öffnet deutschen Lesern die Augen über die problematischen Seiten des Krisenmanagements ihrer Regierung. Jürgen Habermas
Europas Strippenzieher liest sich wie ein spannender Polit-Thriller mit Reportage-Einlagen: gut geschrieben, gut beschrieben, gut strukturiert. Eine lesenswerte Inside-Analyse des Brüsseler Mikrokosmos, die zu Recht vor Extremisten und Egoisten warnt. Jean-Claude Juncker
Nie zuvor ist so umfassend aus den vertraulichen Protokollen der EU-Gipfelkonferenzen zitiert worden. Merkel und Cameron, Holland und Faymann sind im ungeschützten Originalton zu lesen. Durch die exklusiven Quellen wird deutlich, wie die Staats- und Regierungschefs einer grundlegenden Reparatur der EU aus dem Wege gehen. Im Jahr der Europawahlen 2014 ein unverzichtbares Buch. Hugo
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Portisch, Journalist
Dieses Buch macht das Europäische Projekt als menschengemachten, daher fehlerhaften, gleichwohl historisch notwendigen Prozess einsichtig. Es wird bewirken, was Europa jetzt dringend braucht: eine profunde Diskussion statt einer Raserei von Meinungen. Robert Menasse, Schriftsteller und Essayist
Dieses Buch macht das Europäische Projekt als menschengemachten, daher fehlerhaften, gleichwohl historisch notwendigen Prozess einsichtig. Es wird bewirken, was Europa jetzt dringend braucht: eine profunde Diskussion statt einer Raserei von Meinungen. Robert Menasse, Schriftsteller und Essayist
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Lese-Probe zu „Europas Drahtzieher “
Europas Drahtzieher von Cerstin Gammelin und Raimund Löw Prolog
Warum fühlt sich eine Regierungschefin mitten in der Nacht von Kollegen in Geiselhaft genommen? Warum wird ein distinguierter Volkswirtschaftsprofessor morgens um vier zum Fußballfan? Was lässt einen erfahrenen Unterhändler der Bundesregierung nervös in den Fahrstuhl flüchten? Was passiert wirklich, wenn sich Staatspräsidenten, Premierminister und Kanzler in Brüssel hinter verschlossenen Türen treffen?
Die in den Nachrichten verbreiteten Bilder von Europa- gipfeln kennt jeder: zwei gute Dutzend überwiegend dunkle Anzugträger plus wenige Damen, die sich zum Familienfoto auf die vom diplomatischen Protokoll sorgfältig mit Kärtchen markierten Plätze stellen. Vorne mittig die Staatspräsidenten, weil sie laut Protokoll den höchsten Rang haben, ringsherum die Premierminister. Ganz am Ende die Kanzler, das sind die protokollarisch am wenigsten wichtigen Chefs. Da stehen sie dann, 28 nationale Persönlichkeiten, zusammen mit den Präsidenten der Kommission, des Parlaments, des Rates. Sie lächeln oder nicken einander zu, wenden sich ab, schweigen - und entscheiden über die Zukunft von 506 Millionen Bürgern auf dem Kontinent.
Aber wie gehen die Mächtigen Europas abseits des Protokolls miteinander um? Wer bestimmt, wo es langgeht? Und wie wurden in den Krisenjahren von 2009 bis Mitte 2013 die Weichen gestellt? Beinahe monatlich kamen die Staats- und Regierungschefs in dieser Zeit zusammen, statt wie zuvor einmal im Quartal. Spannende und arbeitsreiche Zeiten für uns Brüssel-Korrespondenten. Nach der dramatischen Gipfelnacht des 29. Juni 2012 wächst unser Entschluss, dieses Buch zu schreiben.
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Der 29. Juni 2012 ist die Nacht, in der Deutschland zuerst in der Fußball-Europameisterschaft gegen Italien und anschließend Bundeskanzlerin Angela Merkel die Deutungshoheit über die Nachrichten aus Brüssel verliert. Die Nacht, in der sich der besonnene Mario Monti spontan zur Squadra Azzurra, der italienischen Nationalmannschaft, bekennt und die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt sich in Geiselhaft genommen fühlt, weil die Südstaaten ultimativ Hilfe für ihre Banken einfordern. Die Zusammenkunft, die Angela Merkel veranlasst, nächtliche Pressekonferenzen einzuführen, um statt anderer selbst die Morgennachrichten zu Hause zu beherrschen, und damit ihren Stab in große Nervosität versetzt.
Unsere Geschichten stützen sich auf direkte Quellen. Auf Notizen, die dafür ausgewählte Diplomaten von Gipfelgesprächen anfertigen. Sie notieren, was gesprochen wird.
Es ist uns gelungen, streng vertraulich gehaltene Gipfelprotokolle zu lesen, die Einblick geben, wie es zugeht, wenn die Mächtigen zusammen am Tisch sitzen. Wer wem zur Seite springt. Ob es sie gibt, die Allianzen Nordeuropas gegen Südeuropa. Ob Merkel tatsächlich immer gewinnt und Frankreichs Staatspräsident François Hollande so schwach ist, wie es scheint. Und was Österreichs Kanzler Werner Faymann überhaupt bewegen kann.
Wir analysieren, wie 28 nationale Egoisten ihre heimischen Interessen auf europäischer Bühne verteidigen und wie sie dabei zu den größten Lobbyisten ihrer Heimatländer werden. Und wir gehen der Frage nach, ob Achim Greser und Heribert Lenz, deren Karikaturen regelmäßig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt werden, den Bürgern aus der Seele sprechen, wenn sie sagen: »Brüssel, das ist für uns so etwas wie eine Bad Bank, in der alles Schlechte und Giftige aus Europa gelagert wird und die dann niemand haben will.«
Für unser Buch haben wir mit einigen der Mächtigsten gesprochen, sowie mit hohen Beamten, Diplomaten, Sherpas und den Bürokraten im Maschinenraum der Europäischen Union. Nirgendwo sind Reporter so nahe bei Angela Merkel, dem britischen Premierminister David Cameron, François Hollande, Werner Faymann und ihren Kollegen wie in dem grauen Brüsseler Ratsgebäude. Oben sitzen 28 gewählte nationale Chefs, unten warten die Reporter. Zwischen den beiden Sphären wandeln EU-Diplomaten als Überbringer geheimer Botschaften. Sie erzählen nicht nur Brisantes, sondern auch Menschliches. Wie Spitzenpolitiker schon mal hadern, weil alles so kompliziert ist in Europa. Sie »sei an den Grenzen ihres fachlichen Verständnisses angelangt«, zitieren die Protokollanten Angela Merkel in einer schwierigen Verhandlungsphase über die neuen Bankenregeln beim EU-Gipfel am 26. Oktober 2011.1 Sie erzählen, dass der zyprische Präsident Dimitris Christofias gelobt werden will, weil er fast die Hälfte seines Kabinetts weiblich besetzt hat. Wie David Cameron die Einführung des Euro mit seiner Lebenszeit verknüpft. Wie froh einige Kollegen heimlich waren, dass Premier Silvio Berlusconi mit am Tisch saß, weil der Italiener »nicht so intellektuell daherkommt und die Anspannung gelegentlich durch einen Witz auflockert«.
Wer die Protokolle der Gipfel liest, kann die Erschöpfung nachvollziehen, die die Chefs befällt nach endlosen Diskussionen. Oder muss still lächeln, wenn nach immer neuen Plädoyers für milliardenschwere Konjunkturpakete Angela Merkel freundlich anmerkt, »dass man gerade auf Mikroebene viel für Wachstum tun könne«. Man hört sie dabei denken: Jungs, stopp jetzt, macht zuerst mal zu Hause was.
Wir waren dabei, als die Finanzkrise begann und der später sieglose Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, noch Bundesfinanzminister war und selbst nach der Pleite der US Investmentbank Lehman beinahe selbstherrlich erklärte, diese Bankenkrise sei eine rein amerikanische Angelegenheit. Wir kennen die Vorschläge für eine europäische Arbeitslosenversicherung, die europäische Rente und das europäische Kindergeld und erzählen, warum dies alles gut versteckt in den Schreibtischladen der Europäischen Kommission liegt. Wir haben recherchiert, warum die Tabakindustrie Milliarden Euro an Brüssel und die Mitgliedsstaaten zahlt und warum die Europäische Kommission ein breites Einfallstor für Interessenvertreter jeglicher Art ist. Und wir haben nachgerechnet: 35000 Mitarbeiter hat die Europäische Kommission, Tausende sind Übersetzer für eine der 24 Sprachen, die in der Europäischen Union gesprochen werden. Alle europäischen Behörden zusammen haben 60000 Beamte - für 506 Millionen Bürger. Im unmittelbaren Landesdienst des Landes Berlin stehen 116000 Beamte (für 3,5 Millionen Bürger). Die Stadt Wien beschäftigt knapp 50000 Beamte und Vertragsbedienstete (für 1,7 Millionen Bürger). Das amerikanische Heimatschutzministerium, eines von vielen Ministerien der USA, beschäftigt 240000 Menschen.
Europas überbordende Bürokratie ist ein hartnäckiger Mythos. Ebenso wie die Vorstellung, dass die da in Brüssel, diese überbezahlten Beamten, sich krude Dinge ausdenken, die sich wie eine Plage in den 28 europäischen Ländern ausbreiten.
Wir sagen: Das stimmt so nicht.
Alles, was in Brüssel an Gesetzen, Verordnungen und anderem entschieden wird, basiert grundsätzlich auf Vorschlägen, die aus den nationalen Hauptstädten kommen. Die Europäische Kommission ist so etwas wie die Gesetzeswerkstatt der nationalen Regierungen. In der Behörde entstehen Rechtstexte, die danach abgestimmt werden unter den 28 nationalen Hauptstädten und meistens auch im Europäischen Parlament. Wer durch die teilweise futuristischen Gebäude der europäischen Institutionen läuft, fühlt sich schnell an Fritz Langs Filmklassiker Metropolis erinnert. An die Arbeiter im Maschinenraum. Emsig eilende, hin und her laufende, hoch und runter fahrende Beamte. Fahrstühle, Türen, Flure. Jeder verrichtet die immer gleichen Vorgänge. Redet über die immer gleichen Themen. Unwirklich für jeden, der nicht im europäischen Metropolis lebt. Es gibt die Welt hier und die Welt dort - und genau das ist eine der großen Gefahren, denen die Europäische Union ausgesetzt ist. Die Bürger fühlen sich nicht gemeint, wenn von Europa die Rede ist.
Wir erzählen, wie die Chefs im Krisenjahr 2008 ihre heimischen Banken so beschützen, wie sie in den 50er Jahren ihre Stahlwerke und in den 70er Jahren die Autohersteller protegierten. Und warum dieser Fehler die Währungsunion 2012 beinahe in den Bankrott trieb. Wir wissen, wie der Euro-Rettungsfonds zufällig mit 440 Milliarden Euro gefüllt wurde, und wir beschreiben, warum die Europäischen Verträge der Kitt der Gemeinschaft sind. Europas Verträge sind nicht dafür da, Punkt für Punkt eingehalten zu werden. Sie sind die Seele einer Gemeinschaft aus 28 sehr unterschiedlichen Ländern, von den Sonnenstränden Griechenlands bis zum Industriehafen Rotterdam oder von Lettland bis Portugal, die sich gegenseitig versprochen haben, friedlich miteinander zu leben, Handel und Wandel miteinander zu betreiben. Verträge geben den 28 Ländern einen Rahmen, in dem sich alle wiederfinden können. Die Nationen Europas müssen großzügig miteinander umgehen, um zusammenleben zu können. Die Krise hat dazu geführt, dass sie sich ihrer eigenen Verletzlichkeit bewusst geworden sind.
Brüssel ist ein Spiegelbild der Europäischen Union. Im Europa- Viertel rund um den Place Schuman schiebt sich Betonplatte für Betonplatte ein neuer Palast aus dem Boden. Touristen versuchen aus den Bussen einen Blick auf die EU zu erhaschen. Doch ein identitätsstiftendes Symbol wie das Brandenburger Tor in Berlin oder das Weiße Haus in den Vereinigten Staaten gibt es nicht.
240 Millionen Euro soll der neue Sitz für den Präsidenten des Europäischen Rates und seine Mitarbeiter am Place Schuman kosten. Seit der Erweiterung der Union um die neuen Mitglieder in Ost- und Mitteleuropa platzt das alte Gebäude aus allen Nähten. Natürlich ist die Großbaustelle inzwischen verspätet, wann genau eröffnet wird, ist offen. Also bis auf weiteres meterhohe Zäune, Betonpoller, ohrenbetäubender Baulärm, Trucks und Dreck überall.
Brüssel ist auch ein Schmelztiegel der Kulturen. Hier sind die Vorurteile fühlbar, die die Völker des alten Kontinents über einander haben, meist ganz charmant und gelegentlich lustig. Autofahrer in Belgien, die rechts überholen, niemals blinken und an roten Ampeln eine Vollbremsung hinlegen. Italiener, die noch nachts um zwei Uhr am Gepäckband des Flughafens ununterbrochen telefonieren. Ein österreichischer Weinhändler, der mit Schmäh seine heimischen Weine gegen die etablierte spanische und französische Konkurrenz durchsetzt. Franzosen, die als Mittagsgäste bei Schweden auf den ersten Gang - Fisch mit Kartoffelbrei - verzichten, um danach festzustellen, dass es der einzige war, und hungrig bleiben. Britische Reporter, die ihre Ellbogen ausfahren, um als Erste zu den neuesten Informationen vorzudrängen - und dann doch nicht als Erste senden können, weil die ausgegebenen Texte auf Deutsch geschrieben sind. Deutsche, die superpünktlich zum Treffpunkt kommen und dann fünfzehn Minuten alleine sind. Niederländer, die eine Restaurantrechnung auf den Cent genau aufteilen.
Brüssel ist gelebte Geschichte. Karl Marx wird verehrt, die Autorin fand in ihrer Straße Rue Jean D'Ardenne eine Ehrentafel an einem schönen Bürgerhaus und am berühmten großbürgerlichen Grand-Place ein überlebensgroßes Marx-Porträt in einem Sterne-Restaurant mit einem geschmiedeten Hinweisschild, dass dieser Herr hier über drei Monate verköstigt wurde und in einer der oberen Etagen arbeitete. Der deutsche Philosoph hat das Kommunistische Manifest in Brüssel geschrieben - und die Brüsseler sind stolz darauf. Durch keine Stadt sind im Laufe der Geschichte so viele Heere durchgezogen wie durch Brüssel und Umgebung, zwischen dem mächtigen Deutschland und Großbritannien, Frankreich und Spanien. Ludwig XIV. hat den Grand-Place, wo Zünfte ihre prachtvollen Gebäude errichteten, einst niedergebrannt. Dass die europäischen Institutionen an einem Ort sind, wo man auf den Straßen Französisch und Flämisch, Englisch und Deutsch hört, ist kein Zufall. In Belgien wird das Zusammenleben der Nationen, der Flamen, Wallonen und Deutschen täglich erprobt. Die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges und Waterloo sind nur wenige Kilometer entfernt. Heute noch beherbergt jedes zweite Familienhaus an den ehemaligen Frontlinien einen kleinen Soldatenfriedhof.
Die europäische Kleinstaaterei ist mitnichten vorbei. Wir haben dieses Buch geschrieben, weil wir beobachten, wie sich eine diffuse Stimmung gegen die Europäische Union und Brüssel ausbreitet. Enttäuschte Bürger wenden sich ab von dem, was sie für eine Bad Bank halten. Die 28 nationalen Egoisten sind in der Pflicht, Europa nicht nur als Wirtschaftsunternehmung zu betrachten, sondern als Miteinander unterschiedlicher Nationen, es als Gemeinschaft fühlbar zu machen. 2014 werden die europäischen Karten neu gemischt. Europäische Wahlen. Neues Spitzenpersonal. Und eine neue Chance, einfach großzügiger miteinander umzugehen.
Cerstin Gammelin, Raimund Löw
Brüssel, im Januar 2014
PS: Dass unser Verlag das gleiche Buch unter den zwei Titeln »Europas Strippenzieher« (Deutschland) und »Europas Drahtzieher« (Österreich) veröffentlicht, zeigt die kulturelle Vielfalt selbst innerhalb der gleichen Sprache. Die Autoren haben beim Schreiben ein Gefühl dafür bekommen, wie schwierig es sein muss, unter 28 einen Kompromiss hinzubekommen. Unser Respekt vor der Ausdauer der europäischen Protagonisten ist gewachsen, als wir feststellten, wie kompliziert es ist, wenn eine Deutsche und ein Österreicher, also zwei, die noch dazu die gleiche Muttersprache sprechen, sich auf Bewertungen einigen müssen. Dass die Autoren aus verschiedenen Ländern kommen, mit ihren unterschiedlichen Zugängen, hat die Arbeit an diesem Buch spannend und das Produkt, so hoffen wir, besser gemacht. Sozusagen ein europäischer Kompromiss.
(C) Econ Verlag
Der 29. Juni 2012 ist die Nacht, in der Deutschland zuerst in der Fußball-Europameisterschaft gegen Italien und anschließend Bundeskanzlerin Angela Merkel die Deutungshoheit über die Nachrichten aus Brüssel verliert. Die Nacht, in der sich der besonnene Mario Monti spontan zur Squadra Azzurra, der italienischen Nationalmannschaft, bekennt und die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt sich in Geiselhaft genommen fühlt, weil die Südstaaten ultimativ Hilfe für ihre Banken einfordern. Die Zusammenkunft, die Angela Merkel veranlasst, nächtliche Pressekonferenzen einzuführen, um statt anderer selbst die Morgennachrichten zu Hause zu beherrschen, und damit ihren Stab in große Nervosität versetzt.
Unsere Geschichten stützen sich auf direkte Quellen. Auf Notizen, die dafür ausgewählte Diplomaten von Gipfelgesprächen anfertigen. Sie notieren, was gesprochen wird.
Es ist uns gelungen, streng vertraulich gehaltene Gipfelprotokolle zu lesen, die Einblick geben, wie es zugeht, wenn die Mächtigen zusammen am Tisch sitzen. Wer wem zur Seite springt. Ob es sie gibt, die Allianzen Nordeuropas gegen Südeuropa. Ob Merkel tatsächlich immer gewinnt und Frankreichs Staatspräsident François Hollande so schwach ist, wie es scheint. Und was Österreichs Kanzler Werner Faymann überhaupt bewegen kann.
Wir analysieren, wie 28 nationale Egoisten ihre heimischen Interessen auf europäischer Bühne verteidigen und wie sie dabei zu den größten Lobbyisten ihrer Heimatländer werden. Und wir gehen der Frage nach, ob Achim Greser und Heribert Lenz, deren Karikaturen regelmäßig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt werden, den Bürgern aus der Seele sprechen, wenn sie sagen: »Brüssel, das ist für uns so etwas wie eine Bad Bank, in der alles Schlechte und Giftige aus Europa gelagert wird und die dann niemand haben will.«
Für unser Buch haben wir mit einigen der Mächtigsten gesprochen, sowie mit hohen Beamten, Diplomaten, Sherpas und den Bürokraten im Maschinenraum der Europäischen Union. Nirgendwo sind Reporter so nahe bei Angela Merkel, dem britischen Premierminister David Cameron, François Hollande, Werner Faymann und ihren Kollegen wie in dem grauen Brüsseler Ratsgebäude. Oben sitzen 28 gewählte nationale Chefs, unten warten die Reporter. Zwischen den beiden Sphären wandeln EU-Diplomaten als Überbringer geheimer Botschaften. Sie erzählen nicht nur Brisantes, sondern auch Menschliches. Wie Spitzenpolitiker schon mal hadern, weil alles so kompliziert ist in Europa. Sie »sei an den Grenzen ihres fachlichen Verständnisses angelangt«, zitieren die Protokollanten Angela Merkel in einer schwierigen Verhandlungsphase über die neuen Bankenregeln beim EU-Gipfel am 26. Oktober 2011.1 Sie erzählen, dass der zyprische Präsident Dimitris Christofias gelobt werden will, weil er fast die Hälfte seines Kabinetts weiblich besetzt hat. Wie David Cameron die Einführung des Euro mit seiner Lebenszeit verknüpft. Wie froh einige Kollegen heimlich waren, dass Premier Silvio Berlusconi mit am Tisch saß, weil der Italiener »nicht so intellektuell daherkommt und die Anspannung gelegentlich durch einen Witz auflockert«.
Wer die Protokolle der Gipfel liest, kann die Erschöpfung nachvollziehen, die die Chefs befällt nach endlosen Diskussionen. Oder muss still lächeln, wenn nach immer neuen Plädoyers für milliardenschwere Konjunkturpakete Angela Merkel freundlich anmerkt, »dass man gerade auf Mikroebene viel für Wachstum tun könne«. Man hört sie dabei denken: Jungs, stopp jetzt, macht zuerst mal zu Hause was.
Wir waren dabei, als die Finanzkrise begann und der später sieglose Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, noch Bundesfinanzminister war und selbst nach der Pleite der US Investmentbank Lehman beinahe selbstherrlich erklärte, diese Bankenkrise sei eine rein amerikanische Angelegenheit. Wir kennen die Vorschläge für eine europäische Arbeitslosenversicherung, die europäische Rente und das europäische Kindergeld und erzählen, warum dies alles gut versteckt in den Schreibtischladen der Europäischen Kommission liegt. Wir haben recherchiert, warum die Tabakindustrie Milliarden Euro an Brüssel und die Mitgliedsstaaten zahlt und warum die Europäische Kommission ein breites Einfallstor für Interessenvertreter jeglicher Art ist. Und wir haben nachgerechnet: 35000 Mitarbeiter hat die Europäische Kommission, Tausende sind Übersetzer für eine der 24 Sprachen, die in der Europäischen Union gesprochen werden. Alle europäischen Behörden zusammen haben 60000 Beamte - für 506 Millionen Bürger. Im unmittelbaren Landesdienst des Landes Berlin stehen 116000 Beamte (für 3,5 Millionen Bürger). Die Stadt Wien beschäftigt knapp 50000 Beamte und Vertragsbedienstete (für 1,7 Millionen Bürger). Das amerikanische Heimatschutzministerium, eines von vielen Ministerien der USA, beschäftigt 240000 Menschen.
Europas überbordende Bürokratie ist ein hartnäckiger Mythos. Ebenso wie die Vorstellung, dass die da in Brüssel, diese überbezahlten Beamten, sich krude Dinge ausdenken, die sich wie eine Plage in den 28 europäischen Ländern ausbreiten.
Wir sagen: Das stimmt so nicht.
Alles, was in Brüssel an Gesetzen, Verordnungen und anderem entschieden wird, basiert grundsätzlich auf Vorschlägen, die aus den nationalen Hauptstädten kommen. Die Europäische Kommission ist so etwas wie die Gesetzeswerkstatt der nationalen Regierungen. In der Behörde entstehen Rechtstexte, die danach abgestimmt werden unter den 28 nationalen Hauptstädten und meistens auch im Europäischen Parlament. Wer durch die teilweise futuristischen Gebäude der europäischen Institutionen läuft, fühlt sich schnell an Fritz Langs Filmklassiker Metropolis erinnert. An die Arbeiter im Maschinenraum. Emsig eilende, hin und her laufende, hoch und runter fahrende Beamte. Fahrstühle, Türen, Flure. Jeder verrichtet die immer gleichen Vorgänge. Redet über die immer gleichen Themen. Unwirklich für jeden, der nicht im europäischen Metropolis lebt. Es gibt die Welt hier und die Welt dort - und genau das ist eine der großen Gefahren, denen die Europäische Union ausgesetzt ist. Die Bürger fühlen sich nicht gemeint, wenn von Europa die Rede ist.
Wir erzählen, wie die Chefs im Krisenjahr 2008 ihre heimischen Banken so beschützen, wie sie in den 50er Jahren ihre Stahlwerke und in den 70er Jahren die Autohersteller protegierten. Und warum dieser Fehler die Währungsunion 2012 beinahe in den Bankrott trieb. Wir wissen, wie der Euro-Rettungsfonds zufällig mit 440 Milliarden Euro gefüllt wurde, und wir beschreiben, warum die Europäischen Verträge der Kitt der Gemeinschaft sind. Europas Verträge sind nicht dafür da, Punkt für Punkt eingehalten zu werden. Sie sind die Seele einer Gemeinschaft aus 28 sehr unterschiedlichen Ländern, von den Sonnenstränden Griechenlands bis zum Industriehafen Rotterdam oder von Lettland bis Portugal, die sich gegenseitig versprochen haben, friedlich miteinander zu leben, Handel und Wandel miteinander zu betreiben. Verträge geben den 28 Ländern einen Rahmen, in dem sich alle wiederfinden können. Die Nationen Europas müssen großzügig miteinander umgehen, um zusammenleben zu können. Die Krise hat dazu geführt, dass sie sich ihrer eigenen Verletzlichkeit bewusst geworden sind.
Brüssel ist ein Spiegelbild der Europäischen Union. Im Europa- Viertel rund um den Place Schuman schiebt sich Betonplatte für Betonplatte ein neuer Palast aus dem Boden. Touristen versuchen aus den Bussen einen Blick auf die EU zu erhaschen. Doch ein identitätsstiftendes Symbol wie das Brandenburger Tor in Berlin oder das Weiße Haus in den Vereinigten Staaten gibt es nicht.
240 Millionen Euro soll der neue Sitz für den Präsidenten des Europäischen Rates und seine Mitarbeiter am Place Schuman kosten. Seit der Erweiterung der Union um die neuen Mitglieder in Ost- und Mitteleuropa platzt das alte Gebäude aus allen Nähten. Natürlich ist die Großbaustelle inzwischen verspätet, wann genau eröffnet wird, ist offen. Also bis auf weiteres meterhohe Zäune, Betonpoller, ohrenbetäubender Baulärm, Trucks und Dreck überall.
Brüssel ist auch ein Schmelztiegel der Kulturen. Hier sind die Vorurteile fühlbar, die die Völker des alten Kontinents über einander haben, meist ganz charmant und gelegentlich lustig. Autofahrer in Belgien, die rechts überholen, niemals blinken und an roten Ampeln eine Vollbremsung hinlegen. Italiener, die noch nachts um zwei Uhr am Gepäckband des Flughafens ununterbrochen telefonieren. Ein österreichischer Weinhändler, der mit Schmäh seine heimischen Weine gegen die etablierte spanische und französische Konkurrenz durchsetzt. Franzosen, die als Mittagsgäste bei Schweden auf den ersten Gang - Fisch mit Kartoffelbrei - verzichten, um danach festzustellen, dass es der einzige war, und hungrig bleiben. Britische Reporter, die ihre Ellbogen ausfahren, um als Erste zu den neuesten Informationen vorzudrängen - und dann doch nicht als Erste senden können, weil die ausgegebenen Texte auf Deutsch geschrieben sind. Deutsche, die superpünktlich zum Treffpunkt kommen und dann fünfzehn Minuten alleine sind. Niederländer, die eine Restaurantrechnung auf den Cent genau aufteilen.
Brüssel ist gelebte Geschichte. Karl Marx wird verehrt, die Autorin fand in ihrer Straße Rue Jean D'Ardenne eine Ehrentafel an einem schönen Bürgerhaus und am berühmten großbürgerlichen Grand-Place ein überlebensgroßes Marx-Porträt in einem Sterne-Restaurant mit einem geschmiedeten Hinweisschild, dass dieser Herr hier über drei Monate verköstigt wurde und in einer der oberen Etagen arbeitete. Der deutsche Philosoph hat das Kommunistische Manifest in Brüssel geschrieben - und die Brüsseler sind stolz darauf. Durch keine Stadt sind im Laufe der Geschichte so viele Heere durchgezogen wie durch Brüssel und Umgebung, zwischen dem mächtigen Deutschland und Großbritannien, Frankreich und Spanien. Ludwig XIV. hat den Grand-Place, wo Zünfte ihre prachtvollen Gebäude errichteten, einst niedergebrannt. Dass die europäischen Institutionen an einem Ort sind, wo man auf den Straßen Französisch und Flämisch, Englisch und Deutsch hört, ist kein Zufall. In Belgien wird das Zusammenleben der Nationen, der Flamen, Wallonen und Deutschen täglich erprobt. Die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges und Waterloo sind nur wenige Kilometer entfernt. Heute noch beherbergt jedes zweite Familienhaus an den ehemaligen Frontlinien einen kleinen Soldatenfriedhof.
Die europäische Kleinstaaterei ist mitnichten vorbei. Wir haben dieses Buch geschrieben, weil wir beobachten, wie sich eine diffuse Stimmung gegen die Europäische Union und Brüssel ausbreitet. Enttäuschte Bürger wenden sich ab von dem, was sie für eine Bad Bank halten. Die 28 nationalen Egoisten sind in der Pflicht, Europa nicht nur als Wirtschaftsunternehmung zu betrachten, sondern als Miteinander unterschiedlicher Nationen, es als Gemeinschaft fühlbar zu machen. 2014 werden die europäischen Karten neu gemischt. Europäische Wahlen. Neues Spitzenpersonal. Und eine neue Chance, einfach großzügiger miteinander umzugehen.
Cerstin Gammelin, Raimund Löw
Brüssel, im Januar 2014
PS: Dass unser Verlag das gleiche Buch unter den zwei Titeln »Europas Strippenzieher« (Deutschland) und »Europas Drahtzieher« (Österreich) veröffentlicht, zeigt die kulturelle Vielfalt selbst innerhalb der gleichen Sprache. Die Autoren haben beim Schreiben ein Gefühl dafür bekommen, wie schwierig es sein muss, unter 28 einen Kompromiss hinzubekommen. Unser Respekt vor der Ausdauer der europäischen Protagonisten ist gewachsen, als wir feststellten, wie kompliziert es ist, wenn eine Deutsche und ein Österreicher, also zwei, die noch dazu die gleiche Muttersprache sprechen, sich auf Bewertungen einigen müssen. Dass die Autoren aus verschiedenen Ländern kommen, mit ihren unterschiedlichen Zugängen, hat die Arbeit an diesem Buch spannend und das Produkt, so hoffen wir, besser gemacht. Sozusagen ein europäischer Kompromiss.
(C) Econ Verlag
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Autoren-Porträt von Cerstin Gammelin, Raimund Löw
Cerstin Gammelin arbeitete als Autorin und freie Journalistin u. a. für Die Zeit und die Financial Times Deutschland sowie als Hauptstadt-Korrespondentin für die unabhängige Fachzeitung Energie & Management, bevor sie Redakteurin im Hauptstadtbüro der ZEIT wurde. Heute ist sie EU-Korrespondentin für die Süddeutsche in Brüssel.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Cerstin Gammelin , Raimund Löw
- 2014, 2. Aufl., 384 Seiten, Maße: 14,4 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ECON
- ISBN-10: 343020173X
- ISBN-13: 9783430201735
- Erscheinungsdatum: 28.02.2014
Rezension zu „Europas Drahtzieher “
Wer Brüssel verstehen und wissen will, welche Personen dort wirklich das Sagen haben, sollte dieses Buch lesen. , Falter, Ingrid Brodnig, 26.02.2014
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