Alice, wie Daniel sie sah
Für den obdachlosen Daniel ist jeder Buchstabe mit einer Farbe verbunden. Seit Jahren streift er durch London und sammelt Papierschnitzel und andere achtlos weggeworfene Dinge in den Farben, die den Namen seiner Tochter bilden: Eisblau für A, Gold...
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Produktinformationen zu „Alice, wie Daniel sie sah “
Klappentext zu „Alice, wie Daniel sie sah “
Für den obdachlosen Daniel ist jeder Buchstabe mit einer Farbe verbunden. Seit Jahren streift er durch London und sammelt Papierschnitzel und andere achtlos weggeworfene Dinge in den Farben, die den Namen seiner Tochter bilden: Eisblau für A, Gold für L, Rosa für I, Dunkelblau für C, Grau für E - Alice. Daraus formt er kleine Kunstwerke, die er für sie in der Stadt verteilt. Daniel hat seine Tochter noch nie getroffen. Bis ihm der Zufall eines Tages ihre Adresse zuspielt."Ein Buch, das voller Hoffnung funkelt." Independent on Sunday
Lese-Probe zu „Alice, wie Daniel sie sah “
Alice, wie Daniel sie sah von Sarah Butler Zehn Dinge, die ich meinem Vater sagen werde
1. In Singapur habe ich einen Mann kennengelernt, der so roch wie du - nach Zigarettenrauch und Wildleder.
2. Ich erinnere mich an diesen Urlaub in Griechenland - Ruinen ohne Ende, und du musstest wieder und wieder den Unterschied zwischen dorischen, ionischen und korinthischen Säulen erklären.
3. Ich wünschte, du hättest von Mama erzählt. Ich wünschte, du hättest etwas von ihr aufbewahrt.
4. Ich habe immer noch das Buch, das du mir zum zehnten Geburtstag geschenkt hast, als ich Astronautin werden wollte: Eine Reise durch das Sonnensystem.
5. Ich weiß, du hast immer gehofft, einer von uns würde Arzt werden wie du.
6. Ich träume oft, dass ich vor deinem Haus stehe. Drinnen wird eine Party gefeiert. Ich kann die Leute reden und lachen hören. Ich klingele, und du brauchst eine Ewigkeit, bis du aufmachst.
7. Ich war es, die das Foto aus deinem Arbeitszimmer gestohlen hat.
8. Ich habe dich ausspioniert, dich bei der Gartenarbeit beobachtet, in deinem Sessel oder am Schreibtisch, mit dem Rücken zur Tür. Ich wollte immer, dass du dich umdrehst und mich entdeckst.
9. Es tut mir leid, dass ich so selten da war.
10. Bitte, du darfst nicht ...
... mehr
Mein Vater wohnt allein in einem Nobel-Reihenhaus in der Nähe von Hampstead Heath. Die Häuser dort sind geleckt und protzig, die plattierten Einfahrten gleichen langen, teuren Zungen, die Mauern sind gerade hoch genug, dass keiner drübergucken kann. Man sieht nichts als Erkerfenster, schwere Vorhänge, Klematis und Glyzinien. Ich stelle mich in die Taxischlange vorm Ankunftsterminal und rauche während der Wartezeit drei Zigaretten. Als ich endlich an der Reihe bin, ist mir vom Nikotin ganz schlecht und schwindelig, und ich ducke mich in den Wagen. Der Fahrer hört Mozarts Requiem. Ich will ihn bitten, es auszustellen, weiß aber nicht, wie ich ihm erklären soll, warum, und so strecke ich meine Füße dahin, wo mein Gepäck stehen sollte, lege den Kopf an den Türrahmen und schließe die Augen. Ich versuche mich an die genaue Farbe meines Rucksacks zu erinnern: Es muss eine Art schmutziges Marineblau sein. Seit Jahren trage ich das Ding mit mir herum, da sollte ich wissen, was für eine Farbe es hat. Drinnen sind Jeans, Shorts, Trägerhemden und ein wasserdichter Mantel, zehn Packungen russische Zigaretten und ein Paar bestickte Schlappen für Tilly. Mascara und eine fast leere Tube Lipgloss. Dazu ein fast perfekt runder Stein, den ich aufgesammelt habe, um ihn Kal zu schenken, und dann habe ich mich verflucht, weil ich heulen musste. Ein unbenutzter Rough Guide to India, eine Kopflampe und ein Foto von uns allen mit meiner Mutter. Es stammt aus einer Zeit, an die ich mich nicht erinnern kann, und es ist das Einzige, was ich wirklich vermissen würde. Wir kommen zu früh an. Ich bezahle den Fahrer und trete auf den Bürgersteig. Als er losfährt, will ich die Hand ausstrecken und sagen, halt, ich hab's mir anders überlegt, fahren wir weiter, egal wohin, und dann sitze ich wieder im Taxi, die Zeit ist ausgehebelt, und draußen zieht London vorbei. Elf Stufen führen hinauf zum Haus meines Vaters. Unten stehen zwei krank aussehende Bäume in dicken, blau glasierten Kübeln. Ein mächtiger Lorbeerbaum verstellt einen Großteil des vorderen Fensters, aber ich sehe trotzdem nach ihm, auf dem Sofa, mit einer verglühenden Zigarette in der Hand. Er ist nicht da. Mein Magen schmerzt, mein Mund schmeckt nach Sägemehl und Schlaf. Ich rupfe ein Blatt von einem der Bäume in den Kübeln - es ist hellgelbgrün gefleckt - und zerreiße es der Länge nach. Die Haustür meines Vaters ist in einem dunklen Rotbraun gestrichen, das wirkt wie eingetrocknetes Blut. Zwei große geriffelte, von zartem, grünem Efeu umgebene Glasscheiben lassen kaum etwas von drinnen erkennen. Mit dreizehn hat er mich in eine Schule in Dorset geschickt. Ich weiß noch, wie ich nach dem ersten Halbjahr nach Hause kam. Er musste arbeiten, und deshalb holte Tilly mich ab. Nervös hielt sie das Lenkrad, ihr noch ganz neuer Führerschein lag im Handschuhfach. Dann stand ich auf genau diesem Treppenabsatz und sah auf die Messingklingel, die ich auch jetzt anstarre, und Tilly suchte nach ihrem Schlüssel. Mir kam die Tür so gar nicht wie unsere Haustür vor, und ich drückte auf die Klingel, um zu hören, wie sie von draußen klang. Ich hole eine Zigarette aus der Tasche, obwohl es keine Zeit zu verlieren gilt. Das Feuerzeug kratzt über meinen Daumen, und ich inhaliere zu schnell und huste, dünn wie ein Raucher, und lege die Hand auf die Brust.
Zehn Arten, wie andere mich beschreiben könnten
1. Ein Landstreicher.
2. Ein Faulpelz.
3. Ohne Zuhause.
4. Mit seinem Glück am Ende.
5. Ein Obdachloser.
6. Vertrieben.
7. Abschaum.
8. An den Rand gedrängt.
9. Missverstanden.
10. Ein Verirrter.
Ich bin ein alter Mann mit einem schwachen Herzen, daran besteht kein Zweifel. Und die Wahrheit ist, dass ich mich hier am Rand des Flusses mit all dem Matsch und dem Dreck mehr zu Hause fühle als auf feinen Plätzen wie dem bei der U-Bahn mit seinen leuchtenden Reklametafeln und Sicherheitsbeamten. Ich ziehe herum. Das ist meine Strategie, wenn ich denn überhaupt eine habe, und überall stelle ich mir dich vor. Ich habe kaum Anhaltspunkte, aber einiges kann ich erahnen: deine Haarfarbe, deine Größe, dein Alter. Und ich kenne deinen Namen. Ich könnte nach dir rufen, und du drehst dich um. Dann stünden wir hier, ließen die Fahrradfahrer vorbeirauschen, hörten die Boote wie Glocken aneinanderschlagen und würden reden. Letzte Woche, als ich dachte, ich würde sterben, konnte ich mich nur noch auf dich konzentrieren. Es ist nicht leicht, sich überhaupt auf etwas zu konzentrieren, wenn man denkt, da sitzt ein ausgewachsener Mann auf meinem Brustkorb, aber du hast mich da herausgeholt, wie du es immer tust.
Es war ein Stück flussaufwärts von hier, auf der Uferpromenade gegenüber vom Parlament, auf dem Stück beim Krankenhaus mit der hohen Mauer, wo die Enden der Bänke zu Vogelköpfen geschnitzt sind und man über den Fluss sehen kann. Ich war in Richtung Westen unterwegs und hatte den vagen Plan, bis zur Albert Bridge zu gehen und mir in einer ruhigen Ecke von Chelsea einen Platz für die Nacht zu suchen. Die Polizei ist da schwierig, aber wenn man nicht auffällt, lassen sie einen manchmal in Ruhe. Ich ging also einfach so vor mich hin. Der Arzt meinte, Aufregung kann ein Auslöser sein, wobei ich nicht sicher bin, ob ich an dem Tag tatsächlich besonders aufgeregt oder aufgewühlt war. Ich habe mich an die Mauer gelehnt und mir beide Hände auf die Brust gedrückt, mit Tränen in den Augen wie ein Kind und nicht wie ein Mann, der auf die sechzig zugeht und auf der Straße zu überleben weiß. Wenn du da gewesen wärst, so hoffe ich, wärst du gekommen und hättest gefragt, ob alles in Ordnung sei, aber du warst nicht da, und ich bin es gewöhnt, dass sich die Leute nicht interessieren. Ich stand also da, sah auf den Fluss und dachte an dich, und dass du womöglich schon tot bist. Die Welt ist schließlich voller Gefahren. Verkehrsunfälle lauern auf dich, Messer, Blutgerinnsel, Krebs. Ich sah auf den Fluss, dachte, wie alles hätte sein können, und hatte Angst, jeden Moment tot umzufallen. Wahrscheinlich ist es nicht überraschend, dass ich die Fassung verlor. Ich habe nicht losgeschrien oder gebrüllt - das ist nicht meine Art, und wenn man wie ich lebt, ist es sowieso eher angebracht, den Kopf unten zu halten. Nein, ich habe einfach losgeheult wie ein Baby. Verstehe mich nicht falsch, ich bin nicht immer so. Ich trinke ganz gerne was und scherze herum. Im Übrigen mag ich es, auf dem Bürgersteig zu liegen und zu den Sternen aufzusehen. Es war nur so, dass ich dachte, ich hätte einen Herzinfarkt und würde sterben, ohne dich zu finden. Ich musste auch an sie denken, an sie und ihren scharlachroten Namen. Einmal sind wir übers Wochenende weggefahren, nach Brighton. Gestohlene Zeit. Perfekt. Wir haben Eiscreme und Fish and Chips gegessen, und wir ... es fühlt sich falsch an, dir das zu erzählen, aber wir liebten uns in einem heruntergekommenen Hotel mit Meeresblick. Ich würde lügen, wenn ich sagte, es war perfekt. Es war grau und trist. Ich wurde wütend, und es gab harte Worte in unserem geborgten Zimmer. Ihre Augen schlossen sich, und ihre Lippen verhärteten. Ich denke, es war auch für sie nicht leicht. Wenn ich mich einmal verliebt habe, ist es mir so gut wie unmöglich, da wieder herauszukommen. Das habe ich gelernt, und es macht das Leben nicht unbedingt leichter.
Ich halte nicht viel von Ärzten, aber nach dieser Geschichte, da am Fluss, bin ich zu einem gegangen. Die Praxis roch nach neuem Teppich, süß und scharf. Ich setzte mich neben eine Frau in den Vierzigern, und sie stand auf und wechselte auf die andere Seite des Raumes. Ich versuche mich von solchen Dingen nicht stören zu lassen, also griff ich nach ein paar Zeitungen und begann, in ihnen nach dir zu suchen. Ohne Erfolg. Der Name der Ärztin hatte die Farbe von sonnengewärmtem Sandstein. Sie hatte gütige Augen, und ihre Hände waren weich und kühl. Es ist ganz natürlich, dass Sie erschrocken sind, sagte sie. So etwas macht einem Angst. Das erste Mal denken alle, sie sterben. Ich heulte schon wieder, da in dem kleinen Sprechzimmer mit der Liege und dem darübergebreiteten Papier. Sie lächelte und gab mir ein Taschentuch, und was mir so zusetzte, war genauso sehr ihre Berührung wie die Sache mit meinem Herzen und der Frau draußen im Wartezimmer. Ich glaube, sie spürte es. Sie fragte mich all die Fragen, die Ärzte Männern wie mir stellen, die aber, wie ich finde, niemals die wichtigen Fragen sind. Schließlich gab sie dem Ganzen einen Namen: Angina, eisblau und kalt, vorn und hinten. Sie zeigte mir ein kleines Fläschchen und sagte, es würde helfen. Ein schneller Sprühstoß unter die Zunge, und ich würde nicht an die Wand gelehnt dastehen und mir die Brust halten müssen. Ich nahm das Rezept und ging. Und mache so weiter wie schon seit Jahren. Ich habe deinen Namen öfter geschrieben, als ich mich erinnern kann. Immer schreibe ich zuerst deinen Namen.
Zehn Dinge, die ich über meine Mutter weiß
1. Ihr Name war Julianne - ausgesprochen wie bei einer Französin, nur dass sie keine war.
2. Sie war schön. (Im Arbeitszimmer meines Vaters fand ich ein Foto von ihr, eins von ihnen beiden und eins von uns dreien. Ich halte ihre Hand und sehe zu ihr auf. Ich nahm es mit nach Dorset, und er hat nie ein Wort darüber verloren. Jetzt ist es in meinem verlorengegangenen Rucksack.)
3. Ich habe die gleiche Haarfarbe wie sie.
4. Mein Vater hat sie geliebt. Er hat nie eine andere gefunden.
5. Sie dachte nicht immer nach, bevor sie etwas tat. Das weiß ich, weil ich mit vierzehn auf einen Baum auf der Hampstead Heath geklettert bin, mit viel zu leichten, rutschigen Schuhen. Ich bin zu hoch geklettert, gefallen und habe mir ein Bein gebrochen. Auf dem Weg ins Krankenhaus meinte mein Dad: »Du bist wie deine Mutter, Alice. Kannst du nicht fünf Minuten innehalten und überlegen, was passieren könnte?«
6. Nach ihrem Tod packte Dad alles, was mit ihr zu tun hatte, einschließlich der türkisfarbenen und goldenen Kissen, die Tilly und Cee so liebten, in große schwarze Müllbeutel und fuhr damit weg. Er hat sie nicht wieder mit zurückgebracht.
7. Im Sommer bekam sie Sommersprossen auf den Wangen und Schultern, genau wie ich. (Mein Vater hat mir das verraten, und dann wurde er rot, was ich noch nie bei ihm erlebt hatte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.)
8. Meine Mutter und Dad stritten eine Menge (sagt Cee, Tilly meint, sie kann sich nicht erinnern, aber sie hat sich schon immer aus allem herausgehalten).
9. Sie fuhr einen Citroën GSA. Ihren Führerschein hatte sie seit fünf Monaten und einundzwanzig Tagen. Offiziell war es am Ende ein »Unfalltod«, was mir zu beiläufig klingt.
10. Ohne mich wäre sie niemals gefahren.
Der Krebs sitzt in der Bauchspeicheldrüse meines Vaters, hat mir Cee am Telefon erklärt. Ich stand an der Rezeption des Hotels in Ulan-Bator, sie in Dads Diele, die Verbindung war ein einziges Rauschen. Ich bin nicht mal sicher, wozu die Bauchspeicheldrüse da ist, was ich Cee gegenüber nie zugegeben hätte. Cee denkt, ich bin ein hoffnungsloser Fall. Du verschwendest deine Talente, erklärt sie mir, fliegst so mir nichts, dir nichts auf die andere Seite der Welt. Die Zeit wird dich einholen, sagt sie, womit sie meint, ich soll voranmachen und Kinder bekommen, bevor meine Eierstöcke eintrocknen. Das mit Kal hast du richtig gemacht, aber du musst langsam daran denken, zur Ruhe zu kommen, sagt sie. Wer will schon zur Ruhe kommen und einstauben?, denke ich, sage es aber nicht. Was war denn mit Kal nicht in Ordnung?, frage ich. Darauf seufzt sie nur, wie sie es immer tut, und ich fühle mich wieder wie eine Fünfjährige. Ist trete meine Zigarette aus und klingele. Tilly macht auf, und ich bin dankbar dafür. Sie trägt eine nach unten enger werdende Jeans und ein voluminöses orangefarbenes T-Shirt. Ihr Gesicht ist müde und blass. Die Diele hinter ihr ist ein schwarz-weißes Schachbrett, und ich muss daran denken, wie wir darauf Himmel und Hölle gespielt haben - mit Kreide haben wir die Kästen aufgemalt - und wie kalt die Fliesen unter unseren Füßen waren. »Alice.« Tilly öffnet die Arme. Sie ist weich wie Mäusespeck, und ich lehne einen Moment lang die Stirn an ihre Brust und rieche ihr duftiges, sommerliches Parfüm. Cee kommt die Treppe herunter. Sie trägt ordentliche weiße Slipper, eine schwarze Leinenhose und eine ärmellose türkisfarbene Bluse. Ihr Haar sieht frisch geschnitten aus und hat einen chemischen Rotton. Cee hat Dads Augen, tiefbraun wie ein Gartenkompost. Es heißt, ich habe die Augen unserer Mutter. Ich werde nicht weinen. Ich mache einen Schritt von Tilly weg. Cee steht mit einem leeren Wasserglas da, und die Haut unter ihrem Make-up ist rötlich geschwollen. »Du hättest anrufen sollen«, sagt Tilly. »Ich hätte dich abgeholt. Ich habe das Auto hier, und es ist so schrecklich, im Taxi zu sitzen und sich das Gerede anhören zu müssen. « »Es ging schon«, sage ich. Wir stehen da, unbeholfen, stumm. Ich werfe einen Blick zur Treppe. »Er schläft«, sagt Cee, und ich spüre einen bekannten Ärger in mir aufflammen. Wir stehen zu nahe beieinander. Die Diele ist zwar nicht eng, trotzdem habe ich Schwierigkeiten zu atmen. »Wie war dein Flug?«, fragt Tilly. »Ich habe mir die Route angesehen. Sechstausendneunhundert Kilometer, ist das nicht verrückt?« Was ich an der Mongolei am meisten mochte, war der Horizont. Weiter, als ich es je erlebt habe. Endloses Land und ein endloser Himmel. Ich drücke die Haustür zu. Ich habe vergessen, dass sie klemmt. »Du musst ...«, beginnt Cee. »Ich weiß.« Ich drücke die Klinke hoch, ziehe die Tür zu mir hin und knalle sie zu. Cee sieht meine kleine schwarze Tasche und dann mich an. »Ist das alles, was du dabeihast?« Ich sehe die Gepäckausgabe vor mir, Neonlichter, Reihen von Gepäckwagen, die zerkratzten schwarzen Gummilamellen des Gepäckbandes. Ich stand da und wartete auf meinen Rucksack. Die Leute nahmen ihre Taschen und eilten davon. Am Ende fuhren nur noch vier Überbleibsel im Kreis: zwei Hartschalenkoffer, ein langes in Zeitungspapier und Klebestreifen gewickeltes Paket sowie eine rosa Reisetasche mit ausgefransten Tragegurten. Ich wartete, bis eine andere Flugnummer und eine andere Stadt auf dem Bildschirm erschienen und sich eine neue Gruppe Passagiere um mich versammelte. Die nächste Ladung Gepäck erschien, und ich überlegte kurz, ob ich einfach eine der Taschen nehmen und damit verschwinden sollte, tat es aber nicht. »Ich gehe nach oben«, sage ich und schiebe mich an den beiden vorbei. Dabei halte ich mich nahe an der Wand, damit wir uns nicht berühren. »Alice, er schläft.« Cee legt eine Hand auf meinen Arm. »Ich schalte den Wasserkocher an, wir können eine Tasse Tee trinken.« Tilly nestelt am Saum ihres T-Shirts herum. Mit einem Schritt trete ich von Cee weg. »Ich werde ihn nicht aufwecken.« Ich bin bereits auf der vierten Stufe. Die Treppe ist weiß gestrichen, der rote Läufer darauf wird von dünnen Messingstangen gehalten. Als Kal das erste Mal hier war, zu einem endlosen Sonntagsessen, machte er Scherze darüber. Wenn ich bei euch zur Toilette gehe, fühle ich mich wie ein Promi, sagte er, und ich musste lachen, weil ich es nie so betrachtet hatte. Ich wünschte, er stünde jetzt neben mir und hielte meinen Arm. Seine Nummer ist immer noch in meinem Telefon gespeichert. Manchmal sitze ich da und sehe sie an. »Alice.« Tillys Stimme. Sie sieht mit verkniffenem Gesicht zu mir herauf. »Ich meine ...« Sie presst die Hände zusammen. »Krieg keinen Schreck, Schatz.«
Das Zimmer meines Vaters liegt nach vorne hinaus, im ersten Stock. Aus den großen Fenstern kann man über die rote Ziegelmauer in den gegenüberliegenden Garten sehen. Ich öffne die Tür, so leise ich kann, und trete ein.
Die dicken grünen Vorhänge sind zugezogen, um das Tageslicht draußen zu halten, und die Stehlampe beim Sofa wirft einen warmen gelben Kreis auf den Teppich. Ich will nicht zum Bett hinübersehen, und so starre ich den Kleiderschrank an: die winzigen Dreiecke helleren Holzes, die entlang der Ränder eingearbeitet sind, den ovalen Spiegel, die matten Metallangeln. Anschließend sehe ich hinauf zur hässlichen Deckenrosette und dem ärmlichen Kronleuchter mit seinen sechs falschen Kerzen auf den staubigen Armen. Cee hat mir mal erzählt, dass sie und Tilly samstagmorgens immer ins Elternschlafzimmer hätten kommen dürfen, bevor ich geboren wurde, im anderen Haus. Sie krochen zwischen Dad und Mama und wollten Geschichten erzählt bekommen. Wenn er nicht arbeiten musste, stand unser Vater danach auf, zog den Morgenmantel über seinen blauen Pyjama und ging nach unten. Tilly und Cee rollten in die Wärme, die er zurückgelassen hatte, und warteten darauf, seine Schritte auf der Treppe und das Klappern des Tabletts zu hören. Mit den Geschichten und dem Frühstück war es vorbei, als sie herzogen und ich auf die Welt kam. Als ich fragte, warum, schürzte Cee die Lippen und zuckte mit den Schultern, als wäre es meine Schuld. Es riecht nach Haut und Schweiß und ist zu warm. Ich lege die Hände auf die Rückenlehne des Sofas und lausche: Die Wasserrohre rauschen leise, draußen zwitschert ein Vogel seinem Freund etwas zu, und ich höre den Atem meines Vaters. Das letzte Mal habe ich ihn ein paar Tage vor meinem Abflug nach Moskau gesehen. Wir waren zum Essen in einem neuen spanischen Lokal in South End Green. Es gab Tapas und einen schweren Rotwein. Wir bekommen eine Rezession, Alice, sagte er. Ich bin nicht sicher, ob es eine gute Zeit ist, deinen Job aufzugeben. Es reizt mich einfach, sagte ich, und ich habe etwas gespart. Ich muss hier raus. Du musst hier immer raus, sagte er, woran liegt das? Ich erzählte ihm von Kal, doch das erklärte nicht all die anderen Male. Ich versuche mich zu entsinnen, ob er blass aussah, mager, ob er krank wirkte oder besorgt. Ich kann mich nicht erinnern. Der Mann im Bett sieht nicht aus wie mein Vater. Mein Vater hat ein kräftiges Gesicht, ein eckiges Kinn und buschige Brauen. Er ist ein schwerer Mann, groß, nicht fett, aber massig. Seine Schultern sind breit, die Brust ist fest. Wenn er dich umarmt, was zwar nicht oft, aber durchaus vorkommt, fühlst du die Kraft in seinen Armen. Der Mann im Bett ist zu klein, um mein Vater zu sein. Auf dem Boden rechts vom Bett steht eine schmale weißblaue Box, aus der ein dünner Schlauch unter das Laken, das den Mann bedeckt, führt. Ein zweiter Schlauch endet in einem jener Plastikbeutel, wie man sie in Krankenhäusern sieht, halb gefüllt mit einer gelben Flüssigkeit. Der Mann im Bett atmet wie ein alter Mensch. Sein Gesicht ist ebenfalls gelb, und die Haut spannt sich auf einem Schädel, den ich nicht wiedererkenne. Links neben dem Bett steht ein Stuhl. Jemand muss ihn aus dem Esszimmer heraufgebracht haben. Er wirkt fehl am Platz mit seiner hohen Rückenlehne, den Holzstreben und dem schmalen, gepolsterten Sitz. Auch das Esszimmer muss wie aus der Balance gebracht aussehen, mit einem fehlenden Mann. Als ich mich setze, knarrt es laut. Ich halte inne. Er wacht nicht auf. Ich möchte seine Hand berühren, aber sie liegt unter dem Laken, und so sitze ich da und betrachte meine Finger, die silbernen Ringe und die völlig heruntergebissenen Nägel.
»Ich bin gerade angekommen«, sage ich. Meine Stimme klingt dünn und unsicher. »Aus der Mongolei. Gerade erst.« Mit einem Mal fühle ich mich müde. »Ich bin nicht mal sicher, was für einen Tag wir haben.« Ich lache, doch es klingt aufgesetzt, und ich höre wieder auf. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Mein Handy hatte eine Woche kein Netz. Länger noch.« Das Kissen hat sein Haar hochgeschoben, seine Lippen sind trocken und aufgesprungen. Ich kann meinen Atem hoch und flach in der Brust fühlen, ich will weinen. Will mich auf den Boden legen und die Augen schließen. Will weglaufen. »Ich bin sofort gekommen, als ich die Nachricht bekam.« Ich denke daran, wie ich in der Mongolei hinten in einem Jeep saß, zusammen mit einem Paar aus Schweden und einem Typ aus Palästina, das Handy tief unten im Rucksack, vergessen. Die Straße, die man kaum so nennen konnte, warf uns hin und her, und überall um uns herum: nichts. Kilometer über Kilometer nichts. Die Freude daran. »Es ist so düster hier drin, Dad. Denkst du nicht, dass es düster ist?« Ich stehe auf und ziehe die Vorhänge auf. Es hat angefangen zu regnen, dünne Rinnsale Wasser bahnen sich ihren Weg über das Fenster. »Wie ich sehe, gibt es in England wieder mal einen tollen Sommer«, sage ich. »Alice?« Ich fahre herum. »Dad?« Ich bleibe, wo ich bin, eine Hand auf dem Vorhang. Ich wünschte, ich hätte ihn nicht geöffnet. Das Licht verschärft die Konturen seines Gesichts und wirft harte Schatten auf die eingefallenen Wangen und tiefen Furchen. Die Haut hat die falsche Farbe, sie ist viel zu gelb. »Dad. Wie geht ...« »Schrecklich.« Er klingt, als sei er erkältet, verschleimt und heiser.
»Mein Telefon hatte keinen Empfang«, sage ich. Er hustet, und ich sehe den Schmerz in seinem Gesicht. »Was kann ich tun? Was kann ich dir holen?« Er bewegt den Kopf nach links. »Das?« Ich gehe zu seinem Nachttisch und greife nach einem hölzernen Stäbchen, auf dem ein rosa Würfel sitzt. »Tauch ihn ... in das Glas«, sagt er. Im Glas unten ist eine rosa Flüssigkeit. Ich stecke den Würfel hinein und hole ihn wieder heraus. Mein Vater betupft sich den Mund damit. Ich kann jeden Knochen unter seiner Haut sehen. Vielleicht haben wir ja in der Schule doch gelernt, was eine Bauchspeicheldrüse ist. Ich habe das Gefühl, sie ist dunkel, rotlila, und wird zu einem Ende hin schmaler. Wozu sie da ist, weiß ich nicht mehr. »Tut mir leid ... dass ich ... dir deine Ferien verderbe«, sagt er. Alle paar Sekunden atmet er flach und rasselnd. Der rosa Schwamm fällt auf sein Laken und lässt einen nassen Fleck entstehen. Ich nehme ihn und lege ihn zurück auf den Nachttisch. »Es waren keine ...« Ich halte inne, setze mich zurück auf den Stuhl und schlage ein Bein über das andere. Da ich nicht weiß, was ich mit den Händen anfangen soll, schiebe ich sie unter die Beine. Die Ränder meiner Ringe graben sich in die Unterseiten meiner Schenkel. »Wusstest du, dass das Land in der Mongolei niemandem gehört? Es gibt keine Zäune«, sage ich. »Ist dieser Mann ... mit dir gefahren?« »Kal?« »Der indische ... Junge.« »Er ist Engländer. Aber ich habe dir doch erzählt, dass wir uns getrennt haben, Dad. Ich habe es dir erzählt.« Ich stehe auf, gehe zum Fenster und lege den Kopf gegen die Scheibe. Sie drückt kalt auf meine Haut. Ich stelle mir vor, mit Kal vor einer Jurte zu sitzen und zuzusehen, wie die Sonne die Erde in ein sattes Orangerosa taucht. »Es gab auch Adler«, sage ich. »Riesige Adler, direkt neben der Straße. Wenn es denn eine gab. Sie hatten riesige Klauen. Die töten eine Maus einfach, indem sie ihren Körper packen.« Ich höre, wie er sich bewegt, und drehe mich zu ihm um. Er starrt mich an. Das Weiße seiner Augen ist blassgelb. »Du weißt ... dass ich ... dich liebe«, sagt er. »So sehr ... wie die anderen.« Ich schließe meine Hand um ein Stück Vorhang und drücke fest zu. In meinem Magen liegt ein Klumpen, der noch größer und schwerer als der Magen selbst zu sein scheint. Ich höre den Atem in seiner Kehle rasseln. Die Wasserrohre rauschen nicht mehr. »Es ist wichtig. Ich habe ... deiner Mutter ... immer gesagt ... wie wichtig es ist.« »Was meinst du?« »Dass du ... dass du ... dass du das weißt.« Jeden Freitagnachmittag hat er mir bei Thorntons eine Pfefferminzmaus gekauft. Ich weiß nicht, warum ich mich gerade jetzt daran erinnere, aber es ist so: Ich höre das Knistern des Papiers, spüre das Glück, das ich empfand, als ich der Maus die Nase abbiss, schmecke die schwarze Schokolade und das süße grüne Pfefferminz darunter. Wir schweigen beide. Seine Lider zucken, schließen sich, und er saugt seinen Atem mit einem leisen Schnarchen in sich hinein. Ich gehe zum Bett und sehe ihn an. »Bitte nicht«, flüstere ich. »Bitte nicht.« Es klopft an der Tür. Ich rechne mit Tilly oder Cee, doch es ist eine Schwester, eine kleine, breite Frau mit blauer Hose und einer weiten blauen Bluse. »Sie sind Alice«, sagt sie. »Mr. Tanner hat mir viel von Ihnen erzählt.«
»Hat er das?« Sie tritt an mir vorbei. »Da schläft er wieder«, sagt sie. »Das wechseln wir am besten, oder?« Ich weiche vom Bett zurück. Sie greift nach dem Plastikbeutel und hebt das Laken an. »Haben Sie heute die Vorhänge auf, Mr. Tanner? Ja, das ist schön, nicht wahr? Ein bisschen Licht in die Geschehnisse bringen. Und Ihre Tochter ist hier, das ist was Besonderes.« »Was hat er gesagt?«, frage ich. »Er schläft.« Sie dämpft ihre Stimme nicht. Ich kann den mageren Körper meines Vaters in seinem Baumwollpyjama sehen. »Ich meine, über mich.« Sie dreht ein Ventil am Beutel und löst ihn von seinem Schlauch. Ich sehe die gelbe Flüssigkeit gegen die Seiten schlagen. »Ich muss ...« Ich gestikuliere zur Tür hinüber. Sie sieht nicht einmal auf. »Recht haben Sie, meine Liebe. Es ist gut, dass Sie hier sind. Er hat sich unglaublich darauf gefreut.« Ich schließe die Tür hinter mir. Der Flur riecht so, wie er immer gerochen hat, nach Holzpolitur und ganz leicht nach feuchtem Putz. Ich will weiter nach oben, ins Dachgeschoss, doch Tilly hält mich auf. »Hast du Margaret getroffen?«, sagt sie. »Die Schwester?« »Sie ist gut.« »Okay.« »Cee hat Tee gekocht.« Kal hat Tilly und Cee immer die »Allgemeinen Geschäftsbedingungen « genannt. Wie steht es um die Allgemeinen Geschäftsbedingungen?, hat er gefragt, wenn ich von einem Familientreffen zurückkam. Unzumutbar, habe ich darauf geantwortet, und wir haben gelacht, jedes Mal.
»Ich würde gerne ...«, sage ich und sehe die Treppe hinauf. »Oh, Alice.« Sie umarmt mich und drückt meine Arme fest an meine Seiten. »Er versteht es doch, oder? Das mit meinem Handy. Dass ich kein Netz hatte. Tilly? Er denkt doch nicht ...?« Ich trete einen Schritt zurück und starre die Rauhfasertapete an. Sie sieht schmutzig und alt aus. »Ich möchte einfach nicht, dass er denkt ...« »Ich habe Kekse gebacken«, sagt sie. »Die mit den Haferflocken. « Das sind Dads Lieblingskekse. Ich stelle mir vor, wie er im Bett liegt und Tilly in der Küche lauscht, und der Backgeruch weht die Treppe hinauf in sein Zimmer. »Gehen Sie voraus, Captain.« Ich lege die Finger an die Schläfe und salutiere. Tilly lächelt schwach und geht vor mir die Treppe hinunter.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
© 2014 Droemer Verlag
Mein Vater wohnt allein in einem Nobel-Reihenhaus in der Nähe von Hampstead Heath. Die Häuser dort sind geleckt und protzig, die plattierten Einfahrten gleichen langen, teuren Zungen, die Mauern sind gerade hoch genug, dass keiner drübergucken kann. Man sieht nichts als Erkerfenster, schwere Vorhänge, Klematis und Glyzinien. Ich stelle mich in die Taxischlange vorm Ankunftsterminal und rauche während der Wartezeit drei Zigaretten. Als ich endlich an der Reihe bin, ist mir vom Nikotin ganz schlecht und schwindelig, und ich ducke mich in den Wagen. Der Fahrer hört Mozarts Requiem. Ich will ihn bitten, es auszustellen, weiß aber nicht, wie ich ihm erklären soll, warum, und so strecke ich meine Füße dahin, wo mein Gepäck stehen sollte, lege den Kopf an den Türrahmen und schließe die Augen. Ich versuche mich an die genaue Farbe meines Rucksacks zu erinnern: Es muss eine Art schmutziges Marineblau sein. Seit Jahren trage ich das Ding mit mir herum, da sollte ich wissen, was für eine Farbe es hat. Drinnen sind Jeans, Shorts, Trägerhemden und ein wasserdichter Mantel, zehn Packungen russische Zigaretten und ein Paar bestickte Schlappen für Tilly. Mascara und eine fast leere Tube Lipgloss. Dazu ein fast perfekt runder Stein, den ich aufgesammelt habe, um ihn Kal zu schenken, und dann habe ich mich verflucht, weil ich heulen musste. Ein unbenutzter Rough Guide to India, eine Kopflampe und ein Foto von uns allen mit meiner Mutter. Es stammt aus einer Zeit, an die ich mich nicht erinnern kann, und es ist das Einzige, was ich wirklich vermissen würde. Wir kommen zu früh an. Ich bezahle den Fahrer und trete auf den Bürgersteig. Als er losfährt, will ich die Hand ausstrecken und sagen, halt, ich hab's mir anders überlegt, fahren wir weiter, egal wohin, und dann sitze ich wieder im Taxi, die Zeit ist ausgehebelt, und draußen zieht London vorbei. Elf Stufen führen hinauf zum Haus meines Vaters. Unten stehen zwei krank aussehende Bäume in dicken, blau glasierten Kübeln. Ein mächtiger Lorbeerbaum verstellt einen Großteil des vorderen Fensters, aber ich sehe trotzdem nach ihm, auf dem Sofa, mit einer verglühenden Zigarette in der Hand. Er ist nicht da. Mein Magen schmerzt, mein Mund schmeckt nach Sägemehl und Schlaf. Ich rupfe ein Blatt von einem der Bäume in den Kübeln - es ist hellgelbgrün gefleckt - und zerreiße es der Länge nach. Die Haustür meines Vaters ist in einem dunklen Rotbraun gestrichen, das wirkt wie eingetrocknetes Blut. Zwei große geriffelte, von zartem, grünem Efeu umgebene Glasscheiben lassen kaum etwas von drinnen erkennen. Mit dreizehn hat er mich in eine Schule in Dorset geschickt. Ich weiß noch, wie ich nach dem ersten Halbjahr nach Hause kam. Er musste arbeiten, und deshalb holte Tilly mich ab. Nervös hielt sie das Lenkrad, ihr noch ganz neuer Führerschein lag im Handschuhfach. Dann stand ich auf genau diesem Treppenabsatz und sah auf die Messingklingel, die ich auch jetzt anstarre, und Tilly suchte nach ihrem Schlüssel. Mir kam die Tür so gar nicht wie unsere Haustür vor, und ich drückte auf die Klingel, um zu hören, wie sie von draußen klang. Ich hole eine Zigarette aus der Tasche, obwohl es keine Zeit zu verlieren gilt. Das Feuerzeug kratzt über meinen Daumen, und ich inhaliere zu schnell und huste, dünn wie ein Raucher, und lege die Hand auf die Brust.
Zehn Arten, wie andere mich beschreiben könnten
1. Ein Landstreicher.
2. Ein Faulpelz.
3. Ohne Zuhause.
4. Mit seinem Glück am Ende.
5. Ein Obdachloser.
6. Vertrieben.
7. Abschaum.
8. An den Rand gedrängt.
9. Missverstanden.
10. Ein Verirrter.
Ich bin ein alter Mann mit einem schwachen Herzen, daran besteht kein Zweifel. Und die Wahrheit ist, dass ich mich hier am Rand des Flusses mit all dem Matsch und dem Dreck mehr zu Hause fühle als auf feinen Plätzen wie dem bei der U-Bahn mit seinen leuchtenden Reklametafeln und Sicherheitsbeamten. Ich ziehe herum. Das ist meine Strategie, wenn ich denn überhaupt eine habe, und überall stelle ich mir dich vor. Ich habe kaum Anhaltspunkte, aber einiges kann ich erahnen: deine Haarfarbe, deine Größe, dein Alter. Und ich kenne deinen Namen. Ich könnte nach dir rufen, und du drehst dich um. Dann stünden wir hier, ließen die Fahrradfahrer vorbeirauschen, hörten die Boote wie Glocken aneinanderschlagen und würden reden. Letzte Woche, als ich dachte, ich würde sterben, konnte ich mich nur noch auf dich konzentrieren. Es ist nicht leicht, sich überhaupt auf etwas zu konzentrieren, wenn man denkt, da sitzt ein ausgewachsener Mann auf meinem Brustkorb, aber du hast mich da herausgeholt, wie du es immer tust.
Es war ein Stück flussaufwärts von hier, auf der Uferpromenade gegenüber vom Parlament, auf dem Stück beim Krankenhaus mit der hohen Mauer, wo die Enden der Bänke zu Vogelköpfen geschnitzt sind und man über den Fluss sehen kann. Ich war in Richtung Westen unterwegs und hatte den vagen Plan, bis zur Albert Bridge zu gehen und mir in einer ruhigen Ecke von Chelsea einen Platz für die Nacht zu suchen. Die Polizei ist da schwierig, aber wenn man nicht auffällt, lassen sie einen manchmal in Ruhe. Ich ging also einfach so vor mich hin. Der Arzt meinte, Aufregung kann ein Auslöser sein, wobei ich nicht sicher bin, ob ich an dem Tag tatsächlich besonders aufgeregt oder aufgewühlt war. Ich habe mich an die Mauer gelehnt und mir beide Hände auf die Brust gedrückt, mit Tränen in den Augen wie ein Kind und nicht wie ein Mann, der auf die sechzig zugeht und auf der Straße zu überleben weiß. Wenn du da gewesen wärst, so hoffe ich, wärst du gekommen und hättest gefragt, ob alles in Ordnung sei, aber du warst nicht da, und ich bin es gewöhnt, dass sich die Leute nicht interessieren. Ich stand also da, sah auf den Fluss und dachte an dich, und dass du womöglich schon tot bist. Die Welt ist schließlich voller Gefahren. Verkehrsunfälle lauern auf dich, Messer, Blutgerinnsel, Krebs. Ich sah auf den Fluss, dachte, wie alles hätte sein können, und hatte Angst, jeden Moment tot umzufallen. Wahrscheinlich ist es nicht überraschend, dass ich die Fassung verlor. Ich habe nicht losgeschrien oder gebrüllt - das ist nicht meine Art, und wenn man wie ich lebt, ist es sowieso eher angebracht, den Kopf unten zu halten. Nein, ich habe einfach losgeheult wie ein Baby. Verstehe mich nicht falsch, ich bin nicht immer so. Ich trinke ganz gerne was und scherze herum. Im Übrigen mag ich es, auf dem Bürgersteig zu liegen und zu den Sternen aufzusehen. Es war nur so, dass ich dachte, ich hätte einen Herzinfarkt und würde sterben, ohne dich zu finden. Ich musste auch an sie denken, an sie und ihren scharlachroten Namen. Einmal sind wir übers Wochenende weggefahren, nach Brighton. Gestohlene Zeit. Perfekt. Wir haben Eiscreme und Fish and Chips gegessen, und wir ... es fühlt sich falsch an, dir das zu erzählen, aber wir liebten uns in einem heruntergekommenen Hotel mit Meeresblick. Ich würde lügen, wenn ich sagte, es war perfekt. Es war grau und trist. Ich wurde wütend, und es gab harte Worte in unserem geborgten Zimmer. Ihre Augen schlossen sich, und ihre Lippen verhärteten. Ich denke, es war auch für sie nicht leicht. Wenn ich mich einmal verliebt habe, ist es mir so gut wie unmöglich, da wieder herauszukommen. Das habe ich gelernt, und es macht das Leben nicht unbedingt leichter.
Ich halte nicht viel von Ärzten, aber nach dieser Geschichte, da am Fluss, bin ich zu einem gegangen. Die Praxis roch nach neuem Teppich, süß und scharf. Ich setzte mich neben eine Frau in den Vierzigern, und sie stand auf und wechselte auf die andere Seite des Raumes. Ich versuche mich von solchen Dingen nicht stören zu lassen, also griff ich nach ein paar Zeitungen und begann, in ihnen nach dir zu suchen. Ohne Erfolg. Der Name der Ärztin hatte die Farbe von sonnengewärmtem Sandstein. Sie hatte gütige Augen, und ihre Hände waren weich und kühl. Es ist ganz natürlich, dass Sie erschrocken sind, sagte sie. So etwas macht einem Angst. Das erste Mal denken alle, sie sterben. Ich heulte schon wieder, da in dem kleinen Sprechzimmer mit der Liege und dem darübergebreiteten Papier. Sie lächelte und gab mir ein Taschentuch, und was mir so zusetzte, war genauso sehr ihre Berührung wie die Sache mit meinem Herzen und der Frau draußen im Wartezimmer. Ich glaube, sie spürte es. Sie fragte mich all die Fragen, die Ärzte Männern wie mir stellen, die aber, wie ich finde, niemals die wichtigen Fragen sind. Schließlich gab sie dem Ganzen einen Namen: Angina, eisblau und kalt, vorn und hinten. Sie zeigte mir ein kleines Fläschchen und sagte, es würde helfen. Ein schneller Sprühstoß unter die Zunge, und ich würde nicht an die Wand gelehnt dastehen und mir die Brust halten müssen. Ich nahm das Rezept und ging. Und mache so weiter wie schon seit Jahren. Ich habe deinen Namen öfter geschrieben, als ich mich erinnern kann. Immer schreibe ich zuerst deinen Namen.
Zehn Dinge, die ich über meine Mutter weiß
1. Ihr Name war Julianne - ausgesprochen wie bei einer Französin, nur dass sie keine war.
2. Sie war schön. (Im Arbeitszimmer meines Vaters fand ich ein Foto von ihr, eins von ihnen beiden und eins von uns dreien. Ich halte ihre Hand und sehe zu ihr auf. Ich nahm es mit nach Dorset, und er hat nie ein Wort darüber verloren. Jetzt ist es in meinem verlorengegangenen Rucksack.)
3. Ich habe die gleiche Haarfarbe wie sie.
4. Mein Vater hat sie geliebt. Er hat nie eine andere gefunden.
5. Sie dachte nicht immer nach, bevor sie etwas tat. Das weiß ich, weil ich mit vierzehn auf einen Baum auf der Hampstead Heath geklettert bin, mit viel zu leichten, rutschigen Schuhen. Ich bin zu hoch geklettert, gefallen und habe mir ein Bein gebrochen. Auf dem Weg ins Krankenhaus meinte mein Dad: »Du bist wie deine Mutter, Alice. Kannst du nicht fünf Minuten innehalten und überlegen, was passieren könnte?«
6. Nach ihrem Tod packte Dad alles, was mit ihr zu tun hatte, einschließlich der türkisfarbenen und goldenen Kissen, die Tilly und Cee so liebten, in große schwarze Müllbeutel und fuhr damit weg. Er hat sie nicht wieder mit zurückgebracht.
7. Im Sommer bekam sie Sommersprossen auf den Wangen und Schultern, genau wie ich. (Mein Vater hat mir das verraten, und dann wurde er rot, was ich noch nie bei ihm erlebt hatte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.)
8. Meine Mutter und Dad stritten eine Menge (sagt Cee, Tilly meint, sie kann sich nicht erinnern, aber sie hat sich schon immer aus allem herausgehalten).
9. Sie fuhr einen Citroën GSA. Ihren Führerschein hatte sie seit fünf Monaten und einundzwanzig Tagen. Offiziell war es am Ende ein »Unfalltod«, was mir zu beiläufig klingt.
10. Ohne mich wäre sie niemals gefahren.
Der Krebs sitzt in der Bauchspeicheldrüse meines Vaters, hat mir Cee am Telefon erklärt. Ich stand an der Rezeption des Hotels in Ulan-Bator, sie in Dads Diele, die Verbindung war ein einziges Rauschen. Ich bin nicht mal sicher, wozu die Bauchspeicheldrüse da ist, was ich Cee gegenüber nie zugegeben hätte. Cee denkt, ich bin ein hoffnungsloser Fall. Du verschwendest deine Talente, erklärt sie mir, fliegst so mir nichts, dir nichts auf die andere Seite der Welt. Die Zeit wird dich einholen, sagt sie, womit sie meint, ich soll voranmachen und Kinder bekommen, bevor meine Eierstöcke eintrocknen. Das mit Kal hast du richtig gemacht, aber du musst langsam daran denken, zur Ruhe zu kommen, sagt sie. Wer will schon zur Ruhe kommen und einstauben?, denke ich, sage es aber nicht. Was war denn mit Kal nicht in Ordnung?, frage ich. Darauf seufzt sie nur, wie sie es immer tut, und ich fühle mich wieder wie eine Fünfjährige. Ist trete meine Zigarette aus und klingele. Tilly macht auf, und ich bin dankbar dafür. Sie trägt eine nach unten enger werdende Jeans und ein voluminöses orangefarbenes T-Shirt. Ihr Gesicht ist müde und blass. Die Diele hinter ihr ist ein schwarz-weißes Schachbrett, und ich muss daran denken, wie wir darauf Himmel und Hölle gespielt haben - mit Kreide haben wir die Kästen aufgemalt - und wie kalt die Fliesen unter unseren Füßen waren. »Alice.« Tilly öffnet die Arme. Sie ist weich wie Mäusespeck, und ich lehne einen Moment lang die Stirn an ihre Brust und rieche ihr duftiges, sommerliches Parfüm. Cee kommt die Treppe herunter. Sie trägt ordentliche weiße Slipper, eine schwarze Leinenhose und eine ärmellose türkisfarbene Bluse. Ihr Haar sieht frisch geschnitten aus und hat einen chemischen Rotton. Cee hat Dads Augen, tiefbraun wie ein Gartenkompost. Es heißt, ich habe die Augen unserer Mutter. Ich werde nicht weinen. Ich mache einen Schritt von Tilly weg. Cee steht mit einem leeren Wasserglas da, und die Haut unter ihrem Make-up ist rötlich geschwollen. »Du hättest anrufen sollen«, sagt Tilly. »Ich hätte dich abgeholt. Ich habe das Auto hier, und es ist so schrecklich, im Taxi zu sitzen und sich das Gerede anhören zu müssen. « »Es ging schon«, sage ich. Wir stehen da, unbeholfen, stumm. Ich werfe einen Blick zur Treppe. »Er schläft«, sagt Cee, und ich spüre einen bekannten Ärger in mir aufflammen. Wir stehen zu nahe beieinander. Die Diele ist zwar nicht eng, trotzdem habe ich Schwierigkeiten zu atmen. »Wie war dein Flug?«, fragt Tilly. »Ich habe mir die Route angesehen. Sechstausendneunhundert Kilometer, ist das nicht verrückt?« Was ich an der Mongolei am meisten mochte, war der Horizont. Weiter, als ich es je erlebt habe. Endloses Land und ein endloser Himmel. Ich drücke die Haustür zu. Ich habe vergessen, dass sie klemmt. »Du musst ...«, beginnt Cee. »Ich weiß.« Ich drücke die Klinke hoch, ziehe die Tür zu mir hin und knalle sie zu. Cee sieht meine kleine schwarze Tasche und dann mich an. »Ist das alles, was du dabeihast?« Ich sehe die Gepäckausgabe vor mir, Neonlichter, Reihen von Gepäckwagen, die zerkratzten schwarzen Gummilamellen des Gepäckbandes. Ich stand da und wartete auf meinen Rucksack. Die Leute nahmen ihre Taschen und eilten davon. Am Ende fuhren nur noch vier Überbleibsel im Kreis: zwei Hartschalenkoffer, ein langes in Zeitungspapier und Klebestreifen gewickeltes Paket sowie eine rosa Reisetasche mit ausgefransten Tragegurten. Ich wartete, bis eine andere Flugnummer und eine andere Stadt auf dem Bildschirm erschienen und sich eine neue Gruppe Passagiere um mich versammelte. Die nächste Ladung Gepäck erschien, und ich überlegte kurz, ob ich einfach eine der Taschen nehmen und damit verschwinden sollte, tat es aber nicht. »Ich gehe nach oben«, sage ich und schiebe mich an den beiden vorbei. Dabei halte ich mich nahe an der Wand, damit wir uns nicht berühren. »Alice, er schläft.« Cee legt eine Hand auf meinen Arm. »Ich schalte den Wasserkocher an, wir können eine Tasse Tee trinken.« Tilly nestelt am Saum ihres T-Shirts herum. Mit einem Schritt trete ich von Cee weg. »Ich werde ihn nicht aufwecken.« Ich bin bereits auf der vierten Stufe. Die Treppe ist weiß gestrichen, der rote Läufer darauf wird von dünnen Messingstangen gehalten. Als Kal das erste Mal hier war, zu einem endlosen Sonntagsessen, machte er Scherze darüber. Wenn ich bei euch zur Toilette gehe, fühle ich mich wie ein Promi, sagte er, und ich musste lachen, weil ich es nie so betrachtet hatte. Ich wünschte, er stünde jetzt neben mir und hielte meinen Arm. Seine Nummer ist immer noch in meinem Telefon gespeichert. Manchmal sitze ich da und sehe sie an. »Alice.« Tillys Stimme. Sie sieht mit verkniffenem Gesicht zu mir herauf. »Ich meine ...« Sie presst die Hände zusammen. »Krieg keinen Schreck, Schatz.«
Das Zimmer meines Vaters liegt nach vorne hinaus, im ersten Stock. Aus den großen Fenstern kann man über die rote Ziegelmauer in den gegenüberliegenden Garten sehen. Ich öffne die Tür, so leise ich kann, und trete ein.
Die dicken grünen Vorhänge sind zugezogen, um das Tageslicht draußen zu halten, und die Stehlampe beim Sofa wirft einen warmen gelben Kreis auf den Teppich. Ich will nicht zum Bett hinübersehen, und so starre ich den Kleiderschrank an: die winzigen Dreiecke helleren Holzes, die entlang der Ränder eingearbeitet sind, den ovalen Spiegel, die matten Metallangeln. Anschließend sehe ich hinauf zur hässlichen Deckenrosette und dem ärmlichen Kronleuchter mit seinen sechs falschen Kerzen auf den staubigen Armen. Cee hat mir mal erzählt, dass sie und Tilly samstagmorgens immer ins Elternschlafzimmer hätten kommen dürfen, bevor ich geboren wurde, im anderen Haus. Sie krochen zwischen Dad und Mama und wollten Geschichten erzählt bekommen. Wenn er nicht arbeiten musste, stand unser Vater danach auf, zog den Morgenmantel über seinen blauen Pyjama und ging nach unten. Tilly und Cee rollten in die Wärme, die er zurückgelassen hatte, und warteten darauf, seine Schritte auf der Treppe und das Klappern des Tabletts zu hören. Mit den Geschichten und dem Frühstück war es vorbei, als sie herzogen und ich auf die Welt kam. Als ich fragte, warum, schürzte Cee die Lippen und zuckte mit den Schultern, als wäre es meine Schuld. Es riecht nach Haut und Schweiß und ist zu warm. Ich lege die Hände auf die Rückenlehne des Sofas und lausche: Die Wasserrohre rauschen leise, draußen zwitschert ein Vogel seinem Freund etwas zu, und ich höre den Atem meines Vaters. Das letzte Mal habe ich ihn ein paar Tage vor meinem Abflug nach Moskau gesehen. Wir waren zum Essen in einem neuen spanischen Lokal in South End Green. Es gab Tapas und einen schweren Rotwein. Wir bekommen eine Rezession, Alice, sagte er. Ich bin nicht sicher, ob es eine gute Zeit ist, deinen Job aufzugeben. Es reizt mich einfach, sagte ich, und ich habe etwas gespart. Ich muss hier raus. Du musst hier immer raus, sagte er, woran liegt das? Ich erzählte ihm von Kal, doch das erklärte nicht all die anderen Male. Ich versuche mich zu entsinnen, ob er blass aussah, mager, ob er krank wirkte oder besorgt. Ich kann mich nicht erinnern. Der Mann im Bett sieht nicht aus wie mein Vater. Mein Vater hat ein kräftiges Gesicht, ein eckiges Kinn und buschige Brauen. Er ist ein schwerer Mann, groß, nicht fett, aber massig. Seine Schultern sind breit, die Brust ist fest. Wenn er dich umarmt, was zwar nicht oft, aber durchaus vorkommt, fühlst du die Kraft in seinen Armen. Der Mann im Bett ist zu klein, um mein Vater zu sein. Auf dem Boden rechts vom Bett steht eine schmale weißblaue Box, aus der ein dünner Schlauch unter das Laken, das den Mann bedeckt, führt. Ein zweiter Schlauch endet in einem jener Plastikbeutel, wie man sie in Krankenhäusern sieht, halb gefüllt mit einer gelben Flüssigkeit. Der Mann im Bett atmet wie ein alter Mensch. Sein Gesicht ist ebenfalls gelb, und die Haut spannt sich auf einem Schädel, den ich nicht wiedererkenne. Links neben dem Bett steht ein Stuhl. Jemand muss ihn aus dem Esszimmer heraufgebracht haben. Er wirkt fehl am Platz mit seiner hohen Rückenlehne, den Holzstreben und dem schmalen, gepolsterten Sitz. Auch das Esszimmer muss wie aus der Balance gebracht aussehen, mit einem fehlenden Mann. Als ich mich setze, knarrt es laut. Ich halte inne. Er wacht nicht auf. Ich möchte seine Hand berühren, aber sie liegt unter dem Laken, und so sitze ich da und betrachte meine Finger, die silbernen Ringe und die völlig heruntergebissenen Nägel.
»Ich bin gerade angekommen«, sage ich. Meine Stimme klingt dünn und unsicher. »Aus der Mongolei. Gerade erst.« Mit einem Mal fühle ich mich müde. »Ich bin nicht mal sicher, was für einen Tag wir haben.« Ich lache, doch es klingt aufgesetzt, und ich höre wieder auf. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Mein Handy hatte eine Woche kein Netz. Länger noch.« Das Kissen hat sein Haar hochgeschoben, seine Lippen sind trocken und aufgesprungen. Ich kann meinen Atem hoch und flach in der Brust fühlen, ich will weinen. Will mich auf den Boden legen und die Augen schließen. Will weglaufen. »Ich bin sofort gekommen, als ich die Nachricht bekam.« Ich denke daran, wie ich in der Mongolei hinten in einem Jeep saß, zusammen mit einem Paar aus Schweden und einem Typ aus Palästina, das Handy tief unten im Rucksack, vergessen. Die Straße, die man kaum so nennen konnte, warf uns hin und her, und überall um uns herum: nichts. Kilometer über Kilometer nichts. Die Freude daran. »Es ist so düster hier drin, Dad. Denkst du nicht, dass es düster ist?« Ich stehe auf und ziehe die Vorhänge auf. Es hat angefangen zu regnen, dünne Rinnsale Wasser bahnen sich ihren Weg über das Fenster. »Wie ich sehe, gibt es in England wieder mal einen tollen Sommer«, sage ich. »Alice?« Ich fahre herum. »Dad?« Ich bleibe, wo ich bin, eine Hand auf dem Vorhang. Ich wünschte, ich hätte ihn nicht geöffnet. Das Licht verschärft die Konturen seines Gesichts und wirft harte Schatten auf die eingefallenen Wangen und tiefen Furchen. Die Haut hat die falsche Farbe, sie ist viel zu gelb. »Dad. Wie geht ...« »Schrecklich.« Er klingt, als sei er erkältet, verschleimt und heiser.
»Mein Telefon hatte keinen Empfang«, sage ich. Er hustet, und ich sehe den Schmerz in seinem Gesicht. »Was kann ich tun? Was kann ich dir holen?« Er bewegt den Kopf nach links. »Das?« Ich gehe zu seinem Nachttisch und greife nach einem hölzernen Stäbchen, auf dem ein rosa Würfel sitzt. »Tauch ihn ... in das Glas«, sagt er. Im Glas unten ist eine rosa Flüssigkeit. Ich stecke den Würfel hinein und hole ihn wieder heraus. Mein Vater betupft sich den Mund damit. Ich kann jeden Knochen unter seiner Haut sehen. Vielleicht haben wir ja in der Schule doch gelernt, was eine Bauchspeicheldrüse ist. Ich habe das Gefühl, sie ist dunkel, rotlila, und wird zu einem Ende hin schmaler. Wozu sie da ist, weiß ich nicht mehr. »Tut mir leid ... dass ich ... dir deine Ferien verderbe«, sagt er. Alle paar Sekunden atmet er flach und rasselnd. Der rosa Schwamm fällt auf sein Laken und lässt einen nassen Fleck entstehen. Ich nehme ihn und lege ihn zurück auf den Nachttisch. »Es waren keine ...« Ich halte inne, setze mich zurück auf den Stuhl und schlage ein Bein über das andere. Da ich nicht weiß, was ich mit den Händen anfangen soll, schiebe ich sie unter die Beine. Die Ränder meiner Ringe graben sich in die Unterseiten meiner Schenkel. »Wusstest du, dass das Land in der Mongolei niemandem gehört? Es gibt keine Zäune«, sage ich. »Ist dieser Mann ... mit dir gefahren?« »Kal?« »Der indische ... Junge.« »Er ist Engländer. Aber ich habe dir doch erzählt, dass wir uns getrennt haben, Dad. Ich habe es dir erzählt.« Ich stehe auf, gehe zum Fenster und lege den Kopf gegen die Scheibe. Sie drückt kalt auf meine Haut. Ich stelle mir vor, mit Kal vor einer Jurte zu sitzen und zuzusehen, wie die Sonne die Erde in ein sattes Orangerosa taucht. »Es gab auch Adler«, sage ich. »Riesige Adler, direkt neben der Straße. Wenn es denn eine gab. Sie hatten riesige Klauen. Die töten eine Maus einfach, indem sie ihren Körper packen.« Ich höre, wie er sich bewegt, und drehe mich zu ihm um. Er starrt mich an. Das Weiße seiner Augen ist blassgelb. »Du weißt ... dass ich ... dich liebe«, sagt er. »So sehr ... wie die anderen.« Ich schließe meine Hand um ein Stück Vorhang und drücke fest zu. In meinem Magen liegt ein Klumpen, der noch größer und schwerer als der Magen selbst zu sein scheint. Ich höre den Atem in seiner Kehle rasseln. Die Wasserrohre rauschen nicht mehr. »Es ist wichtig. Ich habe ... deiner Mutter ... immer gesagt ... wie wichtig es ist.« »Was meinst du?« »Dass du ... dass du ... dass du das weißt.« Jeden Freitagnachmittag hat er mir bei Thorntons eine Pfefferminzmaus gekauft. Ich weiß nicht, warum ich mich gerade jetzt daran erinnere, aber es ist so: Ich höre das Knistern des Papiers, spüre das Glück, das ich empfand, als ich der Maus die Nase abbiss, schmecke die schwarze Schokolade und das süße grüne Pfefferminz darunter. Wir schweigen beide. Seine Lider zucken, schließen sich, und er saugt seinen Atem mit einem leisen Schnarchen in sich hinein. Ich gehe zum Bett und sehe ihn an. »Bitte nicht«, flüstere ich. »Bitte nicht.« Es klopft an der Tür. Ich rechne mit Tilly oder Cee, doch es ist eine Schwester, eine kleine, breite Frau mit blauer Hose und einer weiten blauen Bluse. »Sie sind Alice«, sagt sie. »Mr. Tanner hat mir viel von Ihnen erzählt.«
»Hat er das?« Sie tritt an mir vorbei. »Da schläft er wieder«, sagt sie. »Das wechseln wir am besten, oder?« Ich weiche vom Bett zurück. Sie greift nach dem Plastikbeutel und hebt das Laken an. »Haben Sie heute die Vorhänge auf, Mr. Tanner? Ja, das ist schön, nicht wahr? Ein bisschen Licht in die Geschehnisse bringen. Und Ihre Tochter ist hier, das ist was Besonderes.« »Was hat er gesagt?«, frage ich. »Er schläft.« Sie dämpft ihre Stimme nicht. Ich kann den mageren Körper meines Vaters in seinem Baumwollpyjama sehen. »Ich meine, über mich.« Sie dreht ein Ventil am Beutel und löst ihn von seinem Schlauch. Ich sehe die gelbe Flüssigkeit gegen die Seiten schlagen. »Ich muss ...« Ich gestikuliere zur Tür hinüber. Sie sieht nicht einmal auf. »Recht haben Sie, meine Liebe. Es ist gut, dass Sie hier sind. Er hat sich unglaublich darauf gefreut.« Ich schließe die Tür hinter mir. Der Flur riecht so, wie er immer gerochen hat, nach Holzpolitur und ganz leicht nach feuchtem Putz. Ich will weiter nach oben, ins Dachgeschoss, doch Tilly hält mich auf. »Hast du Margaret getroffen?«, sagt sie. »Die Schwester?« »Sie ist gut.« »Okay.« »Cee hat Tee gekocht.« Kal hat Tilly und Cee immer die »Allgemeinen Geschäftsbedingungen « genannt. Wie steht es um die Allgemeinen Geschäftsbedingungen?, hat er gefragt, wenn ich von einem Familientreffen zurückkam. Unzumutbar, habe ich darauf geantwortet, und wir haben gelacht, jedes Mal.
»Ich würde gerne ...«, sage ich und sehe die Treppe hinauf. »Oh, Alice.« Sie umarmt mich und drückt meine Arme fest an meine Seiten. »Er versteht es doch, oder? Das mit meinem Handy. Dass ich kein Netz hatte. Tilly? Er denkt doch nicht ...?« Ich trete einen Schritt zurück und starre die Rauhfasertapete an. Sie sieht schmutzig und alt aus. »Ich möchte einfach nicht, dass er denkt ...« »Ich habe Kekse gebacken«, sagt sie. »Die mit den Haferflocken. « Das sind Dads Lieblingskekse. Ich stelle mir vor, wie er im Bett liegt und Tilly in der Küche lauscht, und der Backgeruch weht die Treppe hinauf in sein Zimmer. »Gehen Sie voraus, Captain.« Ich lege die Finger an die Schläfe und salutiere. Tilly lächelt schwach und geht vor mir die Treppe hinunter.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
© 2014 Droemer Verlag
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Autoren-Porträt von Sarah Butler
Sarah Butler lebt in Manchester. Sie ist Geschäftsführerin eines Beratungsunternehmens, das literarische und künstlerische Projekte vorantreibt. Sie war Stipendiatin verschiedener Literaturförderungen und unterrichtete Kreatives Schreiben am British Council in Kuala Lumpur.Werner Löcher-Lawrence, geb. 1956, studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München und als Lektor in verschiedenen Verlagen. Er ist Übersetzer.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sarah Butler
- 2014, 319 Seiten, Maße: 12,6 x 20,5 cm, Klappenbroschur, Deutsch
- Übersetzer: Werner Löcher-Lawrence
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4250968809986
Kommentar zu "Alice, wie Daniel sie sah"
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