13 Tage
Seattle. Fünfundzwanzig Jahre sind vergangen, seit drei Jungen gekidnappt und in die Wälder nahe dem Hoh River verschleppt wurden. Einer von ihnen kam nie zurück. Ein Vierteljahrhundert später steht Detective Alice Madison, seit kurzem...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „13 Tage “
Klappentext zu „13 Tage “
Seattle. Fünfundzwanzig Jahre sind vergangen, seit drei Jungen gekidnappt und in die Wälder nahe dem Hoh River verschleppt wurden. Einer von ihnen kam nie zurück. Ein Vierteljahrhundert später steht Detective Alice Madison, seit kurzem erst bei der Mordkommission, vor einer viel zu großen Herausforderung: Der beliebte Anwalt James Sinclair, seine Frau und seine beiden Jungen wurden in ihren Schlafzimmern grausam ermordet. Eingeritzt in den Türrahmen findet die Polizei die makaber verschnörkelten Worte "13 Tage". Dies ist die Zeit, die Madison bleibt, um zu beweisen, dass beide Verbrechen zusammenhängen - und schließlich zu erkennen, dass sie alles vergessen muss, was sie gelernt hat. Denn dort, wo einst das Leben eines Kindes endete und ein anderes bald enden soll, verschwimmen die Grenzen zwischen Freund und Feind ...
Lese-Probe zu „13 Tage “
13 Tage von V. M. GiambancoEin Himmel so blau, dass es schmerzt. Uralte Bäume ragen dreißig Meter in die Höhe, rote und gelbe Zedern neben Balsampappeln und Weinblattahorn. Ihre Wurzeln winden sich durch tiefes, grünes, glitschiges Moos und faules Holz. Der Junge rennt barfuß. Auf einer kleinen Lichtung bleibt er keuchend stehen und lauscht. Elf Jahre, vielleicht zwölf, die dunklen Augen weit aufgerissen. Totes Geäst hat ihm die Jeans zerfetzt, das schmutzig graue T-Shirt ist am Rücken schweißdurchtränkt, die Ärmel kleben an seinen dünnen Armen. Durch die Schlitze im Stoff sieht man Haut, seine Arme und Hände sehen aus, als wären sie in Blut getaucht worden.
Der Junge wischt sich eine Strähne aus den Augen und erbricht das wenige, was er noch im Magen hat. Er stützt sich an einem Baum ab, dann läuft er abwärts. Sein Körper wird von der Schwerkraft angezogen, er verliert das Gleichgewicht, watet durch das gefallene Laub. Die Welt knackt und schwankt unter seinen Füßen.
Letzte Nacht
Dunkelheit. Die Wellen schlugen krachend auf den Kieselstrand, es war das lauteste Geräusch, das James Sinclair je gehört hatte, und es erfüllte seinen ganzen Körper, als würde es in ihn hineingegossen.
Er erinnerte sich nicht, aufgewacht und über den Rasen hinunter zum Pier gegangen zu sein. Ein kalter Wind fuhr ihm ins Gesicht, und etwas Heißes, Trockenes breitete sich in seinen Lungen aus. Er geriet in Panik und versuchte aufzuwachen, doch er schmeckte Blut und hörte sich schreien: das Bett, auf dem er lag, die Augenbinde, der Draht um Hals und Hände. Er dachte an seine Kinder, er dachte an seine Frau.
Kapitel 1
... mehr
In einer guten Nacht riecht man das Meer noch weit oben am University Hill. Alice Madison ließ das Fenster ein paar Zentimeter herunter und atmete ein. Die Nacht war kalt, und der klamme Dezembernebel hing tief zwischen den Häusern und den kahlen Bäumen. In zwei Wochen war Weihnachten. Die Studenten, die es sich leisten konnten, auf dieser Seite des Hügels zu wohnen, waren für die Feiertage schon zu Hause bei ihren Familien im ganzen Staat Washington.
Die Anzeige auf dem Armaturenbrett zeigte 4:15 Uhr. Detective Sergeant Brown, die dunkle Gestalt neben ihr, hatte den Abend schon vor Stunden besiegelt.
»Wenn die Kaffeebecher leer und alle Gespräche geführt sind, dann ist eine Observation nichts anderes als eine lange Zeit zusammen mit Leuten, die gerne woanders was anderes in anderer Gesellschaft machen würden.«
Das war eine ziemlich treffende Beschreibung ihrer Partnerschaft, dachte sie.
Die Scheibe beschlug von ihrem Atem. Sie hatte die Wahl: zu frieren oder an die Langeweile und den Schweiß anderer Männer erinnert zu werden, die hier stundenlang gesessen hatten. Sie fror lieber.
Brown wandte sich um, warf einen Blick auf das andere Ende der Straße. Sie nahm einen Hauch Aftershave wahr, kühl und nicht unangenehm. Madison wusste, dass man sie hier herausgeschickt hatte, obwohl die Chancen quasi gleich null standen. Brown war kein glücklicher Mensch heute Abend.
Gary Stevens - männlich, weiß, 23, keine Vorstrafen - war der Hauptverdächtige im Mordfall einer 19-jährigen Studentin vom Campus. Die Polizei fand Janice Hiller mit Handschellen an einen Heizkörper gefesselt, mit dem Rücken an der Wand. Sie war mit einem einzigen Schlag auf den Kopf getötet worden. Neben ihre rechte Hand hatte jemand ordentlich eine halb ausgetrunkene Tasse Kaffee gestellt.
An dem Tag vor vier Wochen, als sie zur Mordkommission von Seattle gekommen war, hatte Alice Madison das Grab ihrer Großeltern auf einem Friedhof in der Nähe von Burien besucht. Sie legte einen Strauß weißer Rosen neben den Grabstein und blieb eine Weile allein dort stehen. Wo auch immer sie waren, im Herzen würden sie wissen, dass sie Alice zu dem Menschen gemacht hatten, der sie heute war, und dass ihre Liebe ein Segen war, den sie wie Gold mit sich trug, auf der Haut und unsichtbar. An diesem Abend war Madison nach Hause gefahren, hatte sich etwas zu essen gemacht - keine Tiefkühlkost und nichts aus der Dose - und zehn Stunden am Stück geschlafen.
Brown war seither weder kalt noch unkollegial gewesen, sondern einfach distanziert. Er war ein guter Polizist, besser als die meisten. Sie würden nie Freunde werden, so viel wusste sie, und doch würde sie ihm jeden Tag aufs Neue ihr Leben anvertrauen. Vielleicht war das genug.
Brown und Madison hatten nicht über die Natur des Bösen gesprochen, als sie den Ring versengten Fleischs um Janice Hillers Handgelenk gesehen hatten. Der Heizkörper hatte in regelmäßigen Abständen die metallene Handschelle aufgeheizt. Sie machten sich einfach daran, das nächste Opfer zu retten, und arbeiteten konzentriert und zügig, um weitere Unschuldige aus der Schusslinie zu entfernen.
Am anderen Ende der Straße bemühten sich zwei Männer in einem dunklen Ford, einander wach zu halten. Der Kaffee und die schmutzigen Witze waren ihnen längst ausgegangen.
Madison hätte den Abend viel lieber in ihrer Gesellschaft verbracht: Die Detectives Spencer und Dunne waren seit drei Jahren Partner. Sie kannten sich von der Polizeischule und arbeiteten gut zusammen. Ein ungleiches Paar: Spencer war japanischer Abstammung, verheiratet, er hatte drei Kinder und einen Abschluss in Kriminologie von der Abendschule. Dunne hingegen war ein rothaariger Ire, er hatte sich mit einem Football-Stipendium das College finanziert und Frauen gehabt, deren kurze Röcke in die Mythologie der Wache eingegangen waren. Jeder wusste, was der andere dachte, der eine konnte die Handlungen des anderen vorwegnehmen. Madison hoffte, sie würde mit Brown keine Beziehung dieser Art aufbauen müssen. Detective Alice Madison wollte nur in die Dunkelheit hinausschauen, die vor ihr lag. Sie freute sich auf das ruhige Warten, bevor die Zielperson auftauchte, alles auf der Welt stillstand und es nichts als die Falle und die Jagd gab.
Auf der Polizeischule hatte man ihr vieles beigebracht, aber nicht, wie es sich anfühlte, mit voller Kraft hinter einem Menschen herzurennen, der einem Böses wollte - das hatte sie auf der Straße lernen müssen. Sie lehnte sich in den abgewetzten Ledersitz zurück. Spencer und Dunne wären vielleicht die bessere Gesellschaft gewesen, aber heute Nacht war sie genau da, wo sie sein wollte.
Der Wind wehte nun kräftig, nur ein paar Blocks weiter wogte die See, spritzte auf die verlassenen Piers und bildete Pfützen aus schwarzem Meerwasser. Stevens würde heute Nacht nicht nach Hause kommen, er würde nie mehr nach Hause kommen. Wahrscheinlich hatte er bereits den Staat verlassen, seinen Namen geändert und auf irgendeinem anderen Campus von vorne angefangen. Madison befasste sich nicht länger mit diesem Gedanken, sie befand sich noch in dem Stadium, in dem man jeden einzelnen roten Namen an der Pinnwand der Mordkommission auswendig wusste - und besonders diejenigen, die sich von rot in schwarz verwandelt hatten, die Aufklärungsrate, das Allerwichtigste.
»Guten Morgen, Seattle. Draußen herrschen milde Temperaturen, knapp unter null. Und es ist ...« Dunnes Stimme krächzte aus dem Walkie-Talkie.
Es lag zwischen den beiden Vordersitzen. Brown nahm es.
»Es dürfte so etwa 4 : 15 Uhr sein.«
»Hier auch. Wie lange sollen wir noch?«
»Es ist schon spät.« Brown seufzte. »Das war's, meine Herren, brechen wir auf.«
Madison war enttäuscht. Sie waren zwar ohne Erwartungen hergekommen, aber das machte den Aufbruch nun auch nicht einfacher.
»Mir macht es nichts aus, noch ein bisschen zu bleiben«, sagte sie.
»Es wird noch mehr Nächte geben.«
»Nicht für Stevens.«
»Stevens ist über alle Berge«, sagte Brown.
»Da bleibt er aber vielleicht nicht.«
»Bringt es ihn zurück, wenn wir hier warten?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Aber ...«
»Ich fühl mich dann besser«, sagte sie.
Brown wandte den Kopf zu Madison. Ihre Augen wanderten im Halbdunkel über die Schatten der Straße, als wolle sie den Mann heraufbeschwören.
»Ist wohl sinnlos. Ich weiß«, sagte sie.
»Es wird noch mehr Nächte geben.«
Dunne meldete sich wieder. »Zwei Straßen weiter gibt es einen Laden, der vierundzwanzig Stunden geöffnet hat. Wir können uns dort treffen.«
»Okay. Wir folgen Ihnen.« Brown legte den Gang ein, und das Auto fuhr sanft los. Die Straße lag genauso da, wie sie sie Stunden zuvor vorgefunden hatten.
Ein Pärchen Ende zwanzig lief durch die Gänge des Night & Day, die beiden suchten sich kleine Schachteln MicrowaveWorld aus. Offenbar hatten sie irgendwo gefeiert und waren in Kicherlaune, aber nicht richtig betrunken. Sehr viel jünger als Madison konnten sie nicht sein.
Dunne war direkt zum Kaffee und den Donuts gegangen, Spencer hatte sich ein Mineralwasser geholt und Brown eine Cola light. Sie sagten kein Wort, die Stunden im Auto saßen ihnen in den Knochen, das spürten sie, sobald sie den Laden betreten hatten. Dunne streckte sich und gähnte.
Madison nahm eine Packung Milch und ging am Regal mit den Leihvideos vorbei. Es enthielt hauptsächlich Action- und Horrorstreifen, dazwischen ein paar Disney-Filme für Familien. Madison hatte während der letzten Wochen eine Billy-Wilder-Diät gemacht. Nach der Spätschicht war sie zu Hause auf dem Sofa im Wohnzimmer eingeschlafen, während sie Josephine und Daphne gelauscht hatte. Es lenkte sie ab, denn manchmal waren ihre Gedanken kein angenehmer Aufenthaltsort. Sie zahlte und ging nach draußen.
Ans Auto gelehnt trank Madison die Milch. Es war noch neblig, vielleicht würde das Morgenlicht den Nebel aufl ösen. Der Wind wehte jetzt viel stärker vom Meer her und trug den Ruf eines Nebelhorns mit sich. Sie hüllte sich fester in ihren schweren Anorak und dachte darüber nach, was sie alles in die nächsten vierundzwanzig Stunden packen wollte. In dem Moment trat das Mädchen aus dem Nichts heraus.
Sie fiel Madison auf, weil sie so jung aussah und mit ihrer Jeansjacke und der dünnen Hose so fehl am Platz wirkte. Ihr muss doch eiskalt sein. Madison beobachtete sie weiter, vielleicht brauchte die Jugendliche Hilfe. Ihre Haare waren babyblond und kurz geschnitten. Sie sah aus wie vierzehn, gerade im richtigen Alter für eine Ausreißerin, einen kleinen Rucksack hatte sie auch noch dabei. Sie trug rosa Lippenstift und dicken Lidstrich, die Wangen waren von der Kälte gerötet.
Madison, die mit ihrer dicken Jacke und einer Baseballkappe auf dem Kopf am Auto lehnte, sah nicht wie eine Polizistin aus. Das war gut, denn sie wollte dem Mädchen keinen Schrecken einjagen. Jetzt bemerkte sie die dunklen Schatten unter ihren Augen.
»Hey.«
Das Mädchen blieb kurz stehen, wandte sich zu ihr und nickte leicht. Madison lächelte sie zaghaft an, denn das Mädchen sollte nicht denken, sie sei irgendeine Verrückte, aber gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie genau danach aussah. Die Erfahrung sagte ihr, dass die Kleine wahrscheinlich unter einfachsten Bedingungen schlief, nicht annähernd genug aß und wohl bereits eine angehende Infektion der Atemwege in sich trug.
Das Mädchen blieb stehen, die Hände tief in den Taschen vergraben. Mit zwei Schritten war sie die Stufen hinauf und im Laden verschwunden. Sie reiste mit leichtem Gepäck; in den kleinen Beutel, den sie auf dem Rücken trug, passte nicht viel. Und dann war da noch etwas in der rechten Seite ihrer Jacke, das Ding, das sie unter dem dünnen weißen Stoff umklammerte. Madison war es aufgefallen, als sich das Mädchen abgewandt hatte. Es war eine kalte, traurige, verschwendete Nacht gewesen, und es wurde nicht besser: Was Madison gesehen hatte, sah aus wie der Griff einer Pistole. Sie lief die Stufen hinauf, hinter dem Mädchen her.
Es stand drei Meter vor ihr, betrachtete die Regale mit den Schokoriegeln und drehte den Kopf ganz langsam von einer Seite zur anderen.
Brown war ein, zwei Meter rechts von ihr an der Kasse und wollte gerade zahlen. Spencer und Dunne befanden sich im hinteren Bereich des Ladens. Das junge Pärchen hatte den Einkaufskorb mit Kartons und Päckchen gefüllt und ging in Richtung Kasse. Das Geplapper hatten sie eingestellt, nur das Brummen der Neonröhren und des Kühlschranks war zu hören.
In einer fließenden Bewegung öffnete Madison ihre Jacke und löste den kleinen Lederriemen, der ihre Pistole im Holster an der rechten Hüfte festhielt. Sie wollte jetzt nicht daran denken, dass der Großteil der Mordkommission das verdammte Ding zeitlebens nicht einmal ziehen musste. Sie ging einen Schritt auf Brown zu und berührte ihn an der Schulter, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von dem Mädchen abzuwenden. Dann nickte sie in Richtung des Mädchens und imitierte mit den Fingern eine Waffe. Brown zog die Augenbrauen hoch und löste den Riemen an seinem Holster.
Die Hand in der Jackentasche war feucht, das war dem Mädchen unangenehm. Aber sie wollte die Hand auch nicht herausnehmen und an der Hose abwischen, das wäre noch viel schlimmer gewesen. Sie hasste das schwere Metall, es zog die Tasche auf der einen Seite herunter. Immer wieder umklammerte sie den Griff der Pistole und ließ ihn wieder los. Sie ließ den Blick rasch über Hershey-Riegel, Mars, Reece's schweifen. Zu viele Namen.
Das Pärchen stellte seinen Einkaufskorb auf die Theke, und ein unterbezahlter und übermüdeter Verkäufer gab die Preise in die Kasse ein. Madison stellte sich hinter die beiden und sprach so leise, dass sie sich selbst kaum hören konnte.
»Polizei. Verlassen Sie den Laden.«
»Was ...« Der junge Mann machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu, als er die Marke in der Innenseite ihrer Jacke aufblitzen sah.
»Sofort. Sehen Sie sich nicht um. Gehen Sie.«
Glücklicherweise gehorchten sie, jedoch nicht, ohne noch einen raschen Blick über die Schulter zu werfen.
Der Kassierer war nicht ganz so entgegenkommend. »Was soll das ...?«
Das Mädchen wandte sich um, die Pistole hielt sie mit beiden Händen auf Augenhöhe. »Keiner bewegt sich.« Ihre Stimme war zittrig, aber sie sprach klar und deutlich, und der Kassierer tauchte unter der Bar ab.
Das Mädchen stand gegenüber von Brown und Madison, die Pistole bewegte sich ruckartig zwischen den beiden hin und her. Spencer und Dunne waren hinter den Regalen verschwunden. Als könnte sie die beiden sehen, wusste Madison, dass sie die Waffe gezogen hatten und überlegten, wie sie zu dem Mädchen gelangen konnten, ohne dass einer von ihnen einen Schuss abbekam.
»Sie haben unsere Aufmerksamkeit. Und jetzt?« Brown war ruhig und hatte alles unter Kontrolle, unwillkürlich empfand Madison Bewunderung für ihn.
»Tun Sie, was ich sage. Legen Sie sich auf den Boden. Los.« Die Stimme des Mädchens wurde höher und schlug um. Madison sah, dass ihr Atem immer schwerer ging, sie mussten sie schnell beruhigen, sonst bekam sie noch einen Schwächeanfall.
»Na los!« Bald würde sie austicken.
»Das ist es nicht wert«, sagte Brown. »In der Kasse sind weniger als fünfzig Dollar. Und Sie richten Ihre Waffe auf zwei Polizisten.« Er nickte zu seiner Partnerin hinüber.
Den Bruchteil einer Sekunde war in den Augen des Mädchens Ach du Scheiße zu lesen, es war lange genug.
»Legen Sie die Waffe auf den Boden und rennen Sie, so schnell Sie können.«
Dem Mädchen stand der Mund offen. Sie dachte angestrengt nach. Die vier Detectives wussten nur zu gut, dass jeder, der eine Waffe in der Hand hatte, den großen Max markieren konnte, aber ein paar Glückliche konnten zusätzlich noch ihr Gehirn einschalten.
Madison bemühte sich, den Überblick zu behalten, das Brummen auszublenden und den Kopf freizubekommen. Da war die Hand des Mädchens, die den Revolver auf Browns Kopf richtete, da war der Arm des Mädchens, das Herz des Mädchens. Sie wusste, sie konnte in weniger als drei Sekunden ziehen, schießen und das Mädchen zu Fall bringen. Die Mündung zielte zitternd auf Browns Augen, doch der Mann verzog keine Miene, sah das Mädchen direkt an und sprach immer noch freundlich mit ihr. Das Mädchen trug Glitzernagellack, die Brauen waren gepierct, zweimal auf der linken Seite, einmal auf der rechten. Ihre Jeansjacke war innen mit abgewetztem Lammfell gefüttert, die bleiche Haut in dem Neonlicht beinahe durchsichtig.
»Hören Sie auf, mit mir zu reden!«, brüllte das Mädchen, und Madison sah nun nicht mehr sie, sondern nur noch die Waffe, und machte sich bereit. Im Bruchteil einer Sekunde spürte Madison, dass sie keine Hemmungen mehr hätte.
»Das ist es nicht wert«, sagte Brown. Madison wusste nicht, zu wem.
»Schon gut, schon gut.« Das Mädchen nickte. »Ich nehm mir bloß ein bisschen was. Sie bleiben, wo Sie sind.«
Der Augenblick war vorüber.
»Niemand bewegt sich.« Brown lächelte. »Wir sind nur drei Leute, die sich unterhalten.«
Mit der linken Hand langte sie hinter sich, ertastete die Schokoriegel, nahm sich ein paar und stopfte sie in ihre Jacke, dann nahm sie noch ein paar mehr und steckte sie in die Gesäßtasche ihrer Hose.
»Ich gehe jetzt. Ich lasse die Pistole auf den Stufen liegen. Niemand folgt mir.«
»Moment. Leg die Pistole hier auf den Boden. Du hast mein Wort, dass meine Partnerin und ich dir drei Minuten Zeit geben.«
»Ja, klar.«
»Mein Wort.« Brown wollte nicht, dass sie mit einer Waffe hinaus auf die Straße ging.
»Tu, was er sagt. Kein Mensch will Schwierigkeiten. Leg die Waffe weg und sieh zu, dass du hier wegkommst.«
»Und wenn nicht?«
Brown sah ihr direkt in die Augen. »Das Jugendgericht ist am Wochenende geschlossen, du wirst vierundzwanzig Stunden mit Betrunkenen und allen möglichen Gewalttätern in einer Zelle verbringen müssen.« Das Mädchen blinzelte zweimal. »Ich glaube kaum, dass du das möchtest.«
Das Mädchen schluckte schwer, es war eine schlechte Nacht gewesen.
»Gut.«
Sie ging ein paar Schritte in Richtung Tür, den Blick auf die beiden Polizisten vor ihr gerichtet, dann bückte sie sich und legte die Pistole auf den Boden, bereit zu fliehen. Spencer legte ihr blitzschnell den Arm um den Hals, und Dunne ließ die Handschellen um die dünnen, bleichen Handgelenke zuschnappen. Es war innerhalb von Sekunden vorbei. Das Mädchen rang nach Atem. Sie versuchte, die Polizisten abzuschütteln, ohne Kraft und ohne Hoffnung, ihr liefen Tränen über die Wangen. Spencer ließ sie los, Madison wusste, dass er einen Sohn in ihrem Alter hatte. Sie holte tief Luft und befestigte den Lederriemen wieder am Holster. Ihr Herz klopfte immer noch.
»Sie ist nicht geladen.« Dunne schüttelte ungläubig den Kopf. »Jesus, Maria und Josef.«
Der Kopf des Kassierers tauchte wieder hinter der Bar auf. Er machte sich ein Bild von der Lage und gab seinen Senf dazu. »Wer bezahlt die Süßigkeiten?«
Brown ging zur Kasse und legte einen Geldschein auf die Theke.
Sie führten das Mädchen die Stufen hinunter; sie würde mit Brown und Madison fahren, mit Spencer auf dem Rücksitz, um auf sie aufzupassen. Dunne würde das andere Auto steuern.
»Bringen Sie mich ins Gefängnis?«, fragte sie niemand Bestimmten.
»Du kommst mit auf die Wache, damit wir uns darüber unterhalten können, wie du dazu gekommen bist.« Spencer zeigte auf die Waffe.
Das Mädchen fiel in sich zusammen. Es war, als sei alle Energie aus ihr gewichen, und sie hatte von Anfang an nicht viel gehabt. Spencer und Madison stützten sie, nicht um sie zurückzuhalten, sondern damit sie nicht zusammenklappte und sich den Kopf auf dem Beton aufschlug.
Der Wind hatte ein wenig leichten Regen mitgebracht, schüttelte die Bäume mit aller Macht und überzog die Straße mit einer dünnen Schicht feuchter Blätter. Um sie herum war alles pechschwarz, bis auf ein paar orange leuchtende Straßenlaternen und die Neonlichter des Night & Day.
Als sie dem Mädchen ins Auto halfen, blickte es auf.
»Haben Sie eine Zeitung, oder so?«
Ihre Stimme war kaum ein Flüstern.
Madison sah den dunklen Fleck auf ihrer Hose.
»Ich hole eine im Laden.« Sie ging auf die Stufen zu. »Möchtest du etwas Warmes zu trinken?«
Das Mädchen dachte eine Sekunde lang nach. »Einen Kaffee. Schwarz.«
Durch die Autoheizung wurde der beißende Uringeruch beinahe unerträglich, und sie fuhren mit offenen Fenstern. Das Mädchen saß zwischen zwei Detectives und hielt den Becher mit den Fingerspitzen. Sie trank in kleinen Schlucken und redete ohne Unterlass. Das war keine ungewöhnliche Reaktion: Sie hieß Rose, kein zweiter Vorname, dreizehn Jahre alt, kein fester Wohnsitz. Am Park Place Market hatte sie gesehen, wie ein Mann eine schwere braune Papiertüte in einen Mülleimer fallen ließ. Sie hatte auf Essensreste gehofft. Die Waffe war in ein Geschirrtuch gewickelt gewesen.
»Du hast eine ungeladene Waffe auf zwei Polizisten gerichtet «, sagte Spencer. »Auf der Blödheitsskala ist das die volle Punktzahl.«
Übersetzung: Elke Link
Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe bei Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
In einer guten Nacht riecht man das Meer noch weit oben am University Hill. Alice Madison ließ das Fenster ein paar Zentimeter herunter und atmete ein. Die Nacht war kalt, und der klamme Dezembernebel hing tief zwischen den Häusern und den kahlen Bäumen. In zwei Wochen war Weihnachten. Die Studenten, die es sich leisten konnten, auf dieser Seite des Hügels zu wohnen, waren für die Feiertage schon zu Hause bei ihren Familien im ganzen Staat Washington.
Die Anzeige auf dem Armaturenbrett zeigte 4:15 Uhr. Detective Sergeant Brown, die dunkle Gestalt neben ihr, hatte den Abend schon vor Stunden besiegelt.
»Wenn die Kaffeebecher leer und alle Gespräche geführt sind, dann ist eine Observation nichts anderes als eine lange Zeit zusammen mit Leuten, die gerne woanders was anderes in anderer Gesellschaft machen würden.«
Das war eine ziemlich treffende Beschreibung ihrer Partnerschaft, dachte sie.
Die Scheibe beschlug von ihrem Atem. Sie hatte die Wahl: zu frieren oder an die Langeweile und den Schweiß anderer Männer erinnert zu werden, die hier stundenlang gesessen hatten. Sie fror lieber.
Brown wandte sich um, warf einen Blick auf das andere Ende der Straße. Sie nahm einen Hauch Aftershave wahr, kühl und nicht unangenehm. Madison wusste, dass man sie hier herausgeschickt hatte, obwohl die Chancen quasi gleich null standen. Brown war kein glücklicher Mensch heute Abend.
Gary Stevens - männlich, weiß, 23, keine Vorstrafen - war der Hauptverdächtige im Mordfall einer 19-jährigen Studentin vom Campus. Die Polizei fand Janice Hiller mit Handschellen an einen Heizkörper gefesselt, mit dem Rücken an der Wand. Sie war mit einem einzigen Schlag auf den Kopf getötet worden. Neben ihre rechte Hand hatte jemand ordentlich eine halb ausgetrunkene Tasse Kaffee gestellt.
An dem Tag vor vier Wochen, als sie zur Mordkommission von Seattle gekommen war, hatte Alice Madison das Grab ihrer Großeltern auf einem Friedhof in der Nähe von Burien besucht. Sie legte einen Strauß weißer Rosen neben den Grabstein und blieb eine Weile allein dort stehen. Wo auch immer sie waren, im Herzen würden sie wissen, dass sie Alice zu dem Menschen gemacht hatten, der sie heute war, und dass ihre Liebe ein Segen war, den sie wie Gold mit sich trug, auf der Haut und unsichtbar. An diesem Abend war Madison nach Hause gefahren, hatte sich etwas zu essen gemacht - keine Tiefkühlkost und nichts aus der Dose - und zehn Stunden am Stück geschlafen.
Brown war seither weder kalt noch unkollegial gewesen, sondern einfach distanziert. Er war ein guter Polizist, besser als die meisten. Sie würden nie Freunde werden, so viel wusste sie, und doch würde sie ihm jeden Tag aufs Neue ihr Leben anvertrauen. Vielleicht war das genug.
Brown und Madison hatten nicht über die Natur des Bösen gesprochen, als sie den Ring versengten Fleischs um Janice Hillers Handgelenk gesehen hatten. Der Heizkörper hatte in regelmäßigen Abständen die metallene Handschelle aufgeheizt. Sie machten sich einfach daran, das nächste Opfer zu retten, und arbeiteten konzentriert und zügig, um weitere Unschuldige aus der Schusslinie zu entfernen.
Am anderen Ende der Straße bemühten sich zwei Männer in einem dunklen Ford, einander wach zu halten. Der Kaffee und die schmutzigen Witze waren ihnen längst ausgegangen.
Madison hätte den Abend viel lieber in ihrer Gesellschaft verbracht: Die Detectives Spencer und Dunne waren seit drei Jahren Partner. Sie kannten sich von der Polizeischule und arbeiteten gut zusammen. Ein ungleiches Paar: Spencer war japanischer Abstammung, verheiratet, er hatte drei Kinder und einen Abschluss in Kriminologie von der Abendschule. Dunne hingegen war ein rothaariger Ire, er hatte sich mit einem Football-Stipendium das College finanziert und Frauen gehabt, deren kurze Röcke in die Mythologie der Wache eingegangen waren. Jeder wusste, was der andere dachte, der eine konnte die Handlungen des anderen vorwegnehmen. Madison hoffte, sie würde mit Brown keine Beziehung dieser Art aufbauen müssen. Detective Alice Madison wollte nur in die Dunkelheit hinausschauen, die vor ihr lag. Sie freute sich auf das ruhige Warten, bevor die Zielperson auftauchte, alles auf der Welt stillstand und es nichts als die Falle und die Jagd gab.
Auf der Polizeischule hatte man ihr vieles beigebracht, aber nicht, wie es sich anfühlte, mit voller Kraft hinter einem Menschen herzurennen, der einem Böses wollte - das hatte sie auf der Straße lernen müssen. Sie lehnte sich in den abgewetzten Ledersitz zurück. Spencer und Dunne wären vielleicht die bessere Gesellschaft gewesen, aber heute Nacht war sie genau da, wo sie sein wollte.
Der Wind wehte nun kräftig, nur ein paar Blocks weiter wogte die See, spritzte auf die verlassenen Piers und bildete Pfützen aus schwarzem Meerwasser. Stevens würde heute Nacht nicht nach Hause kommen, er würde nie mehr nach Hause kommen. Wahrscheinlich hatte er bereits den Staat verlassen, seinen Namen geändert und auf irgendeinem anderen Campus von vorne angefangen. Madison befasste sich nicht länger mit diesem Gedanken, sie befand sich noch in dem Stadium, in dem man jeden einzelnen roten Namen an der Pinnwand der Mordkommission auswendig wusste - und besonders diejenigen, die sich von rot in schwarz verwandelt hatten, die Aufklärungsrate, das Allerwichtigste.
»Guten Morgen, Seattle. Draußen herrschen milde Temperaturen, knapp unter null. Und es ist ...« Dunnes Stimme krächzte aus dem Walkie-Talkie.
Es lag zwischen den beiden Vordersitzen. Brown nahm es.
»Es dürfte so etwa 4 : 15 Uhr sein.«
»Hier auch. Wie lange sollen wir noch?«
»Es ist schon spät.« Brown seufzte. »Das war's, meine Herren, brechen wir auf.«
Madison war enttäuscht. Sie waren zwar ohne Erwartungen hergekommen, aber das machte den Aufbruch nun auch nicht einfacher.
»Mir macht es nichts aus, noch ein bisschen zu bleiben«, sagte sie.
»Es wird noch mehr Nächte geben.«
»Nicht für Stevens.«
»Stevens ist über alle Berge«, sagte Brown.
»Da bleibt er aber vielleicht nicht.«
»Bringt es ihn zurück, wenn wir hier warten?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Aber ...«
»Ich fühl mich dann besser«, sagte sie.
Brown wandte den Kopf zu Madison. Ihre Augen wanderten im Halbdunkel über die Schatten der Straße, als wolle sie den Mann heraufbeschwören.
»Ist wohl sinnlos. Ich weiß«, sagte sie.
»Es wird noch mehr Nächte geben.«
Dunne meldete sich wieder. »Zwei Straßen weiter gibt es einen Laden, der vierundzwanzig Stunden geöffnet hat. Wir können uns dort treffen.«
»Okay. Wir folgen Ihnen.« Brown legte den Gang ein, und das Auto fuhr sanft los. Die Straße lag genauso da, wie sie sie Stunden zuvor vorgefunden hatten.
Ein Pärchen Ende zwanzig lief durch die Gänge des Night & Day, die beiden suchten sich kleine Schachteln MicrowaveWorld aus. Offenbar hatten sie irgendwo gefeiert und waren in Kicherlaune, aber nicht richtig betrunken. Sehr viel jünger als Madison konnten sie nicht sein.
Dunne war direkt zum Kaffee und den Donuts gegangen, Spencer hatte sich ein Mineralwasser geholt und Brown eine Cola light. Sie sagten kein Wort, die Stunden im Auto saßen ihnen in den Knochen, das spürten sie, sobald sie den Laden betreten hatten. Dunne streckte sich und gähnte.
Madison nahm eine Packung Milch und ging am Regal mit den Leihvideos vorbei. Es enthielt hauptsächlich Action- und Horrorstreifen, dazwischen ein paar Disney-Filme für Familien. Madison hatte während der letzten Wochen eine Billy-Wilder-Diät gemacht. Nach der Spätschicht war sie zu Hause auf dem Sofa im Wohnzimmer eingeschlafen, während sie Josephine und Daphne gelauscht hatte. Es lenkte sie ab, denn manchmal waren ihre Gedanken kein angenehmer Aufenthaltsort. Sie zahlte und ging nach draußen.
Ans Auto gelehnt trank Madison die Milch. Es war noch neblig, vielleicht würde das Morgenlicht den Nebel aufl ösen. Der Wind wehte jetzt viel stärker vom Meer her und trug den Ruf eines Nebelhorns mit sich. Sie hüllte sich fester in ihren schweren Anorak und dachte darüber nach, was sie alles in die nächsten vierundzwanzig Stunden packen wollte. In dem Moment trat das Mädchen aus dem Nichts heraus.
Sie fiel Madison auf, weil sie so jung aussah und mit ihrer Jeansjacke und der dünnen Hose so fehl am Platz wirkte. Ihr muss doch eiskalt sein. Madison beobachtete sie weiter, vielleicht brauchte die Jugendliche Hilfe. Ihre Haare waren babyblond und kurz geschnitten. Sie sah aus wie vierzehn, gerade im richtigen Alter für eine Ausreißerin, einen kleinen Rucksack hatte sie auch noch dabei. Sie trug rosa Lippenstift und dicken Lidstrich, die Wangen waren von der Kälte gerötet.
Madison, die mit ihrer dicken Jacke und einer Baseballkappe auf dem Kopf am Auto lehnte, sah nicht wie eine Polizistin aus. Das war gut, denn sie wollte dem Mädchen keinen Schrecken einjagen. Jetzt bemerkte sie die dunklen Schatten unter ihren Augen.
»Hey.«
Das Mädchen blieb kurz stehen, wandte sich zu ihr und nickte leicht. Madison lächelte sie zaghaft an, denn das Mädchen sollte nicht denken, sie sei irgendeine Verrückte, aber gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie genau danach aussah. Die Erfahrung sagte ihr, dass die Kleine wahrscheinlich unter einfachsten Bedingungen schlief, nicht annähernd genug aß und wohl bereits eine angehende Infektion der Atemwege in sich trug.
Das Mädchen blieb stehen, die Hände tief in den Taschen vergraben. Mit zwei Schritten war sie die Stufen hinauf und im Laden verschwunden. Sie reiste mit leichtem Gepäck; in den kleinen Beutel, den sie auf dem Rücken trug, passte nicht viel. Und dann war da noch etwas in der rechten Seite ihrer Jacke, das Ding, das sie unter dem dünnen weißen Stoff umklammerte. Madison war es aufgefallen, als sich das Mädchen abgewandt hatte. Es war eine kalte, traurige, verschwendete Nacht gewesen, und es wurde nicht besser: Was Madison gesehen hatte, sah aus wie der Griff einer Pistole. Sie lief die Stufen hinauf, hinter dem Mädchen her.
Es stand drei Meter vor ihr, betrachtete die Regale mit den Schokoriegeln und drehte den Kopf ganz langsam von einer Seite zur anderen.
Brown war ein, zwei Meter rechts von ihr an der Kasse und wollte gerade zahlen. Spencer und Dunne befanden sich im hinteren Bereich des Ladens. Das junge Pärchen hatte den Einkaufskorb mit Kartons und Päckchen gefüllt und ging in Richtung Kasse. Das Geplapper hatten sie eingestellt, nur das Brummen der Neonröhren und des Kühlschranks war zu hören.
In einer fließenden Bewegung öffnete Madison ihre Jacke und löste den kleinen Lederriemen, der ihre Pistole im Holster an der rechten Hüfte festhielt. Sie wollte jetzt nicht daran denken, dass der Großteil der Mordkommission das verdammte Ding zeitlebens nicht einmal ziehen musste. Sie ging einen Schritt auf Brown zu und berührte ihn an der Schulter, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von dem Mädchen abzuwenden. Dann nickte sie in Richtung des Mädchens und imitierte mit den Fingern eine Waffe. Brown zog die Augenbrauen hoch und löste den Riemen an seinem Holster.
Die Hand in der Jackentasche war feucht, das war dem Mädchen unangenehm. Aber sie wollte die Hand auch nicht herausnehmen und an der Hose abwischen, das wäre noch viel schlimmer gewesen. Sie hasste das schwere Metall, es zog die Tasche auf der einen Seite herunter. Immer wieder umklammerte sie den Griff der Pistole und ließ ihn wieder los. Sie ließ den Blick rasch über Hershey-Riegel, Mars, Reece's schweifen. Zu viele Namen.
Das Pärchen stellte seinen Einkaufskorb auf die Theke, und ein unterbezahlter und übermüdeter Verkäufer gab die Preise in die Kasse ein. Madison stellte sich hinter die beiden und sprach so leise, dass sie sich selbst kaum hören konnte.
»Polizei. Verlassen Sie den Laden.«
»Was ...« Der junge Mann machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu, als er die Marke in der Innenseite ihrer Jacke aufblitzen sah.
»Sofort. Sehen Sie sich nicht um. Gehen Sie.«
Glücklicherweise gehorchten sie, jedoch nicht, ohne noch einen raschen Blick über die Schulter zu werfen.
Der Kassierer war nicht ganz so entgegenkommend. »Was soll das ...?«
Das Mädchen wandte sich um, die Pistole hielt sie mit beiden Händen auf Augenhöhe. »Keiner bewegt sich.« Ihre Stimme war zittrig, aber sie sprach klar und deutlich, und der Kassierer tauchte unter der Bar ab.
Das Mädchen stand gegenüber von Brown und Madison, die Pistole bewegte sich ruckartig zwischen den beiden hin und her. Spencer und Dunne waren hinter den Regalen verschwunden. Als könnte sie die beiden sehen, wusste Madison, dass sie die Waffe gezogen hatten und überlegten, wie sie zu dem Mädchen gelangen konnten, ohne dass einer von ihnen einen Schuss abbekam.
»Sie haben unsere Aufmerksamkeit. Und jetzt?« Brown war ruhig und hatte alles unter Kontrolle, unwillkürlich empfand Madison Bewunderung für ihn.
»Tun Sie, was ich sage. Legen Sie sich auf den Boden. Los.« Die Stimme des Mädchens wurde höher und schlug um. Madison sah, dass ihr Atem immer schwerer ging, sie mussten sie schnell beruhigen, sonst bekam sie noch einen Schwächeanfall.
»Na los!« Bald würde sie austicken.
»Das ist es nicht wert«, sagte Brown. »In der Kasse sind weniger als fünfzig Dollar. Und Sie richten Ihre Waffe auf zwei Polizisten.« Er nickte zu seiner Partnerin hinüber.
Den Bruchteil einer Sekunde war in den Augen des Mädchens Ach du Scheiße zu lesen, es war lange genug.
»Legen Sie die Waffe auf den Boden und rennen Sie, so schnell Sie können.«
Dem Mädchen stand der Mund offen. Sie dachte angestrengt nach. Die vier Detectives wussten nur zu gut, dass jeder, der eine Waffe in der Hand hatte, den großen Max markieren konnte, aber ein paar Glückliche konnten zusätzlich noch ihr Gehirn einschalten.
Madison bemühte sich, den Überblick zu behalten, das Brummen auszublenden und den Kopf freizubekommen. Da war die Hand des Mädchens, die den Revolver auf Browns Kopf richtete, da war der Arm des Mädchens, das Herz des Mädchens. Sie wusste, sie konnte in weniger als drei Sekunden ziehen, schießen und das Mädchen zu Fall bringen. Die Mündung zielte zitternd auf Browns Augen, doch der Mann verzog keine Miene, sah das Mädchen direkt an und sprach immer noch freundlich mit ihr. Das Mädchen trug Glitzernagellack, die Brauen waren gepierct, zweimal auf der linken Seite, einmal auf der rechten. Ihre Jeansjacke war innen mit abgewetztem Lammfell gefüttert, die bleiche Haut in dem Neonlicht beinahe durchsichtig.
»Hören Sie auf, mit mir zu reden!«, brüllte das Mädchen, und Madison sah nun nicht mehr sie, sondern nur noch die Waffe, und machte sich bereit. Im Bruchteil einer Sekunde spürte Madison, dass sie keine Hemmungen mehr hätte.
»Das ist es nicht wert«, sagte Brown. Madison wusste nicht, zu wem.
»Schon gut, schon gut.« Das Mädchen nickte. »Ich nehm mir bloß ein bisschen was. Sie bleiben, wo Sie sind.«
Der Augenblick war vorüber.
»Niemand bewegt sich.« Brown lächelte. »Wir sind nur drei Leute, die sich unterhalten.«
Mit der linken Hand langte sie hinter sich, ertastete die Schokoriegel, nahm sich ein paar und stopfte sie in ihre Jacke, dann nahm sie noch ein paar mehr und steckte sie in die Gesäßtasche ihrer Hose.
»Ich gehe jetzt. Ich lasse die Pistole auf den Stufen liegen. Niemand folgt mir.«
»Moment. Leg die Pistole hier auf den Boden. Du hast mein Wort, dass meine Partnerin und ich dir drei Minuten Zeit geben.«
»Ja, klar.«
»Mein Wort.« Brown wollte nicht, dass sie mit einer Waffe hinaus auf die Straße ging.
»Tu, was er sagt. Kein Mensch will Schwierigkeiten. Leg die Waffe weg und sieh zu, dass du hier wegkommst.«
»Und wenn nicht?«
Brown sah ihr direkt in die Augen. »Das Jugendgericht ist am Wochenende geschlossen, du wirst vierundzwanzig Stunden mit Betrunkenen und allen möglichen Gewalttätern in einer Zelle verbringen müssen.« Das Mädchen blinzelte zweimal. »Ich glaube kaum, dass du das möchtest.«
Das Mädchen schluckte schwer, es war eine schlechte Nacht gewesen.
»Gut.«
Sie ging ein paar Schritte in Richtung Tür, den Blick auf die beiden Polizisten vor ihr gerichtet, dann bückte sie sich und legte die Pistole auf den Boden, bereit zu fliehen. Spencer legte ihr blitzschnell den Arm um den Hals, und Dunne ließ die Handschellen um die dünnen, bleichen Handgelenke zuschnappen. Es war innerhalb von Sekunden vorbei. Das Mädchen rang nach Atem. Sie versuchte, die Polizisten abzuschütteln, ohne Kraft und ohne Hoffnung, ihr liefen Tränen über die Wangen. Spencer ließ sie los, Madison wusste, dass er einen Sohn in ihrem Alter hatte. Sie holte tief Luft und befestigte den Lederriemen wieder am Holster. Ihr Herz klopfte immer noch.
»Sie ist nicht geladen.« Dunne schüttelte ungläubig den Kopf. »Jesus, Maria und Josef.«
Der Kopf des Kassierers tauchte wieder hinter der Bar auf. Er machte sich ein Bild von der Lage und gab seinen Senf dazu. »Wer bezahlt die Süßigkeiten?«
Brown ging zur Kasse und legte einen Geldschein auf die Theke.
Sie führten das Mädchen die Stufen hinunter; sie würde mit Brown und Madison fahren, mit Spencer auf dem Rücksitz, um auf sie aufzupassen. Dunne würde das andere Auto steuern.
»Bringen Sie mich ins Gefängnis?«, fragte sie niemand Bestimmten.
»Du kommst mit auf die Wache, damit wir uns darüber unterhalten können, wie du dazu gekommen bist.« Spencer zeigte auf die Waffe.
Das Mädchen fiel in sich zusammen. Es war, als sei alle Energie aus ihr gewichen, und sie hatte von Anfang an nicht viel gehabt. Spencer und Madison stützten sie, nicht um sie zurückzuhalten, sondern damit sie nicht zusammenklappte und sich den Kopf auf dem Beton aufschlug.
Der Wind hatte ein wenig leichten Regen mitgebracht, schüttelte die Bäume mit aller Macht und überzog die Straße mit einer dünnen Schicht feuchter Blätter. Um sie herum war alles pechschwarz, bis auf ein paar orange leuchtende Straßenlaternen und die Neonlichter des Night & Day.
Als sie dem Mädchen ins Auto halfen, blickte es auf.
»Haben Sie eine Zeitung, oder so?«
Ihre Stimme war kaum ein Flüstern.
Madison sah den dunklen Fleck auf ihrer Hose.
»Ich hole eine im Laden.« Sie ging auf die Stufen zu. »Möchtest du etwas Warmes zu trinken?«
Das Mädchen dachte eine Sekunde lang nach. »Einen Kaffee. Schwarz.«
Durch die Autoheizung wurde der beißende Uringeruch beinahe unerträglich, und sie fuhren mit offenen Fenstern. Das Mädchen saß zwischen zwei Detectives und hielt den Becher mit den Fingerspitzen. Sie trank in kleinen Schlucken und redete ohne Unterlass. Das war keine ungewöhnliche Reaktion: Sie hieß Rose, kein zweiter Vorname, dreizehn Jahre alt, kein fester Wohnsitz. Am Park Place Market hatte sie gesehen, wie ein Mann eine schwere braune Papiertüte in einen Mülleimer fallen ließ. Sie hatte auf Essensreste gehofft. Die Waffe war in ein Geschirrtuch gewickelt gewesen.
»Du hast eine ungeladene Waffe auf zwei Polizisten gerichtet «, sagte Spencer. »Auf der Blödheitsskala ist das die volle Punktzahl.«
Übersetzung: Elke Link
Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe bei Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
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Autoren-Porträt von V. M. Giambanco
Valentina Giambanco wurde in Italien geboren, lebt jedoch seit langem in London, wo sie in der Filmbranche arbeitet. In Seattle, dem Schauplatz ihres Romans, ist ein großer Teil ihrer Familie zu Hause. "13 Tage" ist ihr erster Thriller, dem bald weitere folgen werden - rund um Alice Madison und ihre schillernden Sidekicks.
Bibliographische Angaben
- Autor: V. M. Giambanco
- 2014, 571 Seiten, Maße: 13,6 x 21 cm, Klappenbroschur, Deutsch
- Übersetzer: Elke Link
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4250968808910
Rezension zu „13 Tage “
"ausgeklügelter Thriller mit zahlreichen packenden Spitzen, vielen Geheimnissen und ausgezeichneten Figuren" Leser-Welt (Blog), 08.09.2016
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