Alle Tage
Am Anfang hängt in einem abgetakelten Bahnhofsviertel ein Mann kopfüber von einem Klettergerüst. Sein Name ist Abel Nema, und man sagt ihm nach, ein Genie zu sein. Doch was nützt das, wenn sich einmal ein...
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Am Anfang hängt in einem abgetakelten Bahnhofsviertel ein Mann kopfüber von einem Klettergerüst. Sein Name ist Abel Nema, und man sagt ihm nach, ein Genie zu sein. Doch was nützt das, wenn sich einmal ein Leben derart verändert hat, daß sich nichts und niemand mehr am richtigen Ort befindet - am allerwenigsten man selbst. Zuerst verschwindet der Vater spurlos, dann, nachdem Abel ihm seine Liebe erklärt hat, der Jugendfreund, und schließlich bricht in seinem Heimatland auch noch ein Bürgerkrieg aus - seitdem sitzt er im Westen fest. Immer wieder nimmt er Anlauf, Herr über sein Schicksal zu werden, versucht sich als Lehrer und als Landstreicher, und am Schluß sogar als Ehemann. Er wird, und nicht nur einmal, geliebt, dennoch: "Eines Tages ist der talentierte Mensch, der ich bin, einfach verzweifelt." Terézia Moras erster Roman ist angelegt als ein Prosa-Labyrinth von seltener Sprachkraft und einem ausgesuchten Reichtum an Bildern, der in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seinesgleichen sucht. Sie erzählt den Höllentrip eines entwurzelten und wortlosen Mannes, für den es am Ende doch eine Erlösung geben wird.
Alle Tage vonTerézia Mora
LESEPROBE
Wovon ich rede, sindherzzerreißende undoder komische Geschichten.Extremes und Skurriles. Tragödien, Farcen, echte Tragödien. Kindliches,menschliches, tierisches Leid. Echte Ergriffenheit, parodierte Sentimentalität,skeptischer und ehrlicher Glaube. Katastrophen selbstverständlich. Natur- undandere. Und ganz besonders: Wunder. Was die anbelangt, ist die Nachfrage stetsenorm. Wir kaufen Wunder von überallher. Beziehungsweise nehmen sie unseinfach. Die Wunder sind für uns alle da. Nicht umsonst heißen wir die Zeit derWunder. Die haben die Märtyrer, und wir haben die Wunder. Sie verstehen.
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Die lateinischen Ländersind besonders ergiebig. Gutes altes Babylon. Und natürlich Transsylvanien. DerBalkan etcetera. Beherrschen Sie wirklich all dieseSprachen? Alle zehn?
Einer, der aussieht wieChristus ohne Bart, kann kein Lügner nicht sein, was? Oder Rasputin. Rasputinist besser. Hinter Ihrem Rücken werde ich Sie so nennen, einverstanden? WasNeues von Rasputin? Im Übrigen ist es egal, sagte der Mann, ein Redakteur, zuAbel Nema, als er ihn das erste und letzte Mal sah.Meinetwegen lügen undoder erfinden Sie auch.Hauptsache, es ist gut. Sie verstehen mich?
Gut, gut, gut. Sehr gut.Im Übrigen ist Lügen gar nicht nötig. Das Leben ist voller furchtbarer Zufälleund unzählbarer Ereignisse. Sie verstehen.
JETZT
Wochenende
Vögel
Nennen wir die Zeitjetzt, nennen wir den Ort hier. Beschreiben wir beides wie folgt.
Eine Stadt, einöstlicherer Bezirk davon. Braune Straßen, leere oder man weiß nicht genau womitgefüllte Lagerräume und vollgestopfte Menschenheime,im Zickzack an der Bahnlinie entlang laufend, in plötzlichen Sackgassen an eineZiegelsteinmauer stoßend. Ein Samstagmorgen, seit kurzem Herbst. Kein Park, nurein winziges, wüstes Dreieck sogenannte Grünfläche,weil etwas übrig geblieben war am spitzen Zusammenlaufen zweier Gassen, so einleerer Winkel. Plötzliche Böen frühmorgendlichen Windes - das kommt von derzerklüfteten Straßenstellung, so ein soziales Gebiss -, rütteln an einerhölzernen Scheibe, einem alten oder nur so aussehenden Kinderspielzeug, das amRande der Grünfläche steht. Daneben der frei schwebende Tragering einesMülleimers, der Eimer selbst fehlt. Einzelner Abfall liegt im nahen Gestrüpp,das es in Anfällen von Schüttelfrost loszuwerden versucht, aber es fallen meistnur Blätter klappernd auf Beton, Sand, Glasscherben, ausgetretenes Grün. ZweiFrauen und wenig später noch eine, auf dem Weg zu oder von der Arbeit.Schneiden hier die Ecke ab, trampeln über den Trampelpfad, der das Grün in zweiDreiecke teilt. Eine der Frauen, eine Korpulente, zieht im Vorbeigehen zweiFinger über den Rand der hölzernen Scheibe. Der Scheibenfuß quietscht auf, eshört sich an wie der Schrei eines Vogels, oder vielleicht war es wirklich einVogel, einer von den Hunderten, die über den Himmel ziehen. Stare. Die Scheibedreht sich torkelnd. Der Mann habe auch irgendwie wie ein Vogel ausgesehen,oder eine Fledermaus, aber eine riesige, wie er da hing, seine schwarzenMantelflügel zuckten manchmal im Wind. Zuerst dachten sie, sagten die Frauenspäter aus, jemand hätte nur seinen Mantel dort vergessen, auf dieser Teppichklopfstange oder was das ist, ein Klettergerüst.Aber dann sahen sie, dass unten Hände heraushingen, weiße Hände, die Spitzender gekrümmten Finger berührten fast den Boden.
An einem Samstagmorgen zuHerbstbeginn fanden drei Arbeiterinnen auf einem verwahrlosten Spielplatz imBahnhofsbezirk den Übersetzer Abel Nema kopfüber voneinem Klettergerüst baumelnd. Die Füße mit silbernem Klebeband umwickelt, einlanger, schwarzer Trenchcoat bedeckte seinen Kopf. Er schaukelte leicht immorgendlichen Wind.
Größe: circa (sehrgroß). Gewicht: circa (sehr dünn). Arme, Beine, Rumpf, Kopf: schmal. Haut:weiß, Haar: schwarz, Gesicht: länglich, Wangen: länglich, Augen: schmal,Tränensäcke beginnend, Stirn hoch, Haaransatz herzförmig, Augenbraue linkstief, Augenbraue rechts hochgezogen - ein mit den Jahren zunehmend asymmetrischgewordenes Gesicht mit einer wachen rechten und einer schlafenden linken Seite.Ein nicht schlecht aussehender Mensch. Aber gut, auch das ist etwas anderes.Zwischen abheilenden älteren Blessuren ein halbes Dutzend neue. Doch abgesehendavon: Etwas ist jetzt doch anders, dachte seine Frau Mercedes, als man siespäter ins Krankenhaus rief. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass ich ihndas erste Mal schlafen sehe.
Eigentlich nicht, sagteder Arzt. Wir haben ihn in ein künstliches Koma versetzt. Bis wir wissen, wiees um sein Gehirn steht. Und weil es auch ein Gewaltdelikt ist, schließlichkann man sich, und sei man noch so fähig, nicht selbst in so eine Lage bringen,stellt auch die Polizei Fragen. Wann man seinen Mann das letzte Mal gesehenhabe.
Mercedes schaut lange indas Gesicht.
Ich hätte bald gesagt:Wenn ich s mir recht überlege: noch nie. Aber dann sagte sie doch: Das war vor Bei unserer Scheidung.
Chöre
An einem Samstag voretwas mehr als vier Jahren kam Abel Nema zu spät zuseiner Hochzeit. Mercedes trug ein schmales schwarzes Kleid mit einem weißenKragen und einen Strauß weißer Margeriten in der Hand. Er kam wie immer, inzerknitterten schwarzen Klamotten, suchte lange, mit zitternden Fingern nachseinem Identitätsnachweis, es sah so aus, als würde er ihn nicht finden, dannfand er ihn doch, in der Tasche, in der er zuerst nachgesehen hatte. ZurScheidung, an einem Montag vor , kam er wieder zu spät, ich habe so was schongeahnt, nach einer Weile weiß man das, schon als noch Zeit genug war, eineViertelstunde vor dem Termin, als sich Mercedes mit der gemeinsamen Anwältintraf. Wollen Sie das wirklich? fragte die Anwältin, als sie sie engagierten.Immerhin war er dort einigermaßen pünktlich erschienen, sagte aber anschließendkein Wort, nickte nur zu allem, was Mercedes sagte. Sind Sie sicher? fragte dieAnwältin hinterher. Vielleicht sollte jeder seinen eigenen Nein, sagteMercedes. Das ist kein Streitfall. Plus die Kostenersparnis.
Es war also schon zuwissen, dass es auch diesmal nicht glatt gehen würde, warum sollte esausgerechnet diesmal glatt gehen. Sie standen auf dem Gerichtsflur, dieAnwältin redete etwas, Mercedes sagte nichts, beide warteten sie. Draußensammelte sich eine letzte Brüllhitze, als würde der scheidende Sommer mithochrotem Kopf noch einmal das Maul aufreißen und einen (Mercedes, das ist ihreAssoziation) heiß und verächtlich anhauchen, aber hier drinnen zog es frösteligkühl den langen, grünlichen Flur herauf. Als das Handy der Anwältin klingelte,waren es nur noch fünf Minuten bis zum Termin, und, natürlich: er war dran.Mercedes spitzte die Ohren, ob sie ihn sprechen hörte und wie er klang, aber eswar nichts zu hören, nur die Echos der Flure und die Anwältin, wie sie Hm-Aha-Verstehe-In-Ordnung sagte. Er habe, berichtete sie,angerufen, um mitzuteilen, dass er unterwegs sei, das heißt, so gut wie, esgäbe da nämlich ein Problem. - Wieso überrascht mich das nicht? Jedes Mal, wennsich dieser Mann auf den Weg machen will, wohin auch immer, taucht ein Problemauf. - Das Problem sei diesmal, dass er ein Taxi nehmen müsse, nein, das seinicht das Problem, das Problem sei, dass er es nicht bezahlen könne, er habemomentan leider so gut wie kein Geld, aber er müsse dieses Taxi nehmen, sonstwürde er es nicht bis zum Gericht schaffen, schon gar nicht rechtzeitig.
Verstehe.
Sie standen noch eineMinute nebeneinander auf dem Flur, dann sagte die Anwältin, sie würde jetzthinausgehen und vor dem Gebäude auf ihn warten. Mercedes nickte und ging aufdie Toilette. Sie musste nicht auf die Toilette, aber draußen auf dem Flurstehen konnte sie auch nicht. Sie wusch sich die Hände, stand mit tropfendenFingern vor dem Spiegel, sah sich an.
Frauenstimme (singt): Do-o-na no-o-bis pa-a-cem pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.
Männerstimme (singt mitihr): Do-o-na no-o-bis pa-a-cem pacem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.
Andere Stimmen (singenmit ihnen): Do-o-na no-o-bispa-a-cem pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.
Alle: Do-na.No-bis. Pa-a-cem, pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.
Frauenstimme: Do-o-na no-o-bis
Männerstimme: Do-o-na no-o-bis
Frauenstimme(gleichzeitig): Paa-cem pa-cem.Männerstimme: Paa-cem pa-cem.
Frauenstimme(gleichzeitig): Doooo-naa no-o-bis.Andere Stimmen (gleichzeitig): Do-o-na no-o-bis. Männerstimme (gleichzeitig): Paa-cem,pa-cem. Andere Stimmen: Paa-cempa-cem.
Männerstimme(gleichzeitig): Doooo-naa no-o-bis.Frauenstimme (gleichzeitig): Paaa-a-cem.
Andere Stimmen(gleichzeitig): Doooo-naa no-o-bis.
Alle: Paaa-a-cem.(Mit ein wenig Konzentration bringt man das alles schon auf die Reihe.)
Auf dem Flur war es nichtzu hören, nur hier: In der Nähe oder weit weg probte ein Chor, oder was istdas, ein Friedensgebet, aber wieso am Montag mittag,Mittagspause, sie verwenden ihre Montagmittagspause, um Donanobis pacem zu singen. Wielange schon, keine Ahnung, jedenfalls unermüdlich. Frieden unsrer Seele,Frieden unsrer Seele, Friede, Friede.
Der dunkle Lippenstiftist ungewohnt. Das spitze Lippenherz.
Wieso muss man sich fürseine Scheidung schminken? Andere Frauen kommen und gehen, schauen sichebenfalls im Spiegel an, ihre dunklen oder helleren Lippen, Mercedes schautihnen durch den Spiegel zu, sie schauen Mercedes zu oder schauen ihr nicht zu,sie gehen, Mercedes bleibt. Mit einem Papierhandtuch den Mund abzuwischen istriskant. Rotes bleibt in den Härchen drumherumzurück. Himbeersirupmund. Jetzt verkrümmt er sich nach unten. Ich bin wenigerärgerlich als traurig. Friede, Friede, Friede.
Maria von der Gnade derGefangenenbefreiung, sagte Tatjana zu Erik. Unsere Freundin Mercedes hat eineArt Genie oder was aus Transsylvanien oder wo geheiratet, den sie aus dem Feueroder so ähnlich gerettet hat.
Eigentlich, sagteMercedes Mutter Miriam, ist alles in Ordnung mit ihm. Ein höflicher, stiller, gutaussehender Mensch. Und gleichzeitig ist nichts inOrdnung mit ihm. Wenn man das auch nicht näher benennen kann. Etwas istverdächtig. Die Art, wie er höflich, still und gutaussehendist. Aber vielleicht ist das so, wenn man hochbegabt ist.
Was heißt hier: hoch? Nungut, er kann was. Einpaar Sprachen. Angeblich. Denn in der Praxis hört man kaumeinen Satz von ihm. Das mag ein Symptom sein. Aber die Ursache ist es nicht. Erhat die gleichen Probleme wie jeder Emigrant: er braucht Papiere und er brauchtSprache, sagte zu einem früheren Zeitpunkt Professor TiborB. zu seiner damaligen Lebensgefährtin Mercedes. Letzteres hat er so gelöst,dass er einfach perfekt geworden ist, und das gleich zehnmal, und zwar so, dasglaubt man einfach nicht, dass er den Großteil seiner Kenntnisse im Sprachlaborerworben hat, so wie ich es sage: von Tonbändern. Es würde mich nicht wundern,wenn er nie mit einem einzigen lebenden Portugiesen oder Finnen gesprochenhätte. Deswegen ist alles, was er sagt, so, wie soll ich sagen, ohne Ort, soklar, wie man es noch nie gehört hat, kein Akzent, kein Dialekt, nichts - erspricht wie einer, der nirgends herkommt.
Ein Glückspilz, sagtejemand namens Konstantin. Ich sage zu ihm: Du bist ein Glückspilz. Da schaut ermich an, als hätte er kein Wort verstanden. Dabei soll das doch, nicht wahr,seine Spezialität sein. Wobei ich persönlich denke, seine eigentlicheSpezialität ist es, dass sich Menschen für ihn interessieren, und zwar ohnedass er auch nur das Geringste dafür tut. Man macht sich Gedanken über ihn undärgert sich hinterher, weil sich herausstellt, dass er einem die ganze Zeit,während man auf ihn eingeredet hat, nur auf den Mund geschaut hat, als besäßeallein die Art und Weise, wie man die Frikative bildet, Wichtigkeit für ihn.Der ganze Rest, die Welt, mit Mann und Maus, interessiert ihn nicht die Bohne.In der Welt leben und nicht in der Welt leben. So einer ist er. Immer etwasetepetete, so ein Rührmichnichtan, aber du täuschst mich nicht, dein Nameverrät dich: Nema, der Stumme, verwandt mit demslawischen Nemec, heute für: der Deutsche, früher fürjeden nichtslawischer Zunge, für den Stummen also, oder anders ausgedrückt: denBarbaren. Abel, der Barbar, sagte eine Frau namens Kingaund lachte. Das bist du.
Schlicht und ergreifendTrouble, sagte Tatjana. Das sieht man auf den ersten Blick, es sei denn, manist blind, es sei denn, man ist Mercedes. Im Wesentlichen, sagt sie, sei eseine Scheinehe. Das sind ihre Worte: Im Wesentlichen. Eine Scheinehe. Womit erbeide seiner Probleme gelöst hätte. Gratulieren wir. Und was sie anbelangt
Wie käme ich dazu, überandere zu urteilen. Es kann Gründe geben, diese sind oft von außen - Mercedesverzieht den Mund, das Gegenüber lächelt -, von außen, von wo aus sonst!, nichtzu sehen. Scheinbar verlieren sie einfach so den Verstand. Da ist dieserMensch, Abel Nema, so ein hoffnungsvoller, junger,die erste freie Generation!, mit der Welt zu Füßen. Genieße es, für diesenkurzen Moment, den es dauert, denn wie schnell kann es vorbei sein. Kaum hatman sich einmal umgeschaut, bricht etwas auf und aus, sagen wir: einBürgerkrieg - Ich kann es immer noch nicht begreifen, praktisch vor unsererHaustür! Was genau begreifst du nicht?-, und das war s dann, sieh zu, dass duLand gewinnst. Vor zehn, nein, mittlerweile dreizehn Jahren musste A. N. seineHeimat verlassen, das war sicher nicht leicht, seitdem allerdings war alleseher normal. Was man so nennt. Ein Mensch mit bemerkenswerten Talenten, zehnJahre, zehn Sprachen, gelernt und gelehrt, und auch als Privatperson voneiniger Wirkung, schließlich und endlich sogar mit Ehefrau, Stiefkind,Staatsbürgerschaft. Hat seine Nische gefunden, seine ruhige Ecke am Rande derParty, und dann, vor etwas mehr als einem Jahr, einem Samstag, nein, es warschon Sonntag, erwähnte Party, stand er auf, ging hinaus und ist seitdem praktischnicht mehr vorhanden. Hat sich zurückgezogen in diese skurrile bis lächerliche(alle Kursive: Mercedes) Wohnung mit diesem formidablen Blick zur Bahn undnichts als einer Matratze und einer Standleitung, und macht nichts, außer vonüberall auf der Welt skurrile bis lächerliche Geschichten für einen ominösenAgenten für skurrile bis lächerliche Wurstblätter zusammenzusuchen, sieben Tagedie Woche. Was soll ich dazu noch sagen.
Do-o-na no-o-bis. Irgendwann hastdu genug in den Spiegel gestarrt. Du bist, was du bist. Auf Zehenspitzen,warum?, ans kleine Fenster. Dahinter ein grauer Innenhof, mit demaufsteigenden, eigenen Geruch grauer Innenhöfe, darin parkende Autos, darüberHimmel. Etwas lauter: Do-o-na no-o-bis.Aber so richtig hört man nicht, woher es kommt. Als wär s von überallher. DasFenster ist vergittert. Hier werden auch normale Fälle verhandelt.Kriminalfälle. Ich werde nicht durch das Klofenster fliehen können. Mercedesschließt das Fenster. Den Chor hört man immer noch.
Und dann wieder im Flurstehen, da sind auch andere, und, das ist bemerkenswert, alle schauen indieselbe Richtung, den langen, grünlichen Korridor hinunter. Wie am Bahnsteigsteht man da, die Gesichter erwartungsvoll dorthin gewendet, wo bald etwas oderjemand auftauchen müsste: er; man spürt schon die Luft, die er vor sichherschiebt.
Als er dann tatsächlichauftauchte, insgesamt nicht mehr als eine Viertelstunde zu spät, sah er beiweitem nicht so wuchtig aus, wie man aus dem Wind, den er im Vorfeld verursachthatte, hätte annehmen können. Zwar groß, aber schmächtig, kein Zug, eher einSemaphor, ein Strich in der Landschaft, wenn man die Augen zusammenkneift,schmilzt er von den Seiten her ein. Von vorne betrachtet sah es so aus, alswürde er sich kaum von der Stelle bewegen. Dastehen, warten.
An einem Samstag vor vierJahren kam Abel Nema zu spät zu seiner Hochzeit. Ersagte, er habe sich etwas verirrt, und lächelte, ich kann nicht sagen, wie.Mercedes lächelte auch und fragte nicht, wieso er nicht ein Taxi hätte nehmenkönnen. Und eventuell etwas anderes anziehen. Der glitzernde Schweiß im offenenKragen über der zerknitterten Knopfleiste ist das deutlichste Bild, dasMercedes von ihrer Hochzeit geblieben ist. Das und der Geruch, der aufstieg,als er, mitten in der Rede der Standesbeamtin, an keiner bestimmten Stelle,denn es war ohnehin kaum zu verstehen, was sie sagte - Vielleicht könnte mandie Rede kürzen oder gar weglassen, sagte Mercedes, um die Zeit aufzuholen,aber die Frau sah sie nur mit blanken Augen an, holte Luft und erzählte einfachalles herunter, was auch immer, Liebe und Gesetz auf der Grundlage bürgerlicherLebensverhältnisse -, und ich dachte immer nur: ich heirate gerade, ichheirate, als er auf einmal: seufzte. Der Brustkorb, die Schultern stülpten sichhoch und sackten wieder zurück, und dabei stieg ein Schwall auf, ein seltsamesGemisch aus dem Geruch des Sakkos, in dem sich Staub mit Regen verbunden hatte,dem durchgeschwitzten Waschmittelgeruch des Hemds,seiner Haut darunter, seiner Seifen-, Alkohol-, Kaffee- und Talgnoten, undetwas wie Gummi, genauer: Latex, mit einem leichten, synthetischenVanillearoma, ja, sie glaubte, den Geruch eines Kondoms an ihm wahrzunehmen,plus den Geruch einer in der Hitze eines Dachgeschosses schmelzendenComputertastatur, mit weißen Kreisen im schwarzen Schmutz, dort wo die Fingerdie Tasten berühren, und so weiter, noch mehr bekannte Gerüche, aber diese sindNebensache, denn was wirklich wesentlich war in dem Moment, war etwas, was dieBraut Mercedes nicht hätte benennen können, das wie ein Wartezimmer roch, wieHolzbänke, Kohleofen, verzogene Schienen, ein in die Böschung geworfenerPappesack mit den Resten von Zement, Salz und Asche auf einer eisigen Straße,Essigbäume, Messinghähne und pechschwarzes Kakaopulver, und überhaupt: Essen,wie sie es noch nie gegessen hat, und so weiter, etwas Endloses, wofür sie garkeine Worte mehr hat, stieg aus ihm hoch, als trüge er ihn in den Taschen: denGeruch der Fremde. Sie roch Fremdheit an ihm.
© Luchterhand Verlag
Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman "Das Ungeheuer" erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband "Seltsame Materie", wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt außerdem zu den renommiertesten Übersetzern aus dem Ungarischen.
- Autor: Terézia Mora
- 2004, 429 Seiten, Maße: 14,4 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630871852
- ISBN-13: 9783630871851
- Erscheinungsdatum: 05.08.2004
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