Afghanische Reise
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Willemsen beobachtet ein Land, das erste Schritte in den Frieden wagt, sich sammelt, Lebensfreude gewinnt und diese auch zeigt. Er spricht mit einfachen Frontsoldaten, Kommandanten und Generälen, trifft Drogenschmuggler, Nomaden und Weise, begegnet Verstörten und Traumatisierten, Menschenrechtlerinnen und Häftlingen, ehemaligen Mudschaheddin und Taliban-Funktionären, Fußballerinnen und Musikern. Er besucht Fabriken, Märkte, Schulen und den Ältestenrat eines Dorfes, ist Gast bei einer Verlobungsfeier und inszeniert eine Kinovorführung für Frauen und Kinder. Er überquert den lebensgefährlich verminten Salang-Pass, besucht die schwer zugänglichen Dörfer der Tadschiken, trifft turkmenische Kamelhirten in der Steppe und gelangt schließlich an die Ufer des mythischen Flusses Oxus, der die Grenze Afghanistans zu Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan bildet.
Am Ende ist Roger Willemsens Buch weit mehr als der persönliche Bericht von einer faszinierenden Reise, sondern eine literarische Betrachtung der Grundlagen allen Reisens und eine Suche nach dem Eingang in die Fremde.
Afghanische Reise von Roger Willemsen
LESEPROBE
Kabul wächst rapide, mit seinenimmer neuen Heimkehrern, Land- und Kriegsflüchtlingen. Schon plant man imNorden eine neue Metropole, um Kabul zu entlasten.
Die Geschwulst der Stadt aber trägtden Spottnamen »Warlord City«, ein eigenesRohbau-Viertel, finanziert vom Blutgeld afghanischer Soldaten, gebaut im protzigen,manieristisch-überladenen Stil pakistanischer Bauherren,das Luxus-Ghetto der Warlords, verachtet von allen.
Schon kaufen die WarlordsStrohmänner für die Wahl, schon ist von Marionetten-Parlamentariern die Rede,wohingegen der Kandidat, der das Thema Ehescheidung auf die Agenda brachte,ausgeschlossen wurde, weil sein Anliegen gegen islamisches Recht verstoße.
Warlord City liegt menschenleer. Auf denunbefestigten Wegen lagern, wie zur Erinnerung an die Vergangenheit derAnlieger, drei ausgebrannte übereinander geschobene Panzer.
Der amerikanische Mitarbeiter einerHilfsorganisation moniert im Gespräch, dass die Bettler auf der Chicken Streetihre Geschichten nur immer so monoton herunterleierten. Findet er, die Bettlerkönnten sich mehr Mühe geben, um ihr Rollenfach nicht nur routiniert undfatalistisch zu bedienen? Aber was, wenn sie so besessen von dieser einenGeschichte sind, dass sie keine Variation erlaubt, noch dazu, da sie dieGeschichte so vieler ist?
Ein ehemaliger Bewohner derFlüchtlingslager im pakistanischen Peschawar erzählt, er habe dort Frauengetroffen, die ausschließlich über kosmetische Chirurgie redeten. Die letzteBastion aller Wünsche, etwas zu verändern, ist der eigene Körper. Er isterreichbar. Also werden nach den Handys die Fitness-Studios kommen samt denSchönheitsdoktoren. Auch das ein Indiz für dieseparate, in unterschiedlichen Entwicklungslinien verlaufende Erziehung der Exilierten.
Nadia im Hotelfoyer, mit Mirwais telefonierend, der noch einige Sachen auf dem Basarbesorgen muss:
»Mirwais,halt mal eben das Telefon raus, ich will den Basar hören!«
Afghaniyar: ein Sammelausdruck für dieHeimatliebe, den Stolz, die Ehre, die Hochschätzung des lokalen Lebens, dieAnhänglichkeit der Afghanen an ihre Heimat. Inzwischen ist sie Teil einerKultur, durch die sich die Exil-Afghanen selbst von den nicht exilierten unterscheiden. Es ist ein Unterschied, ob mansein Land im Medium des Heimwehs entbehrt oder es liebt, indem man an seinertäglichen Realität verzweifelt.
Unter den Kandidatinnen für dieParlamentswahl ist auch eine afghanische Exilantinaus der deutschen Provinz. Sie hat dort vier Kinder, findet aber die Arbeit inihrer Heimat zu wichtig, um aus der Ferne zuzuschauen. Sie erhält vieleStimmen, die man ihr aber abzukaufen versucht. Es kursieren Gerüchte, nachdenen sogar schon die UN als Stimmkäufer für die USA aufgetreten sind, und auchdie Warlords und Söldnerführer haben längst gekaufteKandidaten im Parlament. Das Vertrauen schwindet, über die Wahlbeobachter wirdgelächelt, und kundige Leute sehen die Chancen für die neue demokratischeVerfassung des Landes bei fünfzig Prozent. Scheitert sie, werden die Warlords, die Drogenbarone und die Strohmänner übernehmen.
Der US-Stützpunkt in der Stadtbesitzt einen fünffachen Wall aus Betonplatten, steinernen Hindernissen, Schutzmauern,NATO-Draht. Im Lauf der Monate kommen immer neue Wälle hinzu, der letzte alseine eigene Ummantelung gegen Selbstmordattentäter.
Auch das ist der Krieg: Man erlebtdie Geburt eines Staates von Anfang an, um Wasserversorgung geht es, umHygiene, Verkehr, Strom, Logistik, Infrastruktur.
Instand gesetzt werden zuerst dieMoscheen, hochgerüstet zuerst die Bunker.
Ein weiträumiger Platz am Stadtrand,darüber verstreut Fußballtore, dazwischen weidende Kühe. Von irgendwo wimmerndeMusik. Die Straßenkinder in Staub gewälzt mit igelartig hochstehendenFrisuren, jede Strähne einzeln staubergraut, in denHänden Sandaletten, angefressene Fingerbrotfladen, einen leeren Kanister.
Diese Kindergesichter sind, wie ichnie welche gesehen habe, zugleich kindlich, im stürmischen Temperamentdauernd begeistert, und zugleich alt, mit Tränensäcken und tief eingefressenenFalten um die Augen, um die Mundlinien. Alte Weiber in Kinderkörpern, mit staubgetuschtenWimpern. Auf einem Areal von über einem Quadratkilometer stürzen sie sich aufjede fremde Erscheinung, mal mit dem Schuhputzkasten, mal mit demWasserkanister, aus dem sie Trinkflaschenmengen abfüllen, mal nur ausNeugierde, mal in der Hoffnung, etwas, irgendetwas zu erbeuten. Sie sind vielleichtacht Jahre alt, häufig jünger, verstehen sich aber schon auf das Mitleiden, aufdas Schuhmacherhandwerk und die Kunst des Überlebens.
Auf der anderen Seite des Feldesliegt hinter einem Betonbau das große Sportstadion. Hier dürfen die Kinder dieAthleten mit Wasser versorgen und bekommen eine Kleinigkeit dafür. Das Brothaben sie ausländischen Soldaten für fünf Afghaniabgekauft. Noch stillen sie damit den eigenen Hunger.
Diese Kinder wohnen weit weg, sehenaber im Moloch der Stadt ihre besten Überlebensmöglichkeiten. Morgensbesteigen sie den Minibus für zwei Afghani. Wenn sienicht bezahlen können, bekommen sie zwei Backpfeifen und fliegen raus.
»Kennt ihr eigentlich dieFußballerinnen, die hier trainieren?«
»Wir waren sogar schon in ihrenBüros.«
Der Anführer blickt kühn. Er kenntalle Spielergebnisse der Männer- und der Frauenmannschaft, hätte auch selbstgerne gespielt, »aber mein Vater ist tot, und ich muss zum Erhalt der Familiebeitragen«.
Wir lassen uns von ihm ins Stadionführen, einen geschundenen Ort. Er beobachtet unsere Gesichter, sagt dann:
»Für euch sieht das dreckig aus, fürmich ist es das Paradies.«
In dem Acht-Quadratmeter-Raum imÜbungshaus, ausgelegt mit Matten, laufen zwei Männer ausdauernd im Kreis.
»Das sind die Boxer«, sagt derKleine mit Ehrfurcht.
Im oberen Stock eine freundlicheBegegnung mit dem afghanischen Trainer der Frauenmannschaft und dem deutschen Supervisor. Der afghanische Betreuer ein
»Fußballverrückter«, mit seinemdunklen Schnäuzer und seiner adidas-Jackeein Wiedergänger aus dem Fußballdeutschland dersiebziger Jahre. Daheim ist der Schnäuzer längstausgestorben. Der Trainer erweist sich als ein Enthusiast, dessenFreundlichkeit auf seiner Trauer schwimmt. Er bereist das ganze Land auf der Suchenach Talenten, bemüht, auch in anderen Provinzen zu trainieren. Im Norden, vonwo er eben heimgekehrt ist, hat man vor einem halben Jahr noch eine Fraugesteinigt. Der Fußball ist auch eine Antwort.
Wir werden in ein Zimmer geführt,das auf zwei Seiten von geschlossenen Vorhängen umgeben ist und so fast wieein Zelt wirkt. An der Wand Plakate der dreimaligen Weltfußballerin des JahresBirgit Prinz, die hier vor kurzem ein Training mit den Spielerinnen absolvierte.Sie hat sich viel Freundschaft, viel Respekt unter den Afghanen erworben.Körperlich wirkt sie wie eine Kampfmaschine gegen die zarten, klein gewachsenen,eher unterernährten drei Spielerinnen, die jetzt in das Trainer-Büro kommen:die Erste mit schwitzenden Händen, asiatischem Gesicht, Kopfschleier, dieZweite mit der rauen Haut und der Gesichtsröte aller, die draußen schlafen, dieDritte ein Porzellandämchen mit fein gezeichneten Zügen, Türkisschmuck, verrutschtemKopfschleier und unschuldiger Koketterie. Dies also sind dreiFührungsspielerinnen, drei aus elf Clubs in Kabul, die sich demnächst gegenMannschaften aus immerhin drei afghanischen Provinzen werden behaupten müssen.
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© S. Fischer Verlage
- Autor: Roger Willemsen
- 2006, 2. Aufl., 224 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100921038
- ISBN-13: 9783100921031
- Erscheinungsdatum: 27.02.2006
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