1813
Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt
Vom 16. bis 19. Oktober 1813 fand die bis dahin größte Schlacht der Menschheitsgeschichte statt: Napoleons Truppen kämpften gegen Preußen, Russland, Österreich, England und Schweden. Fast 100.000 Soldaten starben - und...
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Produktinformationen zu „1813 “
Vom 16. bis 19. Oktober 1813 fand die bis dahin größte Schlacht der Menschheitsgeschichte statt: Napoleons Truppen kämpften gegen Preußen, Russland, Österreich, England und Schweden. Fast 100.000 Soldaten starben - und läuteten den Anfang des Europas von heute ein: Die Vormachtstellung Frankreichs wurde gebrochen und der Gedanke an ein geeintes Deutschland nahm Fahrt auf.
Anschaulich schildert Platthaus den Verlauf der Schlacht und seine Folgen für die Menschen. Und er beleuchtet die Auswirkungen dieser Zeit auf z.B. Goethe.
Klappentext zu „1813 “
Im Herbst 1813 blickt ganz Europa nach Leipzig_- voller Furcht, aber auch voller Hoffnung. An vier Tagen entscheidet sich hier, in der bisher größten Schlacht der Menschheitsgeschichte, das Schicksal des Kontinents: Napoleons Truppen, nach dem gescheiterten Ostfeldzug wiedererstarkt, treffen vor den Toren der Stadt auf die Koalition aus Preußen, Russland, Österreich, England und Schweden. Vom 16. bis zum 19. Oktober dauern die Kämpfe, die als «Völkerschlacht_» in die Geschichte eingehen, mit sechshunderttausend Soldaten aus über einem Dutzend Nationen, neunzigtausend Toten und ungezählten zivilen Opfern. Zum 200. Jahrestag der Schlacht, dem Höhepunkt der Befreiungskriege, entwirft Andreas Platthaus ein eindringliches Panorama jener Tage zwischen Verheerung und Freudentaumel, dem Untergang der alten Welt und der Dämmerung einer neuen. Er schildert ihren Verlauf, zeigt, wie Herrscher und Strategen planten und agierten, aber auch, was Soldaten, Bauern und Leipziger Bürger erlebten, erlitten, erhofften. Schlaglichter fallen auf Kriegsgewinnler und politische Visionäre, auf Goethe und seine zwiespältige Bewunderung für Napoleon und auf dessen Glanz und Niedergang. Das atmosphärisch dichte Bild einer Epochenwende - der Geburtsstunde der modernen europäischen Staatenordnung.
Lese-Probe zu „1813 “
1813 von Andreas Platthaus1. DIE ANKUNFT DES KRIEGSGOTTES: NAPOLEON IN LEIPZIG
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Wo Napoleon war, war der Krieg. Einen «Kriegsgott» hat ihn Clausewitz genannt, und einer seiner erbittertsten Gegner, der österreichische Erzherzog Carl, notierte rückblickend: «Bonaparte war seinen Zeitgenossen, was unseren Vorfahren der Teufel, und allen Völkern das böse Grundwesen: das Außerordentliche in Kraft, Geist und Verruchtheit.»1 Der Kaiser der Franzosen war weit mehr als ein Herrscher, er war auch der Feldherr seines Landes und aller mit diesem verbündeten Truppen. Deshalb stand er selbst ständig im Zentrum der militärischen Auseinandersetzungen, mit denen er seit mehr als anderthalb Jahrzehnten den europäischen Kontinent in Atem hielt. Sein Stiefsohn Eugène de Beauharnais, der Vizekönig von Italien, erzählte Herzog Carl August von Sachsen-Weimar, dass Napoleon ihm einmal gesagt habe: «Es ennuyirt mich alles, und es ist mir nirgends wohl als wie im Kriege.» Das entsprach im Tenor einem Gespräch, das der Herzog selbst noch im April 1813 mit dem Kaiser der Franzosen in Eckartsberga geführt hatte. Darüber berichtete Carl August: «Als wir zusammen im Amthause in Eckbrg. angelangt waren, so nöthigte Er mich mit ihm in das für ihn bereitete zimmer zu gehen, wo 4 Spieltische mit Wachslichtern besezt standen; die tische stießen an einander. Er sezte sich an die eine breite Seite mit dem huth auf dem Kopfe u. hieß mir, ihm gegenüber, einen stuhl zu nehmen. Auf einmal fing Er an, a present je suis a mon aise, me voila dans mon ancienne existence! (Gegenwärtig fühle ich mich wohl, hier geht es mir wie früher!) ich besahe mir die vier weissen Wände, u. lächelte! Er frug mich warum? ich sagte, von da wo Ew. MM. her kommen ists doch hübscher! croyez moi, je ne suis bien que lorsque je me retrouve comme soldat, j'y suis accoutumé de ma jeunesse, a Paris chez moi, je m'ennuie.»2 (Glauben Sie mir, ich fühle mich nur als Soldat wohl, hier werde ich an meine Jugend erinnert, zu Hause in Paris langweile ich mich.)
Dieser Soldatenkaiser kommandierte seine Armeen natürlich höchstpersönlich. Und wenn Napoleon am 8. Februar 1807 nach seinem Sieg bei Preußisch Eylau über Preußen und Russen angesichts der Leichenberge gesagt hatte: «Solch ein Anblick sollte jeden Herrscher dazu bewegen, den Frieden zu lieben und den Krieg zu hassen»3, so vergaß er diese Erkenntnis bald wieder, wie ernst gemeint sie auch immer gewesen sein mag. Fünfzigtausend Mann hatten bei Preußisch Eylau den Tod gefunden, das größte einzelne Gemetzel in Napoleons Laufbahn als Feldherr - bis sechs Jahre später die Völkerschlacht kam und diese Zahl verdoppelte. Nie hat es in Deutschland mehr Tote in so kurzer Zeit gegeben, nicht in der Varusschlacht, nicht bei der Erstürmung Magdeburgs im Dreißigjährigen Krieg, nicht bei den Bombenangriffen auf Hamburg oder Dresden im Zweiten Weltkrieg. Die hunderttausend Toten, die nach den vier Tagen von Leipzig gezählt wurden, sind bis heute unerreicht geblieben.
Diesen Preis an Leben konnten die Bewohner von Leipzig noch nicht ahnen, aber dass ihnen eine beispiellose Schlacht bevorstand, das wussten sie, als Napoleon kurz vor Mittag des 14. Oktober 1813, einem Donnerstag, vor ihrer Stadt ankam. «So wenig wir von den Ereignissen wussten, die in unsrer Nähe vorfielen, so überzeugte uns doch seit Anfang dieses Monats die Unterbrechung der Communication von allen Seiten, und der Kanonendonner, den wir fast täglich nach mehreren Richtungen hin hörten, daß beträchtliche Armeecorps in unserer Nähe waren», berichtete die «Leipziger Zeitung» rückblickend in ihrer ersten Ausgabe nach der Völkerschlacht, die am 21. Oktober erschien.4 Die Ankunft Napoleons fiel auf den Jahrestag der Schlacht von Jena und Auerstedt, den großen Triumph des Kaisers der Franzosen über die Preußen und Sachsen im Jahr 1806, und da man Napoleons Liebe zu historischen Bezügen kannte, fürchteten die Leipziger schon für diesen Tag das Schlimmste.
Seit Wochen war ihre Stadt zu einem Hauptstützpunkt der französischen Truppen ausgebaut geworden; die Größe Leipzigs erlaubte eine leichtere Versorgung großer Heermassen, zudem kreuzten sich hier wichtige Straßen, die als Aufmarsch- und Transportwege bedeutsam waren. Denn mehr noch als auf dem Nimbus des Kaisers, der in offener Schlacht unbesiegbar schien, oder dem innovativen Einsatz von Kavallerie und Artillerie sowie den legendären kaiserlichen Garden beruhte die napoleonische Kriegsführung auf der Geschwindigkeit der militärischen Operationen - ein Prinzip, das der General Bonaparte im italienischen Feldzug von 1796 /97 erstmals vorgeführt hatte. Seine österreichischen Gegner konnten den Bewegungen dieser Armee kaum folgen, weil deren Anführer mit der alten Regel gebrochen hatte, den Nachschub im Tross mitzuführen, was das Vorankommen der Truppen extrem verlangsamte. Bonaparte organisierte die Versorgung seiner Armee völlig neu, indem er die benötigten Güter in den Gebieten requirieren ließ, die sie durchschritt. Das war zeitsparend und kostete auch weniger Geld. Zwar sollte eigentlich jede Zwangsablieferung kompensiert werden, aber die Bevölkerung bekam im Gegenzug nur Papiergeld der jungen französischen Republik, das einem schnellen Wertverfall unterlag, oder Schuldscheine, die gegen solches Geld einzulösen waren - wenn es nach dem Durchzug der Armee überhaupt noch die Möglichkeit dafür gab. Faktisch war das napoleonische Armeeversorgungssystem eine kaschierte Plünderung.
Dazu aber brauchte es ein möglichst dichtbesiedeltes Gebiet, und es ist kein Zufall, dass Bonaparte dieses Erfolgsrezept ausgerechnet im wohlhabenden und fruchtbaren Norditalien entwickelt hatte. In Spanien und Russland dagegen, beides Länder mit weit verstreuter Bevölkerung und klimatisch schwierigen Bedingungen für den Nahrungsanbau, war dieses Prinzip 1808 und 1812 kläglich gescheitert.5 Napoleon hatte daraus gelernt und wollte nicht noch einmal in die Lage geraten, seine Armee nicht mehr versorgt zu sehen. Sachsen, eines der wirtschaftlich prosperierendsten Länder in Deutschland, und speziell die reiche Handelsstadt Leipzig waren deshalb das ideale Terrain für seine Kriegsführung. Hier schien es sogar möglich, die fast zweihunderttausend Soldaten, die er im Oktober 1813 zusammenzog, für mehrere Tage zu verköstigen und auf diese Weise den idealen Moment für den Beginn der Schlacht abzuwarten. Leipzig war in den Wochen zuvor zu einer improvisierten Festung umgebaut worden, mit Schanzen und Gräben vor den äußeren Stadttoren und mit Lazaretten, in die Tausende Verwundete gebracht wurden - die Opfer der seit Mitte August in Sachsen tobenden Kämpfe. Sie waren bislang nicht in der Nähe der Stadt ausgefochten worden. Nun signalisierte die Ankunft des Kaisers, dass es damit vorbei sein würde. Wo er war, war das Schlachtfeld.
Es war sein Lebensraum, vor allem aber sein Überlebensraum als Herrscher. Keine Abstammung und keine höhere Bestimmung, die den Verfügungen der Menschen entzogen waren, hatten ihm den Thron eingebracht - die französische Kaiserwürde war durch ein Plebiszit eingeführt worden, und Napoleon nannte sich deshalb auch nicht Kaiser von Frankreich, sondern Kaiser der Franzosen. Sie hatten ihm den Titel auf demokratische Weise (wie propagandistisch manipuliert die Abstimmung auch immer war) angetragen, wie es sich für eine Republik gehörte, die bizarrerweise auch unter dem neuen Monarchen formal aufrechterhalten werden sollte. Damit aber lebte Napoleon bei aller Selbstherrlichkeit unter dem Damoklesschwert der Volksgunst, und er war sich dessen bewusst. Als er am 26. Juni 1813 in Dresden den österreichischen Außenminister Metternich empfangen hatte, um in letzter Sekunde den Wechsel des Habsburgerreichs auf die Seite der Alliierten zu verhindern, war ihm mit Blick auf die gegen ihn verbündeten Monarchen ein Eingeständnis herausgerutscht, das in vier kurzen Sätzen das erzwungene Programm seiner Herrschaft enthielt: «Eure Majestäten, die auf dem Thron geboren sind, halten es aus, zwanzigmal geschlagen zu werden. Jedesmal kehren sie zurück in ihre Hauptstadt. Ich bin nur der Sohn des Glücks. Ich würde von dem Tag an nicht mehr regieren, an dem ich aufhörte, stark zu sein, an dem ich aufhörte, Respekt zu erheischen.»6 Napoleon brauchte militärische Triumphe, um damit den Makel des Parvenüs auf dem Thron zu kaschieren. Tilgen konnte er ihn nicht in einer Zeit, die durchaus noch das Gottesgeschick akzeptierte, das die etablierten alten Monarchien zur Rechtfertigung ihrer Führungsrolle für sich in Anspruch nahmen. Also war der Kaiser der Franzosen zum Siegen verdammt, und zum Sieg braucht es den Krieg.
Doch zum Krieg gehören zwei. In den Wochen zuvor, seit der gewonnenen Schlacht von Dresden am 26. und 27. August, hatte Napoleon selbst nicht mehr im Feuer gestanden, obwohl es immer wieder blutige Gefechte gegeben hatte: im Erzgebirge, bei Dennewitz, bei Wartenberg. Sie alle gingen für die Franzosen verloren, nicht zuletzt, weil deren Heerführer nicht gewohnt waren, eigenständig das Kommando zu führen. Der Kaiser suchte deshalb eine Möglichkeit, endlich selbst wieder eine Schlacht zu kommandieren, während er an seinen Generalen zu verzweifeln begann. Er wusste um seinen Ruf als genialer Stratege, den auch der gescheiterte Russlandfeldzug vom vergangenen Jahr nicht zu zerstören vermocht hatte, schließlich war er selbst in keiner einzigen Feldschlacht unterlegen. Zudem konnte er zur Überraschung ganz Europas seitdem längst wieder neue Kräfte versammeln und war weniger als ein Vierteljahr nach dem verlustreichen Rückzug abermals zur Offensive übergegangen.
Dem Frühjahrsfeldzug, der in den Schlachten bei Großgörschen und Bautzen im Mai neue Siege der napoleonischen Armee über die verbündeten Russen und Preußen gebracht hatte, folgte ein zweieinhalbmonatiger Waffenstillstand vom 4. Juni bis zum 16. August 1813, während dessen beide Seiten ihre Kräfte neu sammelten und die Gegner Frankreichs durch den Kriegseintritt von Österreich verstärkt wurden. Doch nach dem Ende der Waffenruhe und der ersten großen Schlacht bei Dresden, die Napoleon für sich entscheiden konnte, wichen seine Gegner lieber aus, sobald ihnen der Kaiser persönlich an der Spitze seiner Truppen gegenüberstand, und so war er vor der Völkerschlacht wochenlang mit dem französischen Hauptheer durch Sachsen gezogen, ohne zu kämpfen. Der preußische Major Adolf von Thile schrieb am 6. September aus dem böhmischen Teplitz an seine Frau: «Napoleon ist diesmal genötigt, einen Krieg zu führen, an den er nicht gewöhnt ist, man vermeidet Hauptschlachten, in denen er ein großes Übergewicht hat; einzelne Korps werden ihm aufgerieben, und in dem ausgehungerten Sachsen marschiert er mit seinen Massen hin und her, ohne zu einem andern Resultat zu kommen, als das ihm der Mangel an Lebensmitteln bereitet. Auf diese Art kommen wir langsam, aber gewiß zum Ziel.»7 Währenddessen sammelten die Alliierten im gut geschützten, aber direkt an Sachsen grenzenden Böhmen ihre Hauptstreitmacht.
Ende September zog von dort dann eine große Armee aus Russen, Preußen und Österreichern los. Sie nahm sich Zeit, um auf Leipzig vorzurücken, siebzehn Tage, sodass Napoleon unsicher war, ob die Stadt auch wirklich das Ziel ihres Vormarschs sein würde. Vorsorglich ließ er in der Handelsmetropole das Thomäsche Haus, üblicherweise das Domizil seines Verbündeten, des sächsischen Königs Friedrich August, für sich herrichten; seit September standen französische Soldaten dort permanent Wache. Doch am 4. Oktober waren sie abgezogen worden, «auch die hier schon eingetroffenen kaiserlichen Equipagen gingen wieder ab und nach der Gegend von Düben, wohin der Kaiser geeilt war. Man glaubte jetzt an Absichten auf Berlin und die Odergegenden und hielt die Elbfestungen für Stützpunkte der Franzosen im Rücken der Operationslinie.»8 Die Bewohner Leipzigs glaubten, die akute Gefahr wäre vorbei. Die seit einigen Tagen in der Stadt stationierten französischen Truppen des Marschalls Marmont, den Napoleon zum Herzog von Ragusa erhoben hatte, zogen gleichfalls am 4. Oktober in Richtung Norden ab, und so hoffte man immer mehr, dass sich das Kriegsgeschehen tatsächlich dorthin verlagern würde, denn zwischen Leipzig und Berlin operierten zwei weitere feindliche Heeresgruppen, deren Bewegungen es für die Franzosen zu beobachten galt: die von Gebhard Leberecht von Blücher kommandierte Schlesische Armee und die unter Führung des schwedischen Kronprinzen Karl Johann stehende Nordarmee. Aber es gab vorerst keine größeren Kämpfe.
In den letzten Tagen vor der Völkerschlacht, vom 10. bis 14. Oktober, hatte Napoleon im Schloss von Düben, auf halber Strecke zwischen Leipzig und Wittenberg, Quartier genommen, um sich zu entscheiden, ob er weiterhin wie in den letzten Wochen versuchen sollte, die nördlich operierenden Gegner, die ihm konsequent aus dem Wege gingen, zu stellen oder eine Entscheidungsschlacht gegen die aus dem Süden anrückende Hauptmacht der Aliierten zu suchen. Die war am 12. Oktober auf der Höhe von Altenburg angelangt, nur noch einen Tagesmarsch von Leipzig entfernt. Napoleon entschied sich in der folgenden Nacht dafür, das Katz-und-Maus- Spiel zu beenden und alle seine Kräfte in und um Leipzig zusammenzuführen. Sein um sechs Uhr morgens am 13. Oktober in Düben an den Marschall Jacques Macdonald ausgegebener Armeebefehl, in dem er die bevorstehende Entscheidungsschlacht ankündigte, stellte lapidar fest: «Je crois que la bataille aura lieu le 15 ou le 16», die Schlacht werde vermutlich am 15. oder 16. stattfinden. Und nicht nur der voraussichtliche Tag der Schlacht, auch ihr Ort war bestimmt: «Le roi de Naples, avec 90.000 hommes course Leipsick contre l'armée autrechienne.» Napoleon interessierte sich weder dafür, dass der König von Neapel die neunzigtausend Mann gar nicht hatte, mit denen dieser Leipzig umringen sollte, um gegen die österreichische Armee Stellung zu nehmen, noch für die richtige Schreibweise einer Stadt, in der er sich auf seinen Feldzügen immerhin schon viermal aufgehalten hatte, zuletzt gleich zweimal im Juli 1813 während des Waffenstillstands. Ihn interessierte die Eignung dieser Stadt als Schlachtfeld.
Der Kaiser der Franzosen und die Bürger der Stadt kannten sich seit 1807, als Napoleon zum ersten Mal in Leipzig vorbeigekommen war. Das war am 23. Juli, auf der Rückreise aus Tilsit, wo Frankreich und Russland einen Vertrag abgeschlossen hatten, der Napoleon auf den Gipfel seiner Macht brachte. Mit dem Zaren streckte der letzte große kontinentale Gegenspieler seine Waffen; nur noch England verblieb im dauernden Kriegszustand mit Frankreich. Das seit der Schlacht bei Jena und Auerstedt durch die Anwesenheit französischer Truppen schwer belastete Sachsen versprach sich vom Tilsiter Frieden den Abzug der neuen Verbündeten, schließlich musste nun nicht mehr gegen Russland aufmarschiert werden. Entsprechend aufwendig bereitete sich Leipzig auf den Empfang jenes Mannes vor, der jetzt als Wunder seiner Zeit galt. Vor dem östlichen Zugang zur Stadt, dem Grimmaischen Tor, war ihm ein Triumphbogen errichtet worden, der Napoleon als «Wiederbringer des Glücks» willkommen hieß. Doch die schon für den Vorabend erwartete Ankunft fiel aus, das Empfangskomitee und die neugierigen Bürger wurden auf den frühen Morgen des 23. Juli vertröstet; dass der Kaiser dann allerdings bereits gegen fünf Uhr eintreffen würde, erwartete niemand. Immerhin war die französische Stadtbesatzung aufmerksam und empfing ihren Monarchen mit Salutschüssen, die zuverlässig die ganze Stadt weckten. Napoleon ließ dennoch nicht in Leipzig haltmachen, sondern nahm nach den bescheidenen Honneurs durch die eigenen Soldaten sein Frühstück lieber im nahen Markranstädt ein, wo er keinen Trubel befürchten musste. Die meisten Leipziger sahen sich somit nicht nur um das Objekt ihrer Neugierde gebracht, sondern auch um das Geld für den Triumphbogen und die vorbereitete Empfangszeremonie. Auf diese Weise konnte keine herzliche Beziehung zwischen Kaiser und Handelsstadt gestiftet werden. Und die nächste Visite erfolgte erst im Dezember 1812, als Napoleon noch vor den kläglichen Überresten der Grande Armée aus Russland kommend hier eine Pause machte. Da gab es keinen Grund zum Jubeln.
Erst beim dritten Aufenthalt des Kaisers in Leipzig am 14. Juli 1813, der ersten von zwei sommerlichen Visiten dieses Jahres, hatten die Leipziger Bürger dem Kaiser endlich einmal huldigen können (der nächste Besuch sollte schon elf Tage später erfolgen, diesmal aber inkognito, als Napoleon während des Waffenstillstands für einige Tage zu seiner Familie in Richtung Frankreich eilte, ehe er pünktlich zur Wiederaufnahme der Feindseligkeiten nach Sachsen zurückkehrte - «das war Napoleons berühmte Reise von Dresden bis Mainz, welche dieser Thierquäler in 36 Stunden zurücklegte, um dort eine Zusammenkunft mit seiner Gemahlin zu haben», wie sich ein offenbar tierliebender Pfarrer aus Großzschocher erregte9). Diese Ehrbezeugung entsprang freilich weniger der Bewunderung für Napoleon, vielmehr erhofften sich die Leipziger, auf diese Weise das ramponierte Verhältnis zu den französischen Truppen zu verbessern und insbesondere den Kaiser zur Aufhebung des seit knapp einem Monat geltenden Belagerungszustands bewegen zu können. Der in Leipzig als Stadtkommandant eingesetzte General Antoine-Joseph Bertrand hatte im Juni 1813 die seit drei Monaten geltenden Einschränkungen noch verschärft, obwohl kurz zuvor zwischen Frankreich, Russland und Preußen ein Waffenstillstand geschlossen worden war - und dieser Schritt wurde auf die Verärgerung Napoleons über die Handelsstadt zurückgeführt, die wiederholt gegen den Boykott englischer Waren verstoßen haben sollte: «Den Leipzigern ist des Kaisers Unwille angekündigt, eine Kontribution ausgeschrieben, alle Colonialwaren aufgezeichnet und die Stadt in Belagerungszustand erklärt», schrieb Major Otto August Rühle von Lilienstern damals an August Neidhardt von Gneisenau, den Generalquartiermeister der preußischen Armee.10 Die entscheidende Passage in der Proklamation, die der Stadtrat auf Geheiß Bertrands am 20. Juni aushängen ließ, lautete: «Die Polizey in der Stadt und den Vorstädten wird militairisch, und ohne Concurrenz der Landesbehörden gehandhabt.» Also stand Leipzig unter Kriegsrecht.
Eine Delegation der Stadt, die am 3. Juli 1813 den Kaiser der Franzosen in seinem Dresdner Domizil, dem Palais Marcolini, aufgesucht hatte, war in der Tat noch auf einen ungnädigen Napoleon gestoßen. Das Leipziger Magistratsmitglied Johann Carl Gross wurde vom Kaiser angefahren: «Sie excerciren gar keine Polizei in Ihrer Stadt. Ich bin sehr unzufrieden mit Ihnen. Man beleidigt mich bei Ihnen, man beleidigt meine Soldaten; man sieht meine Truppen missgünstig an. Denkt, was Ihr wollt; sagt es ganz laut, wenn der Feind dort ist; aber jetzt, wo meine Truppen im Lande sind, sich aufzuführen, das ist zu dumm, das ist zu dumm.»11
Napoleon wusste um die Bedeutung der Stadt als wichtiges Handelszentrum und deshalb auch als Basis aller Kriegsführung in Sachsen, weshalb er seine Truppen nach dem Sieg von Großgörschen am 2. Mai als Erstes nach Leipzig geführt hatte, um die Stadt wieder in Besitz zu nehmen. Dort hatte es zuvor ein fünfwöchiges alliiertes Intermezzo gegeben, denn die Truppen des französischen Stadtkommandanten Bertrand waren am 31. März 1813 abgezogen, als der Vormarsch der verbündeten Russen und Preußen durch Sachsen nicht mehr zu stoppen schien und Napoleon in Frankreich noch mit dem Wiederaufbau seiner im Russlandfeldzug vernichteten Armee beschäftigt war. Die damalige Begrüßung der feindlichen Soldaten als Befreier hatte den Kaiser der Franzosen nachhaltig verärgert, als er davon erfuhr. In Leipzig erwartete man begierig das baldige Einrücken der alliierten Truppen, weil das ein Ende der mittlerweile seit sieben Jahren herrschenden Kontrolle der Handelsgeschäfte durch die Franzosen verhieß. Allerdings freute man sich in Leipzig weniger auf die Soldaten des alten innerdeutschen Rivalen Preußen als auf die Russen, «und die schon seit dem Anfange des Jahres in den Zeitungen einzeln erschienenen Anzeigen von russischen Sprachlehrern, russischen Wörterbüchern und Anerbietungen zur Unterweisung in der russischen Sprache vermehrten sich mit jedem Tage (in der Zeitung vom 30. März befinden sich 15 Anzeigen von russischen Wörterbüchern und Sprachlehrern, Heiligenbildern und Portraits)».12 Tatsächlich waren bereits am Abend des 31. März die ersten Kosaken vor Leipzig gesichtet worden, ein kleiner Trupp von zwanzig Mann, dem aber im Laufe der nächsten Tage immer mehr Kosaken und schließlich auch das Hauptquartier der alliierten Armee gefolgt waren, wobei deren Soldaten sich überwiegend in den Dörfern im Süden von Leipzig aufgehalten hatten und ihr Kommandeur Peter Graf zu Sayn-Wittgenstein mit seinem Stab nicht in Leipzig selbst, sondern in den benachbarten Dörfern Lindenau und Gohlis untergekommen war.13
Aber am 2. Mai waren die Alliierten schon wieder aus Leipzig vertrieben worden, am Tag von Napoleons Sieg bei Großgörschen. «Das Scharmuzieren rückte der Stadt immer näher. Die vereinigten Russen und Preußen vertheidigten sich nur in so weit, als es nöthig war, um ihren Rückzug nicht in eine wilde Flucht ausarten zu lassen. Hecken, Gräben und Bäume des Chausseedammes von Lindenau nach Leipzig boten dazu die beste Gelegenheit. Endlich ward das rannstädter Thor noch einige Zeit vertheidigt. Doch die Franzosen krochen auf dem Bauche näher, oder schlichen sich dicht an den Häusern weg, und in kurzer Zeit verließen die Combinirten die Stadt durch das grimma'sche Thor, von den Franzosen bis Paunsdorf verfolgt.»14 Es entbehrt nicht der Ironie, dass kaum ein halbes Jahr später im Verlauf der Völkerschlacht das militärische Geschehen genau den entgegengesetzten Verlauf nehmen sollte: Nach dem verlorenen Kampf um Paunsdorf zogen die Franzosen über Lindenau wieder ab. Die Herrschaft über Leipzig wechselte im Laufe des Jahres 1813 also insgesamt viermal.
Und fast wäre es noch ein fünftes Mal passiert, denn am Pfingstmontag, dem 7. Juni 1813, war zur Überraschung der seit fünf Tagen wieder eingesetzten französischen Kommandantur unter General Bertrand morgens Alarm geschlagen worden, weil sich Kosaken der Stadt näherten. Gemäß dem erst wenige Tage zuvor abgeschlossenen Waffenstillstand zwischen Napoleon und den Alliierten war damit nicht zu rechnen gewesen, aber die häufig auf eigene Faust in Feindesland agierenden russischen Reitertrupps waren immer noch aktiv. «Es waren wirklich die Kosaken, die von dem Waffenstillstande noch keine Kunde erhalten hatten und nach ihrer Weise durch diesen Streifzug sich zu bereichern gedachten. Die Franzosen wurden gerettet durch Parlamentaire, die den Waffenstillstand den Kosaken kund thaten; aber namentlich bei Taucha und Schönefeld war hitzig gefochten worden und den Franzosen mancher Abbruch geschehen.»15
Solche russischen Einheiten, die den flüchtenden napoleonischen Truppen im Winter und Frühjahr bis nach Zentraleuropa gefolgt waren, operierten weiterhin im ganzen sächsischen Königreich und sorgten für Unruhe auch weit jenseits der eigentlichen Kriegsschauplätze. Aber gegen die meist beschränkte Zahl dieser Reitertupps genügte eine überschaubar große feste Besatzung in der leicht zu kontrollierenden Stadt. Es blieb den ganzen Sommer über friedlich in und um Leipzig, auch nachdem die Kampfhandlungen zwischen Napoleon und seinen Gegnern am 16. August wiederaufgenommen worden waren.
Umso überraschender für die an starke militärische Präsenz nicht mehr gewohnten Bürger war am 29. September die Ankunft eines fast zwanzigtausend Soldaten umfassenden französischen Korps gewesen, das Marschall Auguste-Frédéric-Louis Marmont von Meißen herangeführt hatte. Es wurde vollständig in der Innenstadt untergebracht, wodurch dort auf jeden Einwohner mehr als ein fremder Soldat kam. Ein so großes Truppenkontingent hatte Leipzig nicht mehr gesehen, seit vor sieben Jahren, am 18. Oktober 1806, nach Napoleons Sieg von Jena und Auerstedt der französische Marschall Davoust mit damals zweiundvierzigtausend Soldaten die Stadt besetzt hatte.16
Die Marmontsche Streitmacht, die vor allem dazu gedacht war, gegen die bei der Verteidigung Berlins siegreich gebliebene Nordarmee der Alliierten Stellung zu beziehen, die sich in Richtung Sachsen bewegte, wurde in den folgenden Tagen noch durch württembergische Kavalleristen unter General Karl von Normann-Ehrenfels und französische Infanterie verstärkt. Der Pfarrer Ludwig Schlosser aus Großzschocher, einem Dorf von etwa tausend Einwohnern zwei Stunden südwestlich von Leipzig, berichtete über die Ankunft dieser Verstärkung: «Das härteste aber, was uns bis daher betroffen hat, war unstreitig das Feldlager, welches am Sonnabend gegen Abend, von dem 16ten Sonnt. p. trin. (der 3. Oktober 1813) vor unserem Dorfe, an 600 württemb. Reitern und 600 franz Fusknechte und viele Sannbauern, am Wällnerischen und Cichoriussischen Haus geschlagen wurde. Heu und Stroh, Holz und Säkke, Töpfe und Schüsseln, Schubkarren und Eimer, wurden genommen, wo sie waren.»17 Großzschocher hatte allein am 6. Oktober tausendachthundert Pfund Brot, einen Ochsen, achthundert Rationen Hafer und vier Wagen Heu an die dort lagernden Truppe abzuliefern, am Folgetag kamen weitere Lieferungsverpflichtungen an die im nahegelegenen Dorf Lindenau lagernden Franzosen dazu, und so ging es bis zum 13. Oktober weiter, als sich Napoleons Truppen aus Großzschocher in Richtung Leipzig zurückzogen und das Dorf den anrückenden alliierten Streitkräften überließen, die dort kaum noch Verpflegung finden konnten. Die französische Armee hatte bewusst die Umgebung von Leipzig als Versorgungsbasis genutzt, um dann in der Stadt noch Vorräte zu haben.
Das Schema von Großzschocher wiederholte sich überall: «Die Anzahl der Truppen», schreibt Johann Adam Bergk in seiner im Jahr nach der Völkerschlacht durchgeführten Bestandsaufnahme der Dörfer um Leipzig, «nahm nunmehro von Tage zu Tage zu und seit dem 10. Oct. wurde sie immer größer. An Magazine war nicht zu denken; die Soldaten lebten von den Dörfern, wo sie bivouakierten oder vor denen sie vorbeizogen, und das Schicksal, das nunmehro diese traf, war über alle Beschreibung schrecklich. Die Einwohner wurden anfänglich bedrückt, dann gemißhandelt und endlich zur Flucht genöthigt. Zuerst holte man Lebensmittel und das Futter aus den Dörfern, dann trieb man das Vieh fort und trug alles Holzwerk in die Bivouaks, brach die Treppen ab, hob die Thüren aus und riß die Balken heraus; hierauf raubte man den Einwohnern ihre Kleider ihr Geld und alle Sachen von Werth, und endlich plünderte man sie gänzlich aus und ließ den Unglücklichen nichts weiter als die Augen zum Weinen.»18
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Wo Napoleon war, war der Krieg. Einen «Kriegsgott» hat ihn Clausewitz genannt, und einer seiner erbittertsten Gegner, der österreichische Erzherzog Carl, notierte rückblickend: «Bonaparte war seinen Zeitgenossen, was unseren Vorfahren der Teufel, und allen Völkern das böse Grundwesen: das Außerordentliche in Kraft, Geist und Verruchtheit.»1 Der Kaiser der Franzosen war weit mehr als ein Herrscher, er war auch der Feldherr seines Landes und aller mit diesem verbündeten Truppen. Deshalb stand er selbst ständig im Zentrum der militärischen Auseinandersetzungen, mit denen er seit mehr als anderthalb Jahrzehnten den europäischen Kontinent in Atem hielt. Sein Stiefsohn Eugène de Beauharnais, der Vizekönig von Italien, erzählte Herzog Carl August von Sachsen-Weimar, dass Napoleon ihm einmal gesagt habe: «Es ennuyirt mich alles, und es ist mir nirgends wohl als wie im Kriege.» Das entsprach im Tenor einem Gespräch, das der Herzog selbst noch im April 1813 mit dem Kaiser der Franzosen in Eckartsberga geführt hatte. Darüber berichtete Carl August: «Als wir zusammen im Amthause in Eckbrg. angelangt waren, so nöthigte Er mich mit ihm in das für ihn bereitete zimmer zu gehen, wo 4 Spieltische mit Wachslichtern besezt standen; die tische stießen an einander. Er sezte sich an die eine breite Seite mit dem huth auf dem Kopfe u. hieß mir, ihm gegenüber, einen stuhl zu nehmen. Auf einmal fing Er an, a present je suis a mon aise, me voila dans mon ancienne existence! (Gegenwärtig fühle ich mich wohl, hier geht es mir wie früher!) ich besahe mir die vier weissen Wände, u. lächelte! Er frug mich warum? ich sagte, von da wo Ew. MM. her kommen ists doch hübscher! croyez moi, je ne suis bien que lorsque je me retrouve comme soldat, j'y suis accoutumé de ma jeunesse, a Paris chez moi, je m'ennuie.»2 (Glauben Sie mir, ich fühle mich nur als Soldat wohl, hier werde ich an meine Jugend erinnert, zu Hause in Paris langweile ich mich.)
Dieser Soldatenkaiser kommandierte seine Armeen natürlich höchstpersönlich. Und wenn Napoleon am 8. Februar 1807 nach seinem Sieg bei Preußisch Eylau über Preußen und Russen angesichts der Leichenberge gesagt hatte: «Solch ein Anblick sollte jeden Herrscher dazu bewegen, den Frieden zu lieben und den Krieg zu hassen»3, so vergaß er diese Erkenntnis bald wieder, wie ernst gemeint sie auch immer gewesen sein mag. Fünfzigtausend Mann hatten bei Preußisch Eylau den Tod gefunden, das größte einzelne Gemetzel in Napoleons Laufbahn als Feldherr - bis sechs Jahre später die Völkerschlacht kam und diese Zahl verdoppelte. Nie hat es in Deutschland mehr Tote in so kurzer Zeit gegeben, nicht in der Varusschlacht, nicht bei der Erstürmung Magdeburgs im Dreißigjährigen Krieg, nicht bei den Bombenangriffen auf Hamburg oder Dresden im Zweiten Weltkrieg. Die hunderttausend Toten, die nach den vier Tagen von Leipzig gezählt wurden, sind bis heute unerreicht geblieben.
Diesen Preis an Leben konnten die Bewohner von Leipzig noch nicht ahnen, aber dass ihnen eine beispiellose Schlacht bevorstand, das wussten sie, als Napoleon kurz vor Mittag des 14. Oktober 1813, einem Donnerstag, vor ihrer Stadt ankam. «So wenig wir von den Ereignissen wussten, die in unsrer Nähe vorfielen, so überzeugte uns doch seit Anfang dieses Monats die Unterbrechung der Communication von allen Seiten, und der Kanonendonner, den wir fast täglich nach mehreren Richtungen hin hörten, daß beträchtliche Armeecorps in unserer Nähe waren», berichtete die «Leipziger Zeitung» rückblickend in ihrer ersten Ausgabe nach der Völkerschlacht, die am 21. Oktober erschien.4 Die Ankunft Napoleons fiel auf den Jahrestag der Schlacht von Jena und Auerstedt, den großen Triumph des Kaisers der Franzosen über die Preußen und Sachsen im Jahr 1806, und da man Napoleons Liebe zu historischen Bezügen kannte, fürchteten die Leipziger schon für diesen Tag das Schlimmste.
Seit Wochen war ihre Stadt zu einem Hauptstützpunkt der französischen Truppen ausgebaut geworden; die Größe Leipzigs erlaubte eine leichtere Versorgung großer Heermassen, zudem kreuzten sich hier wichtige Straßen, die als Aufmarsch- und Transportwege bedeutsam waren. Denn mehr noch als auf dem Nimbus des Kaisers, der in offener Schlacht unbesiegbar schien, oder dem innovativen Einsatz von Kavallerie und Artillerie sowie den legendären kaiserlichen Garden beruhte die napoleonische Kriegsführung auf der Geschwindigkeit der militärischen Operationen - ein Prinzip, das der General Bonaparte im italienischen Feldzug von 1796 /97 erstmals vorgeführt hatte. Seine österreichischen Gegner konnten den Bewegungen dieser Armee kaum folgen, weil deren Anführer mit der alten Regel gebrochen hatte, den Nachschub im Tross mitzuführen, was das Vorankommen der Truppen extrem verlangsamte. Bonaparte organisierte die Versorgung seiner Armee völlig neu, indem er die benötigten Güter in den Gebieten requirieren ließ, die sie durchschritt. Das war zeitsparend und kostete auch weniger Geld. Zwar sollte eigentlich jede Zwangsablieferung kompensiert werden, aber die Bevölkerung bekam im Gegenzug nur Papiergeld der jungen französischen Republik, das einem schnellen Wertverfall unterlag, oder Schuldscheine, die gegen solches Geld einzulösen waren - wenn es nach dem Durchzug der Armee überhaupt noch die Möglichkeit dafür gab. Faktisch war das napoleonische Armeeversorgungssystem eine kaschierte Plünderung.
Dazu aber brauchte es ein möglichst dichtbesiedeltes Gebiet, und es ist kein Zufall, dass Bonaparte dieses Erfolgsrezept ausgerechnet im wohlhabenden und fruchtbaren Norditalien entwickelt hatte. In Spanien und Russland dagegen, beides Länder mit weit verstreuter Bevölkerung und klimatisch schwierigen Bedingungen für den Nahrungsanbau, war dieses Prinzip 1808 und 1812 kläglich gescheitert.5 Napoleon hatte daraus gelernt und wollte nicht noch einmal in die Lage geraten, seine Armee nicht mehr versorgt zu sehen. Sachsen, eines der wirtschaftlich prosperierendsten Länder in Deutschland, und speziell die reiche Handelsstadt Leipzig waren deshalb das ideale Terrain für seine Kriegsführung. Hier schien es sogar möglich, die fast zweihunderttausend Soldaten, die er im Oktober 1813 zusammenzog, für mehrere Tage zu verköstigen und auf diese Weise den idealen Moment für den Beginn der Schlacht abzuwarten. Leipzig war in den Wochen zuvor zu einer improvisierten Festung umgebaut worden, mit Schanzen und Gräben vor den äußeren Stadttoren und mit Lazaretten, in die Tausende Verwundete gebracht wurden - die Opfer der seit Mitte August in Sachsen tobenden Kämpfe. Sie waren bislang nicht in der Nähe der Stadt ausgefochten worden. Nun signalisierte die Ankunft des Kaisers, dass es damit vorbei sein würde. Wo er war, war das Schlachtfeld.
Es war sein Lebensraum, vor allem aber sein Überlebensraum als Herrscher. Keine Abstammung und keine höhere Bestimmung, die den Verfügungen der Menschen entzogen waren, hatten ihm den Thron eingebracht - die französische Kaiserwürde war durch ein Plebiszit eingeführt worden, und Napoleon nannte sich deshalb auch nicht Kaiser von Frankreich, sondern Kaiser der Franzosen. Sie hatten ihm den Titel auf demokratische Weise (wie propagandistisch manipuliert die Abstimmung auch immer war) angetragen, wie es sich für eine Republik gehörte, die bizarrerweise auch unter dem neuen Monarchen formal aufrechterhalten werden sollte. Damit aber lebte Napoleon bei aller Selbstherrlichkeit unter dem Damoklesschwert der Volksgunst, und er war sich dessen bewusst. Als er am 26. Juni 1813 in Dresden den österreichischen Außenminister Metternich empfangen hatte, um in letzter Sekunde den Wechsel des Habsburgerreichs auf die Seite der Alliierten zu verhindern, war ihm mit Blick auf die gegen ihn verbündeten Monarchen ein Eingeständnis herausgerutscht, das in vier kurzen Sätzen das erzwungene Programm seiner Herrschaft enthielt: «Eure Majestäten, die auf dem Thron geboren sind, halten es aus, zwanzigmal geschlagen zu werden. Jedesmal kehren sie zurück in ihre Hauptstadt. Ich bin nur der Sohn des Glücks. Ich würde von dem Tag an nicht mehr regieren, an dem ich aufhörte, stark zu sein, an dem ich aufhörte, Respekt zu erheischen.»6 Napoleon brauchte militärische Triumphe, um damit den Makel des Parvenüs auf dem Thron zu kaschieren. Tilgen konnte er ihn nicht in einer Zeit, die durchaus noch das Gottesgeschick akzeptierte, das die etablierten alten Monarchien zur Rechtfertigung ihrer Führungsrolle für sich in Anspruch nahmen. Also war der Kaiser der Franzosen zum Siegen verdammt, und zum Sieg braucht es den Krieg.
Doch zum Krieg gehören zwei. In den Wochen zuvor, seit der gewonnenen Schlacht von Dresden am 26. und 27. August, hatte Napoleon selbst nicht mehr im Feuer gestanden, obwohl es immer wieder blutige Gefechte gegeben hatte: im Erzgebirge, bei Dennewitz, bei Wartenberg. Sie alle gingen für die Franzosen verloren, nicht zuletzt, weil deren Heerführer nicht gewohnt waren, eigenständig das Kommando zu führen. Der Kaiser suchte deshalb eine Möglichkeit, endlich selbst wieder eine Schlacht zu kommandieren, während er an seinen Generalen zu verzweifeln begann. Er wusste um seinen Ruf als genialer Stratege, den auch der gescheiterte Russlandfeldzug vom vergangenen Jahr nicht zu zerstören vermocht hatte, schließlich war er selbst in keiner einzigen Feldschlacht unterlegen. Zudem konnte er zur Überraschung ganz Europas seitdem längst wieder neue Kräfte versammeln und war weniger als ein Vierteljahr nach dem verlustreichen Rückzug abermals zur Offensive übergegangen.
Dem Frühjahrsfeldzug, der in den Schlachten bei Großgörschen und Bautzen im Mai neue Siege der napoleonischen Armee über die verbündeten Russen und Preußen gebracht hatte, folgte ein zweieinhalbmonatiger Waffenstillstand vom 4. Juni bis zum 16. August 1813, während dessen beide Seiten ihre Kräfte neu sammelten und die Gegner Frankreichs durch den Kriegseintritt von Österreich verstärkt wurden. Doch nach dem Ende der Waffenruhe und der ersten großen Schlacht bei Dresden, die Napoleon für sich entscheiden konnte, wichen seine Gegner lieber aus, sobald ihnen der Kaiser persönlich an der Spitze seiner Truppen gegenüberstand, und so war er vor der Völkerschlacht wochenlang mit dem französischen Hauptheer durch Sachsen gezogen, ohne zu kämpfen. Der preußische Major Adolf von Thile schrieb am 6. September aus dem böhmischen Teplitz an seine Frau: «Napoleon ist diesmal genötigt, einen Krieg zu führen, an den er nicht gewöhnt ist, man vermeidet Hauptschlachten, in denen er ein großes Übergewicht hat; einzelne Korps werden ihm aufgerieben, und in dem ausgehungerten Sachsen marschiert er mit seinen Massen hin und her, ohne zu einem andern Resultat zu kommen, als das ihm der Mangel an Lebensmitteln bereitet. Auf diese Art kommen wir langsam, aber gewiß zum Ziel.»7 Währenddessen sammelten die Alliierten im gut geschützten, aber direkt an Sachsen grenzenden Böhmen ihre Hauptstreitmacht.
Ende September zog von dort dann eine große Armee aus Russen, Preußen und Österreichern los. Sie nahm sich Zeit, um auf Leipzig vorzurücken, siebzehn Tage, sodass Napoleon unsicher war, ob die Stadt auch wirklich das Ziel ihres Vormarschs sein würde. Vorsorglich ließ er in der Handelsmetropole das Thomäsche Haus, üblicherweise das Domizil seines Verbündeten, des sächsischen Königs Friedrich August, für sich herrichten; seit September standen französische Soldaten dort permanent Wache. Doch am 4. Oktober waren sie abgezogen worden, «auch die hier schon eingetroffenen kaiserlichen Equipagen gingen wieder ab und nach der Gegend von Düben, wohin der Kaiser geeilt war. Man glaubte jetzt an Absichten auf Berlin und die Odergegenden und hielt die Elbfestungen für Stützpunkte der Franzosen im Rücken der Operationslinie.»8 Die Bewohner Leipzigs glaubten, die akute Gefahr wäre vorbei. Die seit einigen Tagen in der Stadt stationierten französischen Truppen des Marschalls Marmont, den Napoleon zum Herzog von Ragusa erhoben hatte, zogen gleichfalls am 4. Oktober in Richtung Norden ab, und so hoffte man immer mehr, dass sich das Kriegsgeschehen tatsächlich dorthin verlagern würde, denn zwischen Leipzig und Berlin operierten zwei weitere feindliche Heeresgruppen, deren Bewegungen es für die Franzosen zu beobachten galt: die von Gebhard Leberecht von Blücher kommandierte Schlesische Armee und die unter Führung des schwedischen Kronprinzen Karl Johann stehende Nordarmee. Aber es gab vorerst keine größeren Kämpfe.
In den letzten Tagen vor der Völkerschlacht, vom 10. bis 14. Oktober, hatte Napoleon im Schloss von Düben, auf halber Strecke zwischen Leipzig und Wittenberg, Quartier genommen, um sich zu entscheiden, ob er weiterhin wie in den letzten Wochen versuchen sollte, die nördlich operierenden Gegner, die ihm konsequent aus dem Wege gingen, zu stellen oder eine Entscheidungsschlacht gegen die aus dem Süden anrückende Hauptmacht der Aliierten zu suchen. Die war am 12. Oktober auf der Höhe von Altenburg angelangt, nur noch einen Tagesmarsch von Leipzig entfernt. Napoleon entschied sich in der folgenden Nacht dafür, das Katz-und-Maus- Spiel zu beenden und alle seine Kräfte in und um Leipzig zusammenzuführen. Sein um sechs Uhr morgens am 13. Oktober in Düben an den Marschall Jacques Macdonald ausgegebener Armeebefehl, in dem er die bevorstehende Entscheidungsschlacht ankündigte, stellte lapidar fest: «Je crois que la bataille aura lieu le 15 ou le 16», die Schlacht werde vermutlich am 15. oder 16. stattfinden. Und nicht nur der voraussichtliche Tag der Schlacht, auch ihr Ort war bestimmt: «Le roi de Naples, avec 90.000 hommes course Leipsick contre l'armée autrechienne.» Napoleon interessierte sich weder dafür, dass der König von Neapel die neunzigtausend Mann gar nicht hatte, mit denen dieser Leipzig umringen sollte, um gegen die österreichische Armee Stellung zu nehmen, noch für die richtige Schreibweise einer Stadt, in der er sich auf seinen Feldzügen immerhin schon viermal aufgehalten hatte, zuletzt gleich zweimal im Juli 1813 während des Waffenstillstands. Ihn interessierte die Eignung dieser Stadt als Schlachtfeld.
Der Kaiser der Franzosen und die Bürger der Stadt kannten sich seit 1807, als Napoleon zum ersten Mal in Leipzig vorbeigekommen war. Das war am 23. Juli, auf der Rückreise aus Tilsit, wo Frankreich und Russland einen Vertrag abgeschlossen hatten, der Napoleon auf den Gipfel seiner Macht brachte. Mit dem Zaren streckte der letzte große kontinentale Gegenspieler seine Waffen; nur noch England verblieb im dauernden Kriegszustand mit Frankreich. Das seit der Schlacht bei Jena und Auerstedt durch die Anwesenheit französischer Truppen schwer belastete Sachsen versprach sich vom Tilsiter Frieden den Abzug der neuen Verbündeten, schließlich musste nun nicht mehr gegen Russland aufmarschiert werden. Entsprechend aufwendig bereitete sich Leipzig auf den Empfang jenes Mannes vor, der jetzt als Wunder seiner Zeit galt. Vor dem östlichen Zugang zur Stadt, dem Grimmaischen Tor, war ihm ein Triumphbogen errichtet worden, der Napoleon als «Wiederbringer des Glücks» willkommen hieß. Doch die schon für den Vorabend erwartete Ankunft fiel aus, das Empfangskomitee und die neugierigen Bürger wurden auf den frühen Morgen des 23. Juli vertröstet; dass der Kaiser dann allerdings bereits gegen fünf Uhr eintreffen würde, erwartete niemand. Immerhin war die französische Stadtbesatzung aufmerksam und empfing ihren Monarchen mit Salutschüssen, die zuverlässig die ganze Stadt weckten. Napoleon ließ dennoch nicht in Leipzig haltmachen, sondern nahm nach den bescheidenen Honneurs durch die eigenen Soldaten sein Frühstück lieber im nahen Markranstädt ein, wo er keinen Trubel befürchten musste. Die meisten Leipziger sahen sich somit nicht nur um das Objekt ihrer Neugierde gebracht, sondern auch um das Geld für den Triumphbogen und die vorbereitete Empfangszeremonie. Auf diese Weise konnte keine herzliche Beziehung zwischen Kaiser und Handelsstadt gestiftet werden. Und die nächste Visite erfolgte erst im Dezember 1812, als Napoleon noch vor den kläglichen Überresten der Grande Armée aus Russland kommend hier eine Pause machte. Da gab es keinen Grund zum Jubeln.
Erst beim dritten Aufenthalt des Kaisers in Leipzig am 14. Juli 1813, der ersten von zwei sommerlichen Visiten dieses Jahres, hatten die Leipziger Bürger dem Kaiser endlich einmal huldigen können (der nächste Besuch sollte schon elf Tage später erfolgen, diesmal aber inkognito, als Napoleon während des Waffenstillstands für einige Tage zu seiner Familie in Richtung Frankreich eilte, ehe er pünktlich zur Wiederaufnahme der Feindseligkeiten nach Sachsen zurückkehrte - «das war Napoleons berühmte Reise von Dresden bis Mainz, welche dieser Thierquäler in 36 Stunden zurücklegte, um dort eine Zusammenkunft mit seiner Gemahlin zu haben», wie sich ein offenbar tierliebender Pfarrer aus Großzschocher erregte9). Diese Ehrbezeugung entsprang freilich weniger der Bewunderung für Napoleon, vielmehr erhofften sich die Leipziger, auf diese Weise das ramponierte Verhältnis zu den französischen Truppen zu verbessern und insbesondere den Kaiser zur Aufhebung des seit knapp einem Monat geltenden Belagerungszustands bewegen zu können. Der in Leipzig als Stadtkommandant eingesetzte General Antoine-Joseph Bertrand hatte im Juni 1813 die seit drei Monaten geltenden Einschränkungen noch verschärft, obwohl kurz zuvor zwischen Frankreich, Russland und Preußen ein Waffenstillstand geschlossen worden war - und dieser Schritt wurde auf die Verärgerung Napoleons über die Handelsstadt zurückgeführt, die wiederholt gegen den Boykott englischer Waren verstoßen haben sollte: «Den Leipzigern ist des Kaisers Unwille angekündigt, eine Kontribution ausgeschrieben, alle Colonialwaren aufgezeichnet und die Stadt in Belagerungszustand erklärt», schrieb Major Otto August Rühle von Lilienstern damals an August Neidhardt von Gneisenau, den Generalquartiermeister der preußischen Armee.10 Die entscheidende Passage in der Proklamation, die der Stadtrat auf Geheiß Bertrands am 20. Juni aushängen ließ, lautete: «Die Polizey in der Stadt und den Vorstädten wird militairisch, und ohne Concurrenz der Landesbehörden gehandhabt.» Also stand Leipzig unter Kriegsrecht.
Eine Delegation der Stadt, die am 3. Juli 1813 den Kaiser der Franzosen in seinem Dresdner Domizil, dem Palais Marcolini, aufgesucht hatte, war in der Tat noch auf einen ungnädigen Napoleon gestoßen. Das Leipziger Magistratsmitglied Johann Carl Gross wurde vom Kaiser angefahren: «Sie excerciren gar keine Polizei in Ihrer Stadt. Ich bin sehr unzufrieden mit Ihnen. Man beleidigt mich bei Ihnen, man beleidigt meine Soldaten; man sieht meine Truppen missgünstig an. Denkt, was Ihr wollt; sagt es ganz laut, wenn der Feind dort ist; aber jetzt, wo meine Truppen im Lande sind, sich aufzuführen, das ist zu dumm, das ist zu dumm.»11
Napoleon wusste um die Bedeutung der Stadt als wichtiges Handelszentrum und deshalb auch als Basis aller Kriegsführung in Sachsen, weshalb er seine Truppen nach dem Sieg von Großgörschen am 2. Mai als Erstes nach Leipzig geführt hatte, um die Stadt wieder in Besitz zu nehmen. Dort hatte es zuvor ein fünfwöchiges alliiertes Intermezzo gegeben, denn die Truppen des französischen Stadtkommandanten Bertrand waren am 31. März 1813 abgezogen, als der Vormarsch der verbündeten Russen und Preußen durch Sachsen nicht mehr zu stoppen schien und Napoleon in Frankreich noch mit dem Wiederaufbau seiner im Russlandfeldzug vernichteten Armee beschäftigt war. Die damalige Begrüßung der feindlichen Soldaten als Befreier hatte den Kaiser der Franzosen nachhaltig verärgert, als er davon erfuhr. In Leipzig erwartete man begierig das baldige Einrücken der alliierten Truppen, weil das ein Ende der mittlerweile seit sieben Jahren herrschenden Kontrolle der Handelsgeschäfte durch die Franzosen verhieß. Allerdings freute man sich in Leipzig weniger auf die Soldaten des alten innerdeutschen Rivalen Preußen als auf die Russen, «und die schon seit dem Anfange des Jahres in den Zeitungen einzeln erschienenen Anzeigen von russischen Sprachlehrern, russischen Wörterbüchern und Anerbietungen zur Unterweisung in der russischen Sprache vermehrten sich mit jedem Tage (in der Zeitung vom 30. März befinden sich 15 Anzeigen von russischen Wörterbüchern und Sprachlehrern, Heiligenbildern und Portraits)».12 Tatsächlich waren bereits am Abend des 31. März die ersten Kosaken vor Leipzig gesichtet worden, ein kleiner Trupp von zwanzig Mann, dem aber im Laufe der nächsten Tage immer mehr Kosaken und schließlich auch das Hauptquartier der alliierten Armee gefolgt waren, wobei deren Soldaten sich überwiegend in den Dörfern im Süden von Leipzig aufgehalten hatten und ihr Kommandeur Peter Graf zu Sayn-Wittgenstein mit seinem Stab nicht in Leipzig selbst, sondern in den benachbarten Dörfern Lindenau und Gohlis untergekommen war.13
Aber am 2. Mai waren die Alliierten schon wieder aus Leipzig vertrieben worden, am Tag von Napoleons Sieg bei Großgörschen. «Das Scharmuzieren rückte der Stadt immer näher. Die vereinigten Russen und Preußen vertheidigten sich nur in so weit, als es nöthig war, um ihren Rückzug nicht in eine wilde Flucht ausarten zu lassen. Hecken, Gräben und Bäume des Chausseedammes von Lindenau nach Leipzig boten dazu die beste Gelegenheit. Endlich ward das rannstädter Thor noch einige Zeit vertheidigt. Doch die Franzosen krochen auf dem Bauche näher, oder schlichen sich dicht an den Häusern weg, und in kurzer Zeit verließen die Combinirten die Stadt durch das grimma'sche Thor, von den Franzosen bis Paunsdorf verfolgt.»14 Es entbehrt nicht der Ironie, dass kaum ein halbes Jahr später im Verlauf der Völkerschlacht das militärische Geschehen genau den entgegengesetzten Verlauf nehmen sollte: Nach dem verlorenen Kampf um Paunsdorf zogen die Franzosen über Lindenau wieder ab. Die Herrschaft über Leipzig wechselte im Laufe des Jahres 1813 also insgesamt viermal.
Und fast wäre es noch ein fünftes Mal passiert, denn am Pfingstmontag, dem 7. Juni 1813, war zur Überraschung der seit fünf Tagen wieder eingesetzten französischen Kommandantur unter General Bertrand morgens Alarm geschlagen worden, weil sich Kosaken der Stadt näherten. Gemäß dem erst wenige Tage zuvor abgeschlossenen Waffenstillstand zwischen Napoleon und den Alliierten war damit nicht zu rechnen gewesen, aber die häufig auf eigene Faust in Feindesland agierenden russischen Reitertrupps waren immer noch aktiv. «Es waren wirklich die Kosaken, die von dem Waffenstillstande noch keine Kunde erhalten hatten und nach ihrer Weise durch diesen Streifzug sich zu bereichern gedachten. Die Franzosen wurden gerettet durch Parlamentaire, die den Waffenstillstand den Kosaken kund thaten; aber namentlich bei Taucha und Schönefeld war hitzig gefochten worden und den Franzosen mancher Abbruch geschehen.»15
Solche russischen Einheiten, die den flüchtenden napoleonischen Truppen im Winter und Frühjahr bis nach Zentraleuropa gefolgt waren, operierten weiterhin im ganzen sächsischen Königreich und sorgten für Unruhe auch weit jenseits der eigentlichen Kriegsschauplätze. Aber gegen die meist beschränkte Zahl dieser Reitertupps genügte eine überschaubar große feste Besatzung in der leicht zu kontrollierenden Stadt. Es blieb den ganzen Sommer über friedlich in und um Leipzig, auch nachdem die Kampfhandlungen zwischen Napoleon und seinen Gegnern am 16. August wiederaufgenommen worden waren.
Umso überraschender für die an starke militärische Präsenz nicht mehr gewohnten Bürger war am 29. September die Ankunft eines fast zwanzigtausend Soldaten umfassenden französischen Korps gewesen, das Marschall Auguste-Frédéric-Louis Marmont von Meißen herangeführt hatte. Es wurde vollständig in der Innenstadt untergebracht, wodurch dort auf jeden Einwohner mehr als ein fremder Soldat kam. Ein so großes Truppenkontingent hatte Leipzig nicht mehr gesehen, seit vor sieben Jahren, am 18. Oktober 1806, nach Napoleons Sieg von Jena und Auerstedt der französische Marschall Davoust mit damals zweiundvierzigtausend Soldaten die Stadt besetzt hatte.16
Die Marmontsche Streitmacht, die vor allem dazu gedacht war, gegen die bei der Verteidigung Berlins siegreich gebliebene Nordarmee der Alliierten Stellung zu beziehen, die sich in Richtung Sachsen bewegte, wurde in den folgenden Tagen noch durch württembergische Kavalleristen unter General Karl von Normann-Ehrenfels und französische Infanterie verstärkt. Der Pfarrer Ludwig Schlosser aus Großzschocher, einem Dorf von etwa tausend Einwohnern zwei Stunden südwestlich von Leipzig, berichtete über die Ankunft dieser Verstärkung: «Das härteste aber, was uns bis daher betroffen hat, war unstreitig das Feldlager, welches am Sonnabend gegen Abend, von dem 16ten Sonnt. p. trin. (der 3. Oktober 1813) vor unserem Dorfe, an 600 württemb. Reitern und 600 franz Fusknechte und viele Sannbauern, am Wällnerischen und Cichoriussischen Haus geschlagen wurde. Heu und Stroh, Holz und Säkke, Töpfe und Schüsseln, Schubkarren und Eimer, wurden genommen, wo sie waren.»17 Großzschocher hatte allein am 6. Oktober tausendachthundert Pfund Brot, einen Ochsen, achthundert Rationen Hafer und vier Wagen Heu an die dort lagernden Truppe abzuliefern, am Folgetag kamen weitere Lieferungsverpflichtungen an die im nahegelegenen Dorf Lindenau lagernden Franzosen dazu, und so ging es bis zum 13. Oktober weiter, als sich Napoleons Truppen aus Großzschocher in Richtung Leipzig zurückzogen und das Dorf den anrückenden alliierten Streitkräften überließen, die dort kaum noch Verpflegung finden konnten. Die französische Armee hatte bewusst die Umgebung von Leipzig als Versorgungsbasis genutzt, um dann in der Stadt noch Vorräte zu haben.
Das Schema von Großzschocher wiederholte sich überall: «Die Anzahl der Truppen», schreibt Johann Adam Bergk in seiner im Jahr nach der Völkerschlacht durchgeführten Bestandsaufnahme der Dörfer um Leipzig, «nahm nunmehro von Tage zu Tage zu und seit dem 10. Oct. wurde sie immer größer. An Magazine war nicht zu denken; die Soldaten lebten von den Dörfern, wo sie bivouakierten oder vor denen sie vorbeizogen, und das Schicksal, das nunmehro diese traf, war über alle Beschreibung schrecklich. Die Einwohner wurden anfänglich bedrückt, dann gemißhandelt und endlich zur Flucht genöthigt. Zuerst holte man Lebensmittel und das Futter aus den Dörfern, dann trieb man das Vieh fort und trug alles Holzwerk in die Bivouaks, brach die Treppen ab, hob die Thüren aus und riß die Balken heraus; hierauf raubte man den Einwohnern ihre Kleider ihr Geld und alle Sachen von Werth, und endlich plünderte man sie gänzlich aus und ließ den Unglücklichen nichts weiter als die Augen zum Weinen.»18
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Autoren-Porträt von Andreas Platthaus
Andreas Platthaus, geboren 1966 in Aachen, hat Philosophie, Rhetorik und Geschichte studiert. Er leitet das Ressort «Literatur und literarisches Leben» der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», für die er seit 1992 schreibt, und ist Autor zahlreicher Bücher, darunter die große Darstellung der Völkerschlacht bei Leipzig, «1813», die lange auf der «Spiegel»-Bestsellerliste stand, und das Amerika-Porträt «Auf den Palisaden». Andreas Platthaus lebt in Leipzig und Frankfurt am Main.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andreas Platthaus
- 2013, 6. Aufl., 480 Seiten, mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871347493
- ISBN-13: 9783871347498
- Erscheinungsdatum: 17.07.2013
Kommentar zu "1813"
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