Abschied von Mutter Sprache
Deutsch in Zeiten der Globalisierung
Die umfassende Bestandsaufnahme der Rolle der deutschen Sprache in der Welt!
Wie steht es um die deutsche Sprache? Wird sie zunehmend von englischen Ausdrücken dominiert? Verliert sie an Einfluss in der Welt und der Wissenschaft? Welche Rolle spielt sie...
Wie steht es um die deutsche Sprache? Wird sie zunehmend von englischen Ausdrücken dominiert? Verliert sie an Einfluss in der Welt und der Wissenschaft? Welche Rolle spielt sie...
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Produktinformationen zu „Abschied von Mutter Sprache “
Klappentext zu „Abschied von Mutter Sprache “
Die umfassende Bestandsaufnahme der Rolle der deutschen Sprache in der Welt! Wie steht es um die deutsche Sprache? Wird sie zunehmend von englischen Ausdrücken dominiert? Verliert sie an Einfluss in der Welt und der Wissenschaft? Welche Rolle spielt sie in Europa und den europäischen Institutionen? Wie wichtig ist Deutsch für die Wirtschaft? Welche Sprachpolitik ist sinnvoll?
Karl-Heinz Göttert unternimmt eine umfassende Bestandsaufnahme des Deutschen: Historisch informiert, politisch engagiert und unter Rückgriff auf Zahlen und Fakten beantwortet er alle Fragen rund um die Stellung des Deutschen in Zeiten der Globalisierung - und ganz besonders die eine: Müssen wir uns Sorgen machen?
Lese-Probe zu „Abschied von Mutter Sprache “
Abschied von Mutter Sprache von Karl-Heinz GöttertKapitel 1
Zahlen und Zeiten
Sprachen in der Welt
Von Sprachenzählen und Sprachensterben
Man kann nur staunen, dass es Forscher gibt, die sich tatsächlich die Sprachen der Welt als Thema vornehmen - alle Sprachen. In Deutschland ist es Harald Haarmann, der dazu eine Reihe von Büchern geschrieben hat, in denen das Datenmaterial aufbereitet und kommentiert ist. Wie viele Sprachen kommen danach zusammen? Haarmann zählte im Jahre 2001 bei knapp 200 (in der UNO vertretenen) Staaten 6417. Wer zum Vergleich den aktuellen UNESCO Atlas oft he World's Languages in Danger aufschlägt, der im Netz leicht zugänglich ist und sogar eine interaktive Version enthält, stößt auf ca. 2500. Durch die Literatur geistern noch andere Zahlen. Hat sich hier jemand verrechnet oder über- bzw. untertrieben? Die Unterschiede erklären sich anders. Sie beruhen darauf, dass oft unklar bleibt, ob eine »Sprache« als selbständig gilt oder als Dialekt einer größeren zu fassen ist. In Indien beispielsweise wurden 1971 1652 Sprachen angegeben, 20 Jahre später nur noch 418. Woran liegt es? Daran, dass zum Beispiel Hindi in der einen Liste als eine einzige Sprache auftaucht, in der anderen in Dutzende »Dialekte« aufgesplittert ist, die sich tatsächlich sehr viel mehr unterscheiden als bei uns etwa Schwäbisch und Sächsisch. Auch bei den Benennungen gibt es Probleme. Für die mehr als 6000 Sprachen existieren ca. 4000 verschiedene Namen - reichlich Möglichkeiten für Überschneidungen oder Verwechslungen.
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Interessanter als die »richtige« Zählung ist ohnehin etwas anderes. Aus europäischer Sicht stellen wir uns Sprachen in einer irgendwie normalen regionalen und quantitativen Verbreitung vor und denken an Französisch, Englisch, Italienisch oder unser Deutsch. In der Welt sieht es aber anders aus. Die meisten Sprachen werden von nur wenigen Tausend gesprochen, nur gerade einmal 300 sind Millionensprachen. Und dann kommen erst die Klein- und Kleinstsprachen. In Papua-Neuguinea gab es 1996 bei gut vier Millionen Einwohnern drei Amtssprachen (Englisch, Tok Pisin und Motu), aber insgesamt 826 Klein- und Kleinstsprachen. Haarmann listet sie penibel auf, und zwar nach Sprechergruppen von 900-1000, 800-900 und so fort bis zehn und weniger (mit fünf Fällen), dazu noch neun ausgestorbene Sprachen. In Australien, nach Haarmann dem größten »Sprachenfriedhof« der Welt, beträgt die Gruppe der Sprachen mit zehn und weniger Sprechern 105, bei einer langen Liste von Sprachen mit nur noch einem einzigen Sprecher (als ausgestorben sind 32 angegeben).
Wer diese Zahlen liest, wird leicht Prognosen trauen, die den »Sprachentod « in gigantische Höhen treiben. 90 Prozent sollen es noch in diesem Jahrhundert sein, angetrieben von der Globalisierung im Allgemeinen und der Weltsprache Englisch im Besonderen. Der Tod letzter Sprecher ist den Zeitungen oft eine Meldung wert, verbunden mit der untergründigen Frage, wann auch wir so weit sind. Einmal abgesehen vom baren Unsinn dieser rein der Sensationslust geschuldeten Unterstellung (bei derzeit mehr als 100 Millionen deutschen Muttersprachlern), legen unvoreingenommene Beobachtungen etwas anderes nahe. Gewiss, Sprachen sterben, nach Haarmann könnten es im
21. Jahrhundert tatsächlich 40 Prozent sein, darunter natürlich besonders jene Kleinstsprachen mit wenigen oder nur einem einzigen Sprecher, der sich tatsächlich nur noch mit seinen Ahnen unterhalten kann. Aber Sprachen sterben nicht nach abstrakten statistischen Gesetzen. Nicht nur, dass totgesagte Sprachen wiederbelebt wurden wie etwa das zuletzt nur noch rituelle Sanskrit in Indien (das nun sogar in Filmen verwendet wird) oder das Hebräische als das moderne Hevrit in Israel. Die Sprachenpolitik von Großmächten, die so häufig in der Geschichte auf Nivellierung und Verdrängung aus war, ist häufig auch gescheitert. Die Sowjetunion etwa, um ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit zu nehmen, betrieb eine systematische Sprachenplanung angesichts der zahlreichen Sprachen in ihren asiatischen Teilen. 1970 sprachen 41,8 Prozent ihrer Bürger Russisch als Zweitsprache, neun Jahre später bereits 61,2 Millionen. Aber ein Land wie Kasachstan, in dem Russisch erste Amtssprache war, hat sofort nach der Perestroika das Ruder herumgeworfen. Nach dem Zerfall des Warschauer Paktes regten sich überall die lokalen Sprachen und fanden zurück zur Verwendung als alleinige Amtssprachen (wie etwa in Estland).
Ein anderer Wettstreit beim Eurovision Song Contest
Die Globalisierung, das ist die wichtige Botschaft, tendiert zur Vereinheitlichung, fördert die eine Weltsprache Englisch. Aber die Globalisierung erzeugt auch einen gegenläufigen Trend: die Regionalisierung, die sich sprachlich als Selbstbehauptung äußert und dazu die Sprache als ein Merkmal oder Symbol benutzt. Dies geht so weit, dass neue Sprachen entstehen wie im Falle des Serbischen und Kroatischen. Hier schrieben die Serben lange Zeit das gemeinsame Serbokroatisch lediglich in kyrillischer (russischer) Schrift, die Kroaten in lateinischer. Heute sind daraus zwei verschiedene Sprachen entstanden oder befinden sich in der Auseinanderentwicklung. Kein Zweifel, dass sich damit Tendenzen des 19. Jahrhunderts auch im 21. wiederholen, dass sich hier Vaterländer und Muttersprachen zur Einheit verbinden, Sprachen also wieder einmal oder immer noch Politik machen. Und es gibt sogar das noch bedrohlichere Erbe des 19. Jahrhunderts, den (auch) durch Sprachen bedingten Krieg, wie wir ihn im Kosovo kennengelernt haben. Die hier lebenden Albaner waren von der serbischen Sprache dominiert, so dass Albanisch zum Symbol des Widerstands wurde.
Welche Folgerungen soll man daraus für die Sprachenvielfalt in der Welt ziehen? Sind die vielen Sprachen ein Hindernis für ein Zusammenleben, ein Keim von Konflikten? Im Extremfall ja, aber es gibt auch andere Antworten auf das Problem. Im ehemaligen sowjetischen Machtbereich ist man von Unterdrückung zu vorsichtiger Förderung übergegangen. Ein anderes Beispiel wäre Australien, wo ebenfalls eine Politik der Dominierung der indigenen Sprachen von einer Politik ihrer Anerkennung und Unterstützung abgelöst wurde. Die Sprache der Aborigines wird mittlerweile in den Schulen unterrichtet. Haarmann berichtet vom Extremfall des Saamischen (der sogenannten »Eskimos«) als einer Kleinsprache im Norden Europas, die in der finnischen Provinz Lappland bei 2400 Sprechern Amtssprachenstatus genießt und (weltweit einmalig) bei schriftlichen Zulassungsprüfungen an Universitäten verwendet werden darf. Auch die Abstimmung der Schweizer über die Anerkennung des (dem Lateinischen nahestehenden) Rätoromanischen im Jahre 1938 als vierte Amtssprache gehört zu diesem offenbar weltweiten Trend einer Anerkennung von Sprachen in Analogie zu den Menschenrechten.
Die Sprachenvielfalt - so ließe sich zusammenfassen - ist ein Faktum, das auf absehbare Zeit unsere Welt prägen wird. Die Konsequenzen daraus sind unterschiedlich, sie reichen vom Sprachenkampf bis zu Anerkennung und Förderung. Auf jeden Fall ist die Welt vielsprachig und sucht Lösungen für diese Vielsprachigkeit. Der eine Megatrend liegt in der Annäherung der Sprecher in Form einer Entscheidung für Zweisprachigkeit, in der Regel für das Erlernen der Lingua franca oder Brückensprache Englisch. Der andere Megatrend liegt in der Behauptung der je eigenen Sprache als Begründung von Identität, von lokaler Kultur, die das Sozialverhalten steuert und künstlerische Kreativität fördert. Beim Eurovision Song Contest 2012 in Baku (Aserbaidschan) konnte man nicht nur den Wettkampf der Sängerinnen und Sänger, sondern auch den zwischen den beiden Megatrends beobachten. Der erste Platz ging an die Schweden, die wie die meisten Kandidaten (auch die deutschen) auf Englisch sangen. Den zweiten Preis aber heimsten die Buranowskije Babuschki ein, die Großmütter aus Buranowo in Udmurtien westlich des Ural, die ihre vom Aussterben bedrohte finnougrische Sprache nicht nur benutzten, sondern mit dieser Benutzung für sie warben. 120 Millionen hatten das Ereignis am Bildschirm verfolgt und abgestimmt. Die größere Verbreitung genießt zweifellos der erste Megatrend, die größere Sympathie aber gehört ebenso zweifellos dem zweiten.
Sprachen in Deutschland
Zahlen vom Statistischen Bundesamt
Man kann es auch so sagen: Die vielen Sprachen stören und sind doch unverzichtbar. Wie löst man das Dilemma?
Schauen wir uns dazu einige Fakten in unserer direkten Umgebung an. Gut, die Welt ist vielsprachig, in fernen Kontinenten vor allem. Schon in Europa sieht es besser aus, auch wenn man über die vielen Sprachen etwa im Balkan einmal hinwegsieht, die die Gesamtzahl in Europa nach Haarmann immerhin auf 143 hinauftreiben (anderswo rechnet man mit 70). Aber Europa ist auch noch insofern eine Ausnahme, als hier die meisten Sprachen miteinander eng verwandt sind. Während zum Beispiel die vielen Sprachen in Papua-Neuguinea völlig unterschiedlichen Sprachstämmen angehören, dominiert in Europa eine gemeinsame Wurzel, die als Indogermanisch oder Indoeuropäisch bezeichnet wird. Man nimmt an, dass Europa von Völkern besiedelt wurde, die aus dem alten Zweistromland (dem heutigen Irak) stammten und sowohl nach Norden (Europa) wie nach Süden (Indien) vordrangen. Die Verwandtschaft wurde im 19. Jahrhundert entdeckt und führte zu einer Blüte der Sprachwissenschaft. Auf einfachste Weise merkt man die Zusammenhänge an Wortgleichungen wie der Zahl »drei« mit englisch three, französisch trois, italienisch tre usf. Es gibt heute den neuen Forschungszweig einer Eurolinguistik, der nicht mehr nach der gemeinsamen Herkunft der Sprachen fahndet, sondern ihre gemeinsame Entwicklung beobachtet: eine Art Herausbildung von Eurisch für Europa. Wir leben jedenfalls in Europa in einer sprachlich vergleichsweise homogenen Weltgegend.
Nur darf man sich nicht täuschen: Selbst in einem einzelnen europäischen Land wie Deutschland ist die Sprachenvielfalt groß, größer, als es sich die meisten wohl vorstellen. Dies hängt mit den modernen Migrationsverhältnissen zusammen, die Deutschland zu einem multikulturellen und eben auch multilingualen Land gemacht haben wie andere große Industriestaaten auch. Das Statistische Bundesamt bzw. der Ausländerbeauftragte der Bundesregierung legt regelmäßig Zahlen vor, die die schwer zu handhabende Charakterisierung von »Menschen mit Migrationshintergrund« differenzieren. Nach dem Stand vom Dezember 2011 sind es 15,3 Millionen, ohne Berücksichtigung derjenigen in zweiter oder dritter Generation. 6,7 Millionen davon sind »Ausländer« (Personen ohne deutschen Pass), die Deutsch sprechen oder lernen, auf jeden Fall aber auch ihre eigene Sprache mitbringen. 31 Prozent stammen aus EU-Ländern: 520 159 Italiener, 468 481 Polen, 283 684 Griechen, 223 014 Kroaten, um nur die größten Gruppen zu nennen. Dabei sind die Herkunftsländer oft mit mehr als nur einer Sprache vertreten. Bei den Italienern gibt es Albanischsprecher und Sizilianer mit jeweils ausgeprägten Dialekten. Bei den Spaniern haben die Katalanen den Rang einer eigenen Amtssprache bei der EU durchgesetzt. Natürlich bringen auch Personengruppen aus dem EU-Raum, die ganz jenseits einer »Gastarbeiter«-Tradition stehen, ihre Sprachen mit: Franzosen, Engländer, Belgier, Niederländer (zum Beispiel im Rahmen militärischer Verbände).
Von den »Gastarbeitern« (Personen mit deutschem Pass also nicht mitgerechnet) stammen die meisten nicht aus der EU. Die größte Gruppe wird mit gut 1,6 Millionen von den Türken gebildet. Mit 63 037 Marokkanern und 23610 Tunesiern kommen »kleinere« Gruppen hinzu. In allen diesen Fällen aber sind die sprachlichen Verhältnisse äußerst kompliziert. Unter den Sprechern mit türkischem Pass befinden sich zum Beispiel Azeri, Kurden und Personen mit iranischen Sprachen wie die Zaza. Die Kurden mit ihrer indogermanischen Sprache (die also keinerlei Verwandtschaft zum Türkischen aufweist) machen allein ca. 500 000 Personen der türkischen Bevölkerung in Deutschland aus. Weiter sind unter den Türken Aramäer mit einer semitischen oder Lazen und Tscherkessen mit einer kaukasischen Sprache vertreten, schließlich noch Armenier. Unter Inhabern eines marokkanischen Passes verbergen sich Berber, die traditionell zweisprachig sind, neben der (nur von etwa 50 Prozent beherrschten) hocharabischen Schriftsprache ein marokkanisches Arabisch sowie Französisch sprechen. Zu diesem Personenkreis kommen Bürgerkriegsflüchtlinge: Albaner (meist aus dem Kosovo, also dem ehemaligen Jugoslawien), Bulgaren, Makedonier, Rumänen, Slowaken, Slowenen, Tschechen, Ungarn - überwiegend mit einigen Zehntausend Personen (die Rumänen mit 159 222).
Aus unterschiedlichen Gründen sind zahlreiche weitere Gruppen mit teilweise wenigen tausend Mitgliedern vertreten, die nur kurz aufgezählt seien: aus Nordeuropa Esten, Finnen, Letten, Litauer; aus dem Nahen Osten Libanesen, Ägypter, Iraker, Jordanier, Palästinenser; aus Afrika Algerier, Äthiopier, Eritreer, Somalier, Bewohner des Tschad; aus dem Kaukasus Georgier und Armenier. Indogermanische Sprachen außerhalb Europas sprechen Iraner, Afghanen, Pakistaner, Chilenen, Kolumbianer, Bolivianer, Brasilianer. Aus China werden Mandarin sowie Kantonesisch genannt. Von den Philippinen und Indien bringen Sprecher die außerordentliche Sprachenvielfalt ihrer Herkunftsländer mit. Weiter sind zu nennen: Japaner, Koreaner, Tamilen, Thailänder, Vietnamesen (diese allein mit 83 830 Vertretern). Aus zahlreichen afrikanischen Ländern stammen englisch-, französisch- oder portugiesischsprachige Personen sowie Vertreter mit Afrikaans. Schließlich werden Israelis, Kanadier, Norweger, Schweizer und US-Amerikaner aufgeführt.
Als letzte Gruppe gibt es die »Volksdeutschen«, die in den Statistiken nicht als Fremdsprachler geführt werden, obwohl sie vielfach (vor allem in der zweiten Generation) das Deutsche nicht oder nicht ausreichend beherrschen: insgesamt vier Millionen vor allem aus Russland und Polen. Auch hier vergrößert sich die Sprachenvielfalt, wenn man ins Detail geht und Weißrussisch, Ukrainisch sowie Vertreter einiger Turksprachen mit einbezieht. Insgesamt sind in Deutschland Menschen aus etwa 140 Staaten registriert, wobei die Zahl der gesprochenen Sprachen aus den genannten Gründen noch höher liegt. Deutschland ist also eines der großen Einwanderungsländer der Welt und hat sich im Zuwanderungsgesetz von 2004/05 zu einer »nachholenden Integration« verpflichtet. Die Frage stellt sich natürlich: Welche Folgen hat eine solche Sprachenvielfalt für das Einwanderungsland? Wo liegen die Probleme und wie kann man damit möglichst sinnvoll umgehen?
Loyalitätsprobleme und Hybridkulturen
Um das Wichtigste vorwegzunehmen: Auch wenn die Gleichung »ein Land, eine Sprache« weder in Deutschland noch in vergleichbaren Ländern nie stimmte - man denke nur an die Dänischsprecher in Schleswig-Holstein oder die Sorben in Sachsen -, hat es wohl auch noch nie eine derartige Durchmischung mit Sprachen aus (fast) aller Welt in einem Land gegeben. Nur: Diese Sprachenvielfalt ist Ergebnis und Ausdruck der gesellschaftlichen Entwicklung moderner Industrieländer mit entsprechender Anziehungskraft und Arbeitskräftebedarf. Dabei treten nun ganz verschiedene Probleme auf. Die Sprachloyalität zur Herkunftssprache und die Lernbereitschaft für die Gastgebersprache können zum Beispiel höchst unterschiedlich ausfallen. Man hat bei türkischen Frauen beobachtet, dass nach einer ersten Phase des Spracherwerbs der weitere Ausbau ins Stocken gerät oder gar rückläufig ist, wenn zu Hause weitgehend Türkisch gesprochen und in der näheren Umwelt eine stark reduzierte Sprachfähigkeit akzeptiert wenn nicht geradezu erwartet wird (polemisch: »Tarzan-Deutsch«). Auch bei der Generationenfolge verläuft der Erwerb der deutschen Sprache wiederum bei Türken oft nicht erwartungsgemäß. Während die zweite Generation als »Lerngeneration« gilt, können bei der dritten angesichts mangelhafter gesellschaftlicher Integration auch die Sprachbiographien zwiespältig ausfallen - mit teilweiser Rückkehr zum Türkischen.
Es gibt also einen gravierenden Unterschied zu traditionellen Migrationsverhältnissen, die in der Regel mit einem Bruch gegenüber der Herkunftsgesellschaft verbunden waren. So kennt man es etwa von den (nach der letzten polnischen Teilung aus der preußischen Provinz Posen stammenden und deshalb mit deutschem Pass versehenen) »Ruhrpolen«, die im 19. Jahrhundert angeworben wurden und sich so stark integrierten, dass heute kaum mehr als die Namen überlebten. Die moderne Migration lässt sich eher unter dem Begriff der »Transnationalität « fassen: einer Überbrückung des Nationalen, die das frühere Entweder-Oder ablöst. Dabei tauchen Probleme nicht nur für das Einwanderungs-, sondern auch für das Herkunftsland auf. Wiederum das Türkische ist ein Beispiel für das »Diaspora«-Phänomen: die allmähliche Trennung von der Sprachentwicklung im Herkunftsland mit der Folge eines »Auslands«-Türkisch, das im Nahbereich der Familie überlebt bzw. in der Form der Sprachmischung aufrechterhalten wird. Man sieht an diesem Punkt einmal mehr, dass sich das traditionelle Konzept von Vaterland und Muttersprache unter Migrationsbedingungen auflöst bzw. tiefgreifend verwandelt. Man kann von Hybridkulturen, entsprechend von verschiedenen »Ausbaustufen« von Sprachen sprechen: Im Nahbereich der Familie wird anders gesprochen als auf der Straße und wieder anders als in Behörden. Daran muss sich das Lernangebot in den Schulen ausrichten, an vorhandene Kenntnisse anschließen und neue ermöglichen.
Das sind schwierige und schon sehr spezielle Probleme. Unser Fazit fällt im Augenblick bescheidener aus: Deutschland ist kein einsprachiges Land. Nach dem Motto »Deutschland schafft sich ab« ist das als Bedrohung an die Wand gemalt worden. Nach dem Blick auf die Sprachenverteilung in der Welt liegt eine andere Folgerung nahe: Deutschland ist ein normales Land unter Bedingungen von Modernität und Globalisierung. Die Hausaufgaben sind in diesem Punkt zweifellos noch nicht erledigt. Aber es droht ja eine andere und womöglich größere Gefahr. Sie liegt nicht in der inneren Mehrsprachigkeit, sondern in der Konfrontation mit der Weltsprache Englisch. Das Deutsche wird möglicherweise weniger von innen ausgehöhlt als von außen in seinem Status geschmälert. Dann heißt es: Deutsch war einmal eine geachtete und auch im Ausland vielbenutzte Sprache. Jetzt spricht man draußen fast nur noch Englisch. Nicht das im Inneren vielsprachige Deutschland ist also das Problem, sondern die von Deutschen draußen akzeptierte Dominanz der Weltsprache. Deutsch trocknet nicht unbedingt in Deutschland aus, sondern in Europa bzw. der Welt. Kann oder soll man da entgegensteuern? Seit Jahrzehnten wird diese Frage öffentlich diskutiert. Ungezählt die Kolloquien, Verlautbarungen, Artikel. Ich greife eine Diskussion heraus, an der ich selbst teilnahm.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Interessanter als die »richtige« Zählung ist ohnehin etwas anderes. Aus europäischer Sicht stellen wir uns Sprachen in einer irgendwie normalen regionalen und quantitativen Verbreitung vor und denken an Französisch, Englisch, Italienisch oder unser Deutsch. In der Welt sieht es aber anders aus. Die meisten Sprachen werden von nur wenigen Tausend gesprochen, nur gerade einmal 300 sind Millionensprachen. Und dann kommen erst die Klein- und Kleinstsprachen. In Papua-Neuguinea gab es 1996 bei gut vier Millionen Einwohnern drei Amtssprachen (Englisch, Tok Pisin und Motu), aber insgesamt 826 Klein- und Kleinstsprachen. Haarmann listet sie penibel auf, und zwar nach Sprechergruppen von 900-1000, 800-900 und so fort bis zehn und weniger (mit fünf Fällen), dazu noch neun ausgestorbene Sprachen. In Australien, nach Haarmann dem größten »Sprachenfriedhof« der Welt, beträgt die Gruppe der Sprachen mit zehn und weniger Sprechern 105, bei einer langen Liste von Sprachen mit nur noch einem einzigen Sprecher (als ausgestorben sind 32 angegeben).
Wer diese Zahlen liest, wird leicht Prognosen trauen, die den »Sprachentod « in gigantische Höhen treiben. 90 Prozent sollen es noch in diesem Jahrhundert sein, angetrieben von der Globalisierung im Allgemeinen und der Weltsprache Englisch im Besonderen. Der Tod letzter Sprecher ist den Zeitungen oft eine Meldung wert, verbunden mit der untergründigen Frage, wann auch wir so weit sind. Einmal abgesehen vom baren Unsinn dieser rein der Sensationslust geschuldeten Unterstellung (bei derzeit mehr als 100 Millionen deutschen Muttersprachlern), legen unvoreingenommene Beobachtungen etwas anderes nahe. Gewiss, Sprachen sterben, nach Haarmann könnten es im
21. Jahrhundert tatsächlich 40 Prozent sein, darunter natürlich besonders jene Kleinstsprachen mit wenigen oder nur einem einzigen Sprecher, der sich tatsächlich nur noch mit seinen Ahnen unterhalten kann. Aber Sprachen sterben nicht nach abstrakten statistischen Gesetzen. Nicht nur, dass totgesagte Sprachen wiederbelebt wurden wie etwa das zuletzt nur noch rituelle Sanskrit in Indien (das nun sogar in Filmen verwendet wird) oder das Hebräische als das moderne Hevrit in Israel. Die Sprachenpolitik von Großmächten, die so häufig in der Geschichte auf Nivellierung und Verdrängung aus war, ist häufig auch gescheitert. Die Sowjetunion etwa, um ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit zu nehmen, betrieb eine systematische Sprachenplanung angesichts der zahlreichen Sprachen in ihren asiatischen Teilen. 1970 sprachen 41,8 Prozent ihrer Bürger Russisch als Zweitsprache, neun Jahre später bereits 61,2 Millionen. Aber ein Land wie Kasachstan, in dem Russisch erste Amtssprache war, hat sofort nach der Perestroika das Ruder herumgeworfen. Nach dem Zerfall des Warschauer Paktes regten sich überall die lokalen Sprachen und fanden zurück zur Verwendung als alleinige Amtssprachen (wie etwa in Estland).
Ein anderer Wettstreit beim Eurovision Song Contest
Die Globalisierung, das ist die wichtige Botschaft, tendiert zur Vereinheitlichung, fördert die eine Weltsprache Englisch. Aber die Globalisierung erzeugt auch einen gegenläufigen Trend: die Regionalisierung, die sich sprachlich als Selbstbehauptung äußert und dazu die Sprache als ein Merkmal oder Symbol benutzt. Dies geht so weit, dass neue Sprachen entstehen wie im Falle des Serbischen und Kroatischen. Hier schrieben die Serben lange Zeit das gemeinsame Serbokroatisch lediglich in kyrillischer (russischer) Schrift, die Kroaten in lateinischer. Heute sind daraus zwei verschiedene Sprachen entstanden oder befinden sich in der Auseinanderentwicklung. Kein Zweifel, dass sich damit Tendenzen des 19. Jahrhunderts auch im 21. wiederholen, dass sich hier Vaterländer und Muttersprachen zur Einheit verbinden, Sprachen also wieder einmal oder immer noch Politik machen. Und es gibt sogar das noch bedrohlichere Erbe des 19. Jahrhunderts, den (auch) durch Sprachen bedingten Krieg, wie wir ihn im Kosovo kennengelernt haben. Die hier lebenden Albaner waren von der serbischen Sprache dominiert, so dass Albanisch zum Symbol des Widerstands wurde.
Welche Folgerungen soll man daraus für die Sprachenvielfalt in der Welt ziehen? Sind die vielen Sprachen ein Hindernis für ein Zusammenleben, ein Keim von Konflikten? Im Extremfall ja, aber es gibt auch andere Antworten auf das Problem. Im ehemaligen sowjetischen Machtbereich ist man von Unterdrückung zu vorsichtiger Förderung übergegangen. Ein anderes Beispiel wäre Australien, wo ebenfalls eine Politik der Dominierung der indigenen Sprachen von einer Politik ihrer Anerkennung und Unterstützung abgelöst wurde. Die Sprache der Aborigines wird mittlerweile in den Schulen unterrichtet. Haarmann berichtet vom Extremfall des Saamischen (der sogenannten »Eskimos«) als einer Kleinsprache im Norden Europas, die in der finnischen Provinz Lappland bei 2400 Sprechern Amtssprachenstatus genießt und (weltweit einmalig) bei schriftlichen Zulassungsprüfungen an Universitäten verwendet werden darf. Auch die Abstimmung der Schweizer über die Anerkennung des (dem Lateinischen nahestehenden) Rätoromanischen im Jahre 1938 als vierte Amtssprache gehört zu diesem offenbar weltweiten Trend einer Anerkennung von Sprachen in Analogie zu den Menschenrechten.
Die Sprachenvielfalt - so ließe sich zusammenfassen - ist ein Faktum, das auf absehbare Zeit unsere Welt prägen wird. Die Konsequenzen daraus sind unterschiedlich, sie reichen vom Sprachenkampf bis zu Anerkennung und Förderung. Auf jeden Fall ist die Welt vielsprachig und sucht Lösungen für diese Vielsprachigkeit. Der eine Megatrend liegt in der Annäherung der Sprecher in Form einer Entscheidung für Zweisprachigkeit, in der Regel für das Erlernen der Lingua franca oder Brückensprache Englisch. Der andere Megatrend liegt in der Behauptung der je eigenen Sprache als Begründung von Identität, von lokaler Kultur, die das Sozialverhalten steuert und künstlerische Kreativität fördert. Beim Eurovision Song Contest 2012 in Baku (Aserbaidschan) konnte man nicht nur den Wettkampf der Sängerinnen und Sänger, sondern auch den zwischen den beiden Megatrends beobachten. Der erste Platz ging an die Schweden, die wie die meisten Kandidaten (auch die deutschen) auf Englisch sangen. Den zweiten Preis aber heimsten die Buranowskije Babuschki ein, die Großmütter aus Buranowo in Udmurtien westlich des Ural, die ihre vom Aussterben bedrohte finnougrische Sprache nicht nur benutzten, sondern mit dieser Benutzung für sie warben. 120 Millionen hatten das Ereignis am Bildschirm verfolgt und abgestimmt. Die größere Verbreitung genießt zweifellos der erste Megatrend, die größere Sympathie aber gehört ebenso zweifellos dem zweiten.
Sprachen in Deutschland
Zahlen vom Statistischen Bundesamt
Man kann es auch so sagen: Die vielen Sprachen stören und sind doch unverzichtbar. Wie löst man das Dilemma?
Schauen wir uns dazu einige Fakten in unserer direkten Umgebung an. Gut, die Welt ist vielsprachig, in fernen Kontinenten vor allem. Schon in Europa sieht es besser aus, auch wenn man über die vielen Sprachen etwa im Balkan einmal hinwegsieht, die die Gesamtzahl in Europa nach Haarmann immerhin auf 143 hinauftreiben (anderswo rechnet man mit 70). Aber Europa ist auch noch insofern eine Ausnahme, als hier die meisten Sprachen miteinander eng verwandt sind. Während zum Beispiel die vielen Sprachen in Papua-Neuguinea völlig unterschiedlichen Sprachstämmen angehören, dominiert in Europa eine gemeinsame Wurzel, die als Indogermanisch oder Indoeuropäisch bezeichnet wird. Man nimmt an, dass Europa von Völkern besiedelt wurde, die aus dem alten Zweistromland (dem heutigen Irak) stammten und sowohl nach Norden (Europa) wie nach Süden (Indien) vordrangen. Die Verwandtschaft wurde im 19. Jahrhundert entdeckt und führte zu einer Blüte der Sprachwissenschaft. Auf einfachste Weise merkt man die Zusammenhänge an Wortgleichungen wie der Zahl »drei« mit englisch three, französisch trois, italienisch tre usf. Es gibt heute den neuen Forschungszweig einer Eurolinguistik, der nicht mehr nach der gemeinsamen Herkunft der Sprachen fahndet, sondern ihre gemeinsame Entwicklung beobachtet: eine Art Herausbildung von Eurisch für Europa. Wir leben jedenfalls in Europa in einer sprachlich vergleichsweise homogenen Weltgegend.
Nur darf man sich nicht täuschen: Selbst in einem einzelnen europäischen Land wie Deutschland ist die Sprachenvielfalt groß, größer, als es sich die meisten wohl vorstellen. Dies hängt mit den modernen Migrationsverhältnissen zusammen, die Deutschland zu einem multikulturellen und eben auch multilingualen Land gemacht haben wie andere große Industriestaaten auch. Das Statistische Bundesamt bzw. der Ausländerbeauftragte der Bundesregierung legt regelmäßig Zahlen vor, die die schwer zu handhabende Charakterisierung von »Menschen mit Migrationshintergrund« differenzieren. Nach dem Stand vom Dezember 2011 sind es 15,3 Millionen, ohne Berücksichtigung derjenigen in zweiter oder dritter Generation. 6,7 Millionen davon sind »Ausländer« (Personen ohne deutschen Pass), die Deutsch sprechen oder lernen, auf jeden Fall aber auch ihre eigene Sprache mitbringen. 31 Prozent stammen aus EU-Ländern: 520 159 Italiener, 468 481 Polen, 283 684 Griechen, 223 014 Kroaten, um nur die größten Gruppen zu nennen. Dabei sind die Herkunftsländer oft mit mehr als nur einer Sprache vertreten. Bei den Italienern gibt es Albanischsprecher und Sizilianer mit jeweils ausgeprägten Dialekten. Bei den Spaniern haben die Katalanen den Rang einer eigenen Amtssprache bei der EU durchgesetzt. Natürlich bringen auch Personengruppen aus dem EU-Raum, die ganz jenseits einer »Gastarbeiter«-Tradition stehen, ihre Sprachen mit: Franzosen, Engländer, Belgier, Niederländer (zum Beispiel im Rahmen militärischer Verbände).
Von den »Gastarbeitern« (Personen mit deutschem Pass also nicht mitgerechnet) stammen die meisten nicht aus der EU. Die größte Gruppe wird mit gut 1,6 Millionen von den Türken gebildet. Mit 63 037 Marokkanern und 23610 Tunesiern kommen »kleinere« Gruppen hinzu. In allen diesen Fällen aber sind die sprachlichen Verhältnisse äußerst kompliziert. Unter den Sprechern mit türkischem Pass befinden sich zum Beispiel Azeri, Kurden und Personen mit iranischen Sprachen wie die Zaza. Die Kurden mit ihrer indogermanischen Sprache (die also keinerlei Verwandtschaft zum Türkischen aufweist) machen allein ca. 500 000 Personen der türkischen Bevölkerung in Deutschland aus. Weiter sind unter den Türken Aramäer mit einer semitischen oder Lazen und Tscherkessen mit einer kaukasischen Sprache vertreten, schließlich noch Armenier. Unter Inhabern eines marokkanischen Passes verbergen sich Berber, die traditionell zweisprachig sind, neben der (nur von etwa 50 Prozent beherrschten) hocharabischen Schriftsprache ein marokkanisches Arabisch sowie Französisch sprechen. Zu diesem Personenkreis kommen Bürgerkriegsflüchtlinge: Albaner (meist aus dem Kosovo, also dem ehemaligen Jugoslawien), Bulgaren, Makedonier, Rumänen, Slowaken, Slowenen, Tschechen, Ungarn - überwiegend mit einigen Zehntausend Personen (die Rumänen mit 159 222).
Aus unterschiedlichen Gründen sind zahlreiche weitere Gruppen mit teilweise wenigen tausend Mitgliedern vertreten, die nur kurz aufgezählt seien: aus Nordeuropa Esten, Finnen, Letten, Litauer; aus dem Nahen Osten Libanesen, Ägypter, Iraker, Jordanier, Palästinenser; aus Afrika Algerier, Äthiopier, Eritreer, Somalier, Bewohner des Tschad; aus dem Kaukasus Georgier und Armenier. Indogermanische Sprachen außerhalb Europas sprechen Iraner, Afghanen, Pakistaner, Chilenen, Kolumbianer, Bolivianer, Brasilianer. Aus China werden Mandarin sowie Kantonesisch genannt. Von den Philippinen und Indien bringen Sprecher die außerordentliche Sprachenvielfalt ihrer Herkunftsländer mit. Weiter sind zu nennen: Japaner, Koreaner, Tamilen, Thailänder, Vietnamesen (diese allein mit 83 830 Vertretern). Aus zahlreichen afrikanischen Ländern stammen englisch-, französisch- oder portugiesischsprachige Personen sowie Vertreter mit Afrikaans. Schließlich werden Israelis, Kanadier, Norweger, Schweizer und US-Amerikaner aufgeführt.
Als letzte Gruppe gibt es die »Volksdeutschen«, die in den Statistiken nicht als Fremdsprachler geführt werden, obwohl sie vielfach (vor allem in der zweiten Generation) das Deutsche nicht oder nicht ausreichend beherrschen: insgesamt vier Millionen vor allem aus Russland und Polen. Auch hier vergrößert sich die Sprachenvielfalt, wenn man ins Detail geht und Weißrussisch, Ukrainisch sowie Vertreter einiger Turksprachen mit einbezieht. Insgesamt sind in Deutschland Menschen aus etwa 140 Staaten registriert, wobei die Zahl der gesprochenen Sprachen aus den genannten Gründen noch höher liegt. Deutschland ist also eines der großen Einwanderungsländer der Welt und hat sich im Zuwanderungsgesetz von 2004/05 zu einer »nachholenden Integration« verpflichtet. Die Frage stellt sich natürlich: Welche Folgen hat eine solche Sprachenvielfalt für das Einwanderungsland? Wo liegen die Probleme und wie kann man damit möglichst sinnvoll umgehen?
Loyalitätsprobleme und Hybridkulturen
Um das Wichtigste vorwegzunehmen: Auch wenn die Gleichung »ein Land, eine Sprache« weder in Deutschland noch in vergleichbaren Ländern nie stimmte - man denke nur an die Dänischsprecher in Schleswig-Holstein oder die Sorben in Sachsen -, hat es wohl auch noch nie eine derartige Durchmischung mit Sprachen aus (fast) aller Welt in einem Land gegeben. Nur: Diese Sprachenvielfalt ist Ergebnis und Ausdruck der gesellschaftlichen Entwicklung moderner Industrieländer mit entsprechender Anziehungskraft und Arbeitskräftebedarf. Dabei treten nun ganz verschiedene Probleme auf. Die Sprachloyalität zur Herkunftssprache und die Lernbereitschaft für die Gastgebersprache können zum Beispiel höchst unterschiedlich ausfallen. Man hat bei türkischen Frauen beobachtet, dass nach einer ersten Phase des Spracherwerbs der weitere Ausbau ins Stocken gerät oder gar rückläufig ist, wenn zu Hause weitgehend Türkisch gesprochen und in der näheren Umwelt eine stark reduzierte Sprachfähigkeit akzeptiert wenn nicht geradezu erwartet wird (polemisch: »Tarzan-Deutsch«). Auch bei der Generationenfolge verläuft der Erwerb der deutschen Sprache wiederum bei Türken oft nicht erwartungsgemäß. Während die zweite Generation als »Lerngeneration« gilt, können bei der dritten angesichts mangelhafter gesellschaftlicher Integration auch die Sprachbiographien zwiespältig ausfallen - mit teilweiser Rückkehr zum Türkischen.
Es gibt also einen gravierenden Unterschied zu traditionellen Migrationsverhältnissen, die in der Regel mit einem Bruch gegenüber der Herkunftsgesellschaft verbunden waren. So kennt man es etwa von den (nach der letzten polnischen Teilung aus der preußischen Provinz Posen stammenden und deshalb mit deutschem Pass versehenen) »Ruhrpolen«, die im 19. Jahrhundert angeworben wurden und sich so stark integrierten, dass heute kaum mehr als die Namen überlebten. Die moderne Migration lässt sich eher unter dem Begriff der »Transnationalität « fassen: einer Überbrückung des Nationalen, die das frühere Entweder-Oder ablöst. Dabei tauchen Probleme nicht nur für das Einwanderungs-, sondern auch für das Herkunftsland auf. Wiederum das Türkische ist ein Beispiel für das »Diaspora«-Phänomen: die allmähliche Trennung von der Sprachentwicklung im Herkunftsland mit der Folge eines »Auslands«-Türkisch, das im Nahbereich der Familie überlebt bzw. in der Form der Sprachmischung aufrechterhalten wird. Man sieht an diesem Punkt einmal mehr, dass sich das traditionelle Konzept von Vaterland und Muttersprache unter Migrationsbedingungen auflöst bzw. tiefgreifend verwandelt. Man kann von Hybridkulturen, entsprechend von verschiedenen »Ausbaustufen« von Sprachen sprechen: Im Nahbereich der Familie wird anders gesprochen als auf der Straße und wieder anders als in Behörden. Daran muss sich das Lernangebot in den Schulen ausrichten, an vorhandene Kenntnisse anschließen und neue ermöglichen.
Das sind schwierige und schon sehr spezielle Probleme. Unser Fazit fällt im Augenblick bescheidener aus: Deutschland ist kein einsprachiges Land. Nach dem Motto »Deutschland schafft sich ab« ist das als Bedrohung an die Wand gemalt worden. Nach dem Blick auf die Sprachenverteilung in der Welt liegt eine andere Folgerung nahe: Deutschland ist ein normales Land unter Bedingungen von Modernität und Globalisierung. Die Hausaufgaben sind in diesem Punkt zweifellos noch nicht erledigt. Aber es droht ja eine andere und womöglich größere Gefahr. Sie liegt nicht in der inneren Mehrsprachigkeit, sondern in der Konfrontation mit der Weltsprache Englisch. Das Deutsche wird möglicherweise weniger von innen ausgehöhlt als von außen in seinem Status geschmälert. Dann heißt es: Deutsch war einmal eine geachtete und auch im Ausland vielbenutzte Sprache. Jetzt spricht man draußen fast nur noch Englisch. Nicht das im Inneren vielsprachige Deutschland ist also das Problem, sondern die von Deutschen draußen akzeptierte Dominanz der Weltsprache. Deutsch trocknet nicht unbedingt in Deutschland aus, sondern in Europa bzw. der Welt. Kann oder soll man da entgegensteuern? Seit Jahrzehnten wird diese Frage öffentlich diskutiert. Ungezählt die Kolloquien, Verlautbarungen, Artikel. Ich greife eine Diskussion heraus, an der ich selbst teilnahm.
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Autoren-Porträt von Karl-Heinz Göttert
Karl-Heinz Göttert, geboren 1943, studierte Geschichte und Deutsch an der Universität zu Köln, promovierte und habilitierte sich dort und lehrte ebenfalls dort bis zu seiner Emeritierung als Professor für Ältere Deutsche Literatur. Im S.Fischer Verlag ist zuletzt 'Abschied von Mutter Sprache. Deutsch in Zeiten der Globalisierung' (2013) erschienen sowie 'Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik' (2015).
Bibliographische Angaben
- Autor: Karl-Heinz Göttert
- 2013, 1. Auflage, 368 Seiten, Maße: 14,6 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100297156
- ISBN-13: 9783100297150
- Erscheinungsdatum: 20.08.2013
Rezension zu „Abschied von Mutter Sprache “
Karl-Heinz Göttert gilt als Kenner der Geschichte der deutschen Sprache - und versteht es, anschaulich darüber zu sprechen. Lukas Ondreka Spiegel Online 20131121
Pressezitat
Karl-Heinz Göttert gilt als Kenner der Geschichte der deutschen Sprache - und versteht es, anschaulich darüber zu sprechen. Lukas Ondreka Spiegel Online 20131121
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