Der Zug der Waisen
Roman
„Der Zug der Waisen“ von Christina Baker Kline ist ein bewegender Roman über die unvorstellbare Stärke, die Kinderseelen entwickeln, um zu überleben.
Aber ...
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Produktinformationen zu „Der Zug der Waisen “
„Der Zug der Waisen“ von Christina Baker Kline ist ein bewegender Roman über die unvorstellbare Stärke, die Kinderseelen entwickeln, um zu überleben.
Aber „Der Zug der Waisen“ ist mehr als ein Schicksalsroman, mehr als eine erschütternde und gleichzeitig erstaunliche Lebensgeschichte . Christina Baker Kline erzählt in ihrem New-York-Times-Bestseller auch ein umstrittenes Kapitel längst vergangener amerikanischer Geschichte.
Der Zug der Waisen – eine Schicksalsreise, die ein Leben lang dauern wird
Vivian ist 91, irischer Abstammung und eine reiche Witwe. Molly ist 17, indianischer Abstammung und ein „schwieriges“ Mädchen. Doch die beiden haben, wie sich herausstellt, sehr viel, das sie verbindet: ein Leben ohne Eltern, eine schmerzvolle Odyssee voller Ablehnung und Vorurteile auf der Suche nach einer Familie und einer Heimat. Und ein einziges Erinnerungsstück von einem Familienmitglied, ein winziger Notanker der Identität.
Erst die rebellische Molly bewegt mit ihren Fragen Vivian, sich endlich der Wahrheit zu stellen und über ihre Erlebnisse im Zug der Waisen zu erzählen.
Vivians Schicksals- und Leidensreise beginnt 1929 in New York, als sie, Kind irischer Einwanderer, ihre Familie verliert und mit hunderten anderen Waisen in einem Zug in den Mittleren Westen der USA geschickt wird. Dort sollen die Kinder ein neues Zuhause finden …
Spannend verbindet Christina Baker Kline Gegenwart und Vergangenheit und das Schicksal zweier Frauen, das sie erst miteinander mutig annehmen können.
Ihre eigene Familiengeschichte hat Christina Baker Kline zu diesem Roman angeregt. Sie hat ebenfalls irische Wurzeln, ihre Großeltern waren Waisen und sprachen selten über ihre Kindheit. Dann fällt ihr ein Artikel über den „Orphain Train“ in die Hände – ein „gesellschaftliches Experiment“, wie es die Autorin nennt, das bereits Ende des 19. Jahrhunderts begann und über 75 Jahre andauerte.
Christina Baker Kline recherchiert lang und ausführlich, spricht mit den wenigen „Zugfahrern“, die noch leben. Was sie erzählen oder aufschreiben, ist voller Dankbarkeit für das Leben, für die Kinder und Enkelkinder, die sie haben durften. Nur zwischen den Zeilen und den Worten ist Platz für die Traumata, die sie als Kinder erlitten haben.
Christina Baker Kline weiß: dieses Leid, diese traumatischen Erlebnisse müssen erzählt werden – in einer fiktiven Geschichte, im Roman „Der Zug der Waisen“, der fesselt, anrührt, den Sie nicht so schnell vergessen werden. Bestellen Sie gleich online bei uns!
Klappentext zu „Der Zug der Waisen “
Ein bewegender Roman über ein vergessenes Kapitel der amerikanischen GeschichteNew York, 1929: Mit neun Jahren verliert Vivian Daly, Tochter irischer Einwanderer, bei einem Wohnungsbrand ihre gesamte Familie. Gemeinsam mit anderen Waisen wird sie kurzerhand in einen Zug verfrachtet und in den Mittleren Westen geschickt, wo die Kinder auf dem Land ein neues Zuhause finden sollen. Doch es ist eine Reise ins Ungewisse, denn nur die wenigsten von ihnen erwartet ein liebevolles Heim. Und auch Vivian stehen schwere Bewährungsproben bevor ... Erst viele Jahrzehnte später eröffnet sich für die inzwischen Einundneunzigjährige in der Begegnung mit der rebellischen Molly die Möglichkeit, das Schweigen über ihr Schicksal zu brechen.
Lese-Probe zu „Der Zug der Waisen “
Christina Baker KlineDer Zug der Waisen
Roman
Prolog
Ich glaube an Geister. Sie sind es, die uns verfolgen, die uns allein zurückgelassen haben. Viele Male in meinem Leben habe ich ihre Gegenwart gespürt. Sie sahen zu, sie beobachteten mich, wenn niemand aus der Welt der Lebenden wusste oder sich darum kümmerte, was mit mir geschah.
Ich bin einundneunzig Jahre alt, und fast jeder, dem ich in meinem Leben je begegnet bin, ist nun ein Geist.
Manchmal waren diese Geister für mich realer als lebende Menschen, realer als Gott. Sie füllen die Leere mit ihrem Gewicht, fest und warm, wie Brotteig, der unter einem Tuch aufgeht.
Meine Gran mit ihren freundlichen Augen und ihrem gepuderten Gesicht. Mein Dad, nüchtern, lachend. Meine Mam, wie sie eine Melodie summt. Bitterkeit, Alkoholsucht und Schwermut sind von diesen Phantomgestalten genommen, und sie trösten und beschützen mich im Tod, wie sie es zu ihren Lebzeiten nie getan haben.
Inzwischen denke ich, dass dies das Himmelreich ist: ein Platz in der Erinnerung anderer Menschen, in der nur unsere guten Eigenschaften weiterleben, unser besseres Ich.
Vielleicht kann ich mich glücklich schätzen - weil ich im Alter von neun Jahren die geisterhaften besseren Ichs meiner Eltern bekommen habe und im Alter von dreiundzwanzig das meiner großen Liebe. Und auch meine Schwester, Maisie, war immer bei mir, ein Engel an meiner Schulter. Achtzehn Monate alt, als ich neun war, dreizehn Jahre, als ich die zwanzig erreicht hatte. Nun, da ich einundneunzig Jahre alt bin, ist sie vierundachtzig und immer noch bei mir. Sie sind vielleicht kein wirklicher Ersatz für die Lebenden, aber das stand nicht zur Wahl. Ich konnte Trost in ihrer Gegenwart suchen oder zu einem Häufchen Elend zusammensinken und ihren Verlust beklagen.
Die Geister redeten mir zu, sie flüsterten, ich solle weitermachen.
... mehr
Spruce Harbor, Maine, 2011
Durch die Wand ihres Zimmers kann Molly hören, wie ihre Pflegeeltern nebenan im Wohnzimmer über sie sprechen. »So war das nicht ausgemacht«, sagt Dina. »Wäre mir klar gewesen, dass sie so viele Probleme hat, hätte ich niemals zugestimmt.«
»Sicher.« Ralphs Stimme klingt matt. Molly weiß, dass es seine Idee war, ein Kind in Pflege zu nehmen. Vor langer Zeit, als er ein »schwieriger Jugendlicher« war, wie er es einmal ohne weitere Erklärung genannt hat, meldete ein Sozialarbeiter seiner Schule ihn für das Big-Brothers-Mentorenprogramm an.
Er hatte immer das Gefühl, dass sein Mentor, sein großer Bruder, ihn auf Kurs hielt. Doch Dina ist Molly gegenüber von Anfang an misstrauisch gewesen. Dass die beiden vor Molly einen Jungen aufgenommen hatten, der versuchte, die Grundschule in Brand zu setzen, machte die Sache auch nicht besser.
»Ich habe genug Stress bei der Arbeit«, sagt Dina, und ihre Stimme wird lauter, »ich brauche diesen Scheiß nicht auch noch zu Hause.«
Dina arbeitet als Einsatzkoordinatorin beim Polizeirevier von Spruce Harbor, und soweit Molly das beurteilen kann, hält sich der Stress dort in Grenzen - ein paar betrunkene Autofahrer, gelegentliche Schlägereien, Bagatelldiebstähle, Unfälle. Für eine Einsatzkoordinatorin ist Spruce Harbor vermutlich der am wenigsten aufreibende Arbeitsort, den man sich vorstellen kann.
Aber Dina ist neurotisch veranlagt. Die nichtigsten Kleinigkeiten gehen ihr auf die Nerven. Sie scheint immer zu erwarten, dass alles gut geht, und wenn es das einmal nicht tut - was natürlich ziemlich oft vorkommt -, ist sie überrascht und gekränkt.
Bei Molly ist das Gegenteil der Fall. In ihrem siebzehnjährigen Leben ist so vieles schiefgelaufen, dass sie es nicht mehr anders erwartet. Wenn aber einmal etwas gutläuft, weiß sie nicht, was sie davon halten soll.
Genau das ist ihr mit Jack passiert. Als Molly letztes Jahr auf die Mount Desert Island High School wechselte, schienen die meisten Schüler der zehnten Klasse sich zu bemühen, ihr aus dem Weg zu gehen. Jeder hatte seine Freunde, seine Clique, und sie passte nirgendwo dazu. Natürlich hat sie es ihnen auch nicht gerade leicht gemacht; ihrer Erfahrung nach ist »tough und unnahbar« immer besser als »emotional und verletzlich«, und sie trägt ihr Goth-Image wie eine schützende Rüstung. Jack war der Einzige, der versuchte, zu ihr durchzudringen.
Es war Mitte Oktober im Sozialkundeunterricht. Als sie sich für ein Projekt zu Teams zusammenfinden sollten, blieb Molly, wie gewöhnlich, übrig. Jack fragte sie, ob sie sich seiner Gruppe anschließen wolle. Seine Partnerin, Jody, war davon sichtlich wenig begeistert. Während der gesamten Unterrichtsstunde war Molly auf der Hut. Warum war er so freundlich? Was wollte er von ihr? War er einer von denen, die Spaß daran haben, mit Außenseiterinnen Spielchen zu spielen? Was auch immer seine Beweggründe waren, bei ihr würde er nicht weit kommen.
Sie stand mit verschränkten Armen und hochgezogenen Schultern da, das dunkle, borstige Haar fiel ihr über die Augen.
Sie zuckte nur die Achseln und brummte unverständlich, wenn Jack sie etwas fragte, obwohl sie der Diskussion die ganze Zeit folgte und auch ihren Arbeitsanteil leistete. »Dieses Mädchen ist total seltsam«, hörte sie Jody murmeln, als sie nach dem Läuten den Klassenraum verließen. »Die ist ja richtig unheimlich.«
Als Molly sich umdrehte und Jacks Blick begegnete, überraschte er sie mit einem Lächeln. »Ich finde sie irgendwie toll«, sagte er und sah ihr in die Augen. Zum ersten Mal, seit sie auf dieser Schule war, konnte sie nicht anders: Sie lächelte zurück.
Während der folgenden Monate schnappte Molly einige Bruchstücke von Jacks Geschichte auf. Sein Vater war ein Gastarbeiter aus der Dominikanischen Republik, den seine Mutter beim Blaubeerensammeln in Cherryfield kennengelernt hatte. Als sie schwanger wurde, kehrte er zurück in seinen Inselstaat, wo er mit einer Einheimischen zusammenzog und sie vergaß. Jacks Mutter, die nie geheiratet hat, arbeitet für eine reiche alte Dame, die in einer Villa an der Küste lebt.
Nach allen gesellschaftlichen Regeln müsste Jack auch ein Außenseiter sein, aber das ist er nicht.
Es gibt ein paar wichtige Dinge, die ihm zugutekommen: seine geschickten Pässe auf dem Fußballfeld, ein umwerfendes Lächeln, große, braune Kuhaugen und unverschämt lange Wimpern. Und obwohl er sich selbst nicht so ernst nimmt, ist Molly sicher, dass er um einiges klüger ist, als er zugibt, vielleicht sogar klüger, als ihm selbst klar ist. Jacks sportliche Leistungen auf dem Fußballfeld sind Molly völlig gleichgültig, aber Klugheit respektiert sie. (Die Kuhaugen sind ein zusätzlicher Pluspunkt.)
Ihr eigener Wissensdurst ist eins der Dinge, die sie immer vor dem Durchdrehen bewahrt haben. Goth zu sein befreit sie von allen konventionellen Erwartungen, und sie hat festgestellt, dass es ihr die Freiheit verschafft, absonderlich zu sein, sogar auf mehrere Arten zugleich.
Sie liest ununterbrochen - auf den Schulfluren, in der Cafeteria -, meistens Romane mit verunsicherten Protagonisten: Die Selbstmord-Schwestern, Der Fänger im Roggen, Die Glasglocke.
Sie schreibt Wörter in ihr Notizbuch, weil sie ihren Klang mag: Xanthippe, verzagt, Talisman, Muhme, enervierend, kriecherisch ...
Als Neuankömmling hat Molly die Distanz, die ihr Image ihr verschafft hat, gefallen, sie mochte die Skepsis und das Misstrauen, die sie in den Augen ihrer Mitschüler lesen konnte.
Aber auch wenn sie es ungern zugibt, fühlt sie sich in letzter Zeit von diesem Image eher eingeengt. Jeden Morgen dauert es Ewigkeiten, bis sie ihren Look richtig hinbekommt, und die Rituale, die früher voller Bedeutung für sie waren - das Haar pech schwarz zu färben mit violetten oder weißen Strähnen, die Augen mit Kajalstift schwarz zu umranden, ein Make-up aufzutragen, das um einige Nuancen heller ausfällt als ihre natürliche Hautfarbe, sich nacheinander in verschiedene Einzelteile unbequemer Kleidung zu zwängen -, das alles lässt sie jetzt ungeduldig werden.
Sie kommt sich vor wie ein Zirkusclown, der eines Morgens aufwacht und plötzlich seine rote Clownsnase nicht mehr aufsetzen will. Die meisten Menschen müssen nicht so viel Aufwand treiben, um ihrer Rolle treu zu bleiben. Warum sie? Sie stellt sich vor, dass sie sich an ihrem nächsten Wohnort - denn es gibt immer einen nächsten Wohnort, eine neue Pflegefamilie, eine neue Schule - ein anderes Image zulegen wird, eins, das einfacher zu pflegen ist.
Grunge? Sexbiene? Die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu eher früher als später kommen wird, wächst mit jeder Minute. Dina will Molly schon seit einiger Zeit loswerden, und jetzt hat sie einen guten Vorwand. Ralph hat seine Glaubwürdigkeit für Mollys Verhalten riskiert; er hat sich sehr bemüht, Dina davon zu überzeugen, dass sich hinter der grimmigen Fassade aus pechschwarzem Haar und hellem Make-up ein unschuldiges Kind verbirgt. Nun, mit Ralphs Glaubwürdigkeit ist es jetzt vorbei.
Molly begibt sich vor ihrem Bett auf alle viere, hebt den rüschengesäumten Überwurf leicht an und zieht die beiden bunten Reisetaschen hervor, die Ralph im Ausverkauf beim L. L.Bean Outlet in Ellsworth für sie erstanden hat (die rote trägt den Schriftzug »Braden«, auf der mit dem orangefarbenen Hawaii- Muster steht »Ashley« - ob die Taschen wegen ihrer Farben, ihres Stils oder dieser idiotischen weißen Aufschriften von den Kunden verschmäht worden sind, weiß Molly nicht).
Als sie die oberste Schublade ihrer Kommode aufzieht, hört sie ein rhythmisches Trommeln unter der Bettdecke, das sich gleich darauf als eine scheppernde Version von Daddy Yankees Impacto entpuppt. »So weißt du immer, dass ich es bin, und gehst an dein verdammtes Telefon«, hat Jack erklärt, als er ihr den Klingelton besorgt hat.
»Hola, mi amigo«, sagt sie, als sie das Handy endlich gefunden hat.
»Hey, was geht, chica?«
»Ach, du weißt schon. Dina ist im Moment nicht sehr glücklich. «
»Echt?«
»Ja. Es ist ziemlich schlimm.«
»Wie schlimm?«
»Tja, ich glaube, ich bin hier raus.« Sie spürt einen Kloß im Hals. Das überrascht sie, schließlich hat sie schon so viele ganz ähnliche Situationen erlebt.
»Nee«, sagt er. »Das glaube ich nicht.«
»Doch«, erwidert sie, während sie ein Bündel Socken und Unterwäsche in die Braden-Tasche wirft. »Ich kann hören, wie sie nebenan darüber sprechen.«
»Aber du musst diese Sozialstunden ableisten.«
»Das wird nicht passieren.« Sie nimmt ihr Amulett, das mit der Halskette in einem verworrenen Knäuel auf der Kommode liegt, und versucht die Knoten zu lösen, indem sie die Goldkette zwischen ihren Fingern reibt. »Dina sagt, dass niemand mich nehmen wird. Ich bin nicht vertrauenswürdig.« Das Knäuel lockert sich unter ihrem Daumen, und sie zieht die beiden Enden auseinander.
»Ist schon okay. Ich habe gehört, das Jugendgefängnis ist nicht so schlimm. Und es ist ja auch nur für ein paar Monate. «
»Aber - du hast dieses Buch nicht gestohlen.«
Sie klemmt das Handy zwischen Ohr und Schulter und legt sich die Halskette um, nestelt am Verschluss und blickt dabei in den Spiegel über der Kommode. Schwarze Schminke ist unter ihren Augen verlaufen, sodass sie aussieht wie ein Football- Spieler.
»Stimmt's, Molly?«
Die Sache ist - sie hat es gestohlen. Oder es zumindest versucht.
Es ist ihr Lieblingsroman, Jane Eyre, und sie wollte ihn haben, wollte das Buch besitzen. Sherman's Bookstore in Bar Harbor hatte es nicht vorrätig, und sie war zu schüchtern, um den Buchhändler zu bitten, es zu bestellen. Dina würde ihr niemals ihre Kreditkartennummer geben, um es im Internet zu kaufen. Sie hatte sich noch nie etwas so sehr gewünscht.
(Na ja ... schon seit langer Zeit nicht mehr.) So war sie in der Bibliothek gelandet, hatte zwischen den engen Regalreihen gekniet, drei Exemplare des Romans, zwei Taschenbücher und ein Hardcover, in dem Fach vor ihr. Das Hardcover hatte sie schon zweimal mitgenommen, war zum Tresen gegangen und hatte es mit ihrer Bibliothekskarte ausgeliehen. Sie nahm die drei Bücher aus dem Regal, wog sie in ihren Händen. Dann schob sie das Hardcover wieder in die Reihe der Bücher, neben Sakrileg. Das neuere der beiden Taschenbuchexemplare stellte sie ebenfalls zurück.
Das Exemplar, das sie unter den Bund ihrer Jeans steckte, war alt und zerlesen, die Seiten vergilbt mit Passagen, die jemand mit Bleistift markiert hatte. Der billige Einband löste sich bereits vom Innenteil, der Kleber war vertrocknet. Beim jährlichen Bücherflohmarkt der Bibliothek hätte dieses Buch höchstens zehn Cent eingebracht. Niemand würde es vermissen, dachte Molly, schließlich gab es noch die beiden anderen, neueren Exemplare. Aber die Bibliothek hatte kürzlich Magnetstreifen als Diebstahlschutz eingeführt, und vor ein paar Monaten hatten vier Freiwillige - ältere Damen, die sich hingebungsvoll um die Belange der Spruce Harbor Library kümmerten - mehrere Wochen damit verbracht, diese Streifen an den Innenseiten der Umschläge aller elftausend Bücher anzubringen. Als Molly also an diesem Tag das Gebäude verlassen wollte und durch das Tor trat, von dem sie nicht einmal wusste, dass es mit einer Diebstahlsicherung ausgerüstet war, ertönte ein lautes, beharrliches Piepen, bis die Leiterin der Bibliothek, Susan LeBlanc, herbeigeschossen kam wie ein Falke im Zielflug.
Molly gab alles zu - das heißt, zunächst versuchte sie zu erklären, sie habe das Buch nur ausleihen wollen. Aber davon wollte Susan LeBlanc nichts hören. »Du meine Güte, verkauf mich nicht für blöd«, schimpfte sie. »Ich habe dich beobachtet. Da dachte ich mir schon, dass du irgendwas im Schilde führst.« Und welche Schande es sei, dass ihre Vermutung sich bewahrheitet habe! Sie wäre gerne positiv überrascht worden, wenigstens dieses eine Mal.
»Oh, Scheiße. Echt?« Jack seufzt.
Molly schaut in den Spiegel und streicht mit dem Finger über die Anhänger an der Kette um ihren Hals. Sie trägt sie nicht mehr oft, doch jedes Mal, wenn etwas passiert und sie weiß, dass sie bald wieder unterwegs sein wird, legt sie sie an. Die Kette hat sie in einem Billigladen, Marden's, in Ellsworth gekauft, um die drei Anhänger - ein blaugrüner Fisch aus Emaille, ein Rabe aus Zinn und ein kleiner brauner Bär - daran zu befestigen. Die hat sie von ihrem Vater zum achten Geburtstag bekommen.
In einer Nacht wenige Wochen danach kam er bei einem Autounfall ums Leben, als sich sein Wagen bei viel zu hoher Geschwindigkeit auf der eisglatten Interstate-95 überschlug. Ihre Mutter, gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt, geriet durch dieses Ereignis in eine Abwärtsspirale, aus der sie nicht wieder herausfand. An ihrem nächsten Geburtstag lebte Molly bei einer neuen Familie, und ihre Mutter saß im Gefängnis. Die Anhänger sind alles, was ihr von ihrem früheren Leben geblieben ist.
Jack ist ein netter Kerl. Aber das, was jetzt geschieht, hat sie erwartet. Und wie alle anderen - Sozialarbeiter, Lehrer, Pflegeeltern - wird auch er irgendwann genug haben, sich betrogen fühlen, erkennen, dass Molly mehr Ärger verursacht, als sie wert ist. So gern sie sich auf ihn einlassen würde und so sehr sie ihn glauben lässt, dass sie das tut, hat sie sich das nie wirklich erlaubt.
Man kann nicht unbedingt von Täuschung sprechen, es ist nur so, dass ein Teil von ihr immer darauf bedacht ist, sich zurückzuhalten. Sie hat gelernt, dass sie ihre Gefühle kontrollieren kann, indem sie sich ihren Brustkorb als eine große Kiste mit einem Vorhängeschloss vorstellt. Alle verirrten und unbeherrschbaren Gefühle, jeden unberechenbaren Anflug von Traurigkeit oder Bedauern, stopft sie da hinein. Dann verschließt sie die Kiste.
Auch Ralph hat versucht, das Gute in ihr zu sehen. Das ist seine Art; er sieht es sogar, wenn es nicht da ist. Einerseits ist Molly dankbar für das Vertrauen, das er in sie setzt, andererseits hat sie auch Zweifel, dass sie sich darauf verlassen kann. Da ist es fast besser mit Dina, die aus ihrem Argwohn keinen Hehl macht. Es ist einfacher, davon auszugehen, dass der andere einen auf dem Kieker hat, als mit der Enttäuschung fertigzuwerden, wenn man von ihm fallengelassen wird.
»Jane Eyre?«, fragt Jack.
»Was tut das zur Sache?«
»Ich hätte es dir gekauft.«
»Schon klar.« Selbst jetzt, da sie all diesen Ärger hat und man sie wahrscheinlich fortschicken wird, weiß sie, dass sie Jack niemals gebeten hätte, das Buch zu kaufen. Wenn es etwas gibt, das sie an der Tatsache, dass sie ein Pflegekind ist, am meisten hasst, dann ist das die Abhängigkeit von Leuten, die sie kaum kennt, und die ständige Gefahr, von ihren Launen verletzt zu werden. Sie hat gelernt, von niemandem irgendwas zu erwarten. Ihre Geburtstage werden häufig vergessen, sie ist diejenige, an die man sich immer zuletzt erinnert. Sie hat sich mit dem zufriedenzugeben, was sie bekommt, und das ist selten das, was sie sich wünscht.
»Du bist so verdammt eigensinnig!«, sagt Jack, als habe er ihre Gedanken erraten. »Was hast du dir da für einen Ärger eingehandelt!«
Jemand klopft laut an Mollys Tür. Sie hält das Telefon vor ihre Brust und sieht zu, wie sich der Türknauf dreht. Das ist auch so eine Sache - kein Türschloss, keine Privatsphäre.
Dina streckt ihren Kopf ins Zimmer, die rosa geschminkten Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. »Wir müssen uns mal unterhalten.«
»In Ordnung. Lass mich nur schnell zu Ende telefonieren.«
»Mit wem sprichst du?«
Molly zögert. Muss sie darauf antworten? Ach, zum Teufel. »Mit Jack.«
Dina wirft ihr einen finsteren Blick zu. »Beeil dich. Wir haben nicht den ganzen Abend Zeit.«
»Ich komme gleich.« Molly starrt Dina so lange ausdruckslos an, bis ihr Kopf wieder aus dem Türrahmen verschwindet, dann hebt sie das Telefon wieder ans Ohr. »Zeit für das Exekutionskommando. «
»Nein, nein, hör zu«, sagt Jack. »Ich habe eine Idee. Sie ist ein bisschen ... verrückt.«
»Eine Idee?«, erwidert sie missmutig. »Ich muss los.«
»Ich habe mit meiner Mutter gesprochen ...«
»Jack, ist das dein Ernst? Du hast es ihr erzählt? Sie hasst mich doch ohnehin schon.«
»Langsam, hör mir zu. Erstens, sie hasst dich nicht. Und zweitens, sie hat mit der Dame gesprochen, für die sie arbeitet, und es sieht ganz so aus, als könntest du deine Stunden bei ihr abarbeiten.«
»Wie bitte?«
»Genau.«
»Aber - wie?«
»Na ja, du weißt ja, meine Mutter ist die schlechteste Haushälterin der Welt.«
Molly mag die Art, wie er das sagt - sachlich, ohne zu bewerten, als würde er nur erwähnen, dass seine Mutter Linkshänderin ist.
»Also, die Dame möchte ihren Speicher entrümpeln - alte Aktenordner und Kisten und solchen Kram, und für meine Mutter ist das der schlimmste Alptraum. Da hatte ich die Idee, dass du das machen könntest. Ich wette, du würdest die fünfzig Stunden leicht rumkriegen.«
»Moment mal - du willst, dass ich bei der alten Dame den Speicher ausmiste?«
»Ja. Das ist doch genau dein Ding, meinst du nicht? Komm schon, ich weiß, wie pingelig du bist. All deine Unterlagen stecken in Aktenordnern. Und sind nicht sogar deine Bücher alphabetisch geordnet?«
»Das ist dir aufgefallen?«
»Ich kenne dich besser, als du glaubst.«
Molly muss zugeben - so seltsam es ist -, dass sie es mag, Dinge in Ordnung zu bringen. Sie ist tatsächlich eine Art Ordnungsfanatikerin. Durch die vielen Ortswechsel in ihrem Leben hat sie gelernt, auf ihre wenigen Besitztümer achtzugeben. Trotzdem weiß sie nicht, was sie von Jacks Idee halten soll.
Tagelang alleine auf einem muffigen Speicher festzusitzen, um den Plunder einer alten Dame zu sortieren?
Allerdings - wenn sie an die Alternative denkt ... »Sie möchte dich treffen«, sagt Jack.
»Wer?«
»Vivian Daly. Die alte Dame. Sie möchte, dass du zu ihr kommst, zu einem ...«
»Zu einem Gespräch? Du meinst, ich habe ein Vorstellungsgespräch bei ihr.«
»Das ist Teil der Abmachung. Bist du dazu bereit?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Natürlich. Du kannst auch ins Gefängnis gehen.«
»Molly!«, bellt Dina und klopft an die Tür. »Komm sofort raus!«
»Okay!«, ruft sie und wendet sich wieder an Jack: »Okay.« »Okay zu was?«
»Ich mache es. Ich werde mich mit ihr treffen. Zu einem Vorstellungsgespräch. «
»Toll«, sagt er. »Oh, und - vielleicht solltest du einen Rock anziehen oder so, nur ... du weißt schon. Und vielleicht ein paar von deinen Ohrringen rausnehmen.«
»Was ist mit dem Nasenring?«
»Ich liebe deinen Nasenring«, sagt er. »Aber ...«
»Ich hab's verstanden.«
»Nur für das erste Treffen.«
»Ist schon okay. Hör mal - danke.«
»Das ist reiner Eigennutz«, erwidert er. »Ich möchte dich noch eine Weile um mich haben.«
Als Molly ihre Zimmertür öffnet und in Ralphs und Dinas angespannte und besorgte Gesichter sieht, lächelt sie. »Ihr braucht euch keine Gedanken zu machen. Ich habe einen Weg gefunden, wie ich meine Sozialstunden absolvieren kann.« Dina wirft Ralph einen Blick zu, und Molly sieht in ihrem Gesicht einen Ausdruck, den sie aus jahrelanger Erfahrung mit Pflegeeltern gut kennt. »Aber ich kann auch verstehen, wenn ihr wollt, dass ich gehe. Ich werde schon was anderes finden.« »Wir wollen nicht, dass du gehst«, sagt Ralph, und gleichzeitig erklärt Dina: »Wir müssen darüber reden.« Sie starren einander an.
»Wie auch immer«, sagt Molly. »Wenn es nicht funktioniert, ist das okay.«
Und in diesem Moment, mit einer Zuversicht, die sie Jack zu verdanken hat, ist das auch okay. Wenn es nicht funktioniert, dann funktioniert es eben nicht. Molly hat schon vor langer Zeit begriffen, dass sie einen Großteil des Kummers und der Enttäuschungen, die andere Menschen während ihrer gesamten Lebenszeit fürchten, schon erlebt hat. Vater tot.
Mutter auf und davon. Hin und her geschickt und immer wieder zurückgewiesen. Und immer noch atmet und schläft sie und wird größer. Sie steht jeden Morgen auf und zieht sich an. Wenn sie sagt, es ist okay, dann meint sie damit, dass sie alles Mögliche überstehen kann. Und zum ersten Mal, seit sie denken kann, hat sie jemanden, der auf sie aufpasst. (Was ist eigentlich sein Problem?)
Spruce Harbor, Maine, 2011
Molly atmet tief durch. Das Haus ist größer, als sie es sich vorgestellt hat - ein weißer, viktorianischer Klotz mit verschnörkelter Fassade und schwarzen Fensterläden. Durch die Windschutzscheibe kann sie erkennen, dass es in einwandfreiem Zustand ist - es gibt keinerlei Anzeichen von Schäden an der Fassade, was bedeutet, dass das Haus erst kürzlich einen neuen Anstrich bekommen haben muss. Ohne Zweifel beschäftigt die alte Dame Leute, die sich darum kümmern - eine ganze Armee von Arbeitsbienen.
Es ist ein warmer Aprilmorgen. Der Boden ist noch matschig von geschmolzenem Schnee und Regen, aber es ist einer dieser seltenen milden Tage, die bereits den herrlichen Sommer erahnen lassen. Der Himmel ist strahlend blau, mit weißen Schönwetterwolken. Büschel von Krokussen sprießen überall hervor.
»Okay«, sagt Jack, »die Sache ist die: Sie ist eine nette Dame, aber ein bisschen steif. Du weißt schon - nicht gerade eine Stimmungskanone.« Er parkt den Wagen und berührt dann leicht Mollys Schulter. »Einfach lächeln und nicken, dann wird es schon laufen.« »Wie alt ist sie noch mal?«, murmelt Molly. Sie ärgert sich über sich selbst, weil sie so nervös ist. Was soll's? Es ist doch nur eine sammelwütige alte Dame, die Hilfe dabei braucht, ihr Gerümpel zu entsorgen. Sie hofft nur, dass der Krempel nicht abstoßend ist oder stinkt, wie in den Häusern dieser Messies, die man immer im Fernsehen sieht.
»Ich weiß nicht - alt eben. Übrigens, du siehst hübsch aus«, fügt Jack hinzu.
Molly wirft ihm einen finsteren Blick zu. Sie trägt eine rosafarbene Lands' End Bluse, die Dina ihr für diese Gelegenheit ausgeliehen hat. »Ich erkenne dich kaum wieder«, hat sie sarkastisch bemerkt, als Molly darin aus ihrem Zimmer kam. »Du siehst so ... damenhaft aus.«
Auf Jacks Bitte hat Molly ihren Nasenring herausgenommen und nur zwei Ohrstecker in jedem Ohr gelassen. Sie hat mehr Zeit als sonst mit ihrem Make-up verbracht, hat eine Grundierung aufgetragen, die nicht ganz so geisterhaft blass wirkt, und die Augen nicht ganz so dunkel umrandet. Sie hat sogar einen rosafarbenen Lippenstift gekauft - Maybelline Wet Shine »Rosy Paradise«, ein Name, den sie zum Totlachen findet. Sie hat die vielen Ringe aus dem Trödelladen abgelegt und trägt um den Hals nur das Kettchen mit den Anhängern von ihrem Vater statt der üblichen klobigen Kruzifixe und silbernen Totenköpfe. Ihr Haar ist immer noch schwarz, mit einer weißen Strähne an jeder Seite ihres Gesichts, und auch ihre Fingernägel sind schwarz lackiert. Aber man kann deutlich sehen, dass sie sich Mühe gegeben hat, »mehr wie ein normales menschliches Wesen« auszusehen, wie Dina es ausgedrückt hat.
Nachdem Jack mit seiner »Rettet-Molly«-Aktion für sie in die Bresche gesprungen ist, hat Dina widerwillig zugestimmt, ihr noch eine Chance zu geben. »Bei einer alten Frau den Speicher aufräumen?«, hat sie verächtlich geschnaubt. »Na, bestens. Ich gebe der Sache eine Woche.«
Molly hat von Dina kaum ein Vertrauensvotum erwartet, und sie hat selbst einige Zweifel. Soll sie wirklich einer verschrobenen alten Witwe auf einem zugigen Speicher fünfzig Stunden ihrer Lebenszeit opfern? Kisten durchwühlen, in denen es von Motten und Staubmilben und wer weiß was noch alles wimmelt?
Im Jugendgefängnis würde sie die Zeit mit Gruppentherapie verbringen (immer interessant) und mit The View im Fernsehen (auch nicht langweilig). Sie würde mit anderen Mädchen herumhängen können. Nun erwartet sie zu Hause Dinas Gesellschaft und hier diese alte Dame, die sie auf Schritt und Tritt beobachten wird.
Molly sieht auf ihre Uhr. Sie sind fünf Minuten zu früh dran, dank Jack, der sie ungeduldig zur Eile angetrieben hat. »Nicht vergessen: Blickkontakt. Und immer schön lächeln«, sagt er.
»Du bist so eine Mutti.«
»Weißt du, was dein Problem ist?«
»Dass sich mein Freund wie eine Mutti benimmt?«
»Nein. Dein Problem ist, dass dir wohl nicht klar ist, dass es hier darum geht, deinen Arsch zu retten.«
»Meinen Arsch? Stimmt etwas nicht mit ihm?« Sie tut erstaunt und wackelt mit ihrem Hintern auf dem Autositz herum.
»Hör zu.« Er reibt sich das Kinn. »Meine Mutter hat Vivian nichts vom Jugendgefängnis und alldem erzählt. Die alte Dame glaubt, es geht um ein gemeinnütziges Projekt für die Schule.« »Also weiß sie nichts von meiner kriminellen Vergangenheit? Idiot.«
»Ay diablo«, sagt er, öffnet die Fahrertür und steigt aus. »Kommst du mit mir rein?«
Er wirft die Tür zu, dann geht er um das Auto herum und öffnet die Beifahrertür. »Nein, ich begleite dich nur bis zum Haus.« »Sieh an, was für ein Gentleman!« Sie steigt aus dem Wagen. »Oder tust du das, weil du Angst hast, ich könnte abhauen?« »Ehrlich gesagt, das auch«, antwortet er.
Als sie vor der großen Walnussholztür mit dem riesigen Messingklopfer steht, zögert Molly. Sie dreht sich noch einmal zu Jack um, der bereits wieder im Auto sitzt und in einem Buch blättert. Sie weiß, dass es die zerfledderte Kurzgeschichtensammlung von Junot Díaz ist, die er immer im Handschuhfach hat. Sie stellt sich gerade hin, strafft die Schultern, streicht das Haar zurück, nestelt an dem Kragen ihrer Bluse (Wann hat sie das letzte Mal einen Kragen getragen? Ein Hundehalsband zählt wohl nicht) und betätigt den Türklopfer. Nichts. Sie klopft noch einmal, etwas kräftiger. Dann sieht sie einen Klingelknopf links neben der Tür und drückt ihn. Lautes Glockenläuten ertönt im Haus, und schon Sekunden später öffnet ihr Jacks Mutter, Terry, mit besorgtem Gesichtsausdruck die Tür.
Es ist immer wieder überraschend, Jacks große braune Augen in dem weichen, fein geschnittenen Gesicht seiner Mutter zu sehen. Jack hat ihr versichert, dass sie Terry in dieser Angelegenheit mit im Boot haben - »Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ihr dieses verflixte Speicher-Projekt schon auf der Seele liegt« -, doch Molly ist klar, dass die Dinge in Wirklichkeit komplizierter sind. Terry liebt ihren einzigen Sohn über alles, und sie würde nahezu alles tun, um ihn glücklich zu machen. So gern Jack glauben möchte, dass Terry mit seinem Plan restlos einverstanden ist - Molly weiß, dass er seine Mutter damit überrumpelt hat.
Als Terry in der Tür vor ihr steht, mustert sie Molly von Kopf bis Fuß. »Du hast dich hübsch zurechtgemacht.« »Danke, muss ich wohl sagen«, murmelt Molly. Sie kann nicht feststellen, ob Terry eine Uniform trägt oder nur so langweilig angezogen ist, dass es so aussieht: schwarze Hose, klobige schwarze Schuhe mit Gummisohlen, ein matronenhaft pfirsichfarbenes T-Shirt.
Molly folgt ihr durch einen langen Gang, an dessen Wänden goldgerahmte Ölgemälde und Radierungen hängen. Ein dicker orientalischer Läufer auf dem Fußboden dämpft ihre Schritte.
Der Gang endet an einer verschlossenen Tür.
Terry legt für einen Moment ein Ohr an das Holz und klopft leise. »Vivian?« Sie öffnet die Tür einen Spaltbreit. »Das Mädchen ist hier. Molly Ayer. Ja, okay.«
Sie öffnet die Tür ganz, und sie treten in ein großes, helles Wohnzimmer mit Blick aufs Wasser. Überall stehen antike Möbel, und die Wände sind bis zur Zimmerdecke von Bücherregalen bedeckt. Eine alte Dame in einem schwarzen Kaschmirpullover sitzt neben dem Erkerfenster in einem ausgebleichten roten Ohrensessel, die mit Adern durchzogenen Hände im Schoß gefaltet, eine karierte Wolldecke über den Knien.
Als sie vor ihr stehen, sagt Terry: »Molly, das ist Mrs Daly.« »Hallo«, sagt Molly und streckt höflich die Hand aus, wie sie es von ihrem Vater gelernt hat.
»Hallo.« Die Hand der alten Dame ist trocken und kühl. Mrs Daly ist eine lebhafte, drahtige Frau mit einer schmalen Nase und durchdringenden braunen Augen. Ihr Blick ist so aufmerksam und scharf wie der eines Vogels.
Ihre Haut ist dünn, fast durchscheinend, und sie hat ihr welliges silbernes Haar im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt. Blasse Sommersprossen - oder sind es Altersflecken? - bedecken ihr Gesicht. Die Venen auf ihren Händen und Handgelenken sehen aus wie eine Reliefkarte, und sie hat Dutzende kleiner Fältchen um die Augen. Sie erinnert Molly an die Nonnen in der Katholischen Schule, die sie kurze Zeit in Augusta besucht hat (eine Zwischenstation bei einer ungeeigneten Pflegefamilie).
Die Nonnen wirkten in mancher Hinsicht uralt und in anderer übernatürlich jung. Wie sie hat auch diese Frau eine leicht gebieterische Ausstrahlung, als wäre sie es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Und warum auch nicht?, denkt Molly. Sie ist es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen.
»Also dann. Ich bin in der Küche, falls ihr mich braucht«, sagt Terry und verschwindet durch eine andere Tür.
Die alte Frau beugt sich zu Molly und runzelt leicht die Stirn. »Wie um Himmels willen bekommst du das hin? Diese Haarsträhnen, wie ein Skunk-Streifen«, fragt sie und fasst sich an ihre eigene Schläfe.
»Ähmmm ...« Molly ist überrascht; danach hat sie noch nie jemand gefragt. »Es ist eine Kombination aus Bleichen und Färben.«
»Woher weißt du, wie man das macht?«
»Ich habe ein Video auf YouTube gesehen.«
»YouTube?«
»Im Internet.«
»Aha.« Sie hebt den Kopf. »Computer. Ich bin zu alt, um solchen modernen Unsinn mitzumachen.«
»Ich glaube nicht, dass man hier von Unsinn sprechen kann, schließlich haben Computer unsere ganze Lebensweise verändert «, sagt Molly und lächelt reuevoll, denn ihr ist klar, dass sie sich damit bereits in eine Meinungsverschiedenheit mit ihrer potenziellen Chefin manövriert hat.
»Nicht meine Lebensweise«, erklärt die alte Dame. »Es muss ganz schön zeitraubend sein.«
»Was?«
»Das, was du mit deinem Haar anstellst.«
»Oh, so schlimm ist es nicht. Ich mache das jetzt schon seit einer ganzen Weile.«
»Was ist deine natürliche Haarfarbe, wenn ich fragen darf?« »Das dürfen Sie gerne. Es ist dunkelbraun.«
»Nun, meine natürliche Haarfarbe ist rot.« Molly braucht einen Moment, bis sie merkt, dass Mrs Daly einen kleinen Scherz darüber gemacht hat, dass sie weißhaarig ist.
»Was Sie mit Ihrem Haar gemacht haben, gefällt mir«, kontert sie. »Es steht Ihnen.«
Die alte Frau nickt zustimmend und lehnt sich wieder in ihrem Sessel zurück. Molly spürt, wie ihre Schultern sich ein wenig entspannen. »Entschuldige meine Unhöflichkeit, aber in meinem Alter hat es keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. Du scheinst dich nach einem bestimmten Stil zurechtzumachen. Bist du eine von diesen - wie sagt man noch gleich - Gruftis?«
Molly kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Sozusagen.«
»Die Bluse hast du dir ausgeliehen, vermute ich.«
»Äh ...«
»Das wäre nicht nötig gewesen. Sie steht dir nicht.« Sie gibt Molly ein Zeichen, ihr gegenüber Platz zu nehmen. »Du kannst Vivian zu mir sagen. Ich mochte es noch nie, Mrs Daly genannt zu werden. Mein Mann ist nicht mehr am Leben, weißt du.«
»Das tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Er ist vor acht Jahren gestorben. Immerhin bin ich einundneunzig Jahre alt. Nicht viele von den Leuten, die ich einmal kannte, leben noch.«
Molly ist nicht sicher, was sie antworten soll - es ist doch höflich, Leuten zu sagen, dass sie nicht so alt aussehen, wie sie sind, oder? Sie hätte diese Frau nicht auf einundneunzig geschätzt, aber sie hat auch nicht gerade viele Vergleichsmöglichkeiten.
Die Eltern ihres Vaters sind gestorben, als er noch sehr jung war, und die Eltern ihrer Mutter waren nicht verheiratet, sodass sie ihren Großvater nie kennengelernt hat. Der einzige Großelternteil, an den sie sich erinnert, ist ihre Großmutter mütterlicherseits, und die ist an Krebs gestorben, als Molly drei war.
»Terry hat mir erzählt, dass du bei einer Pflegefamilie lebst«, sagt Vivian. »Bist du eine Waise?«
»Meine Mutter lebt noch, aber - ja, ich betrachte mich als Waise.«
»Aber eigentlich bist du es nicht.«
»Ich finde, wenn man keine Eltern hat, die sich um einen kümmern, kann man sich so nennen, wenn man will.«
Vivian sieht sie lange an, als müsse sie über diese Auffassung nachdenken. »Na schön. Dann erzähl mir doch mal was von dir.«
Molly hat ihr ganzes Leben in Maine verbracht, kein einziges Mal hat sie auch nur die Staatsgrenze überschritten. Sie erinnert sich an Bruchstücke aus ihrer Kindheit auf Indian Island, bevor sie zu ihrer ersten Pflegefamilie kam. An den grauen Wohnwagen, in dem sie mit ihren Eltern lebte, an das Gemeindezentrum mit den vielen Pick-ups, die dort überall parkten, an den Sockalexis Bingo Palace, an die St.-Anne's-Kirche. Sie erinnert sich an eine indianische Puppe aus Maisstroh mit schwarzem Haar und in traditioneller Indianertracht, die auf ihrem Regal saß, obwohl sie die Barbiepuppen, die bei Wohltätigkeitsorganisationen als Spenden eingingen und zu Weihnachten im Gemeindezentrum verteilt wurden, lieber mochte. Natürlich bekam man dort niemals die wirklich beliebten Figuren - wie Cinderella oder Beauty Queen -, sondern eher die kuriosen Einzelstücke, die Schnäppchenjäger im Ausverkauf erstehen: Hot Rod Barbie oder Jungle Barbie. Aber das war egal. So eigentümlich Barbies Aufmachung auch sein mochte, waren ihre besonderen Merkmale doch zuverlässig dieselben: die merkwürdig geformten Füße, jederzeit bereit, in Stilettos zu schlüpfen, der übergroße Busen und der rippenlose Oberkörper, die Stupsnase und die glänzenden Plastikhaare ...
Aber das ist nicht das, was Vivian hören will. Wo soll Molly anfangen? Was kann sie preisgeben? Und hier liegt das Problem: Ihre Geschichte ist keine glückliche Geschichte, und Molly hat die Erfahrung gemacht, dass die Leute entweder davor zurückschrecken oder ihr nicht glauben oder, noch schlimmer: sie bemitleiden. Deshalb hat sie sich angewöhnt, eine gekürzte Version zu erzählen. »Also«, sagt sie, »ich bin von der Seite meines Vaters her eine Penobscot-Indianerin. Als ich klein war, lebten wir in einem Reservat in der Nähe von Old Town.« »Aha. Daher das schwarze Haar und die Stammesbemalung. «
Molly ist bestürzt. Sie hat hier nie einen Zusammenhang gesehen. Hat Vivian recht?
Irgendwann in der achten Klasse, es war ein besonders hartes Schuljahr - wütende, schreiende Pflegeeltern, eifersüchtige Pflegegeschwister, ein Haufen gemeiner Mädchen in der Schule -, besorgte sie sich eine Packung L'Oréal-Zehn-Minuten-Färbemittel und tiefschwarzen Eyeliner und unterzog sich im Familienbadezimmer einer Verwandlung. Eine Freundin, die in der Mall bei Claire's arbeitete, machte ihr am folgenden Wochenende die Piercings - eine Reihe von Löchern auf jeder Seite bis hinauf zum Ohrknorpel, einen Stecker in der Nase und einen Ring durch die Augenbraue (aber der hielt nicht; er entzündete sich bald und musste entfernt werden, die Narbe, die zurückblieb, sieht aus wie ein Spinnennetz). Die Piercings waren der Tropfen, der bei ihrer Pflegefamilie das Fass zum Überlaufen brachte, und man warf sie hinaus. Mission erfüllt.
Molly fährt mit ihrer Geschichte fort - wie ihr Vater starb und warum ihre Mutter sich nicht um sie kümmern konnte und wie sie schließlich bei Ralph und Dina gelandet ist.
»Terry hat erzählt, man hat dich mit einer Art Sozialprojekt beauftragt. Und da kam sie auf die brillante Idee, dass du mir helfen könntest, meinen Speicher zu entrümpeln«, erklärt Vivian. »Sieht aus wie ein schlechtes Geschäft für dich, aber wie kann ich das beurteilen?«
»Ich bin eine Art Ordnungsfanatikerin, ob Sie es glauben oder nicht. Ich mag es, Dinge in Ordnung zu bringen.«
»Dann bist du noch seltsamer, als ich dachte.« Vivian lehnt sich zurück und faltet die Hände. »Ich will dir was sagen. Nach deiner Definition bin ich auch eine Waise, wurde es fast im gleichen Alter wie du. Das haben wir also gemeinsam.«
Molly weiß nicht, was sie antworten soll. Möchte Vivian, dass sie nachfragt? Schwer zu sagen. »Ihre Eltern ...«, fragt sie schließlich vorsichtig, »haben sich nicht um Sie gekümmert?« »Sie haben es versucht. Aber es hat einen Brand gegeben ...« Vivian zuckt mit den Schultern. »Das ist alles so lange her, ich kann mich kaum erinnern. Nun - wann willst du anfangen?«
New York City, 1929
Maisie spürte es zuerst. Sie wollte nicht aufhören zu weinen. Als unsere Mutter krank wurde, war sie erst einen Monat alt gewesen, und seitdem schlief sie bei mir in meinem engen Kinderbett in dem kleinen, fensterlosen Raum, den wir mit unseren Brüdern teilten. Hier war es so dunkel, dass ich mich - wie schon so oft - fragte, ob sich so Blindheit anfühlt; diese schwarze Leere, die alles umfängt. Ich konnte kaum die Gestalten der Jungen erkennen, wahrscheinlich erahnte ich sie nur. Sie wälzten sich unruhig hin und her, waren aber noch nicht wach: Dominick und James, sechsjährige Zwillinge, lagen auf ihrem Lager dicht aneinandergedrängt, um sich gegenseitig zu wärmen.
Ich saß auf meinem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und hielt Maisie so, wie Mam es mir gezeigt hatte, ihren Kopf an meiner Schulter. Ich tat alles, was mir einfiel, um sie zu trösten, alles, was bisher immer funktioniert hatte: Ich streichelte ihren Rücken, fuhr ihr mit zwei Fingern die Nase entlang und summte ihr das Lieblingslied unseres Vaters, »My Singing Bird«, leise ins Ohr: I have heard the blackbird pipe his note, the thrush and the linnet, too / But there's none of them can sing so sweet, my singing bird, as you. Aber sie schrie nur noch lauter, und ihr ganzer Körper verkrampfte sich dabei.
Maisie war achtzehn Monate alt, wog aber nicht mehr als ein Bündel Lumpen. Nur ein paar Wochen nach ihrer Geburt hatte Mam Fieber bekommen und konnte sie nicht mehr stillen. Um Maisie zu ernähren, behalfen wir uns mit warmem, gesüßtem Wasser, gekochten Haferflocken und Milch, wenn wir es uns leisten konnten. Wir alle waren mager. Nahrungsmittel waren knapp; an manchen Tagen hatten wir nicht mehr als ein paar alte Kartoffeln in dünner Brühe. Mam war schon bei guter Gesundheit keine gute Köchin gewesen, und an manchen Tagen versuchte sie nicht einmal, eine Mahlzeit zuzubereiten. Bevor ich kochen lernte, aßen wir die Kartoffeln oft roh direkt aus dem Eimer.
Es war zwei Jahre her, dass wir unsere Heimat an der Westküste Irlands verlassen hatten. Das Leben war auch dort hart gewesen; unser Dad hatte einen Job nach dem anderen gehabt, doch keiner von ihnen hatte genug eingebracht, um uns zu ernähren. Wir wohnten in einem winzigen, nicht heizbaren Steinhaus in Kinvara, einem kleinen Dorf im County Galway.
Viele Leute aus unserer Umgebung flüchteten nach Amerika; wir hörten Geschichten von Orangen, so groß wie Backkartoffeln, üppigen Kornfeldern, die unter einem sonnigen Himmel wogten, von sauberen, trockenen Holzhäusern mit fließendem Wasser und Elektrizität.
Jobs sollte es dort so reichlich geben wie Obst an den Bäumen. Als eine letzte freundliche Tat uns gegenüber - oder auch, um sich selbst von der Belastung ständiger Sorge zu befreien - kratzten Dads Eltern und Geschwister das Geld für eine Schiffspassage für unsere fünfköpfige Familie zusammen, und an einem warmen Frühlingsmorgen gingen wir an Bord der Agnes Pauline zur Überfahrt nach Ellis Island. Die einzige Verbindung, die wir zu unserer Zukunft hatten, war ein auf ein Stück Papier gekritzelter Name. Mein Vater steckte den Zettel in seine Brusttasche, als wir an Bord gingen:
Der Name war der eines Mannes, der zehn Jahre zuvor nach New York ausgewandert war und der nun, seinen Verwandten in Kinvara zufolge, ein angesehenes Restaurant in New York City besaß.
Obwohl wir unser ganzes Leben in einem Dorf am Meer verbracht hatten, war niemand von uns je in ein Boot gestiegen, geschweige denn auf ein Hochseeschiff.
Außer meinem Bruder Dom, der die Konstitution eines Ochsen hatte, waren wir alle während fast der gesamten Reise seekrank. Am schlimmsten war es für Mam, die unterwegs feststellte, dass sie wieder schwanger war, und kaum einen Bissen bei sich behalten konnte. Aber wenn ich unsere enge, dunkle Kabine auf dem Zwischendeck verließ und vom Unterdeck aus auf das Wasser blickte, das um den Kiel der Agnes Pauline schäumte, spürte ich dennoch Zuversicht: Ganz sicher, dachte ich, würden wir in Amerika einen Platz zum Leben finden.
Der Morgen, an dem wir im Hafen von New York ankamen, war so neblig und trüb, dass meine Brüder und ich kaum die gespenstischen Umrisse der Freiheitsstatue ausmachen konnten. Wir standen an der Reling und starrten angestrengt durch den Nieselregen auf den nahe gelegenen Kai, dicht gedrängt in langen Reihen von Menschen, die alle darauf warteten, kontrolliert, befragt und abgefertigt zu werden, bis man uns endlich unter Hunderten anderen Einwanderern an Land ließ. Um mich herum hörte ich Sprachen, die in meinen Ohren wie die Laute von Tieren auf einem Bauernhof klangen.
Ich konnte keine wogenden Kornfelder entdecken und auch keine übergroßen Orangen. Wir nahmen die Fähre nach Manhattan und liefen durch die Straßen, Mam und ich taumelten unter der Last unserer Besitztümer, die Zwillinge quengelten und wollten auf den Arm genommen werden. Dad trug einen Koffer unter jedem Arm und hielt in einer Hand einen Stadtplan, mit der anderen umklammerte er den zerknitterten Zettel mit der Aufschrift Mark Flannery, The Irish Rose, Delancey Street, geschrieben in der unleserlichen Handschrift seiner Mutter. Nachdem wir uns mehrere Male verlaufen hatten, gab Dad es auf, den Stadtplan zu benutzen, und begann, die Leute auf der Straße nach dem Weg zu fragen. Meistens wandten sie sich ab, ohne zu antworten, ein Mann spuckte vor uns aus, das Gesicht von Hass verzerrt.
Doch schließlich erreichten wir unser Ziel - einen irischen Pub, so schäbig wie die schlimmsten Kneipen in den Seitenstraßen von Galway.
Mam, die Jungen und ich warteten auf dem Gehweg, während Dad hineinging. Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft war feucht, und Dampf stieg von der nassen Straße auf.
Wir standen da in unserer klammen Kleidung, die steif war von getrocknetem Schweiß und Schmutz, kratzten unsere verschorften Köpfe (Läuse waren auf dem Schiff ebenso allgegenwärtig gewesen wie die Seekrankheit) und spürten die Blasen an unseren Füßen. Gran hatte uns vor unserer Abreise neue Schuhe gekauft, aber Mam hatte uns nicht erlaubt, sie anzuziehen, bevor wir amerikanischen Boden betraten.
Worauf hatten wir uns da nur eingelassen? Abgesehen von dieser jämmerlichen Nachbildung eines irischen Pubs, vor der wir hier standen, hatte nichts in diesem Land auch nur die leiseste Ähnlichkeit mit der Welt, die wir kannten.
Mark Flannery hatte einen Brief von seiner Schwester erhalten und erwartete uns. Er stellte meinen Vater als Tellerwäscher ein und brachte uns in eine Wohngegend, wie ich sie noch nie gesehen hatte - große Backsteinhäuser, dicht aneinandergebaut in engen Straßen, in denen es von Menschen nur so wimmelte.
Er wusste von einer Wohnung, die für zehn Dollar pro Monat zu mieten war, im dritten Stock eines fünfgeschossigen Mietshauses in der Elizabeth Street.
Nachdem er uns dorthin gebracht und an der Tür kehrtgemacht hatte, folgten wir dem polnischen Vermieter, Mr Kaminski, durch eine geflieste Eingangshalle und dann eine Treppe hinauf. Während wir uns bei brütender Hitze mit unserem Gepäck durch das dunkle Treppenhaus kämpften, hielt er uns einen Vortrag über die Tugenden Sauberkeit, Fleiß und Höflichkeit, von denen er offensichtlich annahm, dass sie uns fehlten.
»Ich hab kein Problem mit Iren, solange ihr keine Probleme macht«, sagte er mit dröhnender Stimme. Ich blickte zu Dad und bemerkte in seinem Gesicht einen Ausdruck, den ich nie zuvor gesehen hatte, aber sofort verstand: Es war der Schock, als er erkannte, dass ihm hier, an diesem fremden Ort, Misstrauen entgegenschlagen würde, sobald er nur den Mund aufmachte.
Der Vermieter nannte unser neues Zuhause ein »Railroad-Apartment«: Jeder Raum war mit dem nächsten verbunden wie die Waggons eines Zuges. Das winzige Schlafzimmer meiner Eltern, mit Blick auf die Rückwand eines anderen Gebäudes, bildete das eine Ende; das nächste Zimmer war der Raum, den ich mit den Jungen und später auch mit Maisie teilte, dann kam die Küche, dann ein Wohnzimmer mit zwei Fenstern zu der betriebsamen Straße hin. Mr Kaminski zog an einer Kette, die von der Zimmerdecke herabhing, und eine Glühbirne verströmte schwaches Licht, warf ihren fahlen Schein auf einen zerkratzten Holztisch, eine kleines, fleckiges Spülbecken mit Kaltwasserhahn, einen Gasherd. Im Flur, außerhalb der Wohnung, gebe es ein Badezimmer, das wir mit unseren Nachbarn teilen würden - ein kinderloses deutsches Ehepaar mit Namen Schatzman -, erklärte uns der Vermieter.
»Sie verhalten sich ruhig und erwarten von euch dasselbe«, sagte er und blickte stirnrunzelnd auf meine Brüder, die, unruhig und zappelig, miteinander rangelten.
Trotz der Missbilligung unseres Vermieters, der drückenden Hitze, der düsteren Zimmer und der Kakophonie fremder Geräusche, so ungewohnt für meine ans Landleben gewöhnten Ohren, spürte ich wieder Hoffnung in mir aufkeimen.
Ich blickte mich in unseren vier Räumen um, und es schien mir tatsächlich, als stünden wir vor einem Neuanfang, als hätten wir das Elend unseres Lebens in Kinvara hinter uns gelassen: die Mutlosigkeit, die tief in uns steckte, die armselige, enge Behausung, die Alkoholsucht unseres Vaters - hatte ich die schon erwähnt? -, die jeden noch so kleinen Gewinn aufs Spiel setzte. Hier hatte unser Dad die Aussicht auf einen Job.
Wir konnten an einer Kette ziehen, um das Licht einzuschalten, und bekamen Wasser aus der Leitung, wenn wir an einem Knauf drehten. Gleich auf der anderen Seite der Wohnungstür, in einem trockenen Hausflur, hatten wir eine Toilette und eine Badewanne. So bescheiden das alles auch war, es bedeutete doch die Chance auf einen Neubeginn.
Ich weiß nicht, wie viel von meiner Erinnerung an diese Zeit von meinem jetzigen Alter beeinflusst und wie viel davon von der Sichtweise meines damaligen Alters geprägt ist - sieben Jahre war ich, als wir Kinvara verließen, und neun in der Nacht, als Maisie nicht aufhörte zu weinen, in der Nacht, die mein Leben sogar noch mehr veränderte als der Tag, an dem wir Irland verließen. Noch heute, zweiundachtzig Jahre später, verfolgt mich ihr lautes Weinen. Hätte ich doch mehr darüber nachgedacht, warum sie weinte, anstatt nur zu versuchen, sie zu beruhigen. Hätte ich doch mehr darüber nachgedacht.
Ich fürchtete mich so sehr davor, unser Leben könnte erneut zerstört werden, dass ich vor den Dingen, die mir am meisten Angst machten, die Augen verschloss. Die fortgesetzte Liebe unseres Vaters zum Alkohol, an der auch das Leben in einem anderen Land nichts ändern konnte; Mams düstere Stimmungen, ihre Wutanfälle, die unaufhörlichen Streitereien zwischen den beiden. Ich wollte, dass alles in Ordnung war.
Ich hielt Maisie an meine Brust gedrückt und summte an ihrem Ohr - there's none of them can sing so sweet, my singing bird, as you -, um sie zu beruhigen. Als sie endlich aufhörte zu weinen, empfand ich nur Erleichterung. Ich verstand nicht, dass Maisie uns wie der Kanarienvogel in einem Bergwerk vor einer Gefahr hatte warnen wollen. Aber es war zu spät.
New York City, 1929
Drei Tage nach dem Brand weckt mich Mr Schatzman, um mir zu sagen, dass er und Mrs Schatzman die perfekte Lösung gefunden haben (ja, perfekt ist tatsächlich das Wort, das er benutzt, und ich bekomme in diesem Moment die grausame Macht von Übertreibungen zu spüren).
Sie werden mich zur Children's Aid Society bringen, einem Ort mit freundlichen Sozialarbeitern, unter deren Obhut alle Kinder ein Dach über dem Kopf haben und genug zu essen bekommen.
»Ich kann da nicht hingehen«, sage ich. »Meine Mutter wird mich brauchen, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt.« Ich weiß, dass mein Vater und meine Brüder tot sind. Ich habe sie im Hausflur gesehen, von Laken bedeckt. Doch meine Mutter hat man auf einer Krankentrage fortgebracht, und ich habe Maisie gesehen, die wimmerte und zappelte, als ein Mann in Uniform sie durch den Flur trug.
Er schüttelt den Kopf. »Sie wird nicht zurückkommen.«
»Aber Maisie ...«
»Deine Schwester Margaret hat es nicht geschafft«, sagt er und wendet sich ab. Meine Mutter, mein Vater, zwei Brüder und eine Schwester, die mir so lieb ist wie das eigene Leben - es gibt keine Worte für meinen Verlust.
Und selbst wenn ich Worte fände, um zu beschreiben, was ich fühle, gäbe es niemanden, dem ich mich anvertrauen könnte. Alle, die mir auf der Welt - in dieser neuen Welt - nahestanden, sind tot oder verschwunden. In der Nacht des Brandes, der Nacht, in der sie mich zu sich holten, konnte ich Mrs Schatzman in ihrem Schlafzimmer hören, wie sie mit ihrem Mann darüber sprach, was sie mit mir tun sollten.
»Ich habe nicht darum gebeten«, zischte sie, und ich konnte ihre Worte so deutlich hören, als wären wir im selben Zimmer. »Diese Iren! Zu viele Kinder auf viel zu engem Raum. Das einzig Überraschende ist, dass so etwas nicht häufiger passiert.«
Während ich sie durch die Wand hörte, breitete sich ein dumpfes Gefühl von Leere in mir aus. Ich habe nicht darum gebeten.
Es war erst ein paar Stunden her, dass mein Dad von seinem Job in der Kneipe nach Hause gekommen war. Er hatte sich umgezogen, wie er es immer nach der Arbeit tat, wobei er bei jeder Schicht, die er ablegte, einen widerlichen Geruch verströmte.
Mam flickte einen Stapel Kleider, womit sie ein wenig Geld verdiente.
Dominick schälte Kartoffeln. James spielte in einer Zimmerecke.
Ich saß mit Maisie vor einem Stück Papier und zeichnete, malte Buchstaben für sie, ihr warmer Körper wie eine Wärmflasche auf meinem Schoß, ihre klebrigen Finger in meinem Haar.
Ich versuche, den Schrecken dessen, was geschehen ist, zu vergessen. Oder - vielleicht ist vergessen das falsche Wort. Wie kann ich vergessen? Und dennoch - wie kann ich mich auch nur einen Schritt vorwärtsbewegen, ohne die Verzweiflung, die ich spüre, zu unterdrücken? Wenn ich meine Augen schließe, höre ich Maisies Weinen und Mams Schreie, ich rieche den beißenden Rauch, fühle die Hitze des Feuers auf meiner Haut, und ich fahre hoch auf meinem Lager in der Stube der Schatzmans, in Schweiß gebadet.
Die Eltern meiner Mutter sind tot, ihre Brüder sind nach Europa gegangen, um dort bei der Armee zu dienen, und ich habe keine Ahnung, wie ich sie finden könnte. Aber mir fällt ein, und das sage ich auch zu Mr Schatzman, dass man versuchen könnte, sich mit der Mutter und der Schwester meines Vaters in Irland in Verbindung zu setzen, auch wenn wir keinen Kontakt hatten, seit wir in dieses Land gekommen sind.
Ich habe weder je einen Brief von meiner Großmutter gesehen noch meinen Vater dabei beobachtet, wie er einen schrieb. Unser Leben in New York war so trostlos, und wir klammerten uns mit so unsicherem Griff daran fest, dass ich bezweifle, dass es etwas gab, wovon mein Vater gerne berichtet hätte. Ich weiß kaum mehr als den Namen unseres Dorfes und den Familiennamen meines Vaters - obwohl diese Informationen vielleicht ausreichen würden.
Aber Mr Schatzman schüttelt stirnrunzelnd den Kopf, und in diesem Moment wird mir bewusst, wie einsam ich bin. Es gibt keinen Erwachsenen auf dieser Seite des Atlantiks, der irgendein Interesse an mir hat, niemanden, der mich auf ein Schiff bringen oder die Überfahrt bezahlen könnte. Ich bin eine Last für die Gesellschaft, und niemand ist für mich verantwortlich. »Du da - das irische Mädchen. Hier rüber.« Eine dünne, missmutig dreinblickende Oberin in weißer Haube winkt mich mit ihrem knochigen Zeigefinger zu sich. Sie weiß wohl aus den Papieren, die Mr Schatzman für mich ausgefüllt hat, als er mich vor ein paar Wochen hierher zur Children's Aid Society brachte, dass ich Irin bin. Oder ist es mein immer noch starker Akzent? »Hmm«, sagt sie und schürzt die Lippen, als ich vor ihr stehe. »Rote Haare.«
»Bedauernswert«, sagt die mollige Frau neben ihr und seufzt. »Und diese Sommersprossen. In ihrem Alter ist es ohnehin schon schwer unterzukommen.«
Die Knochige leckt sich den Daumen und streicht mir damit das Haar aus dem Gesicht. »Du willst sie ja nicht gleich verschrecken, nicht wahr? Du musst es immer zusammengebunden tragen. Wenn du ordentlich aussiehst und dich wohlgesittet verhältst, werden sie vielleicht nicht so schnell ein Urteil fällen.«
Sie knöpft mir die Ärmel zu, und als sie sich herunterbeugt, um mir meine schwarzen Schuhe neu zu binden, steigt ein modriger Geruch von ihrer Haube auf. »Es ist unerlässlich, dass du präsentabel aussiehst. Wie die Art Mädchen, die eine Frau gern bei sich im Haus hat. Sauber und höflich. Aber nicht zu ...« Sie wirft der anderen einen Blick zu.
»Zu was?«, frage ich.
»Manche Frauen nehmen es nicht so gut auf, wenn ein Mädchen, das mit ihnen unter einem Dach schläft, zu hübsch ist. Nicht, dass du ... aber immerhin.« Sie zeigt auf meine Halskette. »Was ist das?«
Ich greife nach dem keltischen Claddagh-Kreuz aus Zinn, das ich trage, seit ich sechs bin, und folge den Umrissen des Herzen in seiner Mitte mit dem Finger. »Ein irisches Kreuz.« »Es ist nicht erlaubt, Andenken mit in den Zug zu nehmen.« Mein Herz klopft so sehr, dass ich glaube, es hören zu können. »Es hat meiner Gran gehört.«
Die beiden Frauen starren auf das Kreuz, und ich merke, dass sie zögern, dass sie versuchen zu entscheiden, was zu tun ist. »Sie hat es mir in Irland geschenkt, bevor wir hierherkamen. Es ist - es ist das Einzige, was ich habe.« Das ist die Wahrheit, aber ich sage es auch, weil ich denke, dass es sie umstimmen wird. Und das tut es auch.
Wir hören den Zug, bevor wir ihn sehen können. Ein leises Brummen, ein Rumpeln vom Boden her, ein heiseres Pfeifen, zunächst schwach und dann immer lauter, als der Zug sich nähert. Wir recken die Hälse, um auf die Schienen blicken zu können (auch als eine unserer Betreuerinnen, Mrs Scatcherd, mit ihrer schrillen Stimme schreit: »Kin-der! Auf eure Plätze, Kinder!«), und plötzlich steht er da: Eine schwarze Lokomotive ragt über uns auf, wirft ihren Schatten über den Bahnsteig und stößt zischend Dampf aus wie ein gewaltiges, keuchendes Tier. auch nicht.«
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Durch die Wand ihres Zimmers kann Molly hören, wie ihre Pflegeeltern nebenan im Wohnzimmer über sie sprechen. »So war das nicht ausgemacht«, sagt Dina. »Wäre mir klar gewesen, dass sie so viele Probleme hat, hätte ich niemals zugestimmt.«
»Sicher.« Ralphs Stimme klingt matt. Molly weiß, dass es seine Idee war, ein Kind in Pflege zu nehmen. Vor langer Zeit, als er ein »schwieriger Jugendlicher« war, wie er es einmal ohne weitere Erklärung genannt hat, meldete ein Sozialarbeiter seiner Schule ihn für das Big-Brothers-Mentorenprogramm an.
Er hatte immer das Gefühl, dass sein Mentor, sein großer Bruder, ihn auf Kurs hielt. Doch Dina ist Molly gegenüber von Anfang an misstrauisch gewesen. Dass die beiden vor Molly einen Jungen aufgenommen hatten, der versuchte, die Grundschule in Brand zu setzen, machte die Sache auch nicht besser.
»Ich habe genug Stress bei der Arbeit«, sagt Dina, und ihre Stimme wird lauter, »ich brauche diesen Scheiß nicht auch noch zu Hause.«
Dina arbeitet als Einsatzkoordinatorin beim Polizeirevier von Spruce Harbor, und soweit Molly das beurteilen kann, hält sich der Stress dort in Grenzen - ein paar betrunkene Autofahrer, gelegentliche Schlägereien, Bagatelldiebstähle, Unfälle. Für eine Einsatzkoordinatorin ist Spruce Harbor vermutlich der am wenigsten aufreibende Arbeitsort, den man sich vorstellen kann.
Aber Dina ist neurotisch veranlagt. Die nichtigsten Kleinigkeiten gehen ihr auf die Nerven. Sie scheint immer zu erwarten, dass alles gut geht, und wenn es das einmal nicht tut - was natürlich ziemlich oft vorkommt -, ist sie überrascht und gekränkt.
Bei Molly ist das Gegenteil der Fall. In ihrem siebzehnjährigen Leben ist so vieles schiefgelaufen, dass sie es nicht mehr anders erwartet. Wenn aber einmal etwas gutläuft, weiß sie nicht, was sie davon halten soll.
Genau das ist ihr mit Jack passiert. Als Molly letztes Jahr auf die Mount Desert Island High School wechselte, schienen die meisten Schüler der zehnten Klasse sich zu bemühen, ihr aus dem Weg zu gehen. Jeder hatte seine Freunde, seine Clique, und sie passte nirgendwo dazu. Natürlich hat sie es ihnen auch nicht gerade leicht gemacht; ihrer Erfahrung nach ist »tough und unnahbar« immer besser als »emotional und verletzlich«, und sie trägt ihr Goth-Image wie eine schützende Rüstung. Jack war der Einzige, der versuchte, zu ihr durchzudringen.
Es war Mitte Oktober im Sozialkundeunterricht. Als sie sich für ein Projekt zu Teams zusammenfinden sollten, blieb Molly, wie gewöhnlich, übrig. Jack fragte sie, ob sie sich seiner Gruppe anschließen wolle. Seine Partnerin, Jody, war davon sichtlich wenig begeistert. Während der gesamten Unterrichtsstunde war Molly auf der Hut. Warum war er so freundlich? Was wollte er von ihr? War er einer von denen, die Spaß daran haben, mit Außenseiterinnen Spielchen zu spielen? Was auch immer seine Beweggründe waren, bei ihr würde er nicht weit kommen.
Sie stand mit verschränkten Armen und hochgezogenen Schultern da, das dunkle, borstige Haar fiel ihr über die Augen.
Sie zuckte nur die Achseln und brummte unverständlich, wenn Jack sie etwas fragte, obwohl sie der Diskussion die ganze Zeit folgte und auch ihren Arbeitsanteil leistete. »Dieses Mädchen ist total seltsam«, hörte sie Jody murmeln, als sie nach dem Läuten den Klassenraum verließen. »Die ist ja richtig unheimlich.«
Als Molly sich umdrehte und Jacks Blick begegnete, überraschte er sie mit einem Lächeln. »Ich finde sie irgendwie toll«, sagte er und sah ihr in die Augen. Zum ersten Mal, seit sie auf dieser Schule war, konnte sie nicht anders: Sie lächelte zurück.
Während der folgenden Monate schnappte Molly einige Bruchstücke von Jacks Geschichte auf. Sein Vater war ein Gastarbeiter aus der Dominikanischen Republik, den seine Mutter beim Blaubeerensammeln in Cherryfield kennengelernt hatte. Als sie schwanger wurde, kehrte er zurück in seinen Inselstaat, wo er mit einer Einheimischen zusammenzog und sie vergaß. Jacks Mutter, die nie geheiratet hat, arbeitet für eine reiche alte Dame, die in einer Villa an der Küste lebt.
Nach allen gesellschaftlichen Regeln müsste Jack auch ein Außenseiter sein, aber das ist er nicht.
Es gibt ein paar wichtige Dinge, die ihm zugutekommen: seine geschickten Pässe auf dem Fußballfeld, ein umwerfendes Lächeln, große, braune Kuhaugen und unverschämt lange Wimpern. Und obwohl er sich selbst nicht so ernst nimmt, ist Molly sicher, dass er um einiges klüger ist, als er zugibt, vielleicht sogar klüger, als ihm selbst klar ist. Jacks sportliche Leistungen auf dem Fußballfeld sind Molly völlig gleichgültig, aber Klugheit respektiert sie. (Die Kuhaugen sind ein zusätzlicher Pluspunkt.)
Ihr eigener Wissensdurst ist eins der Dinge, die sie immer vor dem Durchdrehen bewahrt haben. Goth zu sein befreit sie von allen konventionellen Erwartungen, und sie hat festgestellt, dass es ihr die Freiheit verschafft, absonderlich zu sein, sogar auf mehrere Arten zugleich.
Sie liest ununterbrochen - auf den Schulfluren, in der Cafeteria -, meistens Romane mit verunsicherten Protagonisten: Die Selbstmord-Schwestern, Der Fänger im Roggen, Die Glasglocke.
Sie schreibt Wörter in ihr Notizbuch, weil sie ihren Klang mag: Xanthippe, verzagt, Talisman, Muhme, enervierend, kriecherisch ...
Als Neuankömmling hat Molly die Distanz, die ihr Image ihr verschafft hat, gefallen, sie mochte die Skepsis und das Misstrauen, die sie in den Augen ihrer Mitschüler lesen konnte.
Aber auch wenn sie es ungern zugibt, fühlt sie sich in letzter Zeit von diesem Image eher eingeengt. Jeden Morgen dauert es Ewigkeiten, bis sie ihren Look richtig hinbekommt, und die Rituale, die früher voller Bedeutung für sie waren - das Haar pech schwarz zu färben mit violetten oder weißen Strähnen, die Augen mit Kajalstift schwarz zu umranden, ein Make-up aufzutragen, das um einige Nuancen heller ausfällt als ihre natürliche Hautfarbe, sich nacheinander in verschiedene Einzelteile unbequemer Kleidung zu zwängen -, das alles lässt sie jetzt ungeduldig werden.
Sie kommt sich vor wie ein Zirkusclown, der eines Morgens aufwacht und plötzlich seine rote Clownsnase nicht mehr aufsetzen will. Die meisten Menschen müssen nicht so viel Aufwand treiben, um ihrer Rolle treu zu bleiben. Warum sie? Sie stellt sich vor, dass sie sich an ihrem nächsten Wohnort - denn es gibt immer einen nächsten Wohnort, eine neue Pflegefamilie, eine neue Schule - ein anderes Image zulegen wird, eins, das einfacher zu pflegen ist.
Grunge? Sexbiene? Die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu eher früher als später kommen wird, wächst mit jeder Minute. Dina will Molly schon seit einiger Zeit loswerden, und jetzt hat sie einen guten Vorwand. Ralph hat seine Glaubwürdigkeit für Mollys Verhalten riskiert; er hat sich sehr bemüht, Dina davon zu überzeugen, dass sich hinter der grimmigen Fassade aus pechschwarzem Haar und hellem Make-up ein unschuldiges Kind verbirgt. Nun, mit Ralphs Glaubwürdigkeit ist es jetzt vorbei.
Molly begibt sich vor ihrem Bett auf alle viere, hebt den rüschengesäumten Überwurf leicht an und zieht die beiden bunten Reisetaschen hervor, die Ralph im Ausverkauf beim L. L.Bean Outlet in Ellsworth für sie erstanden hat (die rote trägt den Schriftzug »Braden«, auf der mit dem orangefarbenen Hawaii- Muster steht »Ashley« - ob die Taschen wegen ihrer Farben, ihres Stils oder dieser idiotischen weißen Aufschriften von den Kunden verschmäht worden sind, weiß Molly nicht).
Als sie die oberste Schublade ihrer Kommode aufzieht, hört sie ein rhythmisches Trommeln unter der Bettdecke, das sich gleich darauf als eine scheppernde Version von Daddy Yankees Impacto entpuppt. »So weißt du immer, dass ich es bin, und gehst an dein verdammtes Telefon«, hat Jack erklärt, als er ihr den Klingelton besorgt hat.
»Hola, mi amigo«, sagt sie, als sie das Handy endlich gefunden hat.
»Hey, was geht, chica?«
»Ach, du weißt schon. Dina ist im Moment nicht sehr glücklich. «
»Echt?«
»Ja. Es ist ziemlich schlimm.«
»Wie schlimm?«
»Tja, ich glaube, ich bin hier raus.« Sie spürt einen Kloß im Hals. Das überrascht sie, schließlich hat sie schon so viele ganz ähnliche Situationen erlebt.
»Nee«, sagt er. »Das glaube ich nicht.«
»Doch«, erwidert sie, während sie ein Bündel Socken und Unterwäsche in die Braden-Tasche wirft. »Ich kann hören, wie sie nebenan darüber sprechen.«
»Aber du musst diese Sozialstunden ableisten.«
»Das wird nicht passieren.« Sie nimmt ihr Amulett, das mit der Halskette in einem verworrenen Knäuel auf der Kommode liegt, und versucht die Knoten zu lösen, indem sie die Goldkette zwischen ihren Fingern reibt. »Dina sagt, dass niemand mich nehmen wird. Ich bin nicht vertrauenswürdig.« Das Knäuel lockert sich unter ihrem Daumen, und sie zieht die beiden Enden auseinander.
»Ist schon okay. Ich habe gehört, das Jugendgefängnis ist nicht so schlimm. Und es ist ja auch nur für ein paar Monate. «
»Aber - du hast dieses Buch nicht gestohlen.«
Sie klemmt das Handy zwischen Ohr und Schulter und legt sich die Halskette um, nestelt am Verschluss und blickt dabei in den Spiegel über der Kommode. Schwarze Schminke ist unter ihren Augen verlaufen, sodass sie aussieht wie ein Football- Spieler.
»Stimmt's, Molly?«
Die Sache ist - sie hat es gestohlen. Oder es zumindest versucht.
Es ist ihr Lieblingsroman, Jane Eyre, und sie wollte ihn haben, wollte das Buch besitzen. Sherman's Bookstore in Bar Harbor hatte es nicht vorrätig, und sie war zu schüchtern, um den Buchhändler zu bitten, es zu bestellen. Dina würde ihr niemals ihre Kreditkartennummer geben, um es im Internet zu kaufen. Sie hatte sich noch nie etwas so sehr gewünscht.
(Na ja ... schon seit langer Zeit nicht mehr.) So war sie in der Bibliothek gelandet, hatte zwischen den engen Regalreihen gekniet, drei Exemplare des Romans, zwei Taschenbücher und ein Hardcover, in dem Fach vor ihr. Das Hardcover hatte sie schon zweimal mitgenommen, war zum Tresen gegangen und hatte es mit ihrer Bibliothekskarte ausgeliehen. Sie nahm die drei Bücher aus dem Regal, wog sie in ihren Händen. Dann schob sie das Hardcover wieder in die Reihe der Bücher, neben Sakrileg. Das neuere der beiden Taschenbuchexemplare stellte sie ebenfalls zurück.
Das Exemplar, das sie unter den Bund ihrer Jeans steckte, war alt und zerlesen, die Seiten vergilbt mit Passagen, die jemand mit Bleistift markiert hatte. Der billige Einband löste sich bereits vom Innenteil, der Kleber war vertrocknet. Beim jährlichen Bücherflohmarkt der Bibliothek hätte dieses Buch höchstens zehn Cent eingebracht. Niemand würde es vermissen, dachte Molly, schließlich gab es noch die beiden anderen, neueren Exemplare. Aber die Bibliothek hatte kürzlich Magnetstreifen als Diebstahlschutz eingeführt, und vor ein paar Monaten hatten vier Freiwillige - ältere Damen, die sich hingebungsvoll um die Belange der Spruce Harbor Library kümmerten - mehrere Wochen damit verbracht, diese Streifen an den Innenseiten der Umschläge aller elftausend Bücher anzubringen. Als Molly also an diesem Tag das Gebäude verlassen wollte und durch das Tor trat, von dem sie nicht einmal wusste, dass es mit einer Diebstahlsicherung ausgerüstet war, ertönte ein lautes, beharrliches Piepen, bis die Leiterin der Bibliothek, Susan LeBlanc, herbeigeschossen kam wie ein Falke im Zielflug.
Molly gab alles zu - das heißt, zunächst versuchte sie zu erklären, sie habe das Buch nur ausleihen wollen. Aber davon wollte Susan LeBlanc nichts hören. »Du meine Güte, verkauf mich nicht für blöd«, schimpfte sie. »Ich habe dich beobachtet. Da dachte ich mir schon, dass du irgendwas im Schilde führst.« Und welche Schande es sei, dass ihre Vermutung sich bewahrheitet habe! Sie wäre gerne positiv überrascht worden, wenigstens dieses eine Mal.
»Oh, Scheiße. Echt?« Jack seufzt.
Molly schaut in den Spiegel und streicht mit dem Finger über die Anhänger an der Kette um ihren Hals. Sie trägt sie nicht mehr oft, doch jedes Mal, wenn etwas passiert und sie weiß, dass sie bald wieder unterwegs sein wird, legt sie sie an. Die Kette hat sie in einem Billigladen, Marden's, in Ellsworth gekauft, um die drei Anhänger - ein blaugrüner Fisch aus Emaille, ein Rabe aus Zinn und ein kleiner brauner Bär - daran zu befestigen. Die hat sie von ihrem Vater zum achten Geburtstag bekommen.
In einer Nacht wenige Wochen danach kam er bei einem Autounfall ums Leben, als sich sein Wagen bei viel zu hoher Geschwindigkeit auf der eisglatten Interstate-95 überschlug. Ihre Mutter, gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt, geriet durch dieses Ereignis in eine Abwärtsspirale, aus der sie nicht wieder herausfand. An ihrem nächsten Geburtstag lebte Molly bei einer neuen Familie, und ihre Mutter saß im Gefängnis. Die Anhänger sind alles, was ihr von ihrem früheren Leben geblieben ist.
Jack ist ein netter Kerl. Aber das, was jetzt geschieht, hat sie erwartet. Und wie alle anderen - Sozialarbeiter, Lehrer, Pflegeeltern - wird auch er irgendwann genug haben, sich betrogen fühlen, erkennen, dass Molly mehr Ärger verursacht, als sie wert ist. So gern sie sich auf ihn einlassen würde und so sehr sie ihn glauben lässt, dass sie das tut, hat sie sich das nie wirklich erlaubt.
Man kann nicht unbedingt von Täuschung sprechen, es ist nur so, dass ein Teil von ihr immer darauf bedacht ist, sich zurückzuhalten. Sie hat gelernt, dass sie ihre Gefühle kontrollieren kann, indem sie sich ihren Brustkorb als eine große Kiste mit einem Vorhängeschloss vorstellt. Alle verirrten und unbeherrschbaren Gefühle, jeden unberechenbaren Anflug von Traurigkeit oder Bedauern, stopft sie da hinein. Dann verschließt sie die Kiste.
Auch Ralph hat versucht, das Gute in ihr zu sehen. Das ist seine Art; er sieht es sogar, wenn es nicht da ist. Einerseits ist Molly dankbar für das Vertrauen, das er in sie setzt, andererseits hat sie auch Zweifel, dass sie sich darauf verlassen kann. Da ist es fast besser mit Dina, die aus ihrem Argwohn keinen Hehl macht. Es ist einfacher, davon auszugehen, dass der andere einen auf dem Kieker hat, als mit der Enttäuschung fertigzuwerden, wenn man von ihm fallengelassen wird.
»Jane Eyre?«, fragt Jack.
»Was tut das zur Sache?«
»Ich hätte es dir gekauft.«
»Schon klar.« Selbst jetzt, da sie all diesen Ärger hat und man sie wahrscheinlich fortschicken wird, weiß sie, dass sie Jack niemals gebeten hätte, das Buch zu kaufen. Wenn es etwas gibt, das sie an der Tatsache, dass sie ein Pflegekind ist, am meisten hasst, dann ist das die Abhängigkeit von Leuten, die sie kaum kennt, und die ständige Gefahr, von ihren Launen verletzt zu werden. Sie hat gelernt, von niemandem irgendwas zu erwarten. Ihre Geburtstage werden häufig vergessen, sie ist diejenige, an die man sich immer zuletzt erinnert. Sie hat sich mit dem zufriedenzugeben, was sie bekommt, und das ist selten das, was sie sich wünscht.
»Du bist so verdammt eigensinnig!«, sagt Jack, als habe er ihre Gedanken erraten. »Was hast du dir da für einen Ärger eingehandelt!«
Jemand klopft laut an Mollys Tür. Sie hält das Telefon vor ihre Brust und sieht zu, wie sich der Türknauf dreht. Das ist auch so eine Sache - kein Türschloss, keine Privatsphäre.
Dina streckt ihren Kopf ins Zimmer, die rosa geschminkten Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. »Wir müssen uns mal unterhalten.«
»In Ordnung. Lass mich nur schnell zu Ende telefonieren.«
»Mit wem sprichst du?«
Molly zögert. Muss sie darauf antworten? Ach, zum Teufel. »Mit Jack.«
Dina wirft ihr einen finsteren Blick zu. »Beeil dich. Wir haben nicht den ganzen Abend Zeit.«
»Ich komme gleich.« Molly starrt Dina so lange ausdruckslos an, bis ihr Kopf wieder aus dem Türrahmen verschwindet, dann hebt sie das Telefon wieder ans Ohr. »Zeit für das Exekutionskommando. «
»Nein, nein, hör zu«, sagt Jack. »Ich habe eine Idee. Sie ist ein bisschen ... verrückt.«
»Eine Idee?«, erwidert sie missmutig. »Ich muss los.«
»Ich habe mit meiner Mutter gesprochen ...«
»Jack, ist das dein Ernst? Du hast es ihr erzählt? Sie hasst mich doch ohnehin schon.«
»Langsam, hör mir zu. Erstens, sie hasst dich nicht. Und zweitens, sie hat mit der Dame gesprochen, für die sie arbeitet, und es sieht ganz so aus, als könntest du deine Stunden bei ihr abarbeiten.«
»Wie bitte?«
»Genau.«
»Aber - wie?«
»Na ja, du weißt ja, meine Mutter ist die schlechteste Haushälterin der Welt.«
Molly mag die Art, wie er das sagt - sachlich, ohne zu bewerten, als würde er nur erwähnen, dass seine Mutter Linkshänderin ist.
»Also, die Dame möchte ihren Speicher entrümpeln - alte Aktenordner und Kisten und solchen Kram, und für meine Mutter ist das der schlimmste Alptraum. Da hatte ich die Idee, dass du das machen könntest. Ich wette, du würdest die fünfzig Stunden leicht rumkriegen.«
»Moment mal - du willst, dass ich bei der alten Dame den Speicher ausmiste?«
»Ja. Das ist doch genau dein Ding, meinst du nicht? Komm schon, ich weiß, wie pingelig du bist. All deine Unterlagen stecken in Aktenordnern. Und sind nicht sogar deine Bücher alphabetisch geordnet?«
»Das ist dir aufgefallen?«
»Ich kenne dich besser, als du glaubst.«
Molly muss zugeben - so seltsam es ist -, dass sie es mag, Dinge in Ordnung zu bringen. Sie ist tatsächlich eine Art Ordnungsfanatikerin. Durch die vielen Ortswechsel in ihrem Leben hat sie gelernt, auf ihre wenigen Besitztümer achtzugeben. Trotzdem weiß sie nicht, was sie von Jacks Idee halten soll.
Tagelang alleine auf einem muffigen Speicher festzusitzen, um den Plunder einer alten Dame zu sortieren?
Allerdings - wenn sie an die Alternative denkt ... »Sie möchte dich treffen«, sagt Jack.
»Wer?«
»Vivian Daly. Die alte Dame. Sie möchte, dass du zu ihr kommst, zu einem ...«
»Zu einem Gespräch? Du meinst, ich habe ein Vorstellungsgespräch bei ihr.«
»Das ist Teil der Abmachung. Bist du dazu bereit?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Natürlich. Du kannst auch ins Gefängnis gehen.«
»Molly!«, bellt Dina und klopft an die Tür. »Komm sofort raus!«
»Okay!«, ruft sie und wendet sich wieder an Jack: »Okay.« »Okay zu was?«
»Ich mache es. Ich werde mich mit ihr treffen. Zu einem Vorstellungsgespräch. «
»Toll«, sagt er. »Oh, und - vielleicht solltest du einen Rock anziehen oder so, nur ... du weißt schon. Und vielleicht ein paar von deinen Ohrringen rausnehmen.«
»Was ist mit dem Nasenring?«
»Ich liebe deinen Nasenring«, sagt er. »Aber ...«
»Ich hab's verstanden.«
»Nur für das erste Treffen.«
»Ist schon okay. Hör mal - danke.«
»Das ist reiner Eigennutz«, erwidert er. »Ich möchte dich noch eine Weile um mich haben.«
Als Molly ihre Zimmertür öffnet und in Ralphs und Dinas angespannte und besorgte Gesichter sieht, lächelt sie. »Ihr braucht euch keine Gedanken zu machen. Ich habe einen Weg gefunden, wie ich meine Sozialstunden absolvieren kann.« Dina wirft Ralph einen Blick zu, und Molly sieht in ihrem Gesicht einen Ausdruck, den sie aus jahrelanger Erfahrung mit Pflegeeltern gut kennt. »Aber ich kann auch verstehen, wenn ihr wollt, dass ich gehe. Ich werde schon was anderes finden.« »Wir wollen nicht, dass du gehst«, sagt Ralph, und gleichzeitig erklärt Dina: »Wir müssen darüber reden.« Sie starren einander an.
»Wie auch immer«, sagt Molly. »Wenn es nicht funktioniert, ist das okay.«
Und in diesem Moment, mit einer Zuversicht, die sie Jack zu verdanken hat, ist das auch okay. Wenn es nicht funktioniert, dann funktioniert es eben nicht. Molly hat schon vor langer Zeit begriffen, dass sie einen Großteil des Kummers und der Enttäuschungen, die andere Menschen während ihrer gesamten Lebenszeit fürchten, schon erlebt hat. Vater tot.
Mutter auf und davon. Hin und her geschickt und immer wieder zurückgewiesen. Und immer noch atmet und schläft sie und wird größer. Sie steht jeden Morgen auf und zieht sich an. Wenn sie sagt, es ist okay, dann meint sie damit, dass sie alles Mögliche überstehen kann. Und zum ersten Mal, seit sie denken kann, hat sie jemanden, der auf sie aufpasst. (Was ist eigentlich sein Problem?)
Spruce Harbor, Maine, 2011
Molly atmet tief durch. Das Haus ist größer, als sie es sich vorgestellt hat - ein weißer, viktorianischer Klotz mit verschnörkelter Fassade und schwarzen Fensterläden. Durch die Windschutzscheibe kann sie erkennen, dass es in einwandfreiem Zustand ist - es gibt keinerlei Anzeichen von Schäden an der Fassade, was bedeutet, dass das Haus erst kürzlich einen neuen Anstrich bekommen haben muss. Ohne Zweifel beschäftigt die alte Dame Leute, die sich darum kümmern - eine ganze Armee von Arbeitsbienen.
Es ist ein warmer Aprilmorgen. Der Boden ist noch matschig von geschmolzenem Schnee und Regen, aber es ist einer dieser seltenen milden Tage, die bereits den herrlichen Sommer erahnen lassen. Der Himmel ist strahlend blau, mit weißen Schönwetterwolken. Büschel von Krokussen sprießen überall hervor.
»Okay«, sagt Jack, »die Sache ist die: Sie ist eine nette Dame, aber ein bisschen steif. Du weißt schon - nicht gerade eine Stimmungskanone.« Er parkt den Wagen und berührt dann leicht Mollys Schulter. »Einfach lächeln und nicken, dann wird es schon laufen.« »Wie alt ist sie noch mal?«, murmelt Molly. Sie ärgert sich über sich selbst, weil sie so nervös ist. Was soll's? Es ist doch nur eine sammelwütige alte Dame, die Hilfe dabei braucht, ihr Gerümpel zu entsorgen. Sie hofft nur, dass der Krempel nicht abstoßend ist oder stinkt, wie in den Häusern dieser Messies, die man immer im Fernsehen sieht.
»Ich weiß nicht - alt eben. Übrigens, du siehst hübsch aus«, fügt Jack hinzu.
Molly wirft ihm einen finsteren Blick zu. Sie trägt eine rosafarbene Lands' End Bluse, die Dina ihr für diese Gelegenheit ausgeliehen hat. »Ich erkenne dich kaum wieder«, hat sie sarkastisch bemerkt, als Molly darin aus ihrem Zimmer kam. »Du siehst so ... damenhaft aus.«
Auf Jacks Bitte hat Molly ihren Nasenring herausgenommen und nur zwei Ohrstecker in jedem Ohr gelassen. Sie hat mehr Zeit als sonst mit ihrem Make-up verbracht, hat eine Grundierung aufgetragen, die nicht ganz so geisterhaft blass wirkt, und die Augen nicht ganz so dunkel umrandet. Sie hat sogar einen rosafarbenen Lippenstift gekauft - Maybelline Wet Shine »Rosy Paradise«, ein Name, den sie zum Totlachen findet. Sie hat die vielen Ringe aus dem Trödelladen abgelegt und trägt um den Hals nur das Kettchen mit den Anhängern von ihrem Vater statt der üblichen klobigen Kruzifixe und silbernen Totenköpfe. Ihr Haar ist immer noch schwarz, mit einer weißen Strähne an jeder Seite ihres Gesichts, und auch ihre Fingernägel sind schwarz lackiert. Aber man kann deutlich sehen, dass sie sich Mühe gegeben hat, »mehr wie ein normales menschliches Wesen« auszusehen, wie Dina es ausgedrückt hat.
Nachdem Jack mit seiner »Rettet-Molly«-Aktion für sie in die Bresche gesprungen ist, hat Dina widerwillig zugestimmt, ihr noch eine Chance zu geben. »Bei einer alten Frau den Speicher aufräumen?«, hat sie verächtlich geschnaubt. »Na, bestens. Ich gebe der Sache eine Woche.«
Molly hat von Dina kaum ein Vertrauensvotum erwartet, und sie hat selbst einige Zweifel. Soll sie wirklich einer verschrobenen alten Witwe auf einem zugigen Speicher fünfzig Stunden ihrer Lebenszeit opfern? Kisten durchwühlen, in denen es von Motten und Staubmilben und wer weiß was noch alles wimmelt?
Im Jugendgefängnis würde sie die Zeit mit Gruppentherapie verbringen (immer interessant) und mit The View im Fernsehen (auch nicht langweilig). Sie würde mit anderen Mädchen herumhängen können. Nun erwartet sie zu Hause Dinas Gesellschaft und hier diese alte Dame, die sie auf Schritt und Tritt beobachten wird.
Molly sieht auf ihre Uhr. Sie sind fünf Minuten zu früh dran, dank Jack, der sie ungeduldig zur Eile angetrieben hat. »Nicht vergessen: Blickkontakt. Und immer schön lächeln«, sagt er.
»Du bist so eine Mutti.«
»Weißt du, was dein Problem ist?«
»Dass sich mein Freund wie eine Mutti benimmt?«
»Nein. Dein Problem ist, dass dir wohl nicht klar ist, dass es hier darum geht, deinen Arsch zu retten.«
»Meinen Arsch? Stimmt etwas nicht mit ihm?« Sie tut erstaunt und wackelt mit ihrem Hintern auf dem Autositz herum.
»Hör zu.« Er reibt sich das Kinn. »Meine Mutter hat Vivian nichts vom Jugendgefängnis und alldem erzählt. Die alte Dame glaubt, es geht um ein gemeinnütziges Projekt für die Schule.« »Also weiß sie nichts von meiner kriminellen Vergangenheit? Idiot.«
»Ay diablo«, sagt er, öffnet die Fahrertür und steigt aus. »Kommst du mit mir rein?«
Er wirft die Tür zu, dann geht er um das Auto herum und öffnet die Beifahrertür. »Nein, ich begleite dich nur bis zum Haus.« »Sieh an, was für ein Gentleman!« Sie steigt aus dem Wagen. »Oder tust du das, weil du Angst hast, ich könnte abhauen?« »Ehrlich gesagt, das auch«, antwortet er.
Als sie vor der großen Walnussholztür mit dem riesigen Messingklopfer steht, zögert Molly. Sie dreht sich noch einmal zu Jack um, der bereits wieder im Auto sitzt und in einem Buch blättert. Sie weiß, dass es die zerfledderte Kurzgeschichtensammlung von Junot Díaz ist, die er immer im Handschuhfach hat. Sie stellt sich gerade hin, strafft die Schultern, streicht das Haar zurück, nestelt an dem Kragen ihrer Bluse (Wann hat sie das letzte Mal einen Kragen getragen? Ein Hundehalsband zählt wohl nicht) und betätigt den Türklopfer. Nichts. Sie klopft noch einmal, etwas kräftiger. Dann sieht sie einen Klingelknopf links neben der Tür und drückt ihn. Lautes Glockenläuten ertönt im Haus, und schon Sekunden später öffnet ihr Jacks Mutter, Terry, mit besorgtem Gesichtsausdruck die Tür.
Es ist immer wieder überraschend, Jacks große braune Augen in dem weichen, fein geschnittenen Gesicht seiner Mutter zu sehen. Jack hat ihr versichert, dass sie Terry in dieser Angelegenheit mit im Boot haben - »Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ihr dieses verflixte Speicher-Projekt schon auf der Seele liegt« -, doch Molly ist klar, dass die Dinge in Wirklichkeit komplizierter sind. Terry liebt ihren einzigen Sohn über alles, und sie würde nahezu alles tun, um ihn glücklich zu machen. So gern Jack glauben möchte, dass Terry mit seinem Plan restlos einverstanden ist - Molly weiß, dass er seine Mutter damit überrumpelt hat.
Als Terry in der Tür vor ihr steht, mustert sie Molly von Kopf bis Fuß. »Du hast dich hübsch zurechtgemacht.« »Danke, muss ich wohl sagen«, murmelt Molly. Sie kann nicht feststellen, ob Terry eine Uniform trägt oder nur so langweilig angezogen ist, dass es so aussieht: schwarze Hose, klobige schwarze Schuhe mit Gummisohlen, ein matronenhaft pfirsichfarbenes T-Shirt.
Molly folgt ihr durch einen langen Gang, an dessen Wänden goldgerahmte Ölgemälde und Radierungen hängen. Ein dicker orientalischer Läufer auf dem Fußboden dämpft ihre Schritte.
Der Gang endet an einer verschlossenen Tür.
Terry legt für einen Moment ein Ohr an das Holz und klopft leise. »Vivian?« Sie öffnet die Tür einen Spaltbreit. »Das Mädchen ist hier. Molly Ayer. Ja, okay.«
Sie öffnet die Tür ganz, und sie treten in ein großes, helles Wohnzimmer mit Blick aufs Wasser. Überall stehen antike Möbel, und die Wände sind bis zur Zimmerdecke von Bücherregalen bedeckt. Eine alte Dame in einem schwarzen Kaschmirpullover sitzt neben dem Erkerfenster in einem ausgebleichten roten Ohrensessel, die mit Adern durchzogenen Hände im Schoß gefaltet, eine karierte Wolldecke über den Knien.
Als sie vor ihr stehen, sagt Terry: »Molly, das ist Mrs Daly.« »Hallo«, sagt Molly und streckt höflich die Hand aus, wie sie es von ihrem Vater gelernt hat.
»Hallo.« Die Hand der alten Dame ist trocken und kühl. Mrs Daly ist eine lebhafte, drahtige Frau mit einer schmalen Nase und durchdringenden braunen Augen. Ihr Blick ist so aufmerksam und scharf wie der eines Vogels.
Ihre Haut ist dünn, fast durchscheinend, und sie hat ihr welliges silbernes Haar im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt. Blasse Sommersprossen - oder sind es Altersflecken? - bedecken ihr Gesicht. Die Venen auf ihren Händen und Handgelenken sehen aus wie eine Reliefkarte, und sie hat Dutzende kleiner Fältchen um die Augen. Sie erinnert Molly an die Nonnen in der Katholischen Schule, die sie kurze Zeit in Augusta besucht hat (eine Zwischenstation bei einer ungeeigneten Pflegefamilie).
Die Nonnen wirkten in mancher Hinsicht uralt und in anderer übernatürlich jung. Wie sie hat auch diese Frau eine leicht gebieterische Ausstrahlung, als wäre sie es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Und warum auch nicht?, denkt Molly. Sie ist es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen.
»Also dann. Ich bin in der Küche, falls ihr mich braucht«, sagt Terry und verschwindet durch eine andere Tür.
Die alte Frau beugt sich zu Molly und runzelt leicht die Stirn. »Wie um Himmels willen bekommst du das hin? Diese Haarsträhnen, wie ein Skunk-Streifen«, fragt sie und fasst sich an ihre eigene Schläfe.
»Ähmmm ...« Molly ist überrascht; danach hat sie noch nie jemand gefragt. »Es ist eine Kombination aus Bleichen und Färben.«
»Woher weißt du, wie man das macht?«
»Ich habe ein Video auf YouTube gesehen.«
»YouTube?«
»Im Internet.«
»Aha.« Sie hebt den Kopf. »Computer. Ich bin zu alt, um solchen modernen Unsinn mitzumachen.«
»Ich glaube nicht, dass man hier von Unsinn sprechen kann, schließlich haben Computer unsere ganze Lebensweise verändert «, sagt Molly und lächelt reuevoll, denn ihr ist klar, dass sie sich damit bereits in eine Meinungsverschiedenheit mit ihrer potenziellen Chefin manövriert hat.
»Nicht meine Lebensweise«, erklärt die alte Dame. »Es muss ganz schön zeitraubend sein.«
»Was?«
»Das, was du mit deinem Haar anstellst.«
»Oh, so schlimm ist es nicht. Ich mache das jetzt schon seit einer ganzen Weile.«
»Was ist deine natürliche Haarfarbe, wenn ich fragen darf?« »Das dürfen Sie gerne. Es ist dunkelbraun.«
»Nun, meine natürliche Haarfarbe ist rot.« Molly braucht einen Moment, bis sie merkt, dass Mrs Daly einen kleinen Scherz darüber gemacht hat, dass sie weißhaarig ist.
»Was Sie mit Ihrem Haar gemacht haben, gefällt mir«, kontert sie. »Es steht Ihnen.«
Die alte Frau nickt zustimmend und lehnt sich wieder in ihrem Sessel zurück. Molly spürt, wie ihre Schultern sich ein wenig entspannen. »Entschuldige meine Unhöflichkeit, aber in meinem Alter hat es keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. Du scheinst dich nach einem bestimmten Stil zurechtzumachen. Bist du eine von diesen - wie sagt man noch gleich - Gruftis?«
Molly kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Sozusagen.«
»Die Bluse hast du dir ausgeliehen, vermute ich.«
»Äh ...«
»Das wäre nicht nötig gewesen. Sie steht dir nicht.« Sie gibt Molly ein Zeichen, ihr gegenüber Platz zu nehmen. »Du kannst Vivian zu mir sagen. Ich mochte es noch nie, Mrs Daly genannt zu werden. Mein Mann ist nicht mehr am Leben, weißt du.«
»Das tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Er ist vor acht Jahren gestorben. Immerhin bin ich einundneunzig Jahre alt. Nicht viele von den Leuten, die ich einmal kannte, leben noch.«
Molly ist nicht sicher, was sie antworten soll - es ist doch höflich, Leuten zu sagen, dass sie nicht so alt aussehen, wie sie sind, oder? Sie hätte diese Frau nicht auf einundneunzig geschätzt, aber sie hat auch nicht gerade viele Vergleichsmöglichkeiten.
Die Eltern ihres Vaters sind gestorben, als er noch sehr jung war, und die Eltern ihrer Mutter waren nicht verheiratet, sodass sie ihren Großvater nie kennengelernt hat. Der einzige Großelternteil, an den sie sich erinnert, ist ihre Großmutter mütterlicherseits, und die ist an Krebs gestorben, als Molly drei war.
»Terry hat mir erzählt, dass du bei einer Pflegefamilie lebst«, sagt Vivian. »Bist du eine Waise?«
»Meine Mutter lebt noch, aber - ja, ich betrachte mich als Waise.«
»Aber eigentlich bist du es nicht.«
»Ich finde, wenn man keine Eltern hat, die sich um einen kümmern, kann man sich so nennen, wenn man will.«
Vivian sieht sie lange an, als müsse sie über diese Auffassung nachdenken. »Na schön. Dann erzähl mir doch mal was von dir.«
Molly hat ihr ganzes Leben in Maine verbracht, kein einziges Mal hat sie auch nur die Staatsgrenze überschritten. Sie erinnert sich an Bruchstücke aus ihrer Kindheit auf Indian Island, bevor sie zu ihrer ersten Pflegefamilie kam. An den grauen Wohnwagen, in dem sie mit ihren Eltern lebte, an das Gemeindezentrum mit den vielen Pick-ups, die dort überall parkten, an den Sockalexis Bingo Palace, an die St.-Anne's-Kirche. Sie erinnert sich an eine indianische Puppe aus Maisstroh mit schwarzem Haar und in traditioneller Indianertracht, die auf ihrem Regal saß, obwohl sie die Barbiepuppen, die bei Wohltätigkeitsorganisationen als Spenden eingingen und zu Weihnachten im Gemeindezentrum verteilt wurden, lieber mochte. Natürlich bekam man dort niemals die wirklich beliebten Figuren - wie Cinderella oder Beauty Queen -, sondern eher die kuriosen Einzelstücke, die Schnäppchenjäger im Ausverkauf erstehen: Hot Rod Barbie oder Jungle Barbie. Aber das war egal. So eigentümlich Barbies Aufmachung auch sein mochte, waren ihre besonderen Merkmale doch zuverlässig dieselben: die merkwürdig geformten Füße, jederzeit bereit, in Stilettos zu schlüpfen, der übergroße Busen und der rippenlose Oberkörper, die Stupsnase und die glänzenden Plastikhaare ...
Aber das ist nicht das, was Vivian hören will. Wo soll Molly anfangen? Was kann sie preisgeben? Und hier liegt das Problem: Ihre Geschichte ist keine glückliche Geschichte, und Molly hat die Erfahrung gemacht, dass die Leute entweder davor zurückschrecken oder ihr nicht glauben oder, noch schlimmer: sie bemitleiden. Deshalb hat sie sich angewöhnt, eine gekürzte Version zu erzählen. »Also«, sagt sie, »ich bin von der Seite meines Vaters her eine Penobscot-Indianerin. Als ich klein war, lebten wir in einem Reservat in der Nähe von Old Town.« »Aha. Daher das schwarze Haar und die Stammesbemalung. «
Molly ist bestürzt. Sie hat hier nie einen Zusammenhang gesehen. Hat Vivian recht?
Irgendwann in der achten Klasse, es war ein besonders hartes Schuljahr - wütende, schreiende Pflegeeltern, eifersüchtige Pflegegeschwister, ein Haufen gemeiner Mädchen in der Schule -, besorgte sie sich eine Packung L'Oréal-Zehn-Minuten-Färbemittel und tiefschwarzen Eyeliner und unterzog sich im Familienbadezimmer einer Verwandlung. Eine Freundin, die in der Mall bei Claire's arbeitete, machte ihr am folgenden Wochenende die Piercings - eine Reihe von Löchern auf jeder Seite bis hinauf zum Ohrknorpel, einen Stecker in der Nase und einen Ring durch die Augenbraue (aber der hielt nicht; er entzündete sich bald und musste entfernt werden, die Narbe, die zurückblieb, sieht aus wie ein Spinnennetz). Die Piercings waren der Tropfen, der bei ihrer Pflegefamilie das Fass zum Überlaufen brachte, und man warf sie hinaus. Mission erfüllt.
Molly fährt mit ihrer Geschichte fort - wie ihr Vater starb und warum ihre Mutter sich nicht um sie kümmern konnte und wie sie schließlich bei Ralph und Dina gelandet ist.
»Terry hat erzählt, man hat dich mit einer Art Sozialprojekt beauftragt. Und da kam sie auf die brillante Idee, dass du mir helfen könntest, meinen Speicher zu entrümpeln«, erklärt Vivian. »Sieht aus wie ein schlechtes Geschäft für dich, aber wie kann ich das beurteilen?«
»Ich bin eine Art Ordnungsfanatikerin, ob Sie es glauben oder nicht. Ich mag es, Dinge in Ordnung zu bringen.«
»Dann bist du noch seltsamer, als ich dachte.« Vivian lehnt sich zurück und faltet die Hände. »Ich will dir was sagen. Nach deiner Definition bin ich auch eine Waise, wurde es fast im gleichen Alter wie du. Das haben wir also gemeinsam.«
Molly weiß nicht, was sie antworten soll. Möchte Vivian, dass sie nachfragt? Schwer zu sagen. »Ihre Eltern ...«, fragt sie schließlich vorsichtig, »haben sich nicht um Sie gekümmert?« »Sie haben es versucht. Aber es hat einen Brand gegeben ...« Vivian zuckt mit den Schultern. »Das ist alles so lange her, ich kann mich kaum erinnern. Nun - wann willst du anfangen?«
New York City, 1929
Maisie spürte es zuerst. Sie wollte nicht aufhören zu weinen. Als unsere Mutter krank wurde, war sie erst einen Monat alt gewesen, und seitdem schlief sie bei mir in meinem engen Kinderbett in dem kleinen, fensterlosen Raum, den wir mit unseren Brüdern teilten. Hier war es so dunkel, dass ich mich - wie schon so oft - fragte, ob sich so Blindheit anfühlt; diese schwarze Leere, die alles umfängt. Ich konnte kaum die Gestalten der Jungen erkennen, wahrscheinlich erahnte ich sie nur. Sie wälzten sich unruhig hin und her, waren aber noch nicht wach: Dominick und James, sechsjährige Zwillinge, lagen auf ihrem Lager dicht aneinandergedrängt, um sich gegenseitig zu wärmen.
Ich saß auf meinem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und hielt Maisie so, wie Mam es mir gezeigt hatte, ihren Kopf an meiner Schulter. Ich tat alles, was mir einfiel, um sie zu trösten, alles, was bisher immer funktioniert hatte: Ich streichelte ihren Rücken, fuhr ihr mit zwei Fingern die Nase entlang und summte ihr das Lieblingslied unseres Vaters, »My Singing Bird«, leise ins Ohr: I have heard the blackbird pipe his note, the thrush and the linnet, too / But there's none of them can sing so sweet, my singing bird, as you. Aber sie schrie nur noch lauter, und ihr ganzer Körper verkrampfte sich dabei.
Maisie war achtzehn Monate alt, wog aber nicht mehr als ein Bündel Lumpen. Nur ein paar Wochen nach ihrer Geburt hatte Mam Fieber bekommen und konnte sie nicht mehr stillen. Um Maisie zu ernähren, behalfen wir uns mit warmem, gesüßtem Wasser, gekochten Haferflocken und Milch, wenn wir es uns leisten konnten. Wir alle waren mager. Nahrungsmittel waren knapp; an manchen Tagen hatten wir nicht mehr als ein paar alte Kartoffeln in dünner Brühe. Mam war schon bei guter Gesundheit keine gute Köchin gewesen, und an manchen Tagen versuchte sie nicht einmal, eine Mahlzeit zuzubereiten. Bevor ich kochen lernte, aßen wir die Kartoffeln oft roh direkt aus dem Eimer.
Es war zwei Jahre her, dass wir unsere Heimat an der Westküste Irlands verlassen hatten. Das Leben war auch dort hart gewesen; unser Dad hatte einen Job nach dem anderen gehabt, doch keiner von ihnen hatte genug eingebracht, um uns zu ernähren. Wir wohnten in einem winzigen, nicht heizbaren Steinhaus in Kinvara, einem kleinen Dorf im County Galway.
Viele Leute aus unserer Umgebung flüchteten nach Amerika; wir hörten Geschichten von Orangen, so groß wie Backkartoffeln, üppigen Kornfeldern, die unter einem sonnigen Himmel wogten, von sauberen, trockenen Holzhäusern mit fließendem Wasser und Elektrizität.
Jobs sollte es dort so reichlich geben wie Obst an den Bäumen. Als eine letzte freundliche Tat uns gegenüber - oder auch, um sich selbst von der Belastung ständiger Sorge zu befreien - kratzten Dads Eltern und Geschwister das Geld für eine Schiffspassage für unsere fünfköpfige Familie zusammen, und an einem warmen Frühlingsmorgen gingen wir an Bord der Agnes Pauline zur Überfahrt nach Ellis Island. Die einzige Verbindung, die wir zu unserer Zukunft hatten, war ein auf ein Stück Papier gekritzelter Name. Mein Vater steckte den Zettel in seine Brusttasche, als wir an Bord gingen:
Der Name war der eines Mannes, der zehn Jahre zuvor nach New York ausgewandert war und der nun, seinen Verwandten in Kinvara zufolge, ein angesehenes Restaurant in New York City besaß.
Obwohl wir unser ganzes Leben in einem Dorf am Meer verbracht hatten, war niemand von uns je in ein Boot gestiegen, geschweige denn auf ein Hochseeschiff.
Außer meinem Bruder Dom, der die Konstitution eines Ochsen hatte, waren wir alle während fast der gesamten Reise seekrank. Am schlimmsten war es für Mam, die unterwegs feststellte, dass sie wieder schwanger war, und kaum einen Bissen bei sich behalten konnte. Aber wenn ich unsere enge, dunkle Kabine auf dem Zwischendeck verließ und vom Unterdeck aus auf das Wasser blickte, das um den Kiel der Agnes Pauline schäumte, spürte ich dennoch Zuversicht: Ganz sicher, dachte ich, würden wir in Amerika einen Platz zum Leben finden.
Der Morgen, an dem wir im Hafen von New York ankamen, war so neblig und trüb, dass meine Brüder und ich kaum die gespenstischen Umrisse der Freiheitsstatue ausmachen konnten. Wir standen an der Reling und starrten angestrengt durch den Nieselregen auf den nahe gelegenen Kai, dicht gedrängt in langen Reihen von Menschen, die alle darauf warteten, kontrolliert, befragt und abgefertigt zu werden, bis man uns endlich unter Hunderten anderen Einwanderern an Land ließ. Um mich herum hörte ich Sprachen, die in meinen Ohren wie die Laute von Tieren auf einem Bauernhof klangen.
Ich konnte keine wogenden Kornfelder entdecken und auch keine übergroßen Orangen. Wir nahmen die Fähre nach Manhattan und liefen durch die Straßen, Mam und ich taumelten unter der Last unserer Besitztümer, die Zwillinge quengelten und wollten auf den Arm genommen werden. Dad trug einen Koffer unter jedem Arm und hielt in einer Hand einen Stadtplan, mit der anderen umklammerte er den zerknitterten Zettel mit der Aufschrift Mark Flannery, The Irish Rose, Delancey Street, geschrieben in der unleserlichen Handschrift seiner Mutter. Nachdem wir uns mehrere Male verlaufen hatten, gab Dad es auf, den Stadtplan zu benutzen, und begann, die Leute auf der Straße nach dem Weg zu fragen. Meistens wandten sie sich ab, ohne zu antworten, ein Mann spuckte vor uns aus, das Gesicht von Hass verzerrt.
Doch schließlich erreichten wir unser Ziel - einen irischen Pub, so schäbig wie die schlimmsten Kneipen in den Seitenstraßen von Galway.
Mam, die Jungen und ich warteten auf dem Gehweg, während Dad hineinging. Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft war feucht, und Dampf stieg von der nassen Straße auf.
Wir standen da in unserer klammen Kleidung, die steif war von getrocknetem Schweiß und Schmutz, kratzten unsere verschorften Köpfe (Läuse waren auf dem Schiff ebenso allgegenwärtig gewesen wie die Seekrankheit) und spürten die Blasen an unseren Füßen. Gran hatte uns vor unserer Abreise neue Schuhe gekauft, aber Mam hatte uns nicht erlaubt, sie anzuziehen, bevor wir amerikanischen Boden betraten.
Worauf hatten wir uns da nur eingelassen? Abgesehen von dieser jämmerlichen Nachbildung eines irischen Pubs, vor der wir hier standen, hatte nichts in diesem Land auch nur die leiseste Ähnlichkeit mit der Welt, die wir kannten.
Mark Flannery hatte einen Brief von seiner Schwester erhalten und erwartete uns. Er stellte meinen Vater als Tellerwäscher ein und brachte uns in eine Wohngegend, wie ich sie noch nie gesehen hatte - große Backsteinhäuser, dicht aneinandergebaut in engen Straßen, in denen es von Menschen nur so wimmelte.
Er wusste von einer Wohnung, die für zehn Dollar pro Monat zu mieten war, im dritten Stock eines fünfgeschossigen Mietshauses in der Elizabeth Street.
Nachdem er uns dorthin gebracht und an der Tür kehrtgemacht hatte, folgten wir dem polnischen Vermieter, Mr Kaminski, durch eine geflieste Eingangshalle und dann eine Treppe hinauf. Während wir uns bei brütender Hitze mit unserem Gepäck durch das dunkle Treppenhaus kämpften, hielt er uns einen Vortrag über die Tugenden Sauberkeit, Fleiß und Höflichkeit, von denen er offensichtlich annahm, dass sie uns fehlten.
»Ich hab kein Problem mit Iren, solange ihr keine Probleme macht«, sagte er mit dröhnender Stimme. Ich blickte zu Dad und bemerkte in seinem Gesicht einen Ausdruck, den ich nie zuvor gesehen hatte, aber sofort verstand: Es war der Schock, als er erkannte, dass ihm hier, an diesem fremden Ort, Misstrauen entgegenschlagen würde, sobald er nur den Mund aufmachte.
Der Vermieter nannte unser neues Zuhause ein »Railroad-Apartment«: Jeder Raum war mit dem nächsten verbunden wie die Waggons eines Zuges. Das winzige Schlafzimmer meiner Eltern, mit Blick auf die Rückwand eines anderen Gebäudes, bildete das eine Ende; das nächste Zimmer war der Raum, den ich mit den Jungen und später auch mit Maisie teilte, dann kam die Küche, dann ein Wohnzimmer mit zwei Fenstern zu der betriebsamen Straße hin. Mr Kaminski zog an einer Kette, die von der Zimmerdecke herabhing, und eine Glühbirne verströmte schwaches Licht, warf ihren fahlen Schein auf einen zerkratzten Holztisch, eine kleines, fleckiges Spülbecken mit Kaltwasserhahn, einen Gasherd. Im Flur, außerhalb der Wohnung, gebe es ein Badezimmer, das wir mit unseren Nachbarn teilen würden - ein kinderloses deutsches Ehepaar mit Namen Schatzman -, erklärte uns der Vermieter.
»Sie verhalten sich ruhig und erwarten von euch dasselbe«, sagte er und blickte stirnrunzelnd auf meine Brüder, die, unruhig und zappelig, miteinander rangelten.
Trotz der Missbilligung unseres Vermieters, der drückenden Hitze, der düsteren Zimmer und der Kakophonie fremder Geräusche, so ungewohnt für meine ans Landleben gewöhnten Ohren, spürte ich wieder Hoffnung in mir aufkeimen.
Ich blickte mich in unseren vier Räumen um, und es schien mir tatsächlich, als stünden wir vor einem Neuanfang, als hätten wir das Elend unseres Lebens in Kinvara hinter uns gelassen: die Mutlosigkeit, die tief in uns steckte, die armselige, enge Behausung, die Alkoholsucht unseres Vaters - hatte ich die schon erwähnt? -, die jeden noch so kleinen Gewinn aufs Spiel setzte. Hier hatte unser Dad die Aussicht auf einen Job.
Wir konnten an einer Kette ziehen, um das Licht einzuschalten, und bekamen Wasser aus der Leitung, wenn wir an einem Knauf drehten. Gleich auf der anderen Seite der Wohnungstür, in einem trockenen Hausflur, hatten wir eine Toilette und eine Badewanne. So bescheiden das alles auch war, es bedeutete doch die Chance auf einen Neubeginn.
Ich weiß nicht, wie viel von meiner Erinnerung an diese Zeit von meinem jetzigen Alter beeinflusst und wie viel davon von der Sichtweise meines damaligen Alters geprägt ist - sieben Jahre war ich, als wir Kinvara verließen, und neun in der Nacht, als Maisie nicht aufhörte zu weinen, in der Nacht, die mein Leben sogar noch mehr veränderte als der Tag, an dem wir Irland verließen. Noch heute, zweiundachtzig Jahre später, verfolgt mich ihr lautes Weinen. Hätte ich doch mehr darüber nachgedacht, warum sie weinte, anstatt nur zu versuchen, sie zu beruhigen. Hätte ich doch mehr darüber nachgedacht.
Ich fürchtete mich so sehr davor, unser Leben könnte erneut zerstört werden, dass ich vor den Dingen, die mir am meisten Angst machten, die Augen verschloss. Die fortgesetzte Liebe unseres Vaters zum Alkohol, an der auch das Leben in einem anderen Land nichts ändern konnte; Mams düstere Stimmungen, ihre Wutanfälle, die unaufhörlichen Streitereien zwischen den beiden. Ich wollte, dass alles in Ordnung war.
Ich hielt Maisie an meine Brust gedrückt und summte an ihrem Ohr - there's none of them can sing so sweet, my singing bird, as you -, um sie zu beruhigen. Als sie endlich aufhörte zu weinen, empfand ich nur Erleichterung. Ich verstand nicht, dass Maisie uns wie der Kanarienvogel in einem Bergwerk vor einer Gefahr hatte warnen wollen. Aber es war zu spät.
New York City, 1929
Drei Tage nach dem Brand weckt mich Mr Schatzman, um mir zu sagen, dass er und Mrs Schatzman die perfekte Lösung gefunden haben (ja, perfekt ist tatsächlich das Wort, das er benutzt, und ich bekomme in diesem Moment die grausame Macht von Übertreibungen zu spüren).
Sie werden mich zur Children's Aid Society bringen, einem Ort mit freundlichen Sozialarbeitern, unter deren Obhut alle Kinder ein Dach über dem Kopf haben und genug zu essen bekommen.
»Ich kann da nicht hingehen«, sage ich. »Meine Mutter wird mich brauchen, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt.« Ich weiß, dass mein Vater und meine Brüder tot sind. Ich habe sie im Hausflur gesehen, von Laken bedeckt. Doch meine Mutter hat man auf einer Krankentrage fortgebracht, und ich habe Maisie gesehen, die wimmerte und zappelte, als ein Mann in Uniform sie durch den Flur trug.
Er schüttelt den Kopf. »Sie wird nicht zurückkommen.«
»Aber Maisie ...«
»Deine Schwester Margaret hat es nicht geschafft«, sagt er und wendet sich ab. Meine Mutter, mein Vater, zwei Brüder und eine Schwester, die mir so lieb ist wie das eigene Leben - es gibt keine Worte für meinen Verlust.
Und selbst wenn ich Worte fände, um zu beschreiben, was ich fühle, gäbe es niemanden, dem ich mich anvertrauen könnte. Alle, die mir auf der Welt - in dieser neuen Welt - nahestanden, sind tot oder verschwunden. In der Nacht des Brandes, der Nacht, in der sie mich zu sich holten, konnte ich Mrs Schatzman in ihrem Schlafzimmer hören, wie sie mit ihrem Mann darüber sprach, was sie mit mir tun sollten.
»Ich habe nicht darum gebeten«, zischte sie, und ich konnte ihre Worte so deutlich hören, als wären wir im selben Zimmer. »Diese Iren! Zu viele Kinder auf viel zu engem Raum. Das einzig Überraschende ist, dass so etwas nicht häufiger passiert.«
Während ich sie durch die Wand hörte, breitete sich ein dumpfes Gefühl von Leere in mir aus. Ich habe nicht darum gebeten.
Es war erst ein paar Stunden her, dass mein Dad von seinem Job in der Kneipe nach Hause gekommen war. Er hatte sich umgezogen, wie er es immer nach der Arbeit tat, wobei er bei jeder Schicht, die er ablegte, einen widerlichen Geruch verströmte.
Mam flickte einen Stapel Kleider, womit sie ein wenig Geld verdiente.
Dominick schälte Kartoffeln. James spielte in einer Zimmerecke.
Ich saß mit Maisie vor einem Stück Papier und zeichnete, malte Buchstaben für sie, ihr warmer Körper wie eine Wärmflasche auf meinem Schoß, ihre klebrigen Finger in meinem Haar.
Ich versuche, den Schrecken dessen, was geschehen ist, zu vergessen. Oder - vielleicht ist vergessen das falsche Wort. Wie kann ich vergessen? Und dennoch - wie kann ich mich auch nur einen Schritt vorwärtsbewegen, ohne die Verzweiflung, die ich spüre, zu unterdrücken? Wenn ich meine Augen schließe, höre ich Maisies Weinen und Mams Schreie, ich rieche den beißenden Rauch, fühle die Hitze des Feuers auf meiner Haut, und ich fahre hoch auf meinem Lager in der Stube der Schatzmans, in Schweiß gebadet.
Die Eltern meiner Mutter sind tot, ihre Brüder sind nach Europa gegangen, um dort bei der Armee zu dienen, und ich habe keine Ahnung, wie ich sie finden könnte. Aber mir fällt ein, und das sage ich auch zu Mr Schatzman, dass man versuchen könnte, sich mit der Mutter und der Schwester meines Vaters in Irland in Verbindung zu setzen, auch wenn wir keinen Kontakt hatten, seit wir in dieses Land gekommen sind.
Ich habe weder je einen Brief von meiner Großmutter gesehen noch meinen Vater dabei beobachtet, wie er einen schrieb. Unser Leben in New York war so trostlos, und wir klammerten uns mit so unsicherem Griff daran fest, dass ich bezweifle, dass es etwas gab, wovon mein Vater gerne berichtet hätte. Ich weiß kaum mehr als den Namen unseres Dorfes und den Familiennamen meines Vaters - obwohl diese Informationen vielleicht ausreichen würden.
Aber Mr Schatzman schüttelt stirnrunzelnd den Kopf, und in diesem Moment wird mir bewusst, wie einsam ich bin. Es gibt keinen Erwachsenen auf dieser Seite des Atlantiks, der irgendein Interesse an mir hat, niemanden, der mich auf ein Schiff bringen oder die Überfahrt bezahlen könnte. Ich bin eine Last für die Gesellschaft, und niemand ist für mich verantwortlich. »Du da - das irische Mädchen. Hier rüber.« Eine dünne, missmutig dreinblickende Oberin in weißer Haube winkt mich mit ihrem knochigen Zeigefinger zu sich. Sie weiß wohl aus den Papieren, die Mr Schatzman für mich ausgefüllt hat, als er mich vor ein paar Wochen hierher zur Children's Aid Society brachte, dass ich Irin bin. Oder ist es mein immer noch starker Akzent? »Hmm«, sagt sie und schürzt die Lippen, als ich vor ihr stehe. »Rote Haare.«
»Bedauernswert«, sagt die mollige Frau neben ihr und seufzt. »Und diese Sommersprossen. In ihrem Alter ist es ohnehin schon schwer unterzukommen.«
Die Knochige leckt sich den Daumen und streicht mir damit das Haar aus dem Gesicht. »Du willst sie ja nicht gleich verschrecken, nicht wahr? Du musst es immer zusammengebunden tragen. Wenn du ordentlich aussiehst und dich wohlgesittet verhältst, werden sie vielleicht nicht so schnell ein Urteil fällen.«
Sie knöpft mir die Ärmel zu, und als sie sich herunterbeugt, um mir meine schwarzen Schuhe neu zu binden, steigt ein modriger Geruch von ihrer Haube auf. »Es ist unerlässlich, dass du präsentabel aussiehst. Wie die Art Mädchen, die eine Frau gern bei sich im Haus hat. Sauber und höflich. Aber nicht zu ...« Sie wirft der anderen einen Blick zu.
»Zu was?«, frage ich.
»Manche Frauen nehmen es nicht so gut auf, wenn ein Mädchen, das mit ihnen unter einem Dach schläft, zu hübsch ist. Nicht, dass du ... aber immerhin.« Sie zeigt auf meine Halskette. »Was ist das?«
Ich greife nach dem keltischen Claddagh-Kreuz aus Zinn, das ich trage, seit ich sechs bin, und folge den Umrissen des Herzen in seiner Mitte mit dem Finger. »Ein irisches Kreuz.« »Es ist nicht erlaubt, Andenken mit in den Zug zu nehmen.« Mein Herz klopft so sehr, dass ich glaube, es hören zu können. »Es hat meiner Gran gehört.«
Die beiden Frauen starren auf das Kreuz, und ich merke, dass sie zögern, dass sie versuchen zu entscheiden, was zu tun ist. »Sie hat es mir in Irland geschenkt, bevor wir hierherkamen. Es ist - es ist das Einzige, was ich habe.« Das ist die Wahrheit, aber ich sage es auch, weil ich denke, dass es sie umstimmen wird. Und das tut es auch.
Wir hören den Zug, bevor wir ihn sehen können. Ein leises Brummen, ein Rumpeln vom Boden her, ein heiseres Pfeifen, zunächst schwach und dann immer lauter, als der Zug sich nähert. Wir recken die Hälse, um auf die Schienen blicken zu können (auch als eine unserer Betreuerinnen, Mrs Scatcherd, mit ihrer schrillen Stimme schreit: »Kin-der! Auf eure Plätze, Kinder!«), und plötzlich steht er da: Eine schwarze Lokomotive ragt über uns auf, wirft ihren Schatten über den Bahnsteig und stößt zischend Dampf aus wie ein gewaltiges, keuchendes Tier. auch nicht.«
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Autoren-Porträt von Christina Baker Kline
Christina Baker Kline wuchs in England und in den Vereinigten Staaten auf. Sie hat Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet und sich als Buchautorin und Herausgeberin von Anthologien einen Namen gemacht. Mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen lebt die Autorin in Montclair, New Jersey.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christina Baker Kline
- 2014, 3, 352 Seiten, 7 Abbildungen, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Fröhlich, Anne
- Übersetzer: Anne Fröhlich
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 344231383X
- ISBN-13: 9783442313839
- Erscheinungsdatum: 10.11.2014
Rezension zu „Der Zug der Waisen “
"Ein Juwel!" Huffington Post
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