Cesare Borgia
Und auch eine Zeit von Glanz und Gewalt, Anmut und Ausschweifung. Uwe Neumahr schildert den steilen Aufstieg und tiefen Fall des sinnenfreudigen Kardinals und mächtigen Herzogs, einer schillernden Persönlichkeit, deren Faszination bis heute ungebrochen ist....
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Produktinformationen zu „Cesare Borgia “
Und auch eine Zeit von Glanz und Gewalt, Anmut und Ausschweifung. Uwe Neumahr schildert den steilen Aufstieg und tiefen Fall des sinnenfreudigen Kardinals und mächtigen Herzogs, einer schillernden Persönlichkeit, deren Faszination bis heute ungebrochen ist. Er hinterfragt die Verbrechen, die man diesem Mann schon zu Lebzeiten nachgesagt hat.
Lese-Probe zu „Cesare Borgia “
Cesare Borgia von Uwe NeumahrProlog
Der Geschützmeister Lorenz Beheim war verblüfft. Völlig unerwartet hatte Cesare Borgia ihn an jenem heißen Sommertag mit einer Fülle von Fragen konfrontiert. Nicht nur die plötzliche Wissbegierde seines jungen Schülers erstaunte ihn; es war vor allem die Anzahl und die Art seiner Fragen. Insgesamt 76 fand er fein säuberlich auf einem Stück Pergament notiert. Mit einem Gefühl der Beklemmung las Beheim den Fragebogen, wohl wissend, dass er seinem Zögling kaum zufriedenstellende Antworten geben konnte. Denn was wollte der junge Mann nicht alles wissen! Gibt es ein Verfahren, einen Totenkopf zum Sprechen zu bringen? Kann man einen Apparat konstruieren, mit dem man unter Wasser atmen kann? Gibt es eine Möglichkeit, das Gedächtnis auf künstliche Weise zu stärken? Wie kann man aus der Ferne von einer Burg zur anderen sprechen? Gibt es eine unsichtbare Tinte für geheime Botschaften? Gerne möchte Cesare Borgia die Geheimnisse der Alchemie und der Glasschneidekunst kennenlernen. Ja, selbst nach der Verwendung von Giften im Krieg erkundigt er sich: Ist es möglich, Pferdesattel und Steigbügel zu vergiften? Schließlich fragt er nach der Formel für das berüchtigte veleno a termine, jenes weiße Puder, das ebenso langsam wie sicher tötet. Ein besonderes Interesse scheint der junge Borgia an pikanten Fragen zu haben. Ein ganzer Absatz handelt von Liebesangelegenheiten. Noch heute rätseln Forscher, die jenen kuriosen Fragebogen in der Nürnberger Stadtbibliothek einsehen, über die Bedeutung dieser Rubrik. Denn sie wurde in einer codierten Sprache geschrieben, die bis heute nicht entziffert werden konnte.1
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Ob Lorenz Beheim - der die Geheimsprache zweifellos verstand - seinem Schüler den erwünschten Sexualkundeunterricht erteilte, ist nicht überliefert. Viele Fragen vermochte er wohl nicht zu beantworten. Einen Totenkopf zum Sprechen zu bringen? Allenfalls eine Rezeptur für Gift konnte Beheim seinem Zögling anbieten. Bewandert in der Arzneimittelkunde seiner Zeit, wusste er Salben für verschiedenste Zwecke herzustellen, bisweilen mit komplizierten Beschwörungsformeln und Anrufungen des Teufels garniert. Lorenz Beheims Rat war jederzeit gefragt, wenn es darum ging, Menschen aus dem Weg zu räumen, zu heilen oder einfach mit Rezepten für die Schönheitspflege zu versorgen: Als ihn sein früh ergrauter Nürnberger Freund Willibald Pirckheimer, ein berühmter Humanist, um eine Haarfärbetinktur bat, ließ Beheim ihm ein ganzes Traktat zukommen. Die Haare würden nach der Behandlung schwarz bleiben, auch nach der Haarwäsche, „bis von der Wurzel her neue wachsen", teilte er seinem Freund lakonisch mit.2 So weit reichte Beheims Wissen. Das Tauchgerät aber, nach dem ihn sein Schüler fragte, erfand ein anderer: Leonardo da Vinci. Auch er stand später in engem Kontakt zu Cesare Borgia.
Zur klerikalen Laufbahn bestimmt, schien sich Cesare Borgia tatsächlich für alles zu interessieren, nur nicht für die Mysterien der Kirche. Und dies, obwohl er schon seit geraumer Zeit Bischof von Pamplona war - freilich ohne die spanische Stadt je betreten zu haben. Ein Jahr zuvor hatte er noch kanonisches Recht in Pisa studiert, um eine der klerikalen Karriere nützliche Ausbildung zu erhalten. Als ihn dort aber die Nachricht von der Papstwahl Alexanders VI. erreichte, verließ er die Toskana Hals über Kopf, um dem Borgia-Papst nahe zu sein.
In Rom war es auch, wo er Lorenz Beheim kennengelernt hatte. Beide Männer müssen sich von Anfang an sympathisch gewesen sein. Eine zu vertraulichen Zwecken entwickelte Geheimsprache und der freizügige Ton des Fragebogens untermauern diese Annahme.
Auch Lorenz Beheim fasste zu dem begabten Jüngling rasch Zuneigung. Jahrzehnte später noch, als Beheim längst in das heimische Franken zurückgekehrt war und seinen Lebensabend als Chorherr in St. Stephan in Bamberg verbrachte, äußerte er sich mit Hochachtung über seinen einstigen Zögling - trotz aller unheilvoller Legenden und Gerüchte, die nach dem Pontifikat Alexanders VI. über die Borgia-Familie in Umlauf kamen.
Noch zu seinen Lebzeiten bezichtigte man Cesare Borgia des Giftmords an seinen Gegnern, des Brudermords, des Verrats und der Vergewaltigung, ja sogar der Blutschande, hatte er doch angeblich ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Schwester Lucrezia. Den „schrecklichen Valentino" nannte man ihn, ein „Verbrechergenie". Heuchlerisch, stur, unaufrichtig, streng, hinterlistig, mächtig, gerissen und sexbesessen soll er gewesen sein. Cesare Borgia galt als Inbegriff des Bösen schlechthin. Er wurde schließlich so dämonisiert, dass sein Leichnam gegen Ende des 17. Jahrhunderts aus dem Dom der spanischen Stadt Viana entfernt wurde. Geistliche weigerten sich, über den Gebeinen des Ungeheuers zu predigen. Lorenz Beheim allerdings hatte ein ganz anderes Bild des Herrschers vor Augen. Selbst einen Vergleich mit Cesare Borgias antikem Namensvetter schien er nicht zu scheuen: Dieser „Caesar" sei nicht weniger ruhmreich als Julius Caesar, dessen Namen er trage, schrieb er anerkennend.3
Während seines langen Aufenthalts in Rom hatte Beheim viele Menschen wie Cesare Borgia kennengelernt, die von ihren Zeitgenossen verteufelt oder verherrlicht wurden. Das pest- und malariageschwängerte Klima der Ewigen Stadt schien sie geradezu zu begünstigen: Betrachtete der eine eine stadtbekannte Kurtisane schlicht als Hure, war sie für den anderen die ingeniöse Liebeskünstlerin, vergleichbar mit einer einflussreichen antiken Hetäre. Eilte einem gewaltbereiten Mann der Ruf eines Meuchelmörders voraus, hielten andere denselben für einen Freiheitskämpfer - wie der Humanist Stefano Porcari etwa, dessen republikanischer Eifer und das misslungene Attentat auf Papst Nikolaus V. ihm zum Verhängnis geworden waren.
Cesare Borgia jedoch war die schillerndste Persönlichkeit, der Lorenz Beheim in Rom begegnet war. Zwar äußerten sich alle über ihn, doch niemand kannte wirklich seine Seele, geschweige denn deren Abgründe - auch Lorenz Beheim nicht. Der junge Mann pflegte mit Genuss seine Rolle als rätselhafter Außenseiter. Meisterhaft beherrschte er schon in jungen Jahren die Klaviatur der psychologischen Manipulation.
Dabei waren außergewöhnliche und facettenreiche Persönlichkeiten am Tiber nicht gerade selten. Beheim selbst konnte mit Fug und Recht dazu gezählt werden. Als Sohn eines Nürnberger Geschützgießers hatte er in Rom Karriere gemacht, nicht zuletzt wegen seines umgänglichen Charakters und seiner vielfältigen Begabungen. Er war ein Universaltalent: Alchemist, Ingenieur, Mediziner, Musiker und Altertumswissenschaftler. Als Brotberuf hatte er zunächst eine Stellung als Haushofmeister im Palast Rodrigo Borgias inne, dann als päpstlicher Geschützmeister. Tagsüber für die Geschütze in der Engelsburg zuständig, huldigte Beheim nachts seinen Studien. Und vielleicht war es gerade diese Annäherung an das humanistische armi-e-lettere- Ideal - jene idealtypische Kombination aus Waffendienst und geistiger Tätigkeit -, die Cesare Borgia so sehr an ihm faszinierte. Bei Beheims Kenntnis des Kriegshandwerks verwundert es auch nicht, dass Cesare Borgias Fragenkatalog vornehmlich der Technik des Krieges galt: Gifte, um Gegner zu eliminieren, die Entwicklung von Kommunikationsformen im Gefecht, etwa bei räumlicher Distanz verbündeter Heere, oder Apparaturen, um Gewässer zu überwinden. Aber nicht nur praktischen Fragestellungen waren die beiden Männer zugeneigt, auch metaphysischen.
Lorenz Beheim hatte ein Steckenpferd, das den jungen Borgia überaus faszinierte: Er war ein glühender Anhänger der Astrologie. Über den Katalog der Vatikanischen Bibliothek lässt sich rekonstruieren, dass Lorenz Beheim häufig astrologische Schriften entlieh. Zahlreiche Horoskope aus seiner Hand sind überliefert. Willibald Pirckheimer nahm immer wieder Beheims astrologische Expertisen in Anspruch. Er ließ sich detaillierte Horoskope erstellen, so etwa dasjenige Albrecht Dürers, das dessen Ruhm wie dessen sexuelle Begierden erklärte. Zwar trieben viele Gelehrte des Mittelalters und der Renaissance nach antikem Vorbild ihren Spott mit den Astrologen, da sie nach Meinung ihrer Kritiker ein Wissen beanspruchten, das dem Menschen unerreichbar war, doch mit vielen anderen teilte Beheim die Ansicht, dass jeden Menschen von seiner Geburtsstunde an ein Band mit einem Planeten verbinde, der sein Schicksal lenke.
Brennend interessiert an seinem weiteren Lebensweg fragte auch Cesare Borgia den Geschützmeister eines Tages nach seinem Schicksal. Lorenz Beheim aber zögerte mit seiner Antwort. Nur widerwillig kam er dem Wunsch seines Zöglings nach, wusste er doch, dass die Sterne auch unangenehme Nachrichten zu bieten haben konnten. Und die Borgia pflegten mit den Überbringern von schlechten Nachrichten nicht gerade zart umzugehen, wie Beheim aus der Vergangenheit nur zu gut in Erinnerung hatte. Als Cesare Borgia ihn in den darauffolgenden Tagen aber immer mehr bedrängte und ihm mit der Autorität seines Standes drohte, blieb Beheim nichts anderes übrig, als seinem Wunsch nachzukommen. Auf Borgias Frage antwortete der Nürnberger Geschützmeister mit brüchiger Stimme: „In der Stunde Deiner Geburt stand die Sonne im aufsteigenden Haus, der Mond im siebten, Mars im zehnten und Jupiter im vierten Haus."4 Cesare Borgia konnte mit diesen Worten zunächst nichts anfangen. Er verstand nicht, was diese Planetenstellung zu bedeuten hatte. Als sein Blick aber immer bohrender wurde, antwortete Beheim in überlegtem Ton, dass diese Konstellation nichts Gutes verheiße: „Auf einen unwiderstehlichen Aufstieg wird ein ebenso rasanter Abstieg folgen."
Der Kardinalspurpur
Der ungeliebte Bastard
Vatikan, Juni 1493
Nur noch ein verächtliches Grinsen hatte Cesare Borgia für Beheims Prophezeiung übrig, als er bei einem Gang durch die vatikanischen Gemächer noch einmal an das Horoskop dachte. „Abstieg? Bei aller Wertschätzung, was kommt diesem teutonischen Barbaren in den Sinn? Sieht er nicht, auf welche Weise das Schicksal meine Familie begünstigt?"
Und in der Tat, Cesare Borgias Übermut war gerechtfertigt. Nur zu gut hatten die Borgia die Rufe der Römer in Erinnerung, die den Papst anlässlich seiner Wahl mit Superlativen bedachten: „Alexander der Große, Göttlicher Alexander!" riefen sie dem Kirchenoberhaupt entgegen, als ihm am 26. August 1492 im Vatikan die Tiara, die Papstkrone, aufgesetzt wurde. Seitdem herrschte Aufbruchstimmung im Kirchenstaat. Alexander VI. betätigte sich sogleich als Baumeister und Kunstmäzen. Im November begann der Maler Pinturicchio die Ausmalung der vatikanischen Borgia-Gemächer, einem genau festgelegten Programm folgend, das in bildlich verschlüsselter Form die Ideale, Hoffnungen und Anschauungen der Borgia illustrierte. Noch heute strömen Tausende von Besuchern täglich durch die verschiedenen Säle - den Saal der Heiligen, den Saal der Glaubensmysterien, der Künste, der Sybillen -, die mit allegorischen Darstellungen ausgemalt wurden.
Cesare Borgia stand an jenem Junitag des Jahres 1493 mit stolzgeschwellter Brust vor den Fresken Pinturicchios. Ungeduldig wartete er auf den Beginn der Feierlichkeiten, die anlässlich der Hochzeit seiner Schwester Lucrezia im Vatikan stattfinden sollten. Es war noch Zeit, und so fand er Gelegenheit, seinen Blick über die bereits in Umrissen erkennbaren Abbildungen schweifen zu lassen. Sofort fiel ihm auf, dass alles Abgebildete Heiterkeit atmete - Heiterkeit, die seiner eigenen Gemütslage entsprach: Seine Augen richteten sich auf tanzende Satyrn mit Fruchtkörben und Thyrusstäben, auf Engel mit Weihrauchfässern und Kreuzen, auf Blumengirlanden, auf eine sanfte Hügellandschaft mit Zypressen, auf turtelnde Vögel, auf einen kleinen Pagen, der einem Hündchen beibringt, auf den Hinterpfoten zu stehen. Und für all diese Lebensfreude zeichnete ein goldroter Stier verantwortlich: das Wappentier der Borgia in Gestalt des Sonnengottes Apis. In sagenhafter Personalunion verkörpert er Apis und Alexander VI., den römischen Pontifex.
Pinturicchio erschuf in mythologischer Form eine regelrechte Familienlegende. „Auch wenn wir Borgia nicht göttlichen Ursprungs sind", wie sich Cesare lächelnd eingestand, „haben wir es doch wahrlich weit gebracht. Einstmals Grenzritter in der spanischen Provinz, herrschen wir nun über die Christenheit." Rom, ja die gesamte christliche Welt, sollte den Borgia zu Füßen liegen, dachte der junge Mann in diesem Moment, berauscht durch die glänzende Pracht der Bilder. Und ganz besonders ihm: Aut Caesar aut nihil - Cesare oder nichts -, lautete schon wenige Jahre später seine stolze Devise, dem berühmten Römer folgend, der auf denselben Namen hörte.
Bescheidenheit und Besonnenheit zählten nicht zu Cesare Borgias größten Tugenden, wie dem Zeugnis zahlreicher Botschafter zu entnehmen ist. Cesare sei „sehr jung in allem", was er tut, schrieb der florentinische Kanzler Antonio Colle an seine Stadtoberen über den Charakter des jungen Mannes.5 Dutzendweise strömten Berichte in jenen Monaten in geheimen Kanälen aus dem Vatikan. Die Herren Italiens wollten schließlich wissen, was auf sie zukam. Man hatte es bei Cesare Borgia mit einem angehenden Kirchenfürsten, vielleicht mit einem zukünftigen Papst zu tun. Vorsorge tat Not, und so schärften die Spitzel ihre Ohren: „Vorgestern suchte ich Cesare in seinem Haus in Trastevere auf. Er wollte eben zur Jagd aufbrechen, trug ein weltliches Gewand aus Seide und hatte sein Schwert an der Seite. Er hatte nur eine kleine Tonsur wie ein einfacher Priester. Ich ritt neben ihm her und unterhielt mich lange mit ihm. Ich stehe mit ihm auf vertrautem Fuße. Er besitzt eine ausgeprägte Begabung und eine bezaubernde Persönlichkeit. Er hat die Manieren des Sohnes eines großen Fürsten; vor allem ist er lebhaft und fröhlich und liebt Gesellschaft", schrieb der ferraresische Gesandte an seinen Herzog.6
Rauschende Feste, teure Kleidung, prunkvolles Ambiente, Luxus und Ausschweifungen kennzeichneten den Alltag Cesare Borgias in jungen Jahren. Man sah ihn häufig in Begleitung spanischer Jünglinge. Er war ein Pferdenarr, und vor allem die Jagd hatte es ihm angetan. Dem Mainzer Erzbischof schrieb er einen Brief, in dem er ihn bat, ihm einige taugliche Hunde zu schicken. Er habe nämlich gehört, dass sich deutsche Hunde besonders für die Jagd eigneten.7 Körperliche Ertüchtigung war an der Tagesordnung. Er sah auffallend gut aus; kräftig und hochgewachsen, bedeckten dunkelblonde Haare sein Haupt; sein längliches Gesicht zeichnete sich durch feingezeichnete Züge aus. Ein markantes Kinn, bedeckt von einem dunkelblonden Bart, kontrastierte dazu - gleichsam als spiegele sich sein Charakter in seiner Physiognomie wider. Sein Blick war kühn und stolz und verriet, dass er sich überlegen fühlte. Missliebigen Zeitgenossen konnte er mit unverhohlener Arroganz begegnen, um im nächsten Moment wieder charmant zu sein. Die Fähigkeit zu messerscharfer Analyse ging bei ihm mit naivster Unbesonnenheit einher.
Cesare war mittlerweile (seit 1492) Erzbischof von Valencia. Ihm wurde eine große kirchliche Karriere prophezeit, und man verlangte trotz seiner Jugend von ihm, Verantwortung zu übernehmen. Sein Palazzo in Trastevere diente ihm nur als Zwischenstation. Er wohnte im Vatikan über den Gemächern seines Vaters Rodrigo Borgia, des kürzlich gewählten Papstes Alexander VI., dort, wo Raffael später die Stanzen ausmalen sollte.
Noch als Kardinal - wohl um 1474 - war Rodrigo Borgia Vannozza de Cattanei begegnet, einer Römerin norditalienischer Herkunft.8 Schon vorher hatte Rodrigo in Rom Mätressen gehabt, mit denen er drei illegitime Kinder gezeugt hatte. Vannozza de Cattanei jedoch war die Frau, die ihm zeitlebens am nächsten stand. Freilich hinterging er auch sie später mit anderen Favoritinnen; doch er hielt zu Vannozza ein Leben lang Kontakt, ja, er versorgte sie mit Ehemännern und Besitztümern. Sie muss eine erstaunliche Frau gewesen sein, stolz, selbstbewusst, temperamentvoll und von großer emotionaler Intelligenz - und zweifellos attraktiv und leidenschaftlich. Überliefert ist ein Porträt von ihr in fortgeschrittenem Alter: Ein Schleier bedeckt Vannozzas Haar und verleiht ihr ein ehrwürdiges Aussehen; das Gesicht ist oval, die Nase markant, der Mund klein und fein geformt; wache, kritisch blickende Augen lassen auf reiche Lebenserfahrung schließen. Und diese hatte sie wahrlich. Niemand konnte ihr etwas vormachen. Schon gar nicht die römischen Männer, denn die kannte sie zur Genüge. Einen Geschäftsmann, der es wagte, sich mit ihr anzulegen, verfolgte sie mit Ingrimm. Ein „vom Teufel besessenes Weib" sei sie, ließ er erbost ganz Rom wissen. Vannozza sah dies freilich anders. Nicht mit dem Beelzebub, sondern mit einem potenziellen Nachfolger Petri hatte sie intimen Verkehr. In seinem Ruhm sonnte sie sich. Überaus geschäftstüchtig, legte sie später einen Teil ihres Vermögens in Herbergen und Wohnhäusern an. In das heute noch im Herzen Roms stehende Albergo del Sole auf dem Campo dei Fiori flossen ihre Gelder. Dass es bei ihren Geschäften bisweilen nicht immer einwandfrei zuging, störte die schlaue Frau wenig. Im Alter betätigte sie sich dann als fromme Stifterin, die armen Menschen Unterstützung zukommen ließ - gleichsam um ihre „Sünden" reinzuwaschen.
Geboren im Jahre 1442, war Vannozza schon 32 Jahre alt, als sie Rodrigo Borgia begegnete - somit in einem Alter, in dem man in der Renaissance nicht mehr als jung galt. Insgesamt vier Kinder entsprangen ihrer Verbindung: Cesare, das älteste, wurde 1475 geboren, Juan 1476, Lucrezia 1480 und Jofré 1481. In einer Urkunde wird Vannozza als Tochter Jacopos „des Malers" erwähnt. Ob Cesare Borgia seine spätere Liebe zur bildenden Kunst von der Mutter geerbt hatte? Dass sie mit einem hohen kirchlichen Würdenträger Kinder gezeugt hatte - ihr Liebhaber war zu der Zeit Kardinal -, galt damals als lässliche Sünde. Vannozzas Grabstein im Portikus der Basilika San Marco preist sie unumwunden als Mutter der päpstlichen Sprösslinge. Ihre erhaltenen Briefe lassen auf eine zärtliche, liebende Mutter schließen, die stets die Etikette wahrte. Als ihr Bettgenosse 1492 zum Papst gewählt wurde und sich fortan Alexander VI. nannte, küsste sie ihm vor versammeltem Hofstaat die Füße. Lucrezia redete sie später mit „Euer Gnaden" an.9
Zwanzig Jahre lang lebte sie mit Rodrigo Borgia in seiner Zeit als Kardinal zusammen. Die Sommer verbrachten die beiden Liebenden regelmäßig in einem Kloster in Subiaco, einem etwa 75 Kilometer östlich von Rom in 400 Metern Meereshöhe gelegenen Städtchen. Der Kardinal bezog die Pfründe der ansässigen Klöster und zeichnete dort für Verwaltungsaufgaben verantwortlich, die er buchstäblich von oben herab leitete. Denn während die beiden nachts im Turm dem Liebesspiel frönten, arbeitete der gestrenge Kardinal tagsüber Richtlinien aus, die dem Sittenverfall in den Klöstern ein Ende setzen sollten. Rodrigo zeigte sich nämlich empört über den Niedergang der Moral, der mit der Ordensregel des heiligen Benedikt unvereinbar war. Zwar wurde zu jener Zeit das Keuschheitsgelübde tagtäglich missachtet, nicht nur hinter den Klostermauern Subiacos, doch hinderte dies Rodrigo nicht, energisch gegen sexuelle Freizügigkeit vorzugehen. Die Idee, sich in dieser Hinsicht selbst zu be schränken, kam ihm freilich nie. Für ihn galten andere Gesetze. Er hielt es schon früh mit seinen Hagiographen, die ihn unumwunden als Gott bezeichneten: „Rom war groß unter Julius Caesar, jetzt ist es größer. Alexander VI. herrscht; jener war ein Mensch, dieser ein Gott!"
Ob Cesare tatsächlich in Subiaco geboren wurde, wie es die Inschrift eines Hauses dort besagt, kann heute nicht mehr zweifelsfrei festgestellt werden. Einem Bastard wie ihm wandten seine Zeitgenossen wenig Aufmerksamkeit zu. Sie hüllten sich vielmehr in Schweigen über den Neugeborenen. Schriftliche Zeugnisse fehlen. Kein Taufeintrag, nichts. Es ist bezeichnend und geradezu emblematisch für Cesares weiteren Lebensweg, dass sein Geburtsdatum nur über ein Horoskop rekonstruiert werden kann. Aber musste jemand, dessen Geburtsdatum auf ein heidnisches Machwerk zurückzuführen war, nicht von Anfang an mit dem Teufel im Bunde stehen? Sternengebilde anstelle der Gnadenwirkung der Taufe? Für die Mythenbilder und Schöpfer der schwarzen Borgia-Legende war das Rätsel um Cesares Herkunft geradezu eine Einladung. Er kam buchstäblich aus der Anonymität und verschwand wieder in dieser. Die genaue Lage seiner sterblichen Überreste ist heute unbekannt. Nur ungefähr kann man sie räumlich zuordnen. Ob die Knochen, die man 1945 barg, tatsächlich von ihm stammen, steht nicht zweifelsfrei fest. Bereits 1953 begrub man sie wieder.
Cesare Borgia ließ sich nicht einordnen. Die Historiker verlassen sich jedenfalls auf die Sternenanalyse des Nürnberger Geschützmeisters - fragte Beheim doch einst seinen Zögling nach seinem Geburtstag, um die Sterne nach seiner Zukunft zu befragen: Es war wohl Mitte September des Jahres 1475, als Cesare Borgia, der spätere Prototyp des amoralischen Renaissance- Fürsten, geboren wurde.
Um seine kirchliche Laufbahn nicht zu beeinträchtigen, vermied Rodrigo Borgia in der Folge, sein Verhältnis mit Vannozza weiter zur Schau zu stellen. Die gemeinsame Sommerfrische in Subiaco wurde unterbunden, denn die Anzahl seiner illegitimen Sprösslinge erfüllte ihn allmählich mit Sorge. Fast jedes Jahr gebar Vannozza ihm ein Kind. Und wenn sie nicht von ihm schwanger war, dann trug sie die Frucht eines anderen Mannes in ihrem Leib. Bei aller Freizügigkeit in sexuellen Belangen, wie sie auch im Vatikan in jenen Jahren vorherrschte: zu viel war kontraproduktiv. Zwar war Rodrigo Borgia nicht der einzige Kardinal, der Kinder hatte. Im Gegensatz zu seinen Kollegen präsentierte er sie aber gerne öffentlich als seine Nachkommen. Es wäre einem weiteren klerikalen Aufstieg abträglich gewesen, wenn er sich weiterhin offen zu seinen Sprösslingen bekannt hätte. Und so sorgte er vor: Er verheiratete Vannozza mit dem päpstlichen Beamten Domenico d'Arignano.
Cesare schmunzelte, als er an das Haus Vannozzas an der Piazza Pizzo di Merlo dachte. Wie bescheiden ging es dort im Verhältnis zu seinem jetzigen Leben zu - hier Pinturicchios grandiose Fresken, dort in schlichtem Weiß übertünchte Wände, die nur gelegentlich ein Wandbild schmückte. Der Steinfliesenboden, der im Sommer wohlige Kühle spendete, sorgte im Winter für eisige Kälte. Einfache hölzerne Stühle umgaben die massiven Eichenholztische, holzgetäfelte Decken schlossen die hohen Räume ab. Eine massive, mit Ornamenten verzierte Truhe enthielt Vannozzas Aussteuer. Wuchtige Möbel, ein Reliquienschrein und die obligatorische Madonnenfigur rundeten die Ausstattung ab. Wie sehr kontrastierte diese Behausung mit Kardinal Rodrigos Palast! Und welche Wechselbäder der Gefühle waren es, wenn Cesare als Knabe von der einen Behausung zur anderen lief! Der Palast des Kardinals galt als einer der glanzvollsten Roms. Jacopo da Volterra schrieb im Jahre 1486 über den Hausherrn und sein Haus: „Er ist ein Mann von einem für alle Dinge geschickten Geist und von großem Sinn; fertig in der Rede, die er bei mittelmäßiger Literatur sehr wohl zu stilisieren weiß; von Natur verschlagen und von wunderbarer Kunst in der Behandlung der Geschäfte. Er ist außerordentlich reich, und die Protektion von vielen Königen und Fürsten gibt ihm Ruf. Er bewohnt einen schönen und bequemen Palast, den er sich in der Mitte zwischen der Engelsbrücke und Campo dei Fiori erbaut hat. Aus seinen kirchlichen Ämtern, vielen Abteien in Italien und Spanien und aus drei Bistümern ... bezieht er unermessliche Einkünfte, während ihm das Amt des Vizekanzlers allein, wie man sagt, jährlich achttausend Goldgulden einträgt. Die Menge seines Silbergeschirrs, seiner Perlen, seiner in Gold und Seide gestickten Decken und seiner Bücher jeder Wissenschaft ist sehr groß und alles dies von einer glänzenden Pracht, welche eines Königs oder Papstes würdig wäre. ... Man glaubt in der Tat, dass er alle Kardinäle, mit Ausnahme des einen Estouteville, an Gold und Reichtum jeder Art übertrifft."10
Es war weniger die Schlichtheit des mütterlichen Hauses, die Cesare im Nachhinein zum Schmunzeln verleitete, als vielmehr sein eigenes Verhalten in jungen Jahren - die Art und Weise, wie er sich manipulieren ließ. Wie sehr hätte er sich damals gewünscht, sein Geschick selbst in die Hand zu nehmen, statt über sich bestimmen zu lassen. Er sollte Geistlicher werden - dies stand für beide Elternteile fest. Niemand fragte ihn. Sein älterer Halbbruder Pedro Luis, der einer anderen Liebesbeziehung Rodrigos entstammte, war von diesem zum Herzog von Gandia bestimmt worden. Schon früh wurde er nach Spanien geschickt, um sich dort auf eine glänzende weltliche Karriere vorzubereiten. Und so blieb für den jungen Cesare nach Meinung des Vaters nur der geistliche Stand übrig. Freilich nicht ein kleines Kirchenamt. Seine kirchliche Laufbahn sollte ebenso glanzvoll sein wie die weltliche seines Halbbruders. Rodrigo Borgia hatte sich noch nie der Tugend der Bescheidenheit gerühmt, und so bedrängte er den Heiligen Vater, den Aufstieg seines Sohnes zu fördern. Bereits 1482 wurde er mit nur sieben Jahren zum apostolischen Protonotar ernannt, kurze Zeit später zum Kanoniker der Kathedrale von Valencia. Und so stieg er Schritt für Schritt die klerikale Karriereleiter hinauf, bis er mit sechzehn Jahren Bischof wurde. Cesare aber, wenig erbaut über diesen päpstlichen Gunstbeweis, fluchte in den kommenden Jahren nicht nur einmal über seinen vom Glück begünstigten Bruder. Während dieser die Welt kennenlernen durfte, in Waffenkunde, Wehrtechnik und Diplomatie ausgebildet wurde - jenen Gebieten, die Cesare so sehr interessierten -, waren ihm ein karger Palazzo und die traditionellen Fächer der studia humanitatis beschieden, die als Propädeutik für das Studium des Kirchenrechts und der Theologie angesehen wurden.
Nicht nur, dass man auf seine Bedürfnisse keine Rücksicht nahm, sein ganzes Leben erschien ihm beinahe unwirklich. Jeder wusste, dass der kleine Junge der Sohn des Kardinals war. Offiziell musste Cesare sich aber zu jenem Domenico d'Arignano als leiblichen Vater bekennen, den er nicht nur kaum kannte, sondern der ihm auch unsympathisch war. Domenico war ein unwirscher alter Mann, eine Marionette in Kardinal Rodrigos Händen, als er in Cesares Leben trat. Nie war er wie ein Vater für ihn, nicht zuletzt weil er sich als Verwaltungsexperte die meiste Zeit im Auftrag der Kirche auf Reisen befand. Sein Verhältnis zu Vannozza war denkbar schlecht. War er anwesend, stritten sie sich häufig, und Vannozza hielt ihn zeitlebens in schlechtem Andenken. In ihrem Testament ließ sie für ihre verblichenen Gatten Seelenmessen anordnen - außer für Domenico. Als hätte es ihn nie gegeben.
Dann war da noch Adriana de Milà, jene aristokratische Dame, in deren Obhut Cesare in früher Kindheit gegeben wurde, damit ihm eine standesgemäße Erziehung zuteilwerde. Vannozzas schlichtes Heim und ihre ungehobelten Manieren schienen Rodrigo Borgia schon bald nicht mehr opportun für die Ausbildung des Sohnes eines hohen Geistlichen. Außerdem tummelten sich in Vannozzas Haus noch ihre Kinder aus anderen Verbindungen, die seinen Ansprüchen schon gar nicht gerecht werden konnten. So wurde Cesare buchstäblich zwischen drei Haushalten hin- und hergereicht, ohne je tiefe emotionale Bindungen entwickeln zu können, und ohne zu wissen, wohin er eigentlich gehörte.
Als Cesare in die Sala delle Arti liberali eintrat und auf Pinturicchios Fresken plötzlich die Allegorien der Sieben Freien Künste erblickte, empfand er ein leichtes Unbehagen. „Sie nun wieder! Ich kenne sie nur zu gut, jene Lehrmeisterinnen." Die jungen Frauen, die nun anmutig auf Marmorsitzen thronten, umgeben von den wichtigsten Gelehrten aller Disziplinen, hatten ihm doch nur ihre üble Fratze gezeigt. Früh hatte sein Vater ihn mit jenen kanonischen Fächern traktiert. Und schon gar nicht hatte er sie als schöne Frauen in Erinnerung. Täglich kamen verschiedenste Lehrer in das Haus Adriana de Milàs, der Vertrauten Rodrigo Borgias und Erzieherin seiner Kinder, ältere Herren, ebenso grau wie das Gemäuer, krumm vom langen Sitzen über den Büchern und ihr Wissen würdevoll zur Schau gestellt. Neben der Grundunterweisung in Lesen, Schreiben und Rechnen forderten die Lehrmeister fundierte Kenntnisse in philosophischen, theologischen, rhetorischen und literarischen Texten. Entsprechend dem Fächerkanon der Sieben Freien Künste wurde Cesare auch in Arithmetik, Geometrie, Musik und Zeichnen ausgebildet. Spannolio di Maiorca, ein Spanier, und Lodovico Podocatharo, der griechisch-zypriotische Sekretär Rodrigos, unterrichteten den Jungen in den Sprachen. Jeden Tag lernte er neben Spanisch, auf das sein Vater besonders großen Wert legte, Griechisch und Latein.
„Spannolio war der einzige, der mein wahres Talent erkannt hat", dachte Cesare, noch immer auf die Allegorien blickend. Er erinnerte sich, wie der Spanier ihm einst prophezeit hatte, er werde zu hohen Würden aufsteigen als „Zierde und Hoffnung des Hauses Borgia".11
Cesares Blick schweifte zur Allegorie der Grammatik hinüber. Hier fühlte er sich sichtlich wohler. Das Fach, das ihm in seiner Kindheit mit am meisten Spaß gemacht hatte, war Latein, nicht zuletzt wegen seines Lehrmeisters Lorenz Beheim. Auch wenn er ihn mit seinem Horoskop verärgert hatte, mochte Cesare den kauzigen Deutschen gern. „Gewaltig ist das Sakrament der lateinischen Sprache, gewaltig fürwahr ihre Göttlichkeit, welche bei den Fremden, bei den Barbaren und sogar bei den Feinden heilig und gewissenhaft so viele Jahrhunderte hindurch bewahrt wurde, so dass wir Römer nicht so sehr darüber zu trauern brauchen, sondern uns vielmehr daran erfreuen und sie vor den Ohren der ganzen Welt preisen sollten. Zwar haben wir Rom verloren, ... aber dennoch regieren wir durch die glänzende Herrschaft der Sprache in einem großen Teil der Erde ... Dort nämlich ist römisches Reich, wo die römische Sprache herrscht."12 Bis zum Überdruss hatte er sich diesen berühmten Ausspruch des Humanisten Lorenzo Valla aus dem Munde Beheims anhören müssen. „Das Lateinische, und nur das Lateinische ist die Brücke zur ruhmreichen Vergangenheit Roms ..." Der junge Borgia erinnerte sich, wie er einst mit leuchtenden Augen an den Lippen seines Lehrmeisters hing. Lorenz Beheim trug diese Sätze gebetsmühlenartig vor. Und er war derart für die römische Antike entbrannt, dass er seinen Schüler auch dafür zu entflammen vermochte. Zehn Jahre alt war Cesare, als Beheim eines Tages aufgeregt zu ihm hereinkam, um ihm von einem besonderen Fund zu erzählen: „Bei Grabungsarbeiten an der Via Appia stießen Bauarbeiter auf einen römischen Sarkophag, in dessen Innerem die unverweste und wunderschöne Leiche einer jungen Römerin liegt." Cesare erinnerte sich an die Gänsehaut, die ihm über den Rücken lief, als Beheim ihm von der wachsfarbenen Haut des jahrhundertealten Mädchens erzählte. Die Römer waren so begeistert von dem Fund, dass sie den Leichnam öffentlich ausstellten. Wahre Pilgerströme zogen sie dadurch an - bis Papst Innozenz VIII. sein Veto einlegte. Aus Furcht, die antike Schönheit könne zum neuheidnischen Kultobjekt werden, ließ er den Leichnam bestatten.
Cesare war ganz in Erinnerungen an bizarre Begebenheiten wie diese versunken, als er jäh aus seinen Gedanken gerissen wurde. Der päpstliche Zeremonienmeister Johannes Burckard - ebenfalls ein Deutscher am päpstlichen Hof Alexanders VI. - trat an ihn heran an, um ihm mitzuteilen, dass die Feierlichkeiten begannen. Cesares Miene hellte sich sofort auf, als er an Lucrezia dachte. Seine kleine, innig geliebte Schwester war es, deren Eheschließung gefeiert wurde. Schon seit geraumer Zeit hatte er die heitere Tanzmusik gehört, die durch die Gemächer drang. Klapperndes Geschirr, Rufe der Bediensteten, durchsetzt vom Lachen der Gäste verhießen heitere Geselligkeit. Wie von einer magischen Hand geleitet zog es Cesare Borgia in Richtung des Lärms. Und doch überkam ihn noch ein kurzes Gefühl der Beklemmung. Bestand nicht eine merkwürdige Analogie zwischen dem zur Schau gestellten Leichnam des römischen Mädchens und seiner eigenen, überaus lebendigen Schwester? Lucrezia war kaum dreizehn Jahre alt, ein unschuldiges und zartes Geschöpf mit blondem Haar. La dolce cera - „süßes Antlitz" - wurde sie von allen liebevoll genannt. Auch sie wurde gerade eben den Römern zur Schau gestellt. Auch über ihr Schicksal entschied eine päpstliche Verfügung. Wie jenem römischen Mädchen wurde ihr eine bestimmte Rolle zugewiesen, und dies nicht post mortem, sondern in einem Alter, in dem Lucrezia noch eher an kindliche Vergnügungen dachte. Wie er selbst, war sie ein Spielball in den Händen ihres Vaters.
In Cesare stieg plötzlich Wut auf, sein Puls begann höher zu schlagen, als er seinen Vater inmitten der Hochzeitsgesellschaft thronen saß. Ein breites Lächeln auf den Lippen, sich gemessen bewegend und allein durch seinen massigen Körper Dreh- und Angelpunkt des Saals. Stärker denn je verspürte Cesare in diesem Moment das Bedürfnis, sich gegen das ihm aufgezwungene Schicksal aufzubäumen. Doch sogleich überkam ihn auch wieder ein Gefühl der Ohnmacht. Es war diese eigenartige Mischung aus Misstrauen, Verachtung und Zuneigung, die er seinem Vater gegenüber empfand. Er wusste, dass er ohne ihn ein Niemand war und dass er nur mit ihm, niemals aber gegen ihn agieren konnte. Dennoch schmerzte es ihn, dass er in der Gunst des Vaters deutlich hinter seinen Geschwistern stand. Er hatte es ihn oft genug spüren lassen. Lucrezia liebte Papst Alexander VI. über alles. Sein Lieblingssohn aber war zweifellos Juan, der mit ihm die Leichtlebigkeit, die Schwäche für schöne Frauen und große Auftritte teilte. Für Cesares Intelligenz empfand er zwar Achtung, doch er misstraute ihm, denn Cesare war weniger manipulierbar als seine Geschwister, und Alexander VI. ahnte, dass etwas in ihm keimte, wovor er sich hüten musste. Der Ehrgeiz seines ältesten Sohnes war ihm suspekt.
Cesare kam die ganze Situation plötzlich unwirklich, geradezu unerträglich vor. Wie sehr kontrastierte seine Innenwelt mit dieser verlogenen Außenwelt! Die Magistratsbeamten Roms waren anwesend, Barone und Baronessen, das Kardinalskollegium und die Gesandten fremder Mächte. War nicht diese gesamte Hochzeitsgesellschaft eine einzige Ansammlung von heuchlerischen Hofschranzen, von Menschen, die ihm und seiner Familie zwar vordergründig Ehre erwiesen, die hinter ihrem schallenden Lacher aber bereits verleumderisch tuschelten? Über sie, die kleinen Spanier, die sich wie die Herren der Christenheit gebärdeten? Dort, neben dem päpstlichen Stuhl sitzend, befand sich Giulia Farnese, die neue Geliebte Rodrigos - über vierzig Jahre jünger als er und von allen nur la bella genannt. Beide nahmen gerade die Huldigung eines Mitglieds der römischen Adelsfamilie Orsini entgegen. Unterwürfig lächelte dieser dem Papst und seiner Geliebten zu, wohl wissend, dass Giulia eigentlich die Ehefrau des Orsino Orsini war, der bereits im zweifelhaften Ruf stand, der bekannteste Gehörnte Roms zu sein. Lucrezia, die auf der anderen Seite des Vaters saß, drohte in ihrem weißen Brautkleid aus Perlen-, Gold- und Juwelenstickereien in Ohnmacht zu sinken. Ihre Gesichtsfarbe glich gerade der des römischen Mädchen-Leichnams. Wie hätte sie in diesem Moment auch Freude ausstrahlen können?
Dann schweifte Cesares Blick zu Giovanni Sforza, als dieser sich in seinem funkelnden Umhang im türkischen Stil ebenso stolz wie aufgeblasen neben seine Schwester begab. Wie nichtssagend war doch dieser Bräutigam, wie unwürdig war er seiner Braut. Bereits am 9. Juni war Giovanni Sforza mit riesigem Pomp durch die Porta del Popolo eingezogen. Die gesamte Kurie war ihm entgegengeritten. Umgeben von Hofdamen hatte Lu crezia von einer Loge ihres Palastes aus gesehen, wie er langsam mit seinem Zug in Richtung Vatikan zog. Während er vorüberritt, grüßte sie ihren Zukünftigen. Ein glänzendes Spektakel, das in merkwürdigem Kontrast zu seinem Hauptprotagonisten zu stehen schien. Giovanni Sforza, der Herr von Pesaro, war farblos und ängstlich, auch wenn ihm seine Zeitgenossen eine herrschaftliche Erscheinung zuschrieben. Mit der großen Bühne Roms konnte er nie etwas anfangen. Die Borgia waren ihm suspekt. Fast heimlich war er im Oktober des Jahres 1492 nach Rom gekommen, um Papst Alexander VI. seinen Antrittsbesuch abzustatten und die Formalitäten der Hochzeit zu klären. Er wollte in die Eheschließung anfangs nicht einwilligen, wollte sein kleines und beschauliches Pesaro nicht verlassen, ließ sich aber von seinen Mailänder Verwandten schließlich überreden. Immer wieder schob er die Hochzeit auf, fand stets Gründe, nicht nach Rom zu reisen. Im Februar war die Ehe dann zwar per procura geschlossen worden, Giovanni musste sich aber in mühsamen Verhandlungen überreden lassen, die Ehe rechtskräftig zu schließen und sie mit einem angemessenen Fest zu feiern. Mit dem Argument, dass seine Gewänder und sein Schmuck nicht den römischen Verhältnissen entsprächen, hoffte er, einen letzten Aufschub erzwingen zu können. Der Markgraf von Mantua aber durchkreuzte seine Absicht, indem er ihm eine Halskette anbot. So musste sich Giovanni Sforza widerwillig beugen. Es war allgemein bekannt, dass er ein Kompromisskandidat war. Als unehelicher Sohn eines Bastards aus dem Hause Sforza sollte später gar seine männliche Zeugungskraft zur alles beherrschenden Frage vatikanischer Außenpolitik werden. „Der Himmel gebe, dass diese Heirat ... nicht Unheil anrichte", schrieb der Bevollmächtigte Ferraras im Vorfeld der Hochzeit flehend, schon vorausahnend, dass die Vermählung nichts Gutes verhieß. 13 Nur machtpolitische Überlegungen Alexanders VI. waren es, die Giovanni schließlich zum Bräutigam bestimmt hatten. Ursprünglich sollte nämlich jemand anders Cesares Schwager werden.
Die arme Lucrezia befand sich in jenen Monaten in einer wahrlich entwürdigenden Situation. Und nicht nur einmal war sie in der Vergangenheit völlig unschuldig zum Gegenstand eines öffentlichen Skandals geworden. Schon mehrere Male war sie verlobt gewesen. Als Elfjährige sogar mit zwei Spaniern zu gleich - Verbindungen, die ihrem Vater schon bald nicht mehr angemessen erschienen. Zu Beginn des Jahres 1493 buhlten dann zwei weitere Freier um sie. Der spanische Graf Aversa, der schon eine Zusage erhalten hatte, musste unverrichteter Dinge wieder abreisen, als Alexander VI. sich plötzlich für den italienischen Prätendenten entschied. Der Gesandte aus Ferrara be merkte dazu wiederum analytisch scharf: „Der erste Bräutigam ist noch da, erhebt als Katalane ein großes Zetergeschrei und sagt, er wolle sich bei allen Fürsten und Herrschern der Christenheit beklagen; doch er wird, ob er will oder nicht, nachgeben müssen."14 So kam es schließlich auch. Als Schmerzensgeld erhielt er 3000 Dukaten für seine Schmach. Giovanni Sforza, der 26 Jahre alte Neffe des Herzogs von Mailand, Ludovico Sforza, genannt il Moro, bekam den Zuschlag.
Cesare wusste, dass der Meinungswechsel seines Vaters mit der sich dramatisch verschlechternden inneritalienischen Lage zu tun hatte: König Ferrante (Ferdinand I.) von Neapel hieß der eigentliche Ehestifter; nicht als Kuppler, sondern als gemeinsamer Feind. Als Gegner des Papsttums und Mailands drängte sich ein Bündnis zwischen den Mailänder Sforza und den Borgia auf. Durch die Heirat Lucrezias wurde diese Allianz nun endgültig besiegelt.
Ferrantes Enkelin Isabella hatte einst Giangaleazzo Sforza geheiratet, den rechtmäßigen Herzog von Mailand. Doch dessen Onkel Ludovico hatte die Macht an sich gerissen. Giangaleazzo, ein jugendlicher Tunichtgut, war nicht unzufrieden mit seinem Schicksal. Gerne ließ er dem Onkel den Vorzug, gehörte sein eigentliches Interesse doch den Vergnügungen. Jedoch hatte er die Rechnung ohne seine ehrgeizige Frau gemacht. Sie intervenierte bei ihrem neapolitanischen Großvater und teilte ihm mit, dass seine politischen Hoffnungen bitter enttäuscht wurden - erhoffte sich Ferrante in Mailand doch ursprünglich Mitspracherechte. Ludovico selbst streckte die Finger nach Neapel aus. Papst Alexander VI. wiederum hatte Grund, von Ferrante nichts Gutes zu erwarten. Ein Verwandter seines Vorgängers hatte die nördlich von Rom gelegenen Festungen Anguillara und Cerveteri - die einst dem Kirchenstaat gehörten - für die horrende Summe von 45.000 Dukaten an die Orsini verkauft. Diese aber waren nichts anderes als Strohmänner Ferrantes. Und so war die Sicherheit des Papstes von Norden aus gefährdet. Mit den Sforza stand er ohnehin in einem freundschaftlichen Verhältnis. Kardinal Ascanio Sforza hatte sich einst im Konklave mit seiner Stimme für Alexander das Amt des Vizekanzlers erkauft. Somit war er Mitglied der päpstlichen „Familie".
Ferrante war außer sich vor Wut, als er von den Heiratsabsichten hörte. Sogleich wandte er sich an seine Cousins Isabella
I. von Kastilien und Ferdinand V. von Aragón und bat sie, dafür Sorge zu tragen, dass dieser verruchte Pontifex von seinen Plänen ablasse. Eine ganze Litanei an Beschimpfungen über Alexander brachte er vor: Nur durch Ämterkauf sei er in sein Amt gelangt, er denke nur an seine Bastarde, die er dynastisch verankern wolle, missbrauche seine Stellung und habe sich durch Kardinalsernennungen Geld verschafft. Anstelle von Priestern bevölkerten Mailänder Soldaten die Straßen Roms, Alexander VI. sei ein durch und durch lasterhafter Mensch. Seinen Gesandten trug Ferrante auf, keine Gelegenheit auszulassen, um den Papst zu demütigen. Neapolitanische Truppen rückten bereits an die Grenzen des Kirchenstaates vor. Auch wenn das römische Volk dem Pontifex und seiner Tochter gerade zujubelte - die Borgia waren von Feinden umgeben. Nicht nur von äußeren, vor allem von römischen, die sich in unmittelbarer Nähe der päpstlichen Familie befanden. Der römische Hochadel hatte sich mit den Borgia keineswegs abgefunden. Für die Orsini und Colonna waren die Borgia nichts anderes als fremde Emporkömmlinge, die nun das Ruder in den Händen hielten. Barbaren, Renegaten und Marranen - getaufte, aber heimlich mosaisch gebliebene spanische Juden - nannten sie sie insgeheim in ihren Tiraden. Alexander VI. setzten sie gar mit dem Antichristen gleich; apokalyptische Schreckensmeldungen machten die Runde: Seine sieben Kinder entsprächen dem siebenköpfigen Drachen der Apokalypse, tuschelten die Borgia-Hasser hinter vorgehaltener Hand. Als Feudalherren akzeptierten die römischen Barone nur ihre eigenen Gesetze. Mit ihren bewaffneten Truppen, die regelrechten Privatarmeen glichen, vermochten sie jederzeit, Unruhe im Kirchenstaat zu stiften. Und sie taten es. In ganz Rom tummelten sich die Anhänger jener Familien, dazu Florentiner und Neapolitaner Gesandte, scheinbar wohlwollend, doch mit geschärften Dolchen in den Gewändern.
Selbst der in Kardinalspurpur gehüllte Giuliano della Rovere, der 1492 zusammen mit Rodrigo Borgia um den Papststuhl konkurriert hatte, tat nun alles, um seinem Widersacher zu schaden. Heimlich paktierte er mit Ferrante von Neapel. Über seine Burg in Ostia ließ er die Tiberschifffahrt und damit die für die Metropole lebensnotwendige Einfuhr von Lebensmitteln behindern. Gerade sein Kastell in Ostia wurde zur Brutstätte perfider Verschwörungen. Oder wie jene bereits erwähnten Orsini, mächtige und altehrwürdige Stadtadlige, die schon vor Jahren von den Borgia gemaßregelt worden waren. Auch wenn einige von ihnen in päpstlichen Diensten standen, zu einer echten Bindung, gar zu einem Vertrauensverhältnis, kam es nie. Nun besaß Alexander VI. auch noch die Kühnheit, sich die Gattin eines Orsini zur Mätresse zu nehmen und mit ihr in aller Öffentlichkeit zu schäkern. Man kann nur mutmaßen, was in Niccolò Orsini vorging, als er in seiner Eigenschaft als päpstlicher Bannerträger bei der Trauung feierlich seinen Degen über die Köpfe des Brautpaars hielt - gerade in dem Moment, in dem Alexander die Eheringe wechselte.
Cesare Borgia ahnte nichts Gutes, als er die bunt gemischte Hochzeitsgesellschaft betrachtete. Der den Borgia ergebene Bischof von Aquila war bereits 1491 in einen Hinterhalt gelockt worden, als er einer Einladung Giuliano della Roveres in dessen Palast bei der Piazza SS. Apostoli in Rom gefolgt war. Am nächsten Morgen wurde sein Leichnam entstellt aufgefunden. In den 36 Tagen zwischen Papst Innozenz' Tod und der Krönung Alexanders VI. waren in Rom 220 Morde verübt worden. Auch wenn der Papst nach seinem Amtsantritt energisch gegen die Mordbanden vorgegangen war und Exempel statuieren ließ - nichts deutete darauf hin, dass sich an der Statistik etwas ändern würde. Im Gegenteil.
Nur wenige Meter entfernt von Cesare befanden sich einige der Auftraggeber jener Meuchelmörder - und sein Vater hatte in diesem Moment nichts Besseres zu tun, als sich mit Hochzeitskonfekt zu beschäftigen. Mit einem schlüpfrigen Lächeln steckte er seiner Geliebten ein confetto, eine Zuckermandel, in den Ausschnitt. Mit einem Kichern quittierte sie seinen pikanten Gunstbeweis. Durch das päpstliche Vorbild animiert, taten andere es ihm nach. Bedienstete warfen die confetti in so großen Mengen aus den Fenstern, dass das Volk gar nicht alle auffangen konnte. Das dumpfe Knirschen der Mandeln, die von den Zaungästen zertreten wurden, drang bis an Cesares Ohr. Berauscht durch den korsischen Wein, den er in der Zwischenzeit regelrecht in sich hineingeschüttet hatte - nicht zuletzt, um seine widersprüchlichen Gefühle zu betäuben -, nahm er ohnehin nur noch Eindrücke wahr. Die Bilder und Geräusche vermischten sich in seinem Kopf: Kurz dachte er an sein Hochzeitsgeschenk, einen silberbeschlagenen Korb, den er später noch überreichen wollte. Er hörte, wie in einer Ecke des Saales ein Stallmeister, in Tierhäute gehüllt, Liebesgedichte vortrug.15 Obszöne Lacher drangen aus dem Nachbarsaal, in dem eine Komödie erotischen Inhalts aufgeführt wurde. Die Musiker der päpstlichen Kapelle stimmten gerade wieder die Instrumente ...
Es war ein lukullisches Fest, das Cesare bald nur noch schemenhaft wahrnahm.
Ähnlich unbehaglich muss sich Giovanni Sforza gefühlt haben. Am nächsten Morgen nämlich sollte er mit Lucrezia die Ehe vollziehen, in Anwesenheit von Zeugen, wie es üblich war. Man wollte dadurch verhindern, dass die Ehe wegen Nichtvollzugs gelöst werden könne, sollte der erhoffte Nachwuchs später ausbleiben. Giovanni Sforza aber dachte nicht im Ernst daran, seinen ehelichen Pflichten nachzukommen. Am nächsten Morgen kehrte er allein in sein Quartier zurück. Schon im Vorfeld hatte er bekanntgegeben, dass er seine Braut für zu jung halte. Erst zu einem späteren Zeitpunkt wolle er die Hochzeitsnacht nachholen. Dass es sich dabei um einen Vorwand handelte, bewies er dadurch, dass er wenige Wochen später allein nach Pesaro zurückkehrte - angeblich wegen der übergroßen Hitze Roms und der damit einhergehenden Seuchengefahr.
Cesare erfuhr am nächsten Morgen von Giovanni Sforzas Ausrede, und er fühlte sich einmal mehr in seiner Ahnung bestätigt. Mit einem maliziösen Lächeln im Gesicht verweilte er in Gedanken kurz bei Giovannis Zeugungskraft, als der Restalkohol ihm mit hämmernden Stichen vor Augen führte, dass er über die Stränge geschlagen hatte. Dennoch: zu bereuen gab es nichts, er wusste, warum er seine Emotionen mit so viel Alkohol heruntergespült und regelrecht betäubt hatte. Ein zu großer Schwächling war dieser Mailänder. Freilich konnte Cesare am Festabend noch nicht ahnen, dass sein Besäufnis unnötig gewesen war. Zumindest im Hinblick auf Giovanni Sforza. Denn wie so oft noch, sollte sich auch in dieser Angelegenheit das Blatt wenden: Der Bräutigam war bereits Vergangenheit. Ebenso schnell, wie sein Vater den spanischen Grafen Aversa durch Giovanni Sforza ausgewechselt hatte, vollzog er nun eine erneute Kehrtwende. Nicht mehr der Herzog von Mailand, sondern sein einstiger Gegner Ferrante wurde Alexanders Bündnispartner. Wie kam es zu diesem Gesinnungswandel?
Wenige Tage nach den Hochzeitsfeierlichkeiten traf unvermittelt ein Gesandter Ferdinands V. von Aragón in Rom ein, um Alexander VI. mitzuteilen, dass ihm das Wohl Ferrantes überaus am Herzen liege. Von Furcht getrieben, dass ein Angriff der Bündnispartner gegen Neapel das Ende der Aragóns in Italien bedeuten könne, bot er dem Heiligen Vater ein Tauschgeschäft an. Alexander VI. witterte sogleich eine Chance, wurde das Anliegen doch von einem überaus mächtigen Monarchen vorgetragen. Wichtiger als das Wohl der Aragonesen in Italien war Ferdinand V. freilich ein päpstliches Urteil zugunsten Spaniens bezüglich der Staatsgewalt über die Neue Welt. Kolumbus hatte wenige Monate nach dem Amtsantritt Alexanders VI. „Westindien" entdeckt und der spanischen Krone zum Geschenk gemacht. Portugal aber, das sich auf eine päpstliche Verfügung aus dem Jahre 1479 berief, erhob seinerseits Ansprüche auf alle Länder an der atlantischen Küste. Ein Krieg schien unvermeidlich, bis der Papst durch zwei Bullen ein salomonisches Urteil fällte: Portugal wurden alle Länder östlich einer gedachten Linie, Spanien alle Neuentdeckungen westlich davon zugesprochen. So legitimierten die Alexandrinischen Bullen trotz der älteren Rechte Portugals die spanische Eroberung der Neuen Welt. Alle Beteiligten waren damit zufrieden, insbesondere Alexander VI. Ferdinand V. vergalt ihm seine Hilfe, indem er seine Cousine Maria Juan Borgia zur Frau gab. Gleichzeitig wurde Jofré, der jüngste Sohn des Papstes, mit Sancia verlobt, der hübschen Enkelin Ferrantes. Somit hatte Alexander VI. in atemberaubender Geschwindigkeit die Seiten gewechselt, immer den größtmöglichen Machtgewinn vor Augen.
Durch den königlichen Beistand Spaniens sah Alexander VI. seine Sippschaft nun endgültig im Aufwind begriffen. Und dennoch stellte sich ihm noch ein entscheidendes Problem: Es war allgemein bekannt, dass seine Kinder Bastarde waren. Hastig ließ er Jofré am 6. August als eigenen Sohn anerkennen, womit der Verbindung mit dem spanischen Königshaus nichts mehr im Wege stand. Mit Cesare allerdings verhielt es sich schwieriger. Da er als Bastard kein hohes kirchliches Amt bekleiden durfte, erklärte er ihn kurzerhand für den legitimen Sohn von Vannozza und Domenico d'Arignano. In einer geheimen Bulle, die er noch am selben Tag erließ, erkannte er ihn freilich als legitimen Sohn an. Nachdem alle Kinder nach utilitaristischen Gesichtspunkten untergebracht worden waren, sollte auch Cesare einen familiendienlichen Posten bekommen. Als alle formalen Hindernisse aus dem Weg geräumt waren, ernannte Alexander VI. ihn am 20. September 1493 zum Kardinal von Valencia - und dies, obwohl Cesare nur die niederen Weihen empfangen hatte und gerade erst achtzehn Jahre alt war.
In Rom war man sich einig darüber, dass Cesares Ernennung zum Kardinal nicht aus religiösen Gründen erfolgt war. Hohn und Spott waren ihm gewiss, und schon im Vorfeld der Ernennung munkelte man, dass der Makel seiner illegitimen Herkunft ausgelöscht werde: „Man wird seinen Flecken ... hinwegnehmen und mit Grund, ja man wird das Urteil fällen, dass er legitim sei, weil er im Hause geboren ward, als der Mann des Weibes lebte; dies steht fest: derselbe war damals gegenwärtig, bald in der Stadt, bald in Amtsgeschäften in den Ländern der Kirche, hin und herreisend", schrieb der ferraresische Botschafter mit Ironie.16
Cesare aber spielte das Spiel des Vaters ohne Murren mit. Die Kardinalswürde war ein enormer Prestigegewinn für ihn. Darauf ließ sich aufbauen, und so gab er sich zunächst mit seiner Rangerhöhung zufrieden - auch wenn die politischen Konflikte in ihm ganz andere Instinkte hervorriefen als christliche Nächstenliebe: Dem Krieg und der Machtpolitik galt seine Leidenschaft, nicht dem Glaubensdienst. Nicht im Traum hätte er je daran gedacht, nach Spanien zu reisen, um seinen klerikalen Pflichten nachzukommen. Aber vielleicht bot sich ihm in Rom ja schon bald eine neue Chance?
In der Ewigen Stadt heizte seine Berufung die ohnehin an gespannte Atmosphäre noch mehr an. Kardinal Giuliano della Rovere, Alexanders VI. Erzfeind, soll vor Wut geschrien haben, als er von der Ernennung hörte. Niemals wolle er zulassen, dass das Heilige Kollegium so „entweiht und beschmutzt" werde, verkündete er lauthals.17 Und doch hatte er insgeheim bereits seine Habseligkeiten gepackt. Im Vatikan ließ er sich nicht mehr blicken. Schon vor der endgültigen Abstimmung war Streit unter den Purpurträgern ausgebrochen. „Solche Zwietracht hat man noch nie gesehen", schrieb der mantuanische Gesandte in Anbetracht der polarisierten Stimmung. Anhänger und Feinde des Papstes gifteten sich regelrecht an - verständlicherweise. Denn was Alexander VI. in jenem Sommer des Jahres 1493 tat, war wohl eines der dreistesten Beispiele für päpstlichen Nepotismus, den der Vatikan je gesehen hatte. Neben Cesare wurde unter anderen auch Alessandro Farnese zum Kardinal ernannt. Er verdankte seine Wahl seiner Schwester Giulia, Alexanders VI. neuer Mätresse. Schon bald hatte er unter den Römern den Spitznamen il cardinale della gonnella inne, „Kardinal von Unterrocks Gnaden". Den Papst aber störten die hämischen Kommentare wenig. Den Kardinälen, die ihn verleumden und ihn in Schwierigkeiten bringen wollten, drohte er, „er werde ihnen, wenn sie darauf beharrten, schon noch zeigen, wer Papst Alexander VI. sei, und zu Weihnachten werde er ihnen zum Trotz noch einmal so viele [Kardinäle] machen, und sie würden ihn dennoch nicht aus Rom verjagen ..."18
Nur mit einer Stimme Mehrheit wurde Cesare Borgia schließlich zum Kardinal gewählt, so knapp, wie er sich in späteren Jahren des Öfteren um Haaresbreite aus der Schlinge ziehen sollte. Zum Zeitpunkt seiner Ernennung aber war er in Caprarola, etwa achtzig Kilometer nordwestlich von Rom. Die Vorbereitungen und der Ablauf der Wahl interessierten ihn nur wenig. Nunca de su voluntad fue clerigo - niemals sei er aus freien Stücken Geistlicher geworden, sagte er über sich selbst in jenen Monaten, um seinen mangelnden Eifer zu begründen.19 Sein Hauptinteresse im Sommer des Jahres 1493 galt folglich etwas ganz anderem: dem berühmtesten Pferderennen Italiens, dem „Palio" in Siena. Schon unmittelbar nach Lucrezias Hochzeit hatte Cesare Borgia nur noch das im Sinn. Aut Palio aut nihil.
In dem seit 1147 stattfindenden Pferderennen zu Ehren der Jungfrau Maria treten die einzelnen Stadtteile Sienas auf dem Hauptplatz der Stadt gegeneinander an. Gehören die Pferde heute ausschließlich zu den einzelnen Stadtvierteln, den contrade, durften sich in der Vergangenheit auch auswärtige Geldgeber einkaufen - wovon ausgiebig Gebrauch gemacht wurde. So ließen etwa die Medici und die Gonzaga Pferde unter ihrem Wappen an den Start gehen, um für Ruhm und Ansehen zu kämpfen. Auch Cesare ließ es sich nicht nehmen, um den Siegerkranz zu streiten, denn der Palio war ein Ereignis sondergleichen. Der Palio bot die Gelegenheit, gesellschaftliches Renommee zu erlangen, insbesondere für einen belächelten Marrano, einen Außenseiter, von dem alle Welt wusste, dass er ein Bastard war. Nur dort - und weit weg von seinem Vater - konnte Cesare den eingebildeten Adelsfamilien zeigen, was wirklich in ihm steckte. Und das wollte er um jeden Preis. Er glühte regelrecht vor Ehrgeiz.
Seit jeher ging es in dem Pferderennen um Ruhm und Ehre, und schon immer waren die Mittel, um den Sieg zu erlangen, unsportlicher Natur: Behinderungen des Gegners und unvermeidliche Stürze sind noch heute allgemein üblich. Ob das Pferd mit oder ohne Reiter ins Ziel kommt, spielt dabei keine Rolle. Auf dem glatten Grund der Piazza del Campo rutschen die Tiere regelmäßig aus und tragen teilweise so schwere Verletzungen davon, dass sie getötet werden müssen. Das siegreiche Pferd hingegen wird frenetisch gefeiert. Triumph und Niederlage, Glück und Pech, rauschende Siegesfeste wie Verhöhnungen der Verlierer liegen ebenso eng nebeneinander wie Leben und Tod. Im Grunde genommen sei der Palio ein Symbol des beständigen Lebenskampfes, sagen die Sieneser über das weltweit bekannte Ereignis.
Nicht von ungefähr fühlte sich gerade Cesare Borgia von diesem Rennen magisch angezogen. Er ging es mit einer Verbissenheit an, die seinen Kampf um Anerkennung spiegelte. Alle Mittel waren ihm recht, um den Sieg im Rennen am 16. August zu erlangen. Und er nutzte sie gewissenlos. Gewieft wie er war, griff er zu unlauteren Mitteln: Sein Jockey sprang im entscheidenden Moment vom Pferd ab, so dass das Tier, von seiner Last befreit, allen Gegnern davonlief. Auf diese Weise siegte Cesare Borgia. Allerdings nicht, ohne auf berechtigten Widerstand seiner Gegner zu stoßen. Francesco Gonzaga, der Markgraf von Mantua, dessen Pferd unmittelbar hinter dem Cesares ins Ziel gekommen war, erhob sogleich Einspruch. „Betrügerisch ist Borgias Sieg, nur mit Hilfe einer List hat sein Pferd gesiegt." Und die Stadtregierung von Siena gab dem Mantuaner recht. Der junge Borgia aber, außer sich vor Zorn, sah sich in seiner Eitelkeit gekränkt und seines Ruhmes beraubt. Sogleich schrieb er in diplomatisch verhülltem Kanzleistil an die Regierenden. Sie mögen sich in Acht nehmen, denn seine Freundschaft könne ihnen in Zukunft wichtiger werden als die des Mantuaners: „Nehmt Bedacht auf unsere Ehre und befehlt, dass der Palio [Uns] zugesprochen wird, womit Ihr Uns ein einzigartiges Vergnügen bereitet, und wir werden uns verpflichtet fühlen, Dinge zu tun, die zur Freude und Ehre Eurer Herrlichkeiten und hochedlen Gemeinde gereichen werden."20
Leider ist nicht überliefert, wie der Streit ausging. Aber eines zeigt das Schreiben deutlich: Cesare Borgia war nicht mehr gewillt, über sich bestimmen zu lassen. Schon gar nicht von unbedeutenden Stadthonoratioren. Seine zur Schau gestellte Arroganz war enorm. Und er wusste seine päpstliche Abstammung als Drohmittel im politischen Ränkespiel einzusetzen.
Für nichtige Freuden wie den „Palio" aber hatte Cesare schon bald keine Zeit mehr. Es sollte sein letztes jugendliches Vergnügen sein, bevor die politische Lage sich endgültig verschlechterte. Alexander VI. rief ihn schon bald nach Rom zurück, um seine Kardinalsernennung feierlich zu begehen. Am 17. Oktober betrat er die Ewige Stadt. Mit großem Prunk wurde er empfangen: „An diesem Morgen wird man den neuen Kardinälen Ring und Titel verleihen, und der Neffe des Papstes, der sich außerhalb Roms in einem Schloss aufgehalten hatte, erschien ungeachtet der Pest vor dem Tor und wurde von allen Kardinälen mit großem Pomp empfangen", schrieb der mantuanische Gesandte Cattaneo über Cesares Einzug.21 „Der Neffe des Papstes ..." Jedermann war klar, dass es sich nicht um den Neffen, sondern um den leiblichen Sohn des Heiligen Vaters handelte. Dennoch wahrte man die Form. Bemerkenswert an Cattaneos Zeilen ist aber, wieviel Respekt aus ihnen spricht - Achtung vor dem Mut, den Cesare Borgia schon in jungen Jahren unter Beweis stellte: Trotz der Pest sei er in die Stadt eingezogen. Und Mut wurde ihm schon bald in ganz anderer Form abverlangt. Über dem Vatikan brauten sich die dunklen Wolken des Krieges zusammen. Cesare, der ungeliebte Sohn Alexanders, sollte rasch zum teuersten Pfand vatikanischer Außenpolitik avancieren.
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Ob Lorenz Beheim - der die Geheimsprache zweifellos verstand - seinem Schüler den erwünschten Sexualkundeunterricht erteilte, ist nicht überliefert. Viele Fragen vermochte er wohl nicht zu beantworten. Einen Totenkopf zum Sprechen zu bringen? Allenfalls eine Rezeptur für Gift konnte Beheim seinem Zögling anbieten. Bewandert in der Arzneimittelkunde seiner Zeit, wusste er Salben für verschiedenste Zwecke herzustellen, bisweilen mit komplizierten Beschwörungsformeln und Anrufungen des Teufels garniert. Lorenz Beheims Rat war jederzeit gefragt, wenn es darum ging, Menschen aus dem Weg zu räumen, zu heilen oder einfach mit Rezepten für die Schönheitspflege zu versorgen: Als ihn sein früh ergrauter Nürnberger Freund Willibald Pirckheimer, ein berühmter Humanist, um eine Haarfärbetinktur bat, ließ Beheim ihm ein ganzes Traktat zukommen. Die Haare würden nach der Behandlung schwarz bleiben, auch nach der Haarwäsche, „bis von der Wurzel her neue wachsen", teilte er seinem Freund lakonisch mit.2 So weit reichte Beheims Wissen. Das Tauchgerät aber, nach dem ihn sein Schüler fragte, erfand ein anderer: Leonardo da Vinci. Auch er stand später in engem Kontakt zu Cesare Borgia.
Zur klerikalen Laufbahn bestimmt, schien sich Cesare Borgia tatsächlich für alles zu interessieren, nur nicht für die Mysterien der Kirche. Und dies, obwohl er schon seit geraumer Zeit Bischof von Pamplona war - freilich ohne die spanische Stadt je betreten zu haben. Ein Jahr zuvor hatte er noch kanonisches Recht in Pisa studiert, um eine der klerikalen Karriere nützliche Ausbildung zu erhalten. Als ihn dort aber die Nachricht von der Papstwahl Alexanders VI. erreichte, verließ er die Toskana Hals über Kopf, um dem Borgia-Papst nahe zu sein.
In Rom war es auch, wo er Lorenz Beheim kennengelernt hatte. Beide Männer müssen sich von Anfang an sympathisch gewesen sein. Eine zu vertraulichen Zwecken entwickelte Geheimsprache und der freizügige Ton des Fragebogens untermauern diese Annahme.
Auch Lorenz Beheim fasste zu dem begabten Jüngling rasch Zuneigung. Jahrzehnte später noch, als Beheim längst in das heimische Franken zurückgekehrt war und seinen Lebensabend als Chorherr in St. Stephan in Bamberg verbrachte, äußerte er sich mit Hochachtung über seinen einstigen Zögling - trotz aller unheilvoller Legenden und Gerüchte, die nach dem Pontifikat Alexanders VI. über die Borgia-Familie in Umlauf kamen.
Noch zu seinen Lebzeiten bezichtigte man Cesare Borgia des Giftmords an seinen Gegnern, des Brudermords, des Verrats und der Vergewaltigung, ja sogar der Blutschande, hatte er doch angeblich ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Schwester Lucrezia. Den „schrecklichen Valentino" nannte man ihn, ein „Verbrechergenie". Heuchlerisch, stur, unaufrichtig, streng, hinterlistig, mächtig, gerissen und sexbesessen soll er gewesen sein. Cesare Borgia galt als Inbegriff des Bösen schlechthin. Er wurde schließlich so dämonisiert, dass sein Leichnam gegen Ende des 17. Jahrhunderts aus dem Dom der spanischen Stadt Viana entfernt wurde. Geistliche weigerten sich, über den Gebeinen des Ungeheuers zu predigen. Lorenz Beheim allerdings hatte ein ganz anderes Bild des Herrschers vor Augen. Selbst einen Vergleich mit Cesare Borgias antikem Namensvetter schien er nicht zu scheuen: Dieser „Caesar" sei nicht weniger ruhmreich als Julius Caesar, dessen Namen er trage, schrieb er anerkennend.3
Während seines langen Aufenthalts in Rom hatte Beheim viele Menschen wie Cesare Borgia kennengelernt, die von ihren Zeitgenossen verteufelt oder verherrlicht wurden. Das pest- und malariageschwängerte Klima der Ewigen Stadt schien sie geradezu zu begünstigen: Betrachtete der eine eine stadtbekannte Kurtisane schlicht als Hure, war sie für den anderen die ingeniöse Liebeskünstlerin, vergleichbar mit einer einflussreichen antiken Hetäre. Eilte einem gewaltbereiten Mann der Ruf eines Meuchelmörders voraus, hielten andere denselben für einen Freiheitskämpfer - wie der Humanist Stefano Porcari etwa, dessen republikanischer Eifer und das misslungene Attentat auf Papst Nikolaus V. ihm zum Verhängnis geworden waren.
Cesare Borgia jedoch war die schillerndste Persönlichkeit, der Lorenz Beheim in Rom begegnet war. Zwar äußerten sich alle über ihn, doch niemand kannte wirklich seine Seele, geschweige denn deren Abgründe - auch Lorenz Beheim nicht. Der junge Mann pflegte mit Genuss seine Rolle als rätselhafter Außenseiter. Meisterhaft beherrschte er schon in jungen Jahren die Klaviatur der psychologischen Manipulation.
Dabei waren außergewöhnliche und facettenreiche Persönlichkeiten am Tiber nicht gerade selten. Beheim selbst konnte mit Fug und Recht dazu gezählt werden. Als Sohn eines Nürnberger Geschützgießers hatte er in Rom Karriere gemacht, nicht zuletzt wegen seines umgänglichen Charakters und seiner vielfältigen Begabungen. Er war ein Universaltalent: Alchemist, Ingenieur, Mediziner, Musiker und Altertumswissenschaftler. Als Brotberuf hatte er zunächst eine Stellung als Haushofmeister im Palast Rodrigo Borgias inne, dann als päpstlicher Geschützmeister. Tagsüber für die Geschütze in der Engelsburg zuständig, huldigte Beheim nachts seinen Studien. Und vielleicht war es gerade diese Annäherung an das humanistische armi-e-lettere- Ideal - jene idealtypische Kombination aus Waffendienst und geistiger Tätigkeit -, die Cesare Borgia so sehr an ihm faszinierte. Bei Beheims Kenntnis des Kriegshandwerks verwundert es auch nicht, dass Cesare Borgias Fragenkatalog vornehmlich der Technik des Krieges galt: Gifte, um Gegner zu eliminieren, die Entwicklung von Kommunikationsformen im Gefecht, etwa bei räumlicher Distanz verbündeter Heere, oder Apparaturen, um Gewässer zu überwinden. Aber nicht nur praktischen Fragestellungen waren die beiden Männer zugeneigt, auch metaphysischen.
Lorenz Beheim hatte ein Steckenpferd, das den jungen Borgia überaus faszinierte: Er war ein glühender Anhänger der Astrologie. Über den Katalog der Vatikanischen Bibliothek lässt sich rekonstruieren, dass Lorenz Beheim häufig astrologische Schriften entlieh. Zahlreiche Horoskope aus seiner Hand sind überliefert. Willibald Pirckheimer nahm immer wieder Beheims astrologische Expertisen in Anspruch. Er ließ sich detaillierte Horoskope erstellen, so etwa dasjenige Albrecht Dürers, das dessen Ruhm wie dessen sexuelle Begierden erklärte. Zwar trieben viele Gelehrte des Mittelalters und der Renaissance nach antikem Vorbild ihren Spott mit den Astrologen, da sie nach Meinung ihrer Kritiker ein Wissen beanspruchten, das dem Menschen unerreichbar war, doch mit vielen anderen teilte Beheim die Ansicht, dass jeden Menschen von seiner Geburtsstunde an ein Band mit einem Planeten verbinde, der sein Schicksal lenke.
Brennend interessiert an seinem weiteren Lebensweg fragte auch Cesare Borgia den Geschützmeister eines Tages nach seinem Schicksal. Lorenz Beheim aber zögerte mit seiner Antwort. Nur widerwillig kam er dem Wunsch seines Zöglings nach, wusste er doch, dass die Sterne auch unangenehme Nachrichten zu bieten haben konnten. Und die Borgia pflegten mit den Überbringern von schlechten Nachrichten nicht gerade zart umzugehen, wie Beheim aus der Vergangenheit nur zu gut in Erinnerung hatte. Als Cesare Borgia ihn in den darauffolgenden Tagen aber immer mehr bedrängte und ihm mit der Autorität seines Standes drohte, blieb Beheim nichts anderes übrig, als seinem Wunsch nachzukommen. Auf Borgias Frage antwortete der Nürnberger Geschützmeister mit brüchiger Stimme: „In der Stunde Deiner Geburt stand die Sonne im aufsteigenden Haus, der Mond im siebten, Mars im zehnten und Jupiter im vierten Haus."4 Cesare Borgia konnte mit diesen Worten zunächst nichts anfangen. Er verstand nicht, was diese Planetenstellung zu bedeuten hatte. Als sein Blick aber immer bohrender wurde, antwortete Beheim in überlegtem Ton, dass diese Konstellation nichts Gutes verheiße: „Auf einen unwiderstehlichen Aufstieg wird ein ebenso rasanter Abstieg folgen."
Der Kardinalspurpur
Der ungeliebte Bastard
Vatikan, Juni 1493
Nur noch ein verächtliches Grinsen hatte Cesare Borgia für Beheims Prophezeiung übrig, als er bei einem Gang durch die vatikanischen Gemächer noch einmal an das Horoskop dachte. „Abstieg? Bei aller Wertschätzung, was kommt diesem teutonischen Barbaren in den Sinn? Sieht er nicht, auf welche Weise das Schicksal meine Familie begünstigt?"
Und in der Tat, Cesare Borgias Übermut war gerechtfertigt. Nur zu gut hatten die Borgia die Rufe der Römer in Erinnerung, die den Papst anlässlich seiner Wahl mit Superlativen bedachten: „Alexander der Große, Göttlicher Alexander!" riefen sie dem Kirchenoberhaupt entgegen, als ihm am 26. August 1492 im Vatikan die Tiara, die Papstkrone, aufgesetzt wurde. Seitdem herrschte Aufbruchstimmung im Kirchenstaat. Alexander VI. betätigte sich sogleich als Baumeister und Kunstmäzen. Im November begann der Maler Pinturicchio die Ausmalung der vatikanischen Borgia-Gemächer, einem genau festgelegten Programm folgend, das in bildlich verschlüsselter Form die Ideale, Hoffnungen und Anschauungen der Borgia illustrierte. Noch heute strömen Tausende von Besuchern täglich durch die verschiedenen Säle - den Saal der Heiligen, den Saal der Glaubensmysterien, der Künste, der Sybillen -, die mit allegorischen Darstellungen ausgemalt wurden.
Cesare Borgia stand an jenem Junitag des Jahres 1493 mit stolzgeschwellter Brust vor den Fresken Pinturicchios. Ungeduldig wartete er auf den Beginn der Feierlichkeiten, die anlässlich der Hochzeit seiner Schwester Lucrezia im Vatikan stattfinden sollten. Es war noch Zeit, und so fand er Gelegenheit, seinen Blick über die bereits in Umrissen erkennbaren Abbildungen schweifen zu lassen. Sofort fiel ihm auf, dass alles Abgebildete Heiterkeit atmete - Heiterkeit, die seiner eigenen Gemütslage entsprach: Seine Augen richteten sich auf tanzende Satyrn mit Fruchtkörben und Thyrusstäben, auf Engel mit Weihrauchfässern und Kreuzen, auf Blumengirlanden, auf eine sanfte Hügellandschaft mit Zypressen, auf turtelnde Vögel, auf einen kleinen Pagen, der einem Hündchen beibringt, auf den Hinterpfoten zu stehen. Und für all diese Lebensfreude zeichnete ein goldroter Stier verantwortlich: das Wappentier der Borgia in Gestalt des Sonnengottes Apis. In sagenhafter Personalunion verkörpert er Apis und Alexander VI., den römischen Pontifex.
Pinturicchio erschuf in mythologischer Form eine regelrechte Familienlegende. „Auch wenn wir Borgia nicht göttlichen Ursprungs sind", wie sich Cesare lächelnd eingestand, „haben wir es doch wahrlich weit gebracht. Einstmals Grenzritter in der spanischen Provinz, herrschen wir nun über die Christenheit." Rom, ja die gesamte christliche Welt, sollte den Borgia zu Füßen liegen, dachte der junge Mann in diesem Moment, berauscht durch die glänzende Pracht der Bilder. Und ganz besonders ihm: Aut Caesar aut nihil - Cesare oder nichts -, lautete schon wenige Jahre später seine stolze Devise, dem berühmten Römer folgend, der auf denselben Namen hörte.
Bescheidenheit und Besonnenheit zählten nicht zu Cesare Borgias größten Tugenden, wie dem Zeugnis zahlreicher Botschafter zu entnehmen ist. Cesare sei „sehr jung in allem", was er tut, schrieb der florentinische Kanzler Antonio Colle an seine Stadtoberen über den Charakter des jungen Mannes.5 Dutzendweise strömten Berichte in jenen Monaten in geheimen Kanälen aus dem Vatikan. Die Herren Italiens wollten schließlich wissen, was auf sie zukam. Man hatte es bei Cesare Borgia mit einem angehenden Kirchenfürsten, vielleicht mit einem zukünftigen Papst zu tun. Vorsorge tat Not, und so schärften die Spitzel ihre Ohren: „Vorgestern suchte ich Cesare in seinem Haus in Trastevere auf. Er wollte eben zur Jagd aufbrechen, trug ein weltliches Gewand aus Seide und hatte sein Schwert an der Seite. Er hatte nur eine kleine Tonsur wie ein einfacher Priester. Ich ritt neben ihm her und unterhielt mich lange mit ihm. Ich stehe mit ihm auf vertrautem Fuße. Er besitzt eine ausgeprägte Begabung und eine bezaubernde Persönlichkeit. Er hat die Manieren des Sohnes eines großen Fürsten; vor allem ist er lebhaft und fröhlich und liebt Gesellschaft", schrieb der ferraresische Gesandte an seinen Herzog.6
Rauschende Feste, teure Kleidung, prunkvolles Ambiente, Luxus und Ausschweifungen kennzeichneten den Alltag Cesare Borgias in jungen Jahren. Man sah ihn häufig in Begleitung spanischer Jünglinge. Er war ein Pferdenarr, und vor allem die Jagd hatte es ihm angetan. Dem Mainzer Erzbischof schrieb er einen Brief, in dem er ihn bat, ihm einige taugliche Hunde zu schicken. Er habe nämlich gehört, dass sich deutsche Hunde besonders für die Jagd eigneten.7 Körperliche Ertüchtigung war an der Tagesordnung. Er sah auffallend gut aus; kräftig und hochgewachsen, bedeckten dunkelblonde Haare sein Haupt; sein längliches Gesicht zeichnete sich durch feingezeichnete Züge aus. Ein markantes Kinn, bedeckt von einem dunkelblonden Bart, kontrastierte dazu - gleichsam als spiegele sich sein Charakter in seiner Physiognomie wider. Sein Blick war kühn und stolz und verriet, dass er sich überlegen fühlte. Missliebigen Zeitgenossen konnte er mit unverhohlener Arroganz begegnen, um im nächsten Moment wieder charmant zu sein. Die Fähigkeit zu messerscharfer Analyse ging bei ihm mit naivster Unbesonnenheit einher.
Cesare war mittlerweile (seit 1492) Erzbischof von Valencia. Ihm wurde eine große kirchliche Karriere prophezeit, und man verlangte trotz seiner Jugend von ihm, Verantwortung zu übernehmen. Sein Palazzo in Trastevere diente ihm nur als Zwischenstation. Er wohnte im Vatikan über den Gemächern seines Vaters Rodrigo Borgia, des kürzlich gewählten Papstes Alexander VI., dort, wo Raffael später die Stanzen ausmalen sollte.
Noch als Kardinal - wohl um 1474 - war Rodrigo Borgia Vannozza de Cattanei begegnet, einer Römerin norditalienischer Herkunft.8 Schon vorher hatte Rodrigo in Rom Mätressen gehabt, mit denen er drei illegitime Kinder gezeugt hatte. Vannozza de Cattanei jedoch war die Frau, die ihm zeitlebens am nächsten stand. Freilich hinterging er auch sie später mit anderen Favoritinnen; doch er hielt zu Vannozza ein Leben lang Kontakt, ja, er versorgte sie mit Ehemännern und Besitztümern. Sie muss eine erstaunliche Frau gewesen sein, stolz, selbstbewusst, temperamentvoll und von großer emotionaler Intelligenz - und zweifellos attraktiv und leidenschaftlich. Überliefert ist ein Porträt von ihr in fortgeschrittenem Alter: Ein Schleier bedeckt Vannozzas Haar und verleiht ihr ein ehrwürdiges Aussehen; das Gesicht ist oval, die Nase markant, der Mund klein und fein geformt; wache, kritisch blickende Augen lassen auf reiche Lebenserfahrung schließen. Und diese hatte sie wahrlich. Niemand konnte ihr etwas vormachen. Schon gar nicht die römischen Männer, denn die kannte sie zur Genüge. Einen Geschäftsmann, der es wagte, sich mit ihr anzulegen, verfolgte sie mit Ingrimm. Ein „vom Teufel besessenes Weib" sei sie, ließ er erbost ganz Rom wissen. Vannozza sah dies freilich anders. Nicht mit dem Beelzebub, sondern mit einem potenziellen Nachfolger Petri hatte sie intimen Verkehr. In seinem Ruhm sonnte sie sich. Überaus geschäftstüchtig, legte sie später einen Teil ihres Vermögens in Herbergen und Wohnhäusern an. In das heute noch im Herzen Roms stehende Albergo del Sole auf dem Campo dei Fiori flossen ihre Gelder. Dass es bei ihren Geschäften bisweilen nicht immer einwandfrei zuging, störte die schlaue Frau wenig. Im Alter betätigte sie sich dann als fromme Stifterin, die armen Menschen Unterstützung zukommen ließ - gleichsam um ihre „Sünden" reinzuwaschen.
Geboren im Jahre 1442, war Vannozza schon 32 Jahre alt, als sie Rodrigo Borgia begegnete - somit in einem Alter, in dem man in der Renaissance nicht mehr als jung galt. Insgesamt vier Kinder entsprangen ihrer Verbindung: Cesare, das älteste, wurde 1475 geboren, Juan 1476, Lucrezia 1480 und Jofré 1481. In einer Urkunde wird Vannozza als Tochter Jacopos „des Malers" erwähnt. Ob Cesare Borgia seine spätere Liebe zur bildenden Kunst von der Mutter geerbt hatte? Dass sie mit einem hohen kirchlichen Würdenträger Kinder gezeugt hatte - ihr Liebhaber war zu der Zeit Kardinal -, galt damals als lässliche Sünde. Vannozzas Grabstein im Portikus der Basilika San Marco preist sie unumwunden als Mutter der päpstlichen Sprösslinge. Ihre erhaltenen Briefe lassen auf eine zärtliche, liebende Mutter schließen, die stets die Etikette wahrte. Als ihr Bettgenosse 1492 zum Papst gewählt wurde und sich fortan Alexander VI. nannte, küsste sie ihm vor versammeltem Hofstaat die Füße. Lucrezia redete sie später mit „Euer Gnaden" an.9
Zwanzig Jahre lang lebte sie mit Rodrigo Borgia in seiner Zeit als Kardinal zusammen. Die Sommer verbrachten die beiden Liebenden regelmäßig in einem Kloster in Subiaco, einem etwa 75 Kilometer östlich von Rom in 400 Metern Meereshöhe gelegenen Städtchen. Der Kardinal bezog die Pfründe der ansässigen Klöster und zeichnete dort für Verwaltungsaufgaben verantwortlich, die er buchstäblich von oben herab leitete. Denn während die beiden nachts im Turm dem Liebesspiel frönten, arbeitete der gestrenge Kardinal tagsüber Richtlinien aus, die dem Sittenverfall in den Klöstern ein Ende setzen sollten. Rodrigo zeigte sich nämlich empört über den Niedergang der Moral, der mit der Ordensregel des heiligen Benedikt unvereinbar war. Zwar wurde zu jener Zeit das Keuschheitsgelübde tagtäglich missachtet, nicht nur hinter den Klostermauern Subiacos, doch hinderte dies Rodrigo nicht, energisch gegen sexuelle Freizügigkeit vorzugehen. Die Idee, sich in dieser Hinsicht selbst zu be schränken, kam ihm freilich nie. Für ihn galten andere Gesetze. Er hielt es schon früh mit seinen Hagiographen, die ihn unumwunden als Gott bezeichneten: „Rom war groß unter Julius Caesar, jetzt ist es größer. Alexander VI. herrscht; jener war ein Mensch, dieser ein Gott!"
Ob Cesare tatsächlich in Subiaco geboren wurde, wie es die Inschrift eines Hauses dort besagt, kann heute nicht mehr zweifelsfrei festgestellt werden. Einem Bastard wie ihm wandten seine Zeitgenossen wenig Aufmerksamkeit zu. Sie hüllten sich vielmehr in Schweigen über den Neugeborenen. Schriftliche Zeugnisse fehlen. Kein Taufeintrag, nichts. Es ist bezeichnend und geradezu emblematisch für Cesares weiteren Lebensweg, dass sein Geburtsdatum nur über ein Horoskop rekonstruiert werden kann. Aber musste jemand, dessen Geburtsdatum auf ein heidnisches Machwerk zurückzuführen war, nicht von Anfang an mit dem Teufel im Bunde stehen? Sternengebilde anstelle der Gnadenwirkung der Taufe? Für die Mythenbilder und Schöpfer der schwarzen Borgia-Legende war das Rätsel um Cesares Herkunft geradezu eine Einladung. Er kam buchstäblich aus der Anonymität und verschwand wieder in dieser. Die genaue Lage seiner sterblichen Überreste ist heute unbekannt. Nur ungefähr kann man sie räumlich zuordnen. Ob die Knochen, die man 1945 barg, tatsächlich von ihm stammen, steht nicht zweifelsfrei fest. Bereits 1953 begrub man sie wieder.
Cesare Borgia ließ sich nicht einordnen. Die Historiker verlassen sich jedenfalls auf die Sternenanalyse des Nürnberger Geschützmeisters - fragte Beheim doch einst seinen Zögling nach seinem Geburtstag, um die Sterne nach seiner Zukunft zu befragen: Es war wohl Mitte September des Jahres 1475, als Cesare Borgia, der spätere Prototyp des amoralischen Renaissance- Fürsten, geboren wurde.
Um seine kirchliche Laufbahn nicht zu beeinträchtigen, vermied Rodrigo Borgia in der Folge, sein Verhältnis mit Vannozza weiter zur Schau zu stellen. Die gemeinsame Sommerfrische in Subiaco wurde unterbunden, denn die Anzahl seiner illegitimen Sprösslinge erfüllte ihn allmählich mit Sorge. Fast jedes Jahr gebar Vannozza ihm ein Kind. Und wenn sie nicht von ihm schwanger war, dann trug sie die Frucht eines anderen Mannes in ihrem Leib. Bei aller Freizügigkeit in sexuellen Belangen, wie sie auch im Vatikan in jenen Jahren vorherrschte: zu viel war kontraproduktiv. Zwar war Rodrigo Borgia nicht der einzige Kardinal, der Kinder hatte. Im Gegensatz zu seinen Kollegen präsentierte er sie aber gerne öffentlich als seine Nachkommen. Es wäre einem weiteren klerikalen Aufstieg abträglich gewesen, wenn er sich weiterhin offen zu seinen Sprösslingen bekannt hätte. Und so sorgte er vor: Er verheiratete Vannozza mit dem päpstlichen Beamten Domenico d'Arignano.
Cesare schmunzelte, als er an das Haus Vannozzas an der Piazza Pizzo di Merlo dachte. Wie bescheiden ging es dort im Verhältnis zu seinem jetzigen Leben zu - hier Pinturicchios grandiose Fresken, dort in schlichtem Weiß übertünchte Wände, die nur gelegentlich ein Wandbild schmückte. Der Steinfliesenboden, der im Sommer wohlige Kühle spendete, sorgte im Winter für eisige Kälte. Einfache hölzerne Stühle umgaben die massiven Eichenholztische, holzgetäfelte Decken schlossen die hohen Räume ab. Eine massive, mit Ornamenten verzierte Truhe enthielt Vannozzas Aussteuer. Wuchtige Möbel, ein Reliquienschrein und die obligatorische Madonnenfigur rundeten die Ausstattung ab. Wie sehr kontrastierte diese Behausung mit Kardinal Rodrigos Palast! Und welche Wechselbäder der Gefühle waren es, wenn Cesare als Knabe von der einen Behausung zur anderen lief! Der Palast des Kardinals galt als einer der glanzvollsten Roms. Jacopo da Volterra schrieb im Jahre 1486 über den Hausherrn und sein Haus: „Er ist ein Mann von einem für alle Dinge geschickten Geist und von großem Sinn; fertig in der Rede, die er bei mittelmäßiger Literatur sehr wohl zu stilisieren weiß; von Natur verschlagen und von wunderbarer Kunst in der Behandlung der Geschäfte. Er ist außerordentlich reich, und die Protektion von vielen Königen und Fürsten gibt ihm Ruf. Er bewohnt einen schönen und bequemen Palast, den er sich in der Mitte zwischen der Engelsbrücke und Campo dei Fiori erbaut hat. Aus seinen kirchlichen Ämtern, vielen Abteien in Italien und Spanien und aus drei Bistümern ... bezieht er unermessliche Einkünfte, während ihm das Amt des Vizekanzlers allein, wie man sagt, jährlich achttausend Goldgulden einträgt. Die Menge seines Silbergeschirrs, seiner Perlen, seiner in Gold und Seide gestickten Decken und seiner Bücher jeder Wissenschaft ist sehr groß und alles dies von einer glänzenden Pracht, welche eines Königs oder Papstes würdig wäre. ... Man glaubt in der Tat, dass er alle Kardinäle, mit Ausnahme des einen Estouteville, an Gold und Reichtum jeder Art übertrifft."10
Es war weniger die Schlichtheit des mütterlichen Hauses, die Cesare im Nachhinein zum Schmunzeln verleitete, als vielmehr sein eigenes Verhalten in jungen Jahren - die Art und Weise, wie er sich manipulieren ließ. Wie sehr hätte er sich damals gewünscht, sein Geschick selbst in die Hand zu nehmen, statt über sich bestimmen zu lassen. Er sollte Geistlicher werden - dies stand für beide Elternteile fest. Niemand fragte ihn. Sein älterer Halbbruder Pedro Luis, der einer anderen Liebesbeziehung Rodrigos entstammte, war von diesem zum Herzog von Gandia bestimmt worden. Schon früh wurde er nach Spanien geschickt, um sich dort auf eine glänzende weltliche Karriere vorzubereiten. Und so blieb für den jungen Cesare nach Meinung des Vaters nur der geistliche Stand übrig. Freilich nicht ein kleines Kirchenamt. Seine kirchliche Laufbahn sollte ebenso glanzvoll sein wie die weltliche seines Halbbruders. Rodrigo Borgia hatte sich noch nie der Tugend der Bescheidenheit gerühmt, und so bedrängte er den Heiligen Vater, den Aufstieg seines Sohnes zu fördern. Bereits 1482 wurde er mit nur sieben Jahren zum apostolischen Protonotar ernannt, kurze Zeit später zum Kanoniker der Kathedrale von Valencia. Und so stieg er Schritt für Schritt die klerikale Karriereleiter hinauf, bis er mit sechzehn Jahren Bischof wurde. Cesare aber, wenig erbaut über diesen päpstlichen Gunstbeweis, fluchte in den kommenden Jahren nicht nur einmal über seinen vom Glück begünstigten Bruder. Während dieser die Welt kennenlernen durfte, in Waffenkunde, Wehrtechnik und Diplomatie ausgebildet wurde - jenen Gebieten, die Cesare so sehr interessierten -, waren ihm ein karger Palazzo und die traditionellen Fächer der studia humanitatis beschieden, die als Propädeutik für das Studium des Kirchenrechts und der Theologie angesehen wurden.
Nicht nur, dass man auf seine Bedürfnisse keine Rücksicht nahm, sein ganzes Leben erschien ihm beinahe unwirklich. Jeder wusste, dass der kleine Junge der Sohn des Kardinals war. Offiziell musste Cesare sich aber zu jenem Domenico d'Arignano als leiblichen Vater bekennen, den er nicht nur kaum kannte, sondern der ihm auch unsympathisch war. Domenico war ein unwirscher alter Mann, eine Marionette in Kardinal Rodrigos Händen, als er in Cesares Leben trat. Nie war er wie ein Vater für ihn, nicht zuletzt weil er sich als Verwaltungsexperte die meiste Zeit im Auftrag der Kirche auf Reisen befand. Sein Verhältnis zu Vannozza war denkbar schlecht. War er anwesend, stritten sie sich häufig, und Vannozza hielt ihn zeitlebens in schlechtem Andenken. In ihrem Testament ließ sie für ihre verblichenen Gatten Seelenmessen anordnen - außer für Domenico. Als hätte es ihn nie gegeben.
Dann war da noch Adriana de Milà, jene aristokratische Dame, in deren Obhut Cesare in früher Kindheit gegeben wurde, damit ihm eine standesgemäße Erziehung zuteilwerde. Vannozzas schlichtes Heim und ihre ungehobelten Manieren schienen Rodrigo Borgia schon bald nicht mehr opportun für die Ausbildung des Sohnes eines hohen Geistlichen. Außerdem tummelten sich in Vannozzas Haus noch ihre Kinder aus anderen Verbindungen, die seinen Ansprüchen schon gar nicht gerecht werden konnten. So wurde Cesare buchstäblich zwischen drei Haushalten hin- und hergereicht, ohne je tiefe emotionale Bindungen entwickeln zu können, und ohne zu wissen, wohin er eigentlich gehörte.
Als Cesare in die Sala delle Arti liberali eintrat und auf Pinturicchios Fresken plötzlich die Allegorien der Sieben Freien Künste erblickte, empfand er ein leichtes Unbehagen. „Sie nun wieder! Ich kenne sie nur zu gut, jene Lehrmeisterinnen." Die jungen Frauen, die nun anmutig auf Marmorsitzen thronten, umgeben von den wichtigsten Gelehrten aller Disziplinen, hatten ihm doch nur ihre üble Fratze gezeigt. Früh hatte sein Vater ihn mit jenen kanonischen Fächern traktiert. Und schon gar nicht hatte er sie als schöne Frauen in Erinnerung. Täglich kamen verschiedenste Lehrer in das Haus Adriana de Milàs, der Vertrauten Rodrigo Borgias und Erzieherin seiner Kinder, ältere Herren, ebenso grau wie das Gemäuer, krumm vom langen Sitzen über den Büchern und ihr Wissen würdevoll zur Schau gestellt. Neben der Grundunterweisung in Lesen, Schreiben und Rechnen forderten die Lehrmeister fundierte Kenntnisse in philosophischen, theologischen, rhetorischen und literarischen Texten. Entsprechend dem Fächerkanon der Sieben Freien Künste wurde Cesare auch in Arithmetik, Geometrie, Musik und Zeichnen ausgebildet. Spannolio di Maiorca, ein Spanier, und Lodovico Podocatharo, der griechisch-zypriotische Sekretär Rodrigos, unterrichteten den Jungen in den Sprachen. Jeden Tag lernte er neben Spanisch, auf das sein Vater besonders großen Wert legte, Griechisch und Latein.
„Spannolio war der einzige, der mein wahres Talent erkannt hat", dachte Cesare, noch immer auf die Allegorien blickend. Er erinnerte sich, wie der Spanier ihm einst prophezeit hatte, er werde zu hohen Würden aufsteigen als „Zierde und Hoffnung des Hauses Borgia".11
Cesares Blick schweifte zur Allegorie der Grammatik hinüber. Hier fühlte er sich sichtlich wohler. Das Fach, das ihm in seiner Kindheit mit am meisten Spaß gemacht hatte, war Latein, nicht zuletzt wegen seines Lehrmeisters Lorenz Beheim. Auch wenn er ihn mit seinem Horoskop verärgert hatte, mochte Cesare den kauzigen Deutschen gern. „Gewaltig ist das Sakrament der lateinischen Sprache, gewaltig fürwahr ihre Göttlichkeit, welche bei den Fremden, bei den Barbaren und sogar bei den Feinden heilig und gewissenhaft so viele Jahrhunderte hindurch bewahrt wurde, so dass wir Römer nicht so sehr darüber zu trauern brauchen, sondern uns vielmehr daran erfreuen und sie vor den Ohren der ganzen Welt preisen sollten. Zwar haben wir Rom verloren, ... aber dennoch regieren wir durch die glänzende Herrschaft der Sprache in einem großen Teil der Erde ... Dort nämlich ist römisches Reich, wo die römische Sprache herrscht."12 Bis zum Überdruss hatte er sich diesen berühmten Ausspruch des Humanisten Lorenzo Valla aus dem Munde Beheims anhören müssen. „Das Lateinische, und nur das Lateinische ist die Brücke zur ruhmreichen Vergangenheit Roms ..." Der junge Borgia erinnerte sich, wie er einst mit leuchtenden Augen an den Lippen seines Lehrmeisters hing. Lorenz Beheim trug diese Sätze gebetsmühlenartig vor. Und er war derart für die römische Antike entbrannt, dass er seinen Schüler auch dafür zu entflammen vermochte. Zehn Jahre alt war Cesare, als Beheim eines Tages aufgeregt zu ihm hereinkam, um ihm von einem besonderen Fund zu erzählen: „Bei Grabungsarbeiten an der Via Appia stießen Bauarbeiter auf einen römischen Sarkophag, in dessen Innerem die unverweste und wunderschöne Leiche einer jungen Römerin liegt." Cesare erinnerte sich an die Gänsehaut, die ihm über den Rücken lief, als Beheim ihm von der wachsfarbenen Haut des jahrhundertealten Mädchens erzählte. Die Römer waren so begeistert von dem Fund, dass sie den Leichnam öffentlich ausstellten. Wahre Pilgerströme zogen sie dadurch an - bis Papst Innozenz VIII. sein Veto einlegte. Aus Furcht, die antike Schönheit könne zum neuheidnischen Kultobjekt werden, ließ er den Leichnam bestatten.
Cesare war ganz in Erinnerungen an bizarre Begebenheiten wie diese versunken, als er jäh aus seinen Gedanken gerissen wurde. Der päpstliche Zeremonienmeister Johannes Burckard - ebenfalls ein Deutscher am päpstlichen Hof Alexanders VI. - trat an ihn heran an, um ihm mitzuteilen, dass die Feierlichkeiten begannen. Cesares Miene hellte sich sofort auf, als er an Lucrezia dachte. Seine kleine, innig geliebte Schwester war es, deren Eheschließung gefeiert wurde. Schon seit geraumer Zeit hatte er die heitere Tanzmusik gehört, die durch die Gemächer drang. Klapperndes Geschirr, Rufe der Bediensteten, durchsetzt vom Lachen der Gäste verhießen heitere Geselligkeit. Wie von einer magischen Hand geleitet zog es Cesare Borgia in Richtung des Lärms. Und doch überkam ihn noch ein kurzes Gefühl der Beklemmung. Bestand nicht eine merkwürdige Analogie zwischen dem zur Schau gestellten Leichnam des römischen Mädchens und seiner eigenen, überaus lebendigen Schwester? Lucrezia war kaum dreizehn Jahre alt, ein unschuldiges und zartes Geschöpf mit blondem Haar. La dolce cera - „süßes Antlitz" - wurde sie von allen liebevoll genannt. Auch sie wurde gerade eben den Römern zur Schau gestellt. Auch über ihr Schicksal entschied eine päpstliche Verfügung. Wie jenem römischen Mädchen wurde ihr eine bestimmte Rolle zugewiesen, und dies nicht post mortem, sondern in einem Alter, in dem Lucrezia noch eher an kindliche Vergnügungen dachte. Wie er selbst, war sie ein Spielball in den Händen ihres Vaters.
In Cesare stieg plötzlich Wut auf, sein Puls begann höher zu schlagen, als er seinen Vater inmitten der Hochzeitsgesellschaft thronen saß. Ein breites Lächeln auf den Lippen, sich gemessen bewegend und allein durch seinen massigen Körper Dreh- und Angelpunkt des Saals. Stärker denn je verspürte Cesare in diesem Moment das Bedürfnis, sich gegen das ihm aufgezwungene Schicksal aufzubäumen. Doch sogleich überkam ihn auch wieder ein Gefühl der Ohnmacht. Es war diese eigenartige Mischung aus Misstrauen, Verachtung und Zuneigung, die er seinem Vater gegenüber empfand. Er wusste, dass er ohne ihn ein Niemand war und dass er nur mit ihm, niemals aber gegen ihn agieren konnte. Dennoch schmerzte es ihn, dass er in der Gunst des Vaters deutlich hinter seinen Geschwistern stand. Er hatte es ihn oft genug spüren lassen. Lucrezia liebte Papst Alexander VI. über alles. Sein Lieblingssohn aber war zweifellos Juan, der mit ihm die Leichtlebigkeit, die Schwäche für schöne Frauen und große Auftritte teilte. Für Cesares Intelligenz empfand er zwar Achtung, doch er misstraute ihm, denn Cesare war weniger manipulierbar als seine Geschwister, und Alexander VI. ahnte, dass etwas in ihm keimte, wovor er sich hüten musste. Der Ehrgeiz seines ältesten Sohnes war ihm suspekt.
Cesare kam die ganze Situation plötzlich unwirklich, geradezu unerträglich vor. Wie sehr kontrastierte seine Innenwelt mit dieser verlogenen Außenwelt! Die Magistratsbeamten Roms waren anwesend, Barone und Baronessen, das Kardinalskollegium und die Gesandten fremder Mächte. War nicht diese gesamte Hochzeitsgesellschaft eine einzige Ansammlung von heuchlerischen Hofschranzen, von Menschen, die ihm und seiner Familie zwar vordergründig Ehre erwiesen, die hinter ihrem schallenden Lacher aber bereits verleumderisch tuschelten? Über sie, die kleinen Spanier, die sich wie die Herren der Christenheit gebärdeten? Dort, neben dem päpstlichen Stuhl sitzend, befand sich Giulia Farnese, die neue Geliebte Rodrigos - über vierzig Jahre jünger als er und von allen nur la bella genannt. Beide nahmen gerade die Huldigung eines Mitglieds der römischen Adelsfamilie Orsini entgegen. Unterwürfig lächelte dieser dem Papst und seiner Geliebten zu, wohl wissend, dass Giulia eigentlich die Ehefrau des Orsino Orsini war, der bereits im zweifelhaften Ruf stand, der bekannteste Gehörnte Roms zu sein. Lucrezia, die auf der anderen Seite des Vaters saß, drohte in ihrem weißen Brautkleid aus Perlen-, Gold- und Juwelenstickereien in Ohnmacht zu sinken. Ihre Gesichtsfarbe glich gerade der des römischen Mädchen-Leichnams. Wie hätte sie in diesem Moment auch Freude ausstrahlen können?
Dann schweifte Cesares Blick zu Giovanni Sforza, als dieser sich in seinem funkelnden Umhang im türkischen Stil ebenso stolz wie aufgeblasen neben seine Schwester begab. Wie nichtssagend war doch dieser Bräutigam, wie unwürdig war er seiner Braut. Bereits am 9. Juni war Giovanni Sforza mit riesigem Pomp durch die Porta del Popolo eingezogen. Die gesamte Kurie war ihm entgegengeritten. Umgeben von Hofdamen hatte Lu crezia von einer Loge ihres Palastes aus gesehen, wie er langsam mit seinem Zug in Richtung Vatikan zog. Während er vorüberritt, grüßte sie ihren Zukünftigen. Ein glänzendes Spektakel, das in merkwürdigem Kontrast zu seinem Hauptprotagonisten zu stehen schien. Giovanni Sforza, der Herr von Pesaro, war farblos und ängstlich, auch wenn ihm seine Zeitgenossen eine herrschaftliche Erscheinung zuschrieben. Mit der großen Bühne Roms konnte er nie etwas anfangen. Die Borgia waren ihm suspekt. Fast heimlich war er im Oktober des Jahres 1492 nach Rom gekommen, um Papst Alexander VI. seinen Antrittsbesuch abzustatten und die Formalitäten der Hochzeit zu klären. Er wollte in die Eheschließung anfangs nicht einwilligen, wollte sein kleines und beschauliches Pesaro nicht verlassen, ließ sich aber von seinen Mailänder Verwandten schließlich überreden. Immer wieder schob er die Hochzeit auf, fand stets Gründe, nicht nach Rom zu reisen. Im Februar war die Ehe dann zwar per procura geschlossen worden, Giovanni musste sich aber in mühsamen Verhandlungen überreden lassen, die Ehe rechtskräftig zu schließen und sie mit einem angemessenen Fest zu feiern. Mit dem Argument, dass seine Gewänder und sein Schmuck nicht den römischen Verhältnissen entsprächen, hoffte er, einen letzten Aufschub erzwingen zu können. Der Markgraf von Mantua aber durchkreuzte seine Absicht, indem er ihm eine Halskette anbot. So musste sich Giovanni Sforza widerwillig beugen. Es war allgemein bekannt, dass er ein Kompromisskandidat war. Als unehelicher Sohn eines Bastards aus dem Hause Sforza sollte später gar seine männliche Zeugungskraft zur alles beherrschenden Frage vatikanischer Außenpolitik werden. „Der Himmel gebe, dass diese Heirat ... nicht Unheil anrichte", schrieb der Bevollmächtigte Ferraras im Vorfeld der Hochzeit flehend, schon vorausahnend, dass die Vermählung nichts Gutes verhieß. 13 Nur machtpolitische Überlegungen Alexanders VI. waren es, die Giovanni schließlich zum Bräutigam bestimmt hatten. Ursprünglich sollte nämlich jemand anders Cesares Schwager werden.
Die arme Lucrezia befand sich in jenen Monaten in einer wahrlich entwürdigenden Situation. Und nicht nur einmal war sie in der Vergangenheit völlig unschuldig zum Gegenstand eines öffentlichen Skandals geworden. Schon mehrere Male war sie verlobt gewesen. Als Elfjährige sogar mit zwei Spaniern zu gleich - Verbindungen, die ihrem Vater schon bald nicht mehr angemessen erschienen. Zu Beginn des Jahres 1493 buhlten dann zwei weitere Freier um sie. Der spanische Graf Aversa, der schon eine Zusage erhalten hatte, musste unverrichteter Dinge wieder abreisen, als Alexander VI. sich plötzlich für den italienischen Prätendenten entschied. Der Gesandte aus Ferrara be merkte dazu wiederum analytisch scharf: „Der erste Bräutigam ist noch da, erhebt als Katalane ein großes Zetergeschrei und sagt, er wolle sich bei allen Fürsten und Herrschern der Christenheit beklagen; doch er wird, ob er will oder nicht, nachgeben müssen."14 So kam es schließlich auch. Als Schmerzensgeld erhielt er 3000 Dukaten für seine Schmach. Giovanni Sforza, der 26 Jahre alte Neffe des Herzogs von Mailand, Ludovico Sforza, genannt il Moro, bekam den Zuschlag.
Cesare wusste, dass der Meinungswechsel seines Vaters mit der sich dramatisch verschlechternden inneritalienischen Lage zu tun hatte: König Ferrante (Ferdinand I.) von Neapel hieß der eigentliche Ehestifter; nicht als Kuppler, sondern als gemeinsamer Feind. Als Gegner des Papsttums und Mailands drängte sich ein Bündnis zwischen den Mailänder Sforza und den Borgia auf. Durch die Heirat Lucrezias wurde diese Allianz nun endgültig besiegelt.
Ferrantes Enkelin Isabella hatte einst Giangaleazzo Sforza geheiratet, den rechtmäßigen Herzog von Mailand. Doch dessen Onkel Ludovico hatte die Macht an sich gerissen. Giangaleazzo, ein jugendlicher Tunichtgut, war nicht unzufrieden mit seinem Schicksal. Gerne ließ er dem Onkel den Vorzug, gehörte sein eigentliches Interesse doch den Vergnügungen. Jedoch hatte er die Rechnung ohne seine ehrgeizige Frau gemacht. Sie intervenierte bei ihrem neapolitanischen Großvater und teilte ihm mit, dass seine politischen Hoffnungen bitter enttäuscht wurden - erhoffte sich Ferrante in Mailand doch ursprünglich Mitspracherechte. Ludovico selbst streckte die Finger nach Neapel aus. Papst Alexander VI. wiederum hatte Grund, von Ferrante nichts Gutes zu erwarten. Ein Verwandter seines Vorgängers hatte die nördlich von Rom gelegenen Festungen Anguillara und Cerveteri - die einst dem Kirchenstaat gehörten - für die horrende Summe von 45.000 Dukaten an die Orsini verkauft. Diese aber waren nichts anderes als Strohmänner Ferrantes. Und so war die Sicherheit des Papstes von Norden aus gefährdet. Mit den Sforza stand er ohnehin in einem freundschaftlichen Verhältnis. Kardinal Ascanio Sforza hatte sich einst im Konklave mit seiner Stimme für Alexander das Amt des Vizekanzlers erkauft. Somit war er Mitglied der päpstlichen „Familie".
Ferrante war außer sich vor Wut, als er von den Heiratsabsichten hörte. Sogleich wandte er sich an seine Cousins Isabella
I. von Kastilien und Ferdinand V. von Aragón und bat sie, dafür Sorge zu tragen, dass dieser verruchte Pontifex von seinen Plänen ablasse. Eine ganze Litanei an Beschimpfungen über Alexander brachte er vor: Nur durch Ämterkauf sei er in sein Amt gelangt, er denke nur an seine Bastarde, die er dynastisch verankern wolle, missbrauche seine Stellung und habe sich durch Kardinalsernennungen Geld verschafft. Anstelle von Priestern bevölkerten Mailänder Soldaten die Straßen Roms, Alexander VI. sei ein durch und durch lasterhafter Mensch. Seinen Gesandten trug Ferrante auf, keine Gelegenheit auszulassen, um den Papst zu demütigen. Neapolitanische Truppen rückten bereits an die Grenzen des Kirchenstaates vor. Auch wenn das römische Volk dem Pontifex und seiner Tochter gerade zujubelte - die Borgia waren von Feinden umgeben. Nicht nur von äußeren, vor allem von römischen, die sich in unmittelbarer Nähe der päpstlichen Familie befanden. Der römische Hochadel hatte sich mit den Borgia keineswegs abgefunden. Für die Orsini und Colonna waren die Borgia nichts anderes als fremde Emporkömmlinge, die nun das Ruder in den Händen hielten. Barbaren, Renegaten und Marranen - getaufte, aber heimlich mosaisch gebliebene spanische Juden - nannten sie sie insgeheim in ihren Tiraden. Alexander VI. setzten sie gar mit dem Antichristen gleich; apokalyptische Schreckensmeldungen machten die Runde: Seine sieben Kinder entsprächen dem siebenköpfigen Drachen der Apokalypse, tuschelten die Borgia-Hasser hinter vorgehaltener Hand. Als Feudalherren akzeptierten die römischen Barone nur ihre eigenen Gesetze. Mit ihren bewaffneten Truppen, die regelrechten Privatarmeen glichen, vermochten sie jederzeit, Unruhe im Kirchenstaat zu stiften. Und sie taten es. In ganz Rom tummelten sich die Anhänger jener Familien, dazu Florentiner und Neapolitaner Gesandte, scheinbar wohlwollend, doch mit geschärften Dolchen in den Gewändern.
Selbst der in Kardinalspurpur gehüllte Giuliano della Rovere, der 1492 zusammen mit Rodrigo Borgia um den Papststuhl konkurriert hatte, tat nun alles, um seinem Widersacher zu schaden. Heimlich paktierte er mit Ferrante von Neapel. Über seine Burg in Ostia ließ er die Tiberschifffahrt und damit die für die Metropole lebensnotwendige Einfuhr von Lebensmitteln behindern. Gerade sein Kastell in Ostia wurde zur Brutstätte perfider Verschwörungen. Oder wie jene bereits erwähnten Orsini, mächtige und altehrwürdige Stadtadlige, die schon vor Jahren von den Borgia gemaßregelt worden waren. Auch wenn einige von ihnen in päpstlichen Diensten standen, zu einer echten Bindung, gar zu einem Vertrauensverhältnis, kam es nie. Nun besaß Alexander VI. auch noch die Kühnheit, sich die Gattin eines Orsini zur Mätresse zu nehmen und mit ihr in aller Öffentlichkeit zu schäkern. Man kann nur mutmaßen, was in Niccolò Orsini vorging, als er in seiner Eigenschaft als päpstlicher Bannerträger bei der Trauung feierlich seinen Degen über die Köpfe des Brautpaars hielt - gerade in dem Moment, in dem Alexander die Eheringe wechselte.
Cesare Borgia ahnte nichts Gutes, als er die bunt gemischte Hochzeitsgesellschaft betrachtete. Der den Borgia ergebene Bischof von Aquila war bereits 1491 in einen Hinterhalt gelockt worden, als er einer Einladung Giuliano della Roveres in dessen Palast bei der Piazza SS. Apostoli in Rom gefolgt war. Am nächsten Morgen wurde sein Leichnam entstellt aufgefunden. In den 36 Tagen zwischen Papst Innozenz' Tod und der Krönung Alexanders VI. waren in Rom 220 Morde verübt worden. Auch wenn der Papst nach seinem Amtsantritt energisch gegen die Mordbanden vorgegangen war und Exempel statuieren ließ - nichts deutete darauf hin, dass sich an der Statistik etwas ändern würde. Im Gegenteil.
Nur wenige Meter entfernt von Cesare befanden sich einige der Auftraggeber jener Meuchelmörder - und sein Vater hatte in diesem Moment nichts Besseres zu tun, als sich mit Hochzeitskonfekt zu beschäftigen. Mit einem schlüpfrigen Lächeln steckte er seiner Geliebten ein confetto, eine Zuckermandel, in den Ausschnitt. Mit einem Kichern quittierte sie seinen pikanten Gunstbeweis. Durch das päpstliche Vorbild animiert, taten andere es ihm nach. Bedienstete warfen die confetti in so großen Mengen aus den Fenstern, dass das Volk gar nicht alle auffangen konnte. Das dumpfe Knirschen der Mandeln, die von den Zaungästen zertreten wurden, drang bis an Cesares Ohr. Berauscht durch den korsischen Wein, den er in der Zwischenzeit regelrecht in sich hineingeschüttet hatte - nicht zuletzt, um seine widersprüchlichen Gefühle zu betäuben -, nahm er ohnehin nur noch Eindrücke wahr. Die Bilder und Geräusche vermischten sich in seinem Kopf: Kurz dachte er an sein Hochzeitsgeschenk, einen silberbeschlagenen Korb, den er später noch überreichen wollte. Er hörte, wie in einer Ecke des Saales ein Stallmeister, in Tierhäute gehüllt, Liebesgedichte vortrug.15 Obszöne Lacher drangen aus dem Nachbarsaal, in dem eine Komödie erotischen Inhalts aufgeführt wurde. Die Musiker der päpstlichen Kapelle stimmten gerade wieder die Instrumente ...
Es war ein lukullisches Fest, das Cesare bald nur noch schemenhaft wahrnahm.
Ähnlich unbehaglich muss sich Giovanni Sforza gefühlt haben. Am nächsten Morgen nämlich sollte er mit Lucrezia die Ehe vollziehen, in Anwesenheit von Zeugen, wie es üblich war. Man wollte dadurch verhindern, dass die Ehe wegen Nichtvollzugs gelöst werden könne, sollte der erhoffte Nachwuchs später ausbleiben. Giovanni Sforza aber dachte nicht im Ernst daran, seinen ehelichen Pflichten nachzukommen. Am nächsten Morgen kehrte er allein in sein Quartier zurück. Schon im Vorfeld hatte er bekanntgegeben, dass er seine Braut für zu jung halte. Erst zu einem späteren Zeitpunkt wolle er die Hochzeitsnacht nachholen. Dass es sich dabei um einen Vorwand handelte, bewies er dadurch, dass er wenige Wochen später allein nach Pesaro zurückkehrte - angeblich wegen der übergroßen Hitze Roms und der damit einhergehenden Seuchengefahr.
Cesare erfuhr am nächsten Morgen von Giovanni Sforzas Ausrede, und er fühlte sich einmal mehr in seiner Ahnung bestätigt. Mit einem maliziösen Lächeln im Gesicht verweilte er in Gedanken kurz bei Giovannis Zeugungskraft, als der Restalkohol ihm mit hämmernden Stichen vor Augen führte, dass er über die Stränge geschlagen hatte. Dennoch: zu bereuen gab es nichts, er wusste, warum er seine Emotionen mit so viel Alkohol heruntergespült und regelrecht betäubt hatte. Ein zu großer Schwächling war dieser Mailänder. Freilich konnte Cesare am Festabend noch nicht ahnen, dass sein Besäufnis unnötig gewesen war. Zumindest im Hinblick auf Giovanni Sforza. Denn wie so oft noch, sollte sich auch in dieser Angelegenheit das Blatt wenden: Der Bräutigam war bereits Vergangenheit. Ebenso schnell, wie sein Vater den spanischen Grafen Aversa durch Giovanni Sforza ausgewechselt hatte, vollzog er nun eine erneute Kehrtwende. Nicht mehr der Herzog von Mailand, sondern sein einstiger Gegner Ferrante wurde Alexanders Bündnispartner. Wie kam es zu diesem Gesinnungswandel?
Wenige Tage nach den Hochzeitsfeierlichkeiten traf unvermittelt ein Gesandter Ferdinands V. von Aragón in Rom ein, um Alexander VI. mitzuteilen, dass ihm das Wohl Ferrantes überaus am Herzen liege. Von Furcht getrieben, dass ein Angriff der Bündnispartner gegen Neapel das Ende der Aragóns in Italien bedeuten könne, bot er dem Heiligen Vater ein Tauschgeschäft an. Alexander VI. witterte sogleich eine Chance, wurde das Anliegen doch von einem überaus mächtigen Monarchen vorgetragen. Wichtiger als das Wohl der Aragonesen in Italien war Ferdinand V. freilich ein päpstliches Urteil zugunsten Spaniens bezüglich der Staatsgewalt über die Neue Welt. Kolumbus hatte wenige Monate nach dem Amtsantritt Alexanders VI. „Westindien" entdeckt und der spanischen Krone zum Geschenk gemacht. Portugal aber, das sich auf eine päpstliche Verfügung aus dem Jahre 1479 berief, erhob seinerseits Ansprüche auf alle Länder an der atlantischen Küste. Ein Krieg schien unvermeidlich, bis der Papst durch zwei Bullen ein salomonisches Urteil fällte: Portugal wurden alle Länder östlich einer gedachten Linie, Spanien alle Neuentdeckungen westlich davon zugesprochen. So legitimierten die Alexandrinischen Bullen trotz der älteren Rechte Portugals die spanische Eroberung der Neuen Welt. Alle Beteiligten waren damit zufrieden, insbesondere Alexander VI. Ferdinand V. vergalt ihm seine Hilfe, indem er seine Cousine Maria Juan Borgia zur Frau gab. Gleichzeitig wurde Jofré, der jüngste Sohn des Papstes, mit Sancia verlobt, der hübschen Enkelin Ferrantes. Somit hatte Alexander VI. in atemberaubender Geschwindigkeit die Seiten gewechselt, immer den größtmöglichen Machtgewinn vor Augen.
Durch den königlichen Beistand Spaniens sah Alexander VI. seine Sippschaft nun endgültig im Aufwind begriffen. Und dennoch stellte sich ihm noch ein entscheidendes Problem: Es war allgemein bekannt, dass seine Kinder Bastarde waren. Hastig ließ er Jofré am 6. August als eigenen Sohn anerkennen, womit der Verbindung mit dem spanischen Königshaus nichts mehr im Wege stand. Mit Cesare allerdings verhielt es sich schwieriger. Da er als Bastard kein hohes kirchliches Amt bekleiden durfte, erklärte er ihn kurzerhand für den legitimen Sohn von Vannozza und Domenico d'Arignano. In einer geheimen Bulle, die er noch am selben Tag erließ, erkannte er ihn freilich als legitimen Sohn an. Nachdem alle Kinder nach utilitaristischen Gesichtspunkten untergebracht worden waren, sollte auch Cesare einen familiendienlichen Posten bekommen. Als alle formalen Hindernisse aus dem Weg geräumt waren, ernannte Alexander VI. ihn am 20. September 1493 zum Kardinal von Valencia - und dies, obwohl Cesare nur die niederen Weihen empfangen hatte und gerade erst achtzehn Jahre alt war.
In Rom war man sich einig darüber, dass Cesares Ernennung zum Kardinal nicht aus religiösen Gründen erfolgt war. Hohn und Spott waren ihm gewiss, und schon im Vorfeld der Ernennung munkelte man, dass der Makel seiner illegitimen Herkunft ausgelöscht werde: „Man wird seinen Flecken ... hinwegnehmen und mit Grund, ja man wird das Urteil fällen, dass er legitim sei, weil er im Hause geboren ward, als der Mann des Weibes lebte; dies steht fest: derselbe war damals gegenwärtig, bald in der Stadt, bald in Amtsgeschäften in den Ländern der Kirche, hin und herreisend", schrieb der ferraresische Botschafter mit Ironie.16
Cesare aber spielte das Spiel des Vaters ohne Murren mit. Die Kardinalswürde war ein enormer Prestigegewinn für ihn. Darauf ließ sich aufbauen, und so gab er sich zunächst mit seiner Rangerhöhung zufrieden - auch wenn die politischen Konflikte in ihm ganz andere Instinkte hervorriefen als christliche Nächstenliebe: Dem Krieg und der Machtpolitik galt seine Leidenschaft, nicht dem Glaubensdienst. Nicht im Traum hätte er je daran gedacht, nach Spanien zu reisen, um seinen klerikalen Pflichten nachzukommen. Aber vielleicht bot sich ihm in Rom ja schon bald eine neue Chance?
In der Ewigen Stadt heizte seine Berufung die ohnehin an gespannte Atmosphäre noch mehr an. Kardinal Giuliano della Rovere, Alexanders VI. Erzfeind, soll vor Wut geschrien haben, als er von der Ernennung hörte. Niemals wolle er zulassen, dass das Heilige Kollegium so „entweiht und beschmutzt" werde, verkündete er lauthals.17 Und doch hatte er insgeheim bereits seine Habseligkeiten gepackt. Im Vatikan ließ er sich nicht mehr blicken. Schon vor der endgültigen Abstimmung war Streit unter den Purpurträgern ausgebrochen. „Solche Zwietracht hat man noch nie gesehen", schrieb der mantuanische Gesandte in Anbetracht der polarisierten Stimmung. Anhänger und Feinde des Papstes gifteten sich regelrecht an - verständlicherweise. Denn was Alexander VI. in jenem Sommer des Jahres 1493 tat, war wohl eines der dreistesten Beispiele für päpstlichen Nepotismus, den der Vatikan je gesehen hatte. Neben Cesare wurde unter anderen auch Alessandro Farnese zum Kardinal ernannt. Er verdankte seine Wahl seiner Schwester Giulia, Alexanders VI. neuer Mätresse. Schon bald hatte er unter den Römern den Spitznamen il cardinale della gonnella inne, „Kardinal von Unterrocks Gnaden". Den Papst aber störten die hämischen Kommentare wenig. Den Kardinälen, die ihn verleumden und ihn in Schwierigkeiten bringen wollten, drohte er, „er werde ihnen, wenn sie darauf beharrten, schon noch zeigen, wer Papst Alexander VI. sei, und zu Weihnachten werde er ihnen zum Trotz noch einmal so viele [Kardinäle] machen, und sie würden ihn dennoch nicht aus Rom verjagen ..."18
Nur mit einer Stimme Mehrheit wurde Cesare Borgia schließlich zum Kardinal gewählt, so knapp, wie er sich in späteren Jahren des Öfteren um Haaresbreite aus der Schlinge ziehen sollte. Zum Zeitpunkt seiner Ernennung aber war er in Caprarola, etwa achtzig Kilometer nordwestlich von Rom. Die Vorbereitungen und der Ablauf der Wahl interessierten ihn nur wenig. Nunca de su voluntad fue clerigo - niemals sei er aus freien Stücken Geistlicher geworden, sagte er über sich selbst in jenen Monaten, um seinen mangelnden Eifer zu begründen.19 Sein Hauptinteresse im Sommer des Jahres 1493 galt folglich etwas ganz anderem: dem berühmtesten Pferderennen Italiens, dem „Palio" in Siena. Schon unmittelbar nach Lucrezias Hochzeit hatte Cesare Borgia nur noch das im Sinn. Aut Palio aut nihil.
In dem seit 1147 stattfindenden Pferderennen zu Ehren der Jungfrau Maria treten die einzelnen Stadtteile Sienas auf dem Hauptplatz der Stadt gegeneinander an. Gehören die Pferde heute ausschließlich zu den einzelnen Stadtvierteln, den contrade, durften sich in der Vergangenheit auch auswärtige Geldgeber einkaufen - wovon ausgiebig Gebrauch gemacht wurde. So ließen etwa die Medici und die Gonzaga Pferde unter ihrem Wappen an den Start gehen, um für Ruhm und Ansehen zu kämpfen. Auch Cesare ließ es sich nicht nehmen, um den Siegerkranz zu streiten, denn der Palio war ein Ereignis sondergleichen. Der Palio bot die Gelegenheit, gesellschaftliches Renommee zu erlangen, insbesondere für einen belächelten Marrano, einen Außenseiter, von dem alle Welt wusste, dass er ein Bastard war. Nur dort - und weit weg von seinem Vater - konnte Cesare den eingebildeten Adelsfamilien zeigen, was wirklich in ihm steckte. Und das wollte er um jeden Preis. Er glühte regelrecht vor Ehrgeiz.
Seit jeher ging es in dem Pferderennen um Ruhm und Ehre, und schon immer waren die Mittel, um den Sieg zu erlangen, unsportlicher Natur: Behinderungen des Gegners und unvermeidliche Stürze sind noch heute allgemein üblich. Ob das Pferd mit oder ohne Reiter ins Ziel kommt, spielt dabei keine Rolle. Auf dem glatten Grund der Piazza del Campo rutschen die Tiere regelmäßig aus und tragen teilweise so schwere Verletzungen davon, dass sie getötet werden müssen. Das siegreiche Pferd hingegen wird frenetisch gefeiert. Triumph und Niederlage, Glück und Pech, rauschende Siegesfeste wie Verhöhnungen der Verlierer liegen ebenso eng nebeneinander wie Leben und Tod. Im Grunde genommen sei der Palio ein Symbol des beständigen Lebenskampfes, sagen die Sieneser über das weltweit bekannte Ereignis.
Nicht von ungefähr fühlte sich gerade Cesare Borgia von diesem Rennen magisch angezogen. Er ging es mit einer Verbissenheit an, die seinen Kampf um Anerkennung spiegelte. Alle Mittel waren ihm recht, um den Sieg im Rennen am 16. August zu erlangen. Und er nutzte sie gewissenlos. Gewieft wie er war, griff er zu unlauteren Mitteln: Sein Jockey sprang im entscheidenden Moment vom Pferd ab, so dass das Tier, von seiner Last befreit, allen Gegnern davonlief. Auf diese Weise siegte Cesare Borgia. Allerdings nicht, ohne auf berechtigten Widerstand seiner Gegner zu stoßen. Francesco Gonzaga, der Markgraf von Mantua, dessen Pferd unmittelbar hinter dem Cesares ins Ziel gekommen war, erhob sogleich Einspruch. „Betrügerisch ist Borgias Sieg, nur mit Hilfe einer List hat sein Pferd gesiegt." Und die Stadtregierung von Siena gab dem Mantuaner recht. Der junge Borgia aber, außer sich vor Zorn, sah sich in seiner Eitelkeit gekränkt und seines Ruhmes beraubt. Sogleich schrieb er in diplomatisch verhülltem Kanzleistil an die Regierenden. Sie mögen sich in Acht nehmen, denn seine Freundschaft könne ihnen in Zukunft wichtiger werden als die des Mantuaners: „Nehmt Bedacht auf unsere Ehre und befehlt, dass der Palio [Uns] zugesprochen wird, womit Ihr Uns ein einzigartiges Vergnügen bereitet, und wir werden uns verpflichtet fühlen, Dinge zu tun, die zur Freude und Ehre Eurer Herrlichkeiten und hochedlen Gemeinde gereichen werden."20
Leider ist nicht überliefert, wie der Streit ausging. Aber eines zeigt das Schreiben deutlich: Cesare Borgia war nicht mehr gewillt, über sich bestimmen zu lassen. Schon gar nicht von unbedeutenden Stadthonoratioren. Seine zur Schau gestellte Arroganz war enorm. Und er wusste seine päpstliche Abstammung als Drohmittel im politischen Ränkespiel einzusetzen.
Für nichtige Freuden wie den „Palio" aber hatte Cesare schon bald keine Zeit mehr. Es sollte sein letztes jugendliches Vergnügen sein, bevor die politische Lage sich endgültig verschlechterte. Alexander VI. rief ihn schon bald nach Rom zurück, um seine Kardinalsernennung feierlich zu begehen. Am 17. Oktober betrat er die Ewige Stadt. Mit großem Prunk wurde er empfangen: „An diesem Morgen wird man den neuen Kardinälen Ring und Titel verleihen, und der Neffe des Papstes, der sich außerhalb Roms in einem Schloss aufgehalten hatte, erschien ungeachtet der Pest vor dem Tor und wurde von allen Kardinälen mit großem Pomp empfangen", schrieb der mantuanische Gesandte Cattaneo über Cesares Einzug.21 „Der Neffe des Papstes ..." Jedermann war klar, dass es sich nicht um den Neffen, sondern um den leiblichen Sohn des Heiligen Vaters handelte. Dennoch wahrte man die Form. Bemerkenswert an Cattaneos Zeilen ist aber, wieviel Respekt aus ihnen spricht - Achtung vor dem Mut, den Cesare Borgia schon in jungen Jahren unter Beweis stellte: Trotz der Pest sei er in die Stadt eingezogen. Und Mut wurde ihm schon bald in ganz anderer Form abverlangt. Über dem Vatikan brauten sich die dunklen Wolken des Krieges zusammen. Cesare, der ungeliebte Sohn Alexanders, sollte rasch zum teuersten Pfand vatikanischer Außenpolitik avancieren.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Uwe Neumahr
- 302 Seiten, Maße: 13,2 x 21 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828947123
- ISBN-13: 9783828947122
Kommentar zu "Cesare Borgia"
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