All die schönen Toten / Inspektor Jury Bd.22
Roman
Sex and Grimes. Niemand mordet britischer.
Superintendent Richard Jury von der Londoner Metropolitan Police ist wenig erbaut, als er zu einem Tatort gerufen wird, der eigentlich gar nicht in seinem Zuständigkeitsbereich liegt: In...
Superintendent Richard Jury von der Londoner Metropolitan Police ist wenig erbaut, als er zu einem Tatort gerufen wird, der eigentlich gar nicht in seinem Zuständigkeitsbereich liegt: In...
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Produktinformationen zu „All die schönen Toten / Inspektor Jury Bd.22 “
Sex and Grimes. Niemand mordet britischer.
Superintendent Richard Jury von der Londoner Metropolitan Police ist wenig erbaut, als er zu einem Tatort gerufen wird, der eigentlich gar nicht in seinem Zuständigkeitsbereich liegt: In dem kleinen Städtchen Chesham wurde eine junge Frau in einem Designerkleid und mit erlesenen Jimmy-Choo-Sandalen an den Füßen ermordet. Es gibt keine Zeugen - außer vielleicht einer schwarzen Katze, doch die schweigt sich aus und verschwindet schließlich ganz. Kurz darauf geschehen zwei weitere Morde. Und auch diese Toten tragen Designerkleider und -schuhe. Welche Verbindung besteht zwischen den Opfern?
Superintendent Richard Jury von der Londoner Metropolitan Police ist wenig erbaut, als er zu einem Tatort gerufen wird, der eigentlich gar nicht in seinem Zuständigkeitsbereich liegt: In dem kleinen Städtchen Chesham wurde eine junge Frau in einem Designerkleid und mit erlesenen Jimmy-Choo-Sandalen an den Füßen ermordet. Es gibt keine Zeugen - außer vielleicht einer schwarzen Katze, doch die schweigt sich aus und verschwindet schließlich ganz. Kurz darauf geschehen zwei weitere Morde. Und auch diese Toten tragen Designerkleider und -schuhe. Welche Verbindung besteht zwischen den Opfern?
Klappentext zu „All die schönen Toten / Inspektor Jury Bd.22 “
Sex and Grimes. Niemand mordet britischer.Superintendent Richard Jury von der Londoner Metropolitan Police ist wenig erbaut, als er zu einem Tatort gerufen wird, der eigentlich gar nicht in seinem Zuständigkeitsbereich liegt: In dem kleinen Städtchen Chesham wurde eine junge Frau in einem Designerkleid und mit erlesenen Jimmy-Choo-Sandalen an den Füßen ermordet. Es gibt keine Zeugen - außer vielleicht einer schwarzen Katze, doch die schweigt sich aus und verschwindet schließlich ganz. Kurz darauf geschehen zwei weitere Morde. Und auch diese Toten tragen Designerkleider und -schuhe. Welche Verbindung besteht zwischen den Opfern?
Lese-Probe zu „All die schönen Toten / Inspektor Jury Bd.22 “
All die schönen Toten von Martha Grimes1. KAPITEL
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Es stand bereits in den dämlichen Londoner Klatschzeitungen, da war der Fall noch keine drei Tage alt. Und ein Bild von ihm war auch dabei, obwohl für den Fall eigentlich die Polizei von Thames Valley zuständig war und nicht die Metropolitan Police. Superintendent Richard Jury, ranghoher Detective bei der Metropolitan, der die Sprossen der Dienstleiter erklommen hatte, ohne seinen Rang allzu wichtig zu nehmen, stand in diesem Moment in High Wycombe in der Gerichtsmedizin und betrachtete die Leiche einer bislang noch nicht identifizierten Frau.
Das Faszinierende an der ganzen Geschichte, mutmaßte er, war nicht bloß, dass das auffallend hübsche Mädchen (oder eher: die Frau, nur machte »Glamour-Girl« sich in den Zeitungen
eben viel besser) auf dem Grundstück eines Pubs vor den Toren Londons erschossen worden war, sondern auch der Umstand, dass die Polizei nach achtundvierzig Stunden immer noch nicht herausgefunden hatte, wer sie war.
Jury betrachtete die Leiche und fragte sich, wieso ihm dabei das berühmte Porträt des toten Chatterton in den Sinn kam. Dann fiel ihm ein, dass auch Millais seine Ophelia als Sterbende
gemalt hatte, oder jedenfalls so, wie er sie sich im Wasser treibend vorgestellt hatte. Das war typisch für die Zeit der Präraffaeliten, jene romantische Ära eines Rossetti, Holman Hunt und Millais: diese reiche Einbildungskraft, diese leuchtenden Farben, dieses Fasziniertsein vom Tod in der Jugend. Die Präraffaeliten hatten es wirklich mit dem frühen Sterben.
Dr. Pindrop: den Namen - man konnte die Stecknadel förmlich fallen hören - fand Jury köstlich, obwohl er überhaupt nicht zu dem Arzt passte. Schweigen war nämlich die Sache des Gerichtsmediziners nicht. Er verhaspelte sich beim Reden und erweckte den Anschein, als würde er gleich aus der Haut fahren und sich nur mit äußerster Mühe zurückhalten können.
»Zwei Schüsse«, sagte Pindrop, »einer davon knapp vorbei an den lebenswichtigen Organen...«
Er deutete auf die schwerverwundete Schulter für den Fall, dass Jury blind war.
»Der zweite in den Brustkorb, der hat es ihr dann gegeben.«
Jury nickte schweigend und versuchte, sich das klassisch gemeißelte Gesicht der Frau einzuprägen.
»Superintendent?«
Jury hob den Blick.
»Sie haben die Leiche ja ausgiebig studiert. Kann ich sie jetzt zudecken?«
Jury nahm an, dass die Irritation den üblichen Grund hatte: Wieso schickte New Scotland Yard eigentlich Leute her?
»Nein. Lassen Sie sie noch einen Augenblick.«
Jury setzte seine »ausgiebige« Betrachtung der Toten fort. Laut Gerichtsmedizin war die Tat mit einer .38er begangen worden. Eine Schusswaffe hatte man nicht gefunden, wohl aber ein paar leere Patronenhülsen. Der Arzt hatte ihm die Kleidung gezeigt, die sie getragen hatte: Designerkleid, Schuhe, Handtäschchen.
»Das Etikett ist angeschmutzt. Sieht nach Lanvin aus. Das ist dieser Franzose.«
»Nein. Das Kleid ist von Saint Laurent. Der andere.«
Pindrop grinste.
»Ah, Sie wissen ziemlich gut Bescheid über diese Franzosen, was?«
»Ich weiß eine ganze Menge.«
Jury verkniff sich das Lachen. Der Arzt stieß einen knurrigen Lacher aus. Es klang wie Dr. Watson, gespielt von Nigel Bruce. Das Kleid war wunderschön. Sehr gediegen und dann doch wieder nicht. Den Ausschnitt bildeten mehrere Lagen von Rüschen. Die Ärmel waren durchsichtig wie Glas und reichten fast bis zum Ellbogen. Das Kleid hatte fast dieselbe Farbe wie ihr Haar, ein sattes Kupferrot. Es war aus Seide gemacht oder aber aus Luft. Noch nie hatte er ein Kleid gesehen, das so züchtig und
gleichzeitig so sexy aussah. Die Schuhe waren von Jimmy Choo.
Der Name des Designers stand in großen Buchstaben quer auf der Innensohle einer hochhackigen Sandale mit reizvoll überkreuzten, schmalen Lederriemchen in einem schillernden Kupferton.
Die Tasche war von Alexander McQueen. Den kannte Jury zwar nicht, konnte sich aber denken, dass er zu den anderen Nobelläden an der Upper Sloane Street gehörte. Das gesamte Outfit, mochte er wetten, käme gut und gern auf einige Tausend Pfund.
»Teuer«, sagte der Arzt.
»Muss gut betucht gewesen sein.«
»Oder sonst jemand.«
Er hob den Blick.
»Wohnen Sie in Chesham. Dort, wo der Mord verübt wurde?«
»Nein, in Amersham. In Old Amersham, nicht das auf dem Hügel.«
Offensichtlich ein bedeutsamer Unterschied. »Dann können Sie also nicht sagen, ob die Frau möglicherweise aus Chesham stammt?«
Dr. Pindrop fuhr sich mit der Hand durch sein schütter werdendes Haar. Jury schätzte ihn auf Ende sechzig.
»Ich könnte schwören, ich hab sie schon mal gesehen.«
Diese Bemerkung überraschte Jury, da ein gewisses Mitgefühl aus den Worten des Arztes herauszuhören war, das er bis dahin nicht an den Tag gelegt hatte.
»Sie kommt Ihnen also bekannt vor.«
Das war doch wenigstens schon mal etwas.
»Ja. Irgendwie schon. Vielleicht stammt sie von hier. Wenn nicht aus Chesham, dann vielleicht aus Amersham, Berkhamsted... na ja, Sie wissen schon.«
»Ich kenne mich in der Gegend nicht aus.«
Der Arzt zog das Laken hoch und ließ es über das Gesicht der Toten fallen.
»Und warum sind Sie dann hier?«
2. KAPITEL
Es war die gleiche Frage, die Jury gestellt und die Detective Chief Superintendent Racer beantwortet hatte, mehr oder weniger jedenfalls.
»Weil sie darum gebeten haben.«
Ach tatsächlich, dachte Jury. Er wartete auf Racers weitere Ausführungen. Die aber nicht kamen. »War's das? Ist das alles? Wer sind ›sie‹? Und warum? Die Polizei von Thames Valley ist die Beste, auf jeden Fall landesweit die Größte außerhalb von London. Und die soll uns brauchen?«
Racer schlug unwirsch mit der Hand nach Jury, dem Einfaltspinsel.
»Nein, nein. Die sind selbstverständlich absolut fähig. Der Chief Constable ist ein Freund von mir. Er hat um äußerste Diskretion gebeten. Sie wissen ja, wie das so ist.«
Er begann, die Papiere auf seinem Schreibtisch herumzuschieben, was gar nicht so einfach war, da es nur drei oder vier waren. Wieder wartete Jury ab. Das »Warum?« hing immer noch in
der Luft, obwohl er offenbar der Einzige war, der das merkte. Er ließ es dabei bewenden.
»Wann ist denn das alles passiert?«
»Sie meinen, derMord an dieser Frau? Samstagabend, so weit sie festgestellt haben.«
Jury sah ihn an.
»Heute ist Montag.«
»Ich habe einen Kalender, Mann. Ich weiß, welcher Tag heute ist.«
Noch mehr Papiergeschiebe. Außerdem wusste er sehr gut, wie kalt die Spur inzwischen war.
Racer funkelte ihn wütend an.
»Tut mir leid, dass wir keine taufrische Leiche für Sie haben, Freundchen. Aber so ist es nun mal. Es wurde schon genug Zeit verschwendet...«
Als ob Jury der Zeitverschwender wäre.
»Dann machen Sie sich jetzt mal auf die Socken. Die hängt schon eine ganze Weile in der Warteschleife.«
Warteschleife! Als hätte die Ärmste einen Telefonanruf getätigt statt ermordet zu werden.
»Chesham ist in der Nähe von Amersham in Buckinghamshire. Ich rufe bei der Polizei dort kurz an, damit jemand Sie abholt.«
»Das ist also alles, was Sie mir zu der Ermordeten sagen können? Aber wenn die Polizei von Thames Valley nicht weiß, wer sie ist, sehe ich eigentlich nicht ein, wieso man diskret sein müsste.«
»Sie selbst sind ja auch nicht gerade ein Meister der Diskretion, Mann!«, kam die völlig unlogische Erwiderung.
3. KAPITEL
Detective Sergeant David Cummins von der Kriminalpolizei Thames Valley holte Jury an der U-Bahnstation Chesham ab. Für Ortsansässige, die in London arbeiteten, war die U-Bahn ein Geschenk des Himmels. Dass einem dadurch der Londoner Autoverkehr erspart blieb, war ein wahres Wunder. Außerdem konnte der erschöpfte Geschäftsmann hier draußen fast auf dem Lande ein idyllisches Leben führen.
Sergeant Cummins war freundlicherweise in das Café neben dem Bahnhof gesaust, um Jury einen kleinen Imbiss zu besorgen. Cummins war offenkundig schwer beeindruckt, nicht nur, einen Kriminalpolizisten von New Scotland Yard dazuhaben, sondern sogar einen Superintendenten. Sehr viel höher ging es nicht.
Jury sah davon ab, ihm zu sagen, dass sein Chef noch eine Stufe höher war. Er überlegte, wann Racer eigentlich das letzte Mal tatsächlich an einem Fall gearbeitet hatte.
»Was können Sie mir erzählen?«
Cummins holte tief Luft, als wollte er gleich eine lange und komplizierte Geschichte vom Stapel lassen.
»Nicht viel, Sir. Ein Taxi hat sie am Bahnhof Chesham mitgenommen, sollte sie am Black Cat absetzen, sagte er, und dass er so nah ranfuhr, wie er konnte, weil sie dort bei den Bauarbeiten doch die Rohre freigelegt haben, an der Straße vor dem Pub.«
Cummins fuhr fort:
»Von einer Party oder so was hätte sie nichts gesagt,meinte er. Sie werden wahrscheinlich mit ihm reden wollen. Die Leiche wurde von einer Frau gefunden, die dort
mit ihrem Hund spazieren war, einer gewissen Emily Devere.«
»Jemand aus dem Ort?«
»Nein. Sie wohnt im Amersham.«
»Ihren Hund hat sie aber in Chesham ausgeführt?«
»Es ist ein öffentlicher Spazierweg, den sie besonders mag. Und das Black Cat war schon immer eins von ihren Lieblingspubs, sagt sie.«
Das Anziehende, vermutete Jury, war wohl eher das Pub als der Pfad.
»Haben Sie was Brauchbares aus ihr herausbekommen?«
Cummins schüttelte den Kopf. »Die ganze Sache hat sie ziemlich erschüttert. Im Pub war keiner aufzutreiben gewesen, also rief sie von ihrem Handy aus die Polizei an.«
»Auf welchem Weg gelangte sie auf die Terrasse mit den Tischen?«
»Sie ging oft vom Fußweg hinter dem Pub herüber und dann durch die Bäume nach hinten zur Terrasse. Es sind ja eigentlich bloß ein paar Bäume hinter dem Pub, gar kein richtiges Wäldchen. Sie hätte eine Katze in die Bäume laufen sehen, sagte sie, eine schwarze Katze. Vermutlich die Katze vom Pub.«
Cummins redete tapfer weiter.
»Also, was die Party betrifft: ein wohlbetuchtes Ehepaar namens Rexroth hatte eine Riesenfete veranstaltet, bei sich zu Hause, das ist nicht weit vom Pub. Im Deer Park House. Die behaupten, sie hätten die Frau noch nie gesehen, wüssten nichts über sie. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie
Die Wahrheit sagen.«
»Wie groß war denn die Party?«
»Gut achtzig Leute, vermutlich mehr. In der Hinsicht waren sie etwas vage.«
Jury lächelte.
»Wenn ich achtzig Leute im Haus hätte, wäre ich mehr als nur vage, da wäre ich sturzbesoffen.«
Cummins gefiel seine lässige Tonart.
»Zu bechern gab's auch reichlich, sagten sie. Gutmütige Leute, die Rexroths.«
»Dann werden sie sich bestimmt freuen, uns zu sehen.«
Das Black Cat lag an der Lycrome Road am Ortsrand von Chesham. Sie fuhren auf den kleinen Parkplatz. Das Pub selbst war blassgelb getüncht, wirkte freundlich und unaufdringlich. Die Polizei hatte den rückwärtigen Teil mit Absperrband abgeriegelt.
»Das Lokal ist seither geschlossen«, sagte Cummins.
»Ich nehme aber an, dass das Band jetzt entfernt wird. Kein Grund, länger als unbedingt nötig das Geschäft zu behindern. Die Besitzer sind auf einer längeren Ferienreise, eine Freundin von ihnen kümmert sich um den Laden. Sally Hawkins heißt sie, wohnt in Beaconsfield, hilft aber bei Bedarf aus. Ein Kind wohnt bei ihr - ihre Nichte, glaube ich.«
Jury wandte sich von dem Baumgrüppchen herüber, um das Pub in Augenschein zu nehmen.
»Ist Ms. Hawkins da?«
»Müsste da sein. Ich habe angerufen und gesagt, Sie würden sie sprechen wollen. Sehr erfreut war sie nicht.«
»Das sind sie nie. Zeigen Sie mir die Stelle, wo die Devere die Leiche gefunden hat.«
Sie überquerten den Parkplatz und eine regennasse Rasenfläche, die dringend gemäht werden musste, bis zu einer Terrasse, wo für Schönwettergäste mehrere Tische aufgestellt waren. Auf jedem stand ein, momentan eingerollter, Sonnenschirm. Auf einem der Tische lag eine schwarze Katze, ebenfalls eingerollt, dachte Jury, fest zusammengerollt und friedlich schlafend. Jury ließ seine Hand über den Rücken der Katze gleiten.
»Hallo, Katze«, sagte er. Und zu Cummins: »Die Pubkatze?«
»Würde mich nicht wundern. Na ja, die müssen ja eine schwarze Katze haben, nicht?«
Das Lokal wirkte verlassen, aber welches Lokal täte das nicht, dachte Jury, wenn Polizeiabsperrband quer über den Parkplatz flatterte.
»Der Tisch hier war es«, sagte Cummins und ging auf den am weitesten vom Parkplatz entfernten Tisch zu.
»Da musste sie gesessen haben, sicher wissen wir es nicht, aber gefunden wurde sie dahinter, ausgestreckt am Boden liegend. Mit dem Körper größtenteils auf der Terrasse, Schultern und Kopf im Gras. Es war, als wäre sie durch den Rückstoß vom Sitz gefallen. Der Kollege von der Gerichtsmedizin sagt, der Schütze stand vermutlich aufrecht da, der Flugbahn der Kugel nach, wie sie das Opfer getroffen hat.«
Cummins hob die Hand, deutete eine nach unten gerichtete Waffe an.
»Standen Getränke auf dem Tisch?«
Cummins schüttelte den Kopf.
»Nein. Nichts.«
»Scheint demnach ja nicht so, als wären es gute Freunde gewesen, die in Ruhe zusammen ein Gläschen heben wollten.«
Cummins musterte ihn ernst.
»Scheint ganz so, als wären es keine Freunde gewesen.«
Jury lächelte. Die dezente Zurechtweisung gefiel ihm.
»Dann unterhalten wir uns doch kurz mit Ms. Hawkins.«
Sie gingen durch die Seitentür neben der Steinterrasse in einen kleinen Eingangsbereich und von dort in die Bar, einen lang gestreckten, schmalen, nicht besonders großen, aber freundlichen Raum. Jury hörte Absätze auf den Treppenstufen klacken, dann betrat eine blonde Frau den Raum. Sie sah gar nicht schlecht aus, vielleicht ein wenig streng. Ihre Augen waren schiefergrau, ihr blondes Haar schimmerte messingfarben, wirkte etwas unnatürlich durch die zusätzlich aufgetragene Farbe aus der Flasche.
»Hab Sie beide draußen rumstehen sehen, da dachte ich mir, ich komm runter.«
Sergeant Cummins informierte Sally Hawkins, wer Jury war.
»Er möchte Ihnen bloß gern ein paar Fragen stellen zu dem Samstagabend.«
Sie warf eine gelbe Haarlocke über die Schulter.
»Ich hab Ihnen doch gesagt, was ich weiß, nämlich rein gar nichts. Also, ich
schenk mir jetzt einen ein. Wollen Sie auch was?«
Ohne großes Interesse an der Antwort trat sie hinter die Theke, griff sich gekonnt ein Glas vom Regal und hielt es bei einem weniger hochwertigen Gin unter den Dosierhahn. Jury hätte nicht erwartet, dass sie Sambuca mit obenauf schwimmenden Kaffeebohnen trinken würde. Er setzte sich auf einen Barhocker. Cummins blieb stehen.
»Tut mir leid, dass Sie alles noch mal durchkauen müssen«, sagte Jury.
»Aber ein neuer Blickwinkel kann immer ganz nützlich sein.«
Ihr ungehaltenes Stöhnen bezeugte, dass sie anderer Meinung war. Ihrem Gin sprach sie dennoch munter zu.
»Sind Sie bloß vorübergehend hier?«
Sie nickte.
»Sie haben eine Nichte, die bei Ihnen wohnt?«
»Keine Nichte, eher so was wie ein Mündel.«
Eine recht vage Bezeichnung, fand er, für die Existenz eines kleinen Mädchens. Er wartete ab, doch sie ließ sich nicht weiter über »so was wie« aus.
»Ist sie grade hier?«
»Nein, in Bletchley bei ihrer Cousine. Heute Abend kommt sie wieder. Ich hab sie fortgeschickt, als das da passiert ist.«
Bei diesen Worten deutete Sally Hawkins in Richtung Parkplatz.
»Bletchley?«, sagte Jury.
»Da wollte ich sowieso mit einem Freund hin. Nach Bletchley Park. Ich nehme an, Sie kennen es.«
»Wo sie im Krieg mit den Codes herumgemurkst haben? Klingt furchtbar öde. Ich möchte bloß wissen, wann sie das Absperrband da draußen abmachen. Bloß lauter Schaulustige kriege ich hierher!«
»Ich nehme an, heute Abend kommt es weg«, sagte Cummins.
»Sie verstehen aber doch, warum es sein musste. Wir wollen schließlich nicht, dass die Leute auf dem Tatort herumtrampeln.«
»Ach was, wer soll denn da trampeln, möchte ich wissen, bei den Bauarbeiten da draußen? Drei Viertel weniger Umsatz haben wir deswegen. Konnte ja keiner da parken bis heute. Fast
eine Woche lang. Ich kann Ihnen sagen.«
Sie schüttelte den Kopf über eine Welt, die es darauf angelegt hatte, ihr das Leben schwer zu machen. Als sie schließlich nichts mehr hatte, worüber sie sich beklagen konnte, verfiel sie nur noch tiefer in Unzufriedenheit und zog eine Zigarette aus einem Päckchen auf der Theke.
Jury fragte: »Hatten Sie die Frau schon mal gesehen oder haben Sie eine Ahnung, wer sie sein könnte?«
»Natürlich nicht. Hab ich den dämlichen Bullen doch schon gesagt. Ich weiß nicht, was die da draußen gemacht hat.«
»Am Samstagabend war eine Party bei...«
Jury sah zu Sergeant Cummins hinüber.
»Bei den Rexroths. Im Deer Park House, ein Stück weiter die Straße rauf.«
Jury fuhr fort: »So, wie die Frau gekleidet war, könnte es sein, dass sie dort war oder aber zumindest dorthin gehen wollte.«
»Komischer Aufzug dafür«, erwiderte Sally und verpasste Jury eine gehörige Portion Rauch direkt ins Gesicht.
Deutsch von Cornelia C.Walter
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Wilhelm Goldmann Verlag
Es stand bereits in den dämlichen Londoner Klatschzeitungen, da war der Fall noch keine drei Tage alt. Und ein Bild von ihm war auch dabei, obwohl für den Fall eigentlich die Polizei von Thames Valley zuständig war und nicht die Metropolitan Police. Superintendent Richard Jury, ranghoher Detective bei der Metropolitan, der die Sprossen der Dienstleiter erklommen hatte, ohne seinen Rang allzu wichtig zu nehmen, stand in diesem Moment in High Wycombe in der Gerichtsmedizin und betrachtete die Leiche einer bislang noch nicht identifizierten Frau.
Das Faszinierende an der ganzen Geschichte, mutmaßte er, war nicht bloß, dass das auffallend hübsche Mädchen (oder eher: die Frau, nur machte »Glamour-Girl« sich in den Zeitungen
eben viel besser) auf dem Grundstück eines Pubs vor den Toren Londons erschossen worden war, sondern auch der Umstand, dass die Polizei nach achtundvierzig Stunden immer noch nicht herausgefunden hatte, wer sie war.
Jury betrachtete die Leiche und fragte sich, wieso ihm dabei das berühmte Porträt des toten Chatterton in den Sinn kam. Dann fiel ihm ein, dass auch Millais seine Ophelia als Sterbende
gemalt hatte, oder jedenfalls so, wie er sie sich im Wasser treibend vorgestellt hatte. Das war typisch für die Zeit der Präraffaeliten, jene romantische Ära eines Rossetti, Holman Hunt und Millais: diese reiche Einbildungskraft, diese leuchtenden Farben, dieses Fasziniertsein vom Tod in der Jugend. Die Präraffaeliten hatten es wirklich mit dem frühen Sterben.
Dr. Pindrop: den Namen - man konnte die Stecknadel förmlich fallen hören - fand Jury köstlich, obwohl er überhaupt nicht zu dem Arzt passte. Schweigen war nämlich die Sache des Gerichtsmediziners nicht. Er verhaspelte sich beim Reden und erweckte den Anschein, als würde er gleich aus der Haut fahren und sich nur mit äußerster Mühe zurückhalten können.
»Zwei Schüsse«, sagte Pindrop, »einer davon knapp vorbei an den lebenswichtigen Organen...«
Er deutete auf die schwerverwundete Schulter für den Fall, dass Jury blind war.
»Der zweite in den Brustkorb, der hat es ihr dann gegeben.«
Jury nickte schweigend und versuchte, sich das klassisch gemeißelte Gesicht der Frau einzuprägen.
»Superintendent?«
Jury hob den Blick.
»Sie haben die Leiche ja ausgiebig studiert. Kann ich sie jetzt zudecken?«
Jury nahm an, dass die Irritation den üblichen Grund hatte: Wieso schickte New Scotland Yard eigentlich Leute her?
»Nein. Lassen Sie sie noch einen Augenblick.«
Jury setzte seine »ausgiebige« Betrachtung der Toten fort. Laut Gerichtsmedizin war die Tat mit einer .38er begangen worden. Eine Schusswaffe hatte man nicht gefunden, wohl aber ein paar leere Patronenhülsen. Der Arzt hatte ihm die Kleidung gezeigt, die sie getragen hatte: Designerkleid, Schuhe, Handtäschchen.
»Das Etikett ist angeschmutzt. Sieht nach Lanvin aus. Das ist dieser Franzose.«
»Nein. Das Kleid ist von Saint Laurent. Der andere.«
Pindrop grinste.
»Ah, Sie wissen ziemlich gut Bescheid über diese Franzosen, was?«
»Ich weiß eine ganze Menge.«
Jury verkniff sich das Lachen. Der Arzt stieß einen knurrigen Lacher aus. Es klang wie Dr. Watson, gespielt von Nigel Bruce. Das Kleid war wunderschön. Sehr gediegen und dann doch wieder nicht. Den Ausschnitt bildeten mehrere Lagen von Rüschen. Die Ärmel waren durchsichtig wie Glas und reichten fast bis zum Ellbogen. Das Kleid hatte fast dieselbe Farbe wie ihr Haar, ein sattes Kupferrot. Es war aus Seide gemacht oder aber aus Luft. Noch nie hatte er ein Kleid gesehen, das so züchtig und
gleichzeitig so sexy aussah. Die Schuhe waren von Jimmy Choo.
Der Name des Designers stand in großen Buchstaben quer auf der Innensohle einer hochhackigen Sandale mit reizvoll überkreuzten, schmalen Lederriemchen in einem schillernden Kupferton.
Die Tasche war von Alexander McQueen. Den kannte Jury zwar nicht, konnte sich aber denken, dass er zu den anderen Nobelläden an der Upper Sloane Street gehörte. Das gesamte Outfit, mochte er wetten, käme gut und gern auf einige Tausend Pfund.
»Teuer«, sagte der Arzt.
»Muss gut betucht gewesen sein.«
»Oder sonst jemand.«
Er hob den Blick.
»Wohnen Sie in Chesham. Dort, wo der Mord verübt wurde?«
»Nein, in Amersham. In Old Amersham, nicht das auf dem Hügel.«
Offensichtlich ein bedeutsamer Unterschied. »Dann können Sie also nicht sagen, ob die Frau möglicherweise aus Chesham stammt?«
Dr. Pindrop fuhr sich mit der Hand durch sein schütter werdendes Haar. Jury schätzte ihn auf Ende sechzig.
»Ich könnte schwören, ich hab sie schon mal gesehen.«
Diese Bemerkung überraschte Jury, da ein gewisses Mitgefühl aus den Worten des Arztes herauszuhören war, das er bis dahin nicht an den Tag gelegt hatte.
»Sie kommt Ihnen also bekannt vor.«
Das war doch wenigstens schon mal etwas.
»Ja. Irgendwie schon. Vielleicht stammt sie von hier. Wenn nicht aus Chesham, dann vielleicht aus Amersham, Berkhamsted... na ja, Sie wissen schon.«
»Ich kenne mich in der Gegend nicht aus.«
Der Arzt zog das Laken hoch und ließ es über das Gesicht der Toten fallen.
»Und warum sind Sie dann hier?«
2. KAPITEL
Es war die gleiche Frage, die Jury gestellt und die Detective Chief Superintendent Racer beantwortet hatte, mehr oder weniger jedenfalls.
»Weil sie darum gebeten haben.«
Ach tatsächlich, dachte Jury. Er wartete auf Racers weitere Ausführungen. Die aber nicht kamen. »War's das? Ist das alles? Wer sind ›sie‹? Und warum? Die Polizei von Thames Valley ist die Beste, auf jeden Fall landesweit die Größte außerhalb von London. Und die soll uns brauchen?«
Racer schlug unwirsch mit der Hand nach Jury, dem Einfaltspinsel.
»Nein, nein. Die sind selbstverständlich absolut fähig. Der Chief Constable ist ein Freund von mir. Er hat um äußerste Diskretion gebeten. Sie wissen ja, wie das so ist.«
Er begann, die Papiere auf seinem Schreibtisch herumzuschieben, was gar nicht so einfach war, da es nur drei oder vier waren. Wieder wartete Jury ab. Das »Warum?« hing immer noch in
der Luft, obwohl er offenbar der Einzige war, der das merkte. Er ließ es dabei bewenden.
»Wann ist denn das alles passiert?«
»Sie meinen, derMord an dieser Frau? Samstagabend, so weit sie festgestellt haben.«
Jury sah ihn an.
»Heute ist Montag.«
»Ich habe einen Kalender, Mann. Ich weiß, welcher Tag heute ist.«
Noch mehr Papiergeschiebe. Außerdem wusste er sehr gut, wie kalt die Spur inzwischen war.
Racer funkelte ihn wütend an.
»Tut mir leid, dass wir keine taufrische Leiche für Sie haben, Freundchen. Aber so ist es nun mal. Es wurde schon genug Zeit verschwendet...«
Als ob Jury der Zeitverschwender wäre.
»Dann machen Sie sich jetzt mal auf die Socken. Die hängt schon eine ganze Weile in der Warteschleife.«
Warteschleife! Als hätte die Ärmste einen Telefonanruf getätigt statt ermordet zu werden.
»Chesham ist in der Nähe von Amersham in Buckinghamshire. Ich rufe bei der Polizei dort kurz an, damit jemand Sie abholt.«
»Das ist also alles, was Sie mir zu der Ermordeten sagen können? Aber wenn die Polizei von Thames Valley nicht weiß, wer sie ist, sehe ich eigentlich nicht ein, wieso man diskret sein müsste.«
»Sie selbst sind ja auch nicht gerade ein Meister der Diskretion, Mann!«, kam die völlig unlogische Erwiderung.
3. KAPITEL
Detective Sergeant David Cummins von der Kriminalpolizei Thames Valley holte Jury an der U-Bahnstation Chesham ab. Für Ortsansässige, die in London arbeiteten, war die U-Bahn ein Geschenk des Himmels. Dass einem dadurch der Londoner Autoverkehr erspart blieb, war ein wahres Wunder. Außerdem konnte der erschöpfte Geschäftsmann hier draußen fast auf dem Lande ein idyllisches Leben führen.
Sergeant Cummins war freundlicherweise in das Café neben dem Bahnhof gesaust, um Jury einen kleinen Imbiss zu besorgen. Cummins war offenkundig schwer beeindruckt, nicht nur, einen Kriminalpolizisten von New Scotland Yard dazuhaben, sondern sogar einen Superintendenten. Sehr viel höher ging es nicht.
Jury sah davon ab, ihm zu sagen, dass sein Chef noch eine Stufe höher war. Er überlegte, wann Racer eigentlich das letzte Mal tatsächlich an einem Fall gearbeitet hatte.
»Was können Sie mir erzählen?«
Cummins holte tief Luft, als wollte er gleich eine lange und komplizierte Geschichte vom Stapel lassen.
»Nicht viel, Sir. Ein Taxi hat sie am Bahnhof Chesham mitgenommen, sollte sie am Black Cat absetzen, sagte er, und dass er so nah ranfuhr, wie er konnte, weil sie dort bei den Bauarbeiten doch die Rohre freigelegt haben, an der Straße vor dem Pub.«
Cummins fuhr fort:
»Von einer Party oder so was hätte sie nichts gesagt,meinte er. Sie werden wahrscheinlich mit ihm reden wollen. Die Leiche wurde von einer Frau gefunden, die dort
mit ihrem Hund spazieren war, einer gewissen Emily Devere.«
»Jemand aus dem Ort?«
»Nein. Sie wohnt im Amersham.«
»Ihren Hund hat sie aber in Chesham ausgeführt?«
»Es ist ein öffentlicher Spazierweg, den sie besonders mag. Und das Black Cat war schon immer eins von ihren Lieblingspubs, sagt sie.«
Das Anziehende, vermutete Jury, war wohl eher das Pub als der Pfad.
»Haben Sie was Brauchbares aus ihr herausbekommen?«
Cummins schüttelte den Kopf. »Die ganze Sache hat sie ziemlich erschüttert. Im Pub war keiner aufzutreiben gewesen, also rief sie von ihrem Handy aus die Polizei an.«
»Auf welchem Weg gelangte sie auf die Terrasse mit den Tischen?«
»Sie ging oft vom Fußweg hinter dem Pub herüber und dann durch die Bäume nach hinten zur Terrasse. Es sind ja eigentlich bloß ein paar Bäume hinter dem Pub, gar kein richtiges Wäldchen. Sie hätte eine Katze in die Bäume laufen sehen, sagte sie, eine schwarze Katze. Vermutlich die Katze vom Pub.«
Cummins redete tapfer weiter.
»Also, was die Party betrifft: ein wohlbetuchtes Ehepaar namens Rexroth hatte eine Riesenfete veranstaltet, bei sich zu Hause, das ist nicht weit vom Pub. Im Deer Park House. Die behaupten, sie hätten die Frau noch nie gesehen, wüssten nichts über sie. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie
Die Wahrheit sagen.«
»Wie groß war denn die Party?«
»Gut achtzig Leute, vermutlich mehr. In der Hinsicht waren sie etwas vage.«
Jury lächelte.
»Wenn ich achtzig Leute im Haus hätte, wäre ich mehr als nur vage, da wäre ich sturzbesoffen.«
Cummins gefiel seine lässige Tonart.
»Zu bechern gab's auch reichlich, sagten sie. Gutmütige Leute, die Rexroths.«
»Dann werden sie sich bestimmt freuen, uns zu sehen.«
Das Black Cat lag an der Lycrome Road am Ortsrand von Chesham. Sie fuhren auf den kleinen Parkplatz. Das Pub selbst war blassgelb getüncht, wirkte freundlich und unaufdringlich. Die Polizei hatte den rückwärtigen Teil mit Absperrband abgeriegelt.
»Das Lokal ist seither geschlossen«, sagte Cummins.
»Ich nehme aber an, dass das Band jetzt entfernt wird. Kein Grund, länger als unbedingt nötig das Geschäft zu behindern. Die Besitzer sind auf einer längeren Ferienreise, eine Freundin von ihnen kümmert sich um den Laden. Sally Hawkins heißt sie, wohnt in Beaconsfield, hilft aber bei Bedarf aus. Ein Kind wohnt bei ihr - ihre Nichte, glaube ich.«
Jury wandte sich von dem Baumgrüppchen herüber, um das Pub in Augenschein zu nehmen.
»Ist Ms. Hawkins da?«
»Müsste da sein. Ich habe angerufen und gesagt, Sie würden sie sprechen wollen. Sehr erfreut war sie nicht.«
»Das sind sie nie. Zeigen Sie mir die Stelle, wo die Devere die Leiche gefunden hat.«
Sie überquerten den Parkplatz und eine regennasse Rasenfläche, die dringend gemäht werden musste, bis zu einer Terrasse, wo für Schönwettergäste mehrere Tische aufgestellt waren. Auf jedem stand ein, momentan eingerollter, Sonnenschirm. Auf einem der Tische lag eine schwarze Katze, ebenfalls eingerollt, dachte Jury, fest zusammengerollt und friedlich schlafend. Jury ließ seine Hand über den Rücken der Katze gleiten.
»Hallo, Katze«, sagte er. Und zu Cummins: »Die Pubkatze?«
»Würde mich nicht wundern. Na ja, die müssen ja eine schwarze Katze haben, nicht?«
Das Lokal wirkte verlassen, aber welches Lokal täte das nicht, dachte Jury, wenn Polizeiabsperrband quer über den Parkplatz flatterte.
»Der Tisch hier war es«, sagte Cummins und ging auf den am weitesten vom Parkplatz entfernten Tisch zu.
»Da musste sie gesessen haben, sicher wissen wir es nicht, aber gefunden wurde sie dahinter, ausgestreckt am Boden liegend. Mit dem Körper größtenteils auf der Terrasse, Schultern und Kopf im Gras. Es war, als wäre sie durch den Rückstoß vom Sitz gefallen. Der Kollege von der Gerichtsmedizin sagt, der Schütze stand vermutlich aufrecht da, der Flugbahn der Kugel nach, wie sie das Opfer getroffen hat.«
Cummins hob die Hand, deutete eine nach unten gerichtete Waffe an.
»Standen Getränke auf dem Tisch?«
Cummins schüttelte den Kopf.
»Nein. Nichts.«
»Scheint demnach ja nicht so, als wären es gute Freunde gewesen, die in Ruhe zusammen ein Gläschen heben wollten.«
Cummins musterte ihn ernst.
»Scheint ganz so, als wären es keine Freunde gewesen.«
Jury lächelte. Die dezente Zurechtweisung gefiel ihm.
»Dann unterhalten wir uns doch kurz mit Ms. Hawkins.«
Sie gingen durch die Seitentür neben der Steinterrasse in einen kleinen Eingangsbereich und von dort in die Bar, einen lang gestreckten, schmalen, nicht besonders großen, aber freundlichen Raum. Jury hörte Absätze auf den Treppenstufen klacken, dann betrat eine blonde Frau den Raum. Sie sah gar nicht schlecht aus, vielleicht ein wenig streng. Ihre Augen waren schiefergrau, ihr blondes Haar schimmerte messingfarben, wirkte etwas unnatürlich durch die zusätzlich aufgetragene Farbe aus der Flasche.
»Hab Sie beide draußen rumstehen sehen, da dachte ich mir, ich komm runter.«
Sergeant Cummins informierte Sally Hawkins, wer Jury war.
»Er möchte Ihnen bloß gern ein paar Fragen stellen zu dem Samstagabend.«
Sie warf eine gelbe Haarlocke über die Schulter.
»Ich hab Ihnen doch gesagt, was ich weiß, nämlich rein gar nichts. Also, ich
schenk mir jetzt einen ein. Wollen Sie auch was?«
Ohne großes Interesse an der Antwort trat sie hinter die Theke, griff sich gekonnt ein Glas vom Regal und hielt es bei einem weniger hochwertigen Gin unter den Dosierhahn. Jury hätte nicht erwartet, dass sie Sambuca mit obenauf schwimmenden Kaffeebohnen trinken würde. Er setzte sich auf einen Barhocker. Cummins blieb stehen.
»Tut mir leid, dass Sie alles noch mal durchkauen müssen«, sagte Jury.
»Aber ein neuer Blickwinkel kann immer ganz nützlich sein.«
Ihr ungehaltenes Stöhnen bezeugte, dass sie anderer Meinung war. Ihrem Gin sprach sie dennoch munter zu.
»Sind Sie bloß vorübergehend hier?«
Sie nickte.
»Sie haben eine Nichte, die bei Ihnen wohnt?«
»Keine Nichte, eher so was wie ein Mündel.«
Eine recht vage Bezeichnung, fand er, für die Existenz eines kleinen Mädchens. Er wartete ab, doch sie ließ sich nicht weiter über »so was wie« aus.
»Ist sie grade hier?«
»Nein, in Bletchley bei ihrer Cousine. Heute Abend kommt sie wieder. Ich hab sie fortgeschickt, als das da passiert ist.«
Bei diesen Worten deutete Sally Hawkins in Richtung Parkplatz.
»Bletchley?«, sagte Jury.
»Da wollte ich sowieso mit einem Freund hin. Nach Bletchley Park. Ich nehme an, Sie kennen es.«
»Wo sie im Krieg mit den Codes herumgemurkst haben? Klingt furchtbar öde. Ich möchte bloß wissen, wann sie das Absperrband da draußen abmachen. Bloß lauter Schaulustige kriege ich hierher!«
»Ich nehme an, heute Abend kommt es weg«, sagte Cummins.
»Sie verstehen aber doch, warum es sein musste. Wir wollen schließlich nicht, dass die Leute auf dem Tatort herumtrampeln.«
»Ach was, wer soll denn da trampeln, möchte ich wissen, bei den Bauarbeiten da draußen? Drei Viertel weniger Umsatz haben wir deswegen. Konnte ja keiner da parken bis heute. Fast
eine Woche lang. Ich kann Ihnen sagen.«
Sie schüttelte den Kopf über eine Welt, die es darauf angelegt hatte, ihr das Leben schwer zu machen. Als sie schließlich nichts mehr hatte, worüber sie sich beklagen konnte, verfiel sie nur noch tiefer in Unzufriedenheit und zog eine Zigarette aus einem Päckchen auf der Theke.
Jury fragte: »Hatten Sie die Frau schon mal gesehen oder haben Sie eine Ahnung, wer sie sein könnte?«
»Natürlich nicht. Hab ich den dämlichen Bullen doch schon gesagt. Ich weiß nicht, was die da draußen gemacht hat.«
»Am Samstagabend war eine Party bei...«
Jury sah zu Sergeant Cummins hinüber.
»Bei den Rexroths. Im Deer Park House, ein Stück weiter die Straße rauf.«
Jury fuhr fort: »So, wie die Frau gekleidet war, könnte es sein, dass sie dort war oder aber zumindest dorthin gehen wollte.«
»Komischer Aufzug dafür«, erwiderte Sally und verpasste Jury eine gehörige Portion Rauch direkt ins Gesicht.
Deutsch von Cornelia C.Walter
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Wilhelm Goldmann Verlag
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Autoren-Porträt von Martha Grimes
Martha Grimes zählt zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen unserer Zeit. Lange Zeit unterrichtete sie kreatives Schreiben an der Johns-Hopkins-University. Durch ihre Serien um Inspektor Richard Jury und die 12-jährige Ermittlerin Emma Graham wurde sie weltbekannt. Die »Mystery Writers of America« kürten sie 2012 für ihr Lebenswerk zum »Grand Master«, und ihre Inspektor-Jury-Reihe wurde nun auch fürs deutsche Fernsehen entdeckt und erfolgreich verfilmt. Martha Grimes lebt heute in Bethesda, Maryland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Martha Grimes
- 2012, 384 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Cornelia C. Walter
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442477247
- ISBN-13: 9783442477241
- Erscheinungsdatum: 15.11.2012
Rezension zu „All die schönen Toten / Inspektor Jury Bd.22 “
"Martha Grimes ist einfach eine Meisterin, einen Krimi-Plot sorgsam voran zu treiben: immer so, dass es beim Lesen gerade nicht möglich ist, die nächste Wendung vorherzusagen. Und natürlich immer so, dass man die Zigarren, den Sherry und die ledernen Clubsessel in den Herrenzimmer fast schon riechen kann." (Hessischer Rundfunk)
Kommentar zu "All die schönen Toten / Inspektor Jury Bd.22"
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