Aller Anfang ist Apulien
Roman
Als Elena erfährt, dass ihr Mann sie betrügt, flüchtet sie nach Süditalien, ins Land ihrer Kindheit. Im Palazzo ihres Onkels Gigi lernt sie Michele kennen, einen jungen Maler aus Rom. Gemeinsam stoßen sie auf ein lang gehütetes Familiengeheimnis.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Aller Anfang ist Apulien “
Als Elena erfährt, dass ihr Mann sie betrügt, flüchtet sie nach Süditalien, ins Land ihrer Kindheit. Im Palazzo ihres Onkels Gigi lernt sie Michele kennen, einen jungen Maler aus Rom. Gemeinsam stoßen sie auf ein lang gehütetes Familiengeheimnis.
Klappentext zu „Aller Anfang ist Apulien “
Eine einzige Postkarte kann alles verändernAls sie an ihrem Geburtstag durch Zufall erfährt, dass ihr Mann sie betrügt, ist Elena erst mal weg: Sie packt ihre Koffer und ihren kleinen Sohn und fährt nach Süditalien, ins Land ihrer Kindheit. Im apulischen Lecce quartiert sie sich im Palazzo ihres Onkels Gigi ein. Dort lernt sie Michele kennen, einen jungen Maler aus Rom, der ebenfalls neu in der kleinen Stadt ist - und seiner Familiengeschichte auf der Spur. Auf einem nächtlichen Spaziergang machen die beiden eine Entdeckung, die das Leben in der kleinen Stadt auf den Kopf zu stellen droht - und die mehr mit ihnen zu tun hat, als sie ahnen. Eine brisante Affäre, ein lang gehütetes Familiengeheimnis und eine ungewöhnliche Liebesgeschichte - der Roman einer großen Entscheidung unter dem azurblauen Himmel Süditaliens.
Lese-Probe zu „Aller Anfang ist Apulien “
Aller Anfang ist Apulien von Kirsten Wulf1
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Michele hatte die Postkarte in Lucias Nachttisch gefunden, vergraben in einer vollgestopften Schublade zwischen bunten Ketten, Muscheln, Bibelversen und einem Fläschchen Lavendelöl, dem beruhigenden Duft für ihre schlaflosen Nächte.
Sie steckte in einem Briefumschlag, zusammen mit einigen Fotos: Wie Michele von Nonno Salvatore vor dem Weihnachtsbaum in die Luft geworfen wird, im blauen Schulkittel und mit Zahnlücke auf einer Schaukel unter Schirmpinien schwingend, als Teenager, lang und dürr, in schlotternden Shorts am Strand, endlich groß genug, seiner Mutter den Arm um die Schultern zu legen, aufgenommen vom Eisverkäufer an einem ihrer kostbaren Montage am Meer. Am Ruhetag der Osteria durfte Michele manchmal die Schule schwänzen, dann flüchteten sie aus Rom und gönnten sich einen Urlaubstag. Nur sie beide.
Seit Tagen rätselte Michele über diese Postkarte. Sie zeigte eine Piazza mit Amphitheater, davor eine Säule, auf der ein Heiliger mit wehendem Umhang und Wanderstab vor wolkenlos blauem Himmel thronte. Auf der Rückseite stand in krakeliger Schrift:
»Teuerste Lucia! Ein Gruß und eine Erinnerung aus Lecce. Ich hoffe, es geht dir und dem kleinen Michele gut. Alles ist wie geplant gelaufen, auch dein Bruder ahnt nichts. Sei beruhigt und bleibe, wo du bist - in Sicherheit! Dies sind der Rat und die Bitte einer Freundin. Ich weiß, dass Salvatore und Daniele dich lieben werden wie ihre eigene Tochter. Ihr werdet es gut bei ihnen haben. Ich umarme dich, M.«
Michele hatte diese Zeilen immer wieder gelesen, ratlos und enttäuscht. Was hatte Lucia mit Lecce in Apulien zu tun? Seit wann hatte sie einen Bruder? Wer war M.? Michele konnte sich nichts zusammenreimen. Warum hatte seine Mutter nichts erzählt?
Alles hatten sie geteilt, es gab keine Lügen, keine Geheimnisse zwischen ihnen - hatte Michele bislang zumindest gedacht. Er wusste alles, von der kleinen Kasse mit Schwarzgeld in der Osteria bis zu Lucias meist unseligen Männergeschichten. Die hübsche Lucia, mit ihrer singenden Stimme und dem überraschenden Lachen, das so klar aus der Mitte des Herzens herauspurzelte, dass sie damit die Männer überrumpelte. Sie hatte mal kurze, mal lange Affären, und Micheles Vater war eine der sehr kurzen gewesen. Ein Tourist aus Amerika, der eines Abends vergnügt in die Osteria hereinspaziert war, Lucia zum Lachen brachte und am nächsten Morgen wieder verschwand. Zum Heiraten hatte es bei keinem ihrer Liebhaber gereicht. Sie liebte ihren Sohn, ihre Osteria, ihre Freiheit - das reichte.
Michele war vermutlich der Einzige, der auch Lucias Schatten kannte. Der von der Angst wusste, die wie eine Krake in manchen Nächten in ihren Schlaf kroch, sie umschlang und würgte, bis sie vom Wummern ihres Herzens hochschreckte. »Ich habe die Geister schon wieder weggepustet «, lächelte sie ihn müde an, wenn er sie im Morgengrauen in ihrem Korbstuhl auf der Dachterrasse fand, mit einem leeren Rotweinglas und nach Lavendel duftend. Draußen jaulte jetzt ein Polizeiwagen durch die Nacht, rote und blaue Lichter flackerten durch das dunkle Zimmer, in dem seine Mutter vor einigen Wochen zu atmen aufgehört hatte, vom Krebs zerfressen. Sie hatte sich nicht gewehrt gegen die Krankheit, als ob sie vom Leben erschöpft gewesen sei. Mit nicht einmal 50 Jahren.
Ihre Osteria in einer Gasse bei der Piazza Navona hatte Michele verkauft, Lucia hatte darauf bestanden. Ihr Sohn wollte malen, nicht kellnern oder kochen, also bitte kein kitschiges Andenken an Mamma Lucia in der Osteria Fichi d'India.
Er stand zum letzten Mal in dem leer geräumten Schlafzimmer seiner Mutter und schaute auf die abgegriffene Postkarte, damit sie ihm endlich etwas Neues verriet. Abgeschickt in Lecce vor 28 Jahren. Michele schob die Karte in seine Jacke, schulterte die Reisetasche und zog die Tür hinter sich zu.
2
Der Weihnachtsstern über dem Amphitheater strahlte Elena entgegen. Darunter wedelte ein Signor wild mit seinem orangefarbenen Regenschirm, eingemummelt in einen anthrazitfarbenen Wollmantel, dessen Eleganz von einer bunt geringelten Pudelmütze aufgefrischt wurde. Elena erkannte ihn sofort: Gigi! Er hatte auf den Wagen mit dem deutschen Kennzeichen gewartet, der endlich auf die Piazza Sant'Oronzo rollte.
Eben noch hatte eine Sintflut das süditalienische Städtchen zu ertränken versucht, doch pünktlich zum Empfang hatte der Regen eine Atempause eingelegt. Im Auto hibbelte Ben in seinem Kindersitz, fragte zum hundertsten Mal »Mama, sind wir jetzt da?«. Elena lächelte nur, löste endlich seinen Gurt und Ben sprang befreit aus dem Auto.
»Che bel ragazzo! «, rief Gigi, hob Ben hoch, drückte dem verdutzten Jungen Küsse auf die Wangen und setzte ihn wieder ab. Dann sah Gigi seine deutsche Nichte an und umarmte sie überschwänglich, küsste sie links und rechts und nahm ihr müdes Gesicht in seine Hände: »Bella mia, ich habe immer gewusst, dass du eines Tages zurückkommen würdest. Ich habe es gewusst! «
Er küsste sie gleich noch einmal links und rechts und strahlte: »Alle, die im Licht des Salento aufgewachsen sind, kommen irgendwann zurück. Alle.«
Elena lächelte: »Ach Gigi!«
»Für dich immer noch Zio Gigi, tu mir den Gefallen, meine Kleine «, sagte er mit gespieltem Ernst. »Ich bin doch immer noch dein Onkel. «
Gigi setzte sich auf den Beifahrersitz, zog Ben auf seinen Schoß und wechselte von Italienisch zu den holperigen Resten seiner Deutschkenntnisse. »Ich zeigen dir, wo du mit deine Mamma jetzt wohnen. «
»Darf ich denn vorne sitzen? «
»Mit Zio Gigi du dürfen«, bestimmte der Onkel und ignorierte Elenas strengen Blick. »Nur eine kleine Stücke.« Gigi hatte bei Ben gewonnen.
»Vor dem Eingang meines Palazzo ist eine Baustelle «, er plapperte auf italienisch weiter, »wir müssen einen kleinen Umweg fahren. « Der Onkel lotste Elena durch die verwinkelten Gassen, zwischen aneinandergereihten Palazzi mit hohen Portalen, grünen Fensterläden und fußtiefen Balkons. Vor dem Weinladen musste sich eine Traube von Männern an die Hauswände drücken, damit Elena weiterfahren konnte. »Wir werden dir einen Anwohnerpass organisieren «, sagte Gigi, »damit du hier parken darfst. Für Nichtanwohner kostet das 112 Euro - die Polizisten verteilen gnadenlos Strafzettel. Sollten wir also bald ...«
»Wo soll ich denn nun halten? «, Elena hatte die Orientierung verloren. Links-rechts-links, der krummen Gasse folgen, an der Kirche rechts und sofort wieder rechts - und nun? Sie war erschöpft von der langen Tour, wollte endlich ankommen.
»Ah, ja. Vor dem Hoftor kannst du parken. Das ist das Lager vom Weinhändler, einem guten Freund, er hat die beste Auswahl unserer Weine hier, das würde man von außen nicht vermuten, was? Habe gerade heute noch einige Flaschen des diesjährigen Novello gekriegt, sehr vielversprechend, ich sage dir ...«
»Zio! Wo soll ich parken? «
»Ja, hier natürlich! Hier! Direkt vor dem Tor. Nocco weiß, dass du kommst und wird klingeln, falls er oder sein Sohn morgen früh da reinmuss.«
»Und wo ist dein Haus?«, Elena schaute sich auf der kleinen Piazza um.
»Gleich um die Ecke. Wegen der Baustelle kann man gerade nicht direkt ranfahren. «
Dicke Regentropfen klatschten wieder auf die Windschutzscheibe. Sie stiegen schnell aus, zerrten zwei Koffer und eine Tasche aus dem Kofferraum. Gigi war nur schwer davon zu überzeugen, dass auch Elena in der Lage war, einen Koffer hinter sich herzuziehen - »No, no, lass nur, du bist müde.«
»Aber Zio, ich bitte dich, also wirklich ...«
»Ah, queste donne tedesche ...« Elena überließ seiner Männlichkeit also einen Koffer und die Tasche, Ben setzte den Schildkrötenrucksack mit seinen zehn schnellsten Spielzeugautos und drei stärksten Rittern auf den Rücken und durfte Gigis Regenschirm aufspannen. Dann zogen sie im Gänsemarsch los, balancierten um Pfützen herum, tauchten von der Piazza in einen kaum beleuchteten Gang ein, gerade breit genug für eine Vespa. Noch eine kleine Piazza und noch ein etwas breiterer Gang. Im schwachen Licht tauchten die Schemen von zwei, drei Männern auf, die betont zufällig vor verschlossenen Haustüren herumstanden und gelangweilt ihre Fäuste in die Taschen bohrten. Die obere Hälfte einer geteilten Tür war geöffnet, schummriges Licht drang durch die rosafarbene Gardine. Durch einen Spalt sah Elena kurz eine üppige Blondine im Bademantel, die auf einer Bettkante hockte und gelangweilt in einen Fernseher starrte. Doch diese Szenerie drang nicht wirklich in Elenas Bewusstsein, sie war viel zu sehr mit ihrem Koffer und Ben beschäftigt, der den gigantischen Regenschirm bedrohlich locker hin und her schwenkte, aber - »NEIN NEIN NEIN!« - den Schirm nicht hergeben wollte.
Endlich trafen sie auf eine aufgerissene schmale Straße mit einem tiefen, langen Loch.
»Stellt euch das mal vor«, rief Gigi triumphierend durch den Regen, »Archäologen haben eine römische Straße gefunden! Direkt vor meinem Palazzo! « Der Onkel balancierte stolz auf Brettern, die eine Brücke auf die andere Seite der Straße bildeten. Elena zerrte ihren Rollkoffer in der einen Hand, hielt mit der anderen den Regenschirm über Ben fest, versuchte, den Regen zu ignorieren, der ihr in den Mantelkragen lief und die Schuhe durchweichte. Der Rollkoffer hakte an einem Brett und drohte in die Ausgrabungsstätte zu kegeln. Herr im Himmel, schenk dieser verdammten historisch wertvollen Straße einen glatt und akkurat gepflasterten Bürgersteig!
Sie hörte Gigi mit einem Schlüsselbund klimpern. Endlich. Er stand vor einem breiten Hoftor, vermutlich einst für hochrädrige Kutschen konstruiert und heute der Eingang zu Gigis barockem Palazzo. Feierlich drückte er das Tor zu einem weiten Innenhof auf, in dem sich Zementsäcke, Sand- und Steinhaufen türmten - das sah nach Bauhof, nicht nach bezugsfertiger Wohnung aus. »Sollten wir hier nicht eigentlich einziehen? «, knirschte Elena.
»Natürlich! Dort oben«, Gigi zeigte in den ersten Stock, wo ein Gang mit Arkaden den Innenhof säumte. »Mach dir keine Sorgen wegen des Krams hier unten, das sind nur noch Kleinigkeiten. «
© 2013, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Michele hatte die Postkarte in Lucias Nachttisch gefunden, vergraben in einer vollgestopften Schublade zwischen bunten Ketten, Muscheln, Bibelversen und einem Fläschchen Lavendelöl, dem beruhigenden Duft für ihre schlaflosen Nächte.
Sie steckte in einem Briefumschlag, zusammen mit einigen Fotos: Wie Michele von Nonno Salvatore vor dem Weihnachtsbaum in die Luft geworfen wird, im blauen Schulkittel und mit Zahnlücke auf einer Schaukel unter Schirmpinien schwingend, als Teenager, lang und dürr, in schlotternden Shorts am Strand, endlich groß genug, seiner Mutter den Arm um die Schultern zu legen, aufgenommen vom Eisverkäufer an einem ihrer kostbaren Montage am Meer. Am Ruhetag der Osteria durfte Michele manchmal die Schule schwänzen, dann flüchteten sie aus Rom und gönnten sich einen Urlaubstag. Nur sie beide.
Seit Tagen rätselte Michele über diese Postkarte. Sie zeigte eine Piazza mit Amphitheater, davor eine Säule, auf der ein Heiliger mit wehendem Umhang und Wanderstab vor wolkenlos blauem Himmel thronte. Auf der Rückseite stand in krakeliger Schrift:
»Teuerste Lucia! Ein Gruß und eine Erinnerung aus Lecce. Ich hoffe, es geht dir und dem kleinen Michele gut. Alles ist wie geplant gelaufen, auch dein Bruder ahnt nichts. Sei beruhigt und bleibe, wo du bist - in Sicherheit! Dies sind der Rat und die Bitte einer Freundin. Ich weiß, dass Salvatore und Daniele dich lieben werden wie ihre eigene Tochter. Ihr werdet es gut bei ihnen haben. Ich umarme dich, M.«
Michele hatte diese Zeilen immer wieder gelesen, ratlos und enttäuscht. Was hatte Lucia mit Lecce in Apulien zu tun? Seit wann hatte sie einen Bruder? Wer war M.? Michele konnte sich nichts zusammenreimen. Warum hatte seine Mutter nichts erzählt?
Alles hatten sie geteilt, es gab keine Lügen, keine Geheimnisse zwischen ihnen - hatte Michele bislang zumindest gedacht. Er wusste alles, von der kleinen Kasse mit Schwarzgeld in der Osteria bis zu Lucias meist unseligen Männergeschichten. Die hübsche Lucia, mit ihrer singenden Stimme und dem überraschenden Lachen, das so klar aus der Mitte des Herzens herauspurzelte, dass sie damit die Männer überrumpelte. Sie hatte mal kurze, mal lange Affären, und Micheles Vater war eine der sehr kurzen gewesen. Ein Tourist aus Amerika, der eines Abends vergnügt in die Osteria hereinspaziert war, Lucia zum Lachen brachte und am nächsten Morgen wieder verschwand. Zum Heiraten hatte es bei keinem ihrer Liebhaber gereicht. Sie liebte ihren Sohn, ihre Osteria, ihre Freiheit - das reichte.
Michele war vermutlich der Einzige, der auch Lucias Schatten kannte. Der von der Angst wusste, die wie eine Krake in manchen Nächten in ihren Schlaf kroch, sie umschlang und würgte, bis sie vom Wummern ihres Herzens hochschreckte. »Ich habe die Geister schon wieder weggepustet «, lächelte sie ihn müde an, wenn er sie im Morgengrauen in ihrem Korbstuhl auf der Dachterrasse fand, mit einem leeren Rotweinglas und nach Lavendel duftend. Draußen jaulte jetzt ein Polizeiwagen durch die Nacht, rote und blaue Lichter flackerten durch das dunkle Zimmer, in dem seine Mutter vor einigen Wochen zu atmen aufgehört hatte, vom Krebs zerfressen. Sie hatte sich nicht gewehrt gegen die Krankheit, als ob sie vom Leben erschöpft gewesen sei. Mit nicht einmal 50 Jahren.
Ihre Osteria in einer Gasse bei der Piazza Navona hatte Michele verkauft, Lucia hatte darauf bestanden. Ihr Sohn wollte malen, nicht kellnern oder kochen, also bitte kein kitschiges Andenken an Mamma Lucia in der Osteria Fichi d'India.
Er stand zum letzten Mal in dem leer geräumten Schlafzimmer seiner Mutter und schaute auf die abgegriffene Postkarte, damit sie ihm endlich etwas Neues verriet. Abgeschickt in Lecce vor 28 Jahren. Michele schob die Karte in seine Jacke, schulterte die Reisetasche und zog die Tür hinter sich zu.
2
Der Weihnachtsstern über dem Amphitheater strahlte Elena entgegen. Darunter wedelte ein Signor wild mit seinem orangefarbenen Regenschirm, eingemummelt in einen anthrazitfarbenen Wollmantel, dessen Eleganz von einer bunt geringelten Pudelmütze aufgefrischt wurde. Elena erkannte ihn sofort: Gigi! Er hatte auf den Wagen mit dem deutschen Kennzeichen gewartet, der endlich auf die Piazza Sant'Oronzo rollte.
Eben noch hatte eine Sintflut das süditalienische Städtchen zu ertränken versucht, doch pünktlich zum Empfang hatte der Regen eine Atempause eingelegt. Im Auto hibbelte Ben in seinem Kindersitz, fragte zum hundertsten Mal »Mama, sind wir jetzt da?«. Elena lächelte nur, löste endlich seinen Gurt und Ben sprang befreit aus dem Auto.
»Che bel ragazzo! «, rief Gigi, hob Ben hoch, drückte dem verdutzten Jungen Küsse auf die Wangen und setzte ihn wieder ab. Dann sah Gigi seine deutsche Nichte an und umarmte sie überschwänglich, küsste sie links und rechts und nahm ihr müdes Gesicht in seine Hände: »Bella mia, ich habe immer gewusst, dass du eines Tages zurückkommen würdest. Ich habe es gewusst! «
Er küsste sie gleich noch einmal links und rechts und strahlte: »Alle, die im Licht des Salento aufgewachsen sind, kommen irgendwann zurück. Alle.«
Elena lächelte: »Ach Gigi!«
»Für dich immer noch Zio Gigi, tu mir den Gefallen, meine Kleine «, sagte er mit gespieltem Ernst. »Ich bin doch immer noch dein Onkel. «
Gigi setzte sich auf den Beifahrersitz, zog Ben auf seinen Schoß und wechselte von Italienisch zu den holperigen Resten seiner Deutschkenntnisse. »Ich zeigen dir, wo du mit deine Mamma jetzt wohnen. «
»Darf ich denn vorne sitzen? «
»Mit Zio Gigi du dürfen«, bestimmte der Onkel und ignorierte Elenas strengen Blick. »Nur eine kleine Stücke.« Gigi hatte bei Ben gewonnen.
»Vor dem Eingang meines Palazzo ist eine Baustelle «, er plapperte auf italienisch weiter, »wir müssen einen kleinen Umweg fahren. « Der Onkel lotste Elena durch die verwinkelten Gassen, zwischen aneinandergereihten Palazzi mit hohen Portalen, grünen Fensterläden und fußtiefen Balkons. Vor dem Weinladen musste sich eine Traube von Männern an die Hauswände drücken, damit Elena weiterfahren konnte. »Wir werden dir einen Anwohnerpass organisieren «, sagte Gigi, »damit du hier parken darfst. Für Nichtanwohner kostet das 112 Euro - die Polizisten verteilen gnadenlos Strafzettel. Sollten wir also bald ...«
»Wo soll ich denn nun halten? «, Elena hatte die Orientierung verloren. Links-rechts-links, der krummen Gasse folgen, an der Kirche rechts und sofort wieder rechts - und nun? Sie war erschöpft von der langen Tour, wollte endlich ankommen.
»Ah, ja. Vor dem Hoftor kannst du parken. Das ist das Lager vom Weinhändler, einem guten Freund, er hat die beste Auswahl unserer Weine hier, das würde man von außen nicht vermuten, was? Habe gerade heute noch einige Flaschen des diesjährigen Novello gekriegt, sehr vielversprechend, ich sage dir ...«
»Zio! Wo soll ich parken? «
»Ja, hier natürlich! Hier! Direkt vor dem Tor. Nocco weiß, dass du kommst und wird klingeln, falls er oder sein Sohn morgen früh da reinmuss.«
»Und wo ist dein Haus?«, Elena schaute sich auf der kleinen Piazza um.
»Gleich um die Ecke. Wegen der Baustelle kann man gerade nicht direkt ranfahren. «
Dicke Regentropfen klatschten wieder auf die Windschutzscheibe. Sie stiegen schnell aus, zerrten zwei Koffer und eine Tasche aus dem Kofferraum. Gigi war nur schwer davon zu überzeugen, dass auch Elena in der Lage war, einen Koffer hinter sich herzuziehen - »No, no, lass nur, du bist müde.«
»Aber Zio, ich bitte dich, also wirklich ...«
»Ah, queste donne tedesche ...« Elena überließ seiner Männlichkeit also einen Koffer und die Tasche, Ben setzte den Schildkrötenrucksack mit seinen zehn schnellsten Spielzeugautos und drei stärksten Rittern auf den Rücken und durfte Gigis Regenschirm aufspannen. Dann zogen sie im Gänsemarsch los, balancierten um Pfützen herum, tauchten von der Piazza in einen kaum beleuchteten Gang ein, gerade breit genug für eine Vespa. Noch eine kleine Piazza und noch ein etwas breiterer Gang. Im schwachen Licht tauchten die Schemen von zwei, drei Männern auf, die betont zufällig vor verschlossenen Haustüren herumstanden und gelangweilt ihre Fäuste in die Taschen bohrten. Die obere Hälfte einer geteilten Tür war geöffnet, schummriges Licht drang durch die rosafarbene Gardine. Durch einen Spalt sah Elena kurz eine üppige Blondine im Bademantel, die auf einer Bettkante hockte und gelangweilt in einen Fernseher starrte. Doch diese Szenerie drang nicht wirklich in Elenas Bewusstsein, sie war viel zu sehr mit ihrem Koffer und Ben beschäftigt, der den gigantischen Regenschirm bedrohlich locker hin und her schwenkte, aber - »NEIN NEIN NEIN!« - den Schirm nicht hergeben wollte.
Endlich trafen sie auf eine aufgerissene schmale Straße mit einem tiefen, langen Loch.
»Stellt euch das mal vor«, rief Gigi triumphierend durch den Regen, »Archäologen haben eine römische Straße gefunden! Direkt vor meinem Palazzo! « Der Onkel balancierte stolz auf Brettern, die eine Brücke auf die andere Seite der Straße bildeten. Elena zerrte ihren Rollkoffer in der einen Hand, hielt mit der anderen den Regenschirm über Ben fest, versuchte, den Regen zu ignorieren, der ihr in den Mantelkragen lief und die Schuhe durchweichte. Der Rollkoffer hakte an einem Brett und drohte in die Ausgrabungsstätte zu kegeln. Herr im Himmel, schenk dieser verdammten historisch wertvollen Straße einen glatt und akkurat gepflasterten Bürgersteig!
Sie hörte Gigi mit einem Schlüsselbund klimpern. Endlich. Er stand vor einem breiten Hoftor, vermutlich einst für hochrädrige Kutschen konstruiert und heute der Eingang zu Gigis barockem Palazzo. Feierlich drückte er das Tor zu einem weiten Innenhof auf, in dem sich Zementsäcke, Sand- und Steinhaufen türmten - das sah nach Bauhof, nicht nach bezugsfertiger Wohnung aus. »Sollten wir hier nicht eigentlich einziehen? «, knirschte Elena.
»Natürlich! Dort oben«, Gigi zeigte in den ersten Stock, wo ein Gang mit Arkaden den Innenhof säumte. »Mach dir keine Sorgen wegen des Krams hier unten, das sind nur noch Kleinigkeiten. «
© 2013, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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Autoren-Porträt von Kirsten Wulf
Kirsten Wulf, geboren 1963 in Hamburg, arbeitete als Journalistin in Mittel- und Südamerika, Portugal und Israel. Seit 2003 lebt und arbeitet sie in Italien. Ihre Apulienkrimis (»Aller Anfang ist Apulien«, »Tanz der Tarantel«, »Vino mortale«) werden von der Presse sehr gelobt: »Geschmeidig und mit großer Liebe zu Besonderheiten ihrer italienischen Wahlheimat erzählt [...] Kirsten Wulf [...] davon, welche Abgründe in kleinen Städten unter der Oberfläche lauern können.« (Buchjournal). Zuletzt erschien ihr Portugalroman »Sommer unseres Lebens«.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kirsten Wulf
- 2013, 6. Auflage, 320 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462044974
- ISBN-13: 9783462044973
- Erscheinungsdatum: 11.02.2013
Rezension zu „Aller Anfang ist Apulien “
»Kirsten Wulf beschreibt ein Italien, wie man es auch aus Hochglanzprospekten kennt. [...] Und sie zeigt ein dunkles Italien, wie es in Gangsterfilmen erscheint.« Frankfurter Rundschau 201303
Pressezitat
»Kirsten Wulf beschreibt ein Italien, wie man es auch aus Hochglanzprospekten kennt. [...] Und sie zeigt ein dunkles Italien, wie es in Gangsterfilmen erscheint.« Frankfurter Rundschau 201303
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