Alles über Beziehungen
Roman
Viktor und sein Leben sind durchschnittlich, genauso wie seine Probleme: Demnächst steht sein fünfzigster Geburtstag an, sein Blutdruck könnte niedriger sein, er hat fünf Kinder und zwei Exfrauen sowie eine Lebensgefährtin, die...
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Produktinformationen zu „Alles über Beziehungen “
Viktor und sein Leben sind durchschnittlich, genauso wie seine Probleme: Demnächst steht sein fünfzigster Geburtstag an, sein Blutdruck könnte niedriger sein, er hat fünf Kinder und zwei Exfrauen sowie eine Lebensgefährtin, die vielleicht nicht ganz so begeistert wie Viktor selbst darüber ist, dass man ihn gerade zum Festival-Intendant gemacht hat. Und dann wäre da noch seine heimliche Leidenschaft: noch mehr Frauen. Durch den Sex mit seinen diversen Eroberungen hält er sich selbst für ausgesprochen interessant und einen scharfen Feger.
Die Frauen wiederum haben ihre eigenen Geschichten und Beweggründe, warum sie sich mit einem Weiberhelden wie Viktor einlassen - oder eben auch nicht. Magda, seine Lebenspartnerin, die endlich den Schritt vor den Altar schaffen möchte, hat von all dem keine Ahnung, und so schwebt über allem eine große Bedrohung: nämlich für Viktor die Gefahr, entdeckt zu werden und all seine schönen Rechtfertigungen und feinen Begrifflichkeiten von Treue, Komplizenschaft und Loyalität gleich mit. Denn: Was ist denn das eigentlich, Treue? Ist jedes Fremdgehen wirklich gleichzusetzen mit Betrug? Und: Existiert etwas Derartiges wie eine perfekte, glückliche, ehrliche Beziehung überhaupt?
Doris Knecht erzählt furchtlos, manchmal frivol, stets aber extrem unterhaltsam von Viktor und seinen Frauen - und zeichnet im mitreißenden Knecht-Stil nebenbei ein schönes Bild darüber, wie moderne Menschen lieben und die Folgen, wenn sie damit aufhören.
Bestellen Sie „Alles über Beziehungen" von Doris Knecht jetzt hier bequem online und verfolgen Sie in diesem amüsanten Roman Viktor und seine Vorstellungen von Treue.
Die Frauen wiederum haben ihre eigenen Geschichten und Beweggründe, warum sie sich mit einem Weiberhelden wie Viktor einlassen - oder eben auch nicht. Magda, seine Lebenspartnerin, die endlich den Schritt vor den Altar schaffen möchte, hat von all dem keine Ahnung, und so schwebt über allem eine große Bedrohung: nämlich für Viktor die Gefahr, entdeckt zu werden und all seine schönen Rechtfertigungen und feinen Begrifflichkeiten von Treue, Komplizenschaft und Loyalität gleich mit. Denn: Was ist denn das eigentlich, Treue? Ist jedes Fremdgehen wirklich gleichzusetzen mit Betrug? Und: Existiert etwas Derartiges wie eine perfekte, glückliche, ehrliche Beziehung überhaupt?
Doris Knecht erzählt furchtlos, manchmal frivol, stets aber extrem unterhaltsam von Viktor und seinen Frauen - und zeichnet im mitreißenden Knecht-Stil nebenbei ein schönes Bild darüber, wie moderne Menschen lieben und die Folgen, wenn sie damit aufhören.
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Klappentext zu „Alles über Beziehungen “
Viktor ist ein Mann mit durchschnittlichen Problemen: Er wird demnächst fünfzig, er hat hohen Blutdruck, fünf Kinder, zwei Exfrauen und eine Lebensgefährtin, die nicht immer so glücklich wie er selbst damit ist, dass er gerade Festival-Intendant wurde. Und er hat eine heimliche Leidenschaft: noch mehr Frauen. Viktor fühlt sich interessant und wie scharf gestellt durch die Frauen, mit denen er Sex hat: Josi und Helen, Anja, Camille, Lisbeth und noch ein paar andere. Die Frauen wiederum haben ihre eigenen Geschichten und entsprechende Gründe, warum sie sich mit einem wie Viktor einlassen - oder auch nicht mehr. Magda, seine Lebenspartnerin, die endlich geheiratet werden will, ahnt davon nichts, und so schwebt über allem eine große Bedrohung: dass Viktor auffliegt und all seine schönen Rechtfertigungen und feinen Begrifflichkeiten von Treue, Komplizenschaft und Loyalität gleich mit. Denn: Was ist das, Treue? Ist jedes Fremdgehen auch ein Betrug? Und: Existiert etwas Derartiges wie eine perfekte, glückliche, ehrliche Beziehung überhaupt?Doris Knecht erzählt furchtlos, manchmal frivol, stets aber extrem unterhaltsam von Viktor und den Frauen - und verrät im mitreißenden Knecht-Sound nebenher viel darüber, wie moderne Menschen lieben und was passiert, wenn sie damit aufhören.
Lese-Probe zu „Alles über Beziehungen “
Doris Knecht - Alles über BeziehungenReiche, weiße Menschen haben auch Probleme. Wobei Viktors
Sorgen im Moment noch gering waren, verglichen mit später an diesem
Tag. Viktor war auf dem Weg in eine Arztpraxis im ersten Stock, und
da dort der Status seines Fit- und Gesundseins festgestellt werden sollte,
entschied er sich gegen den Aufzug und ging zu Fuß. Natürlich hätte
Viktor aus der hellen, hohen, Jugendstil-gekachelten Eingangshalle
des Gründerzeitbaus schließen können, dass der erste Stock nicht im
ersten Stock lag, aber tja, reingefallen, schon wieder, denn wie in jedem
typischen Wiener Altbau aus einer Zeit, in der die Häuser nur eine bestimmte
Anzahl von Stockwerken haben durften oder jedes Stockwerk
besteuert wurde, Viktor wusste es nicht so genau, war auch hier getrickst
und eine Etage mehr herausgeschwindelt worden, die man eben nicht
Stockwerk nannte. Hoffentlich nicht gleich zwei, auch das gab es.
Viktor stieg die weite, geschwungene Treppe mit den blau-weiß gemusterten
Zementfliesen hoch, die Fenster gaben den Blick frei in einen
schmalen, von Veitschi überwucherten Innenhof. (Veitschi: Viktor
kannte das jetzt, seit Magda den Schrebergarten hatte. Also korrekt, seit
sie den Schrebergarten hatten, Magda, er, die Kinder. Aber Fakt war
nun mal: Magda hatte den Garten und die kleine Hütte darauf - Magda
nannte es: das Hausi - , Magda kümmerte sich darum, Magda war mit
den Kindern und mit Freundinnen und deren Kindern dort, sobald das
Wetter es zuließ; Viktor kam, man musste es so sagen, zu Besuch. Seltener,
als Magda es wünschte, öfter, als es ihm gefiel. Er hatte das Hausi
nicht gewollt. Wegen Viktor hätte man das Hausi nicht mieten müssen,
noch mehr Arbeit, noch mehr Verpflichtungen, aber wie so oft hatte
seine Meinung keinen interessiert. Immerhin, die Wohnung hatte er
jetzt öfter mal für sich allein,
... mehr
manchmal für Tage, zum ersten Mal, seit
er achtzehn war oder neunzehn, und er konnte nicht behaupten, dass
es ihm nicht gefiel.)
Unter zusehends nötigerer Zuhilfenahme des hölzernen Handlaufs
erreichte Viktor das Mezzanin und zog sich dann in den ersten, also
eigentlich zweiten Stock hinauf, stark keuchend, was im Kontext mit
dem Betreten einer Arztpraxis zum Zwecke eines Gesundheitschecks
jetzt vielleicht nicht so günstig war.
Das ging schon länger so. Alles war viel anstrengender als früher.
Er hätte doch den Lift nehmen sollen, aber das könnte einen falschen
Eindruck erwecken, nämlich jenen, dass Viktor unfit sei. Wie es Magda
zu seinem Unvergnügen permanent behauptete: Schau, Viktor, hier bist
du zu mager, hier gehören Muskeln her und hier auch, dafür hast du
viel Bauch, zu viel für deine Größe, Viktor, aber schöne, feste Waden
hast du.
Viktor hasste das, denn Viktor war der Meinung, dass er, trotz Glatze,
insgesamt wesentlich besser und jünger aussah als alle anderen Fünfzigjährigen,
die er so kannte, und auch wesentlich fitter, er selbst hätte
sich, erblickte er sich zum ersten Mal, so grob auf Anfang vierzig geschätzt.
Erst am Abend zuvor hatte er das seinem Spiegelbild wieder erklärt,
zweiundvierzig, höchstens dreiundvierzig, und hey, Augenringe
hat doch jeder. Speziell in einer Position wie der seinen. Viktor hielt sich
zudem für ganz schön sehnig und zäh, also für sein Alter. Tatsächlich
war er vor allem mager und verfügte über entschieden zu wenig Muskelmasse,
was er schon sehr bald erfahren würde, zu seiner erheblichen
Verblüffung und zu seinem Ärger, denn es gab Magda recht.
Jetzt wusste er erst mal sicher, dass er unbedingt besser den Aufzug
genommen hätte. Und er sollte weniger rauchen. Viel weniger. Viel,
viel, viel weniger. Und er überlegte, wie lange eigentlich MDMA im
Blut nachweisbar ist, länger als zwei Tage? Das wäre nicht so gut, wenn
das noch nachweisbar wäre. Daran hätte er auch denken können, am
Montagabend, was für ein Mann in seinem Alter und in seiner Position
machte überhaupt so was? So eine Blödheit. Aber dann halt eben auch
wieder gut und lässig. (Nora: Sie war Künstlerin, und sie kannten sich
schon lange. Aber diesmal hatte sie zugelassen, dass er übrig blieb bei
ihrer Party. Sie hatte MDMA und VH1, und der Sex war unglaublich,
selbst für einen Sexmenschen wie Viktor war der Sex ziemlich toll, wegen
ihr, und wegen dem MDMA, das das Knutschen verstärkte und das
Fühlen und Festhalten und das In-die-Augen-Schauen, alles war stark
und echt, endlos und großartig; Liebe machen. Und auf VH1 liefen die
unglaublichste Musik und die unvorstellbarsten Videos, was Nora gar
nicht sehen konnte, weil sie ihre Brille nicht trug, aber Viktor schon,
Boney M., Dolly Parton und Kenny Rogers, Eurythmics, John Denver
und Whitney Houston, Simon and Garfunkel und Marvin Gaye.
John Farnhams «You are the Voice» sang er den ganzen nächsten Tag vor
sich hin, We're all someone's daughter, we're all someone's son, und ihren
Geruch auf seiner Haut, er musste sie dringend wiedersehen, dringend
wieder Liebe machen mit ihr. Das war nur das MDMA, hatte sie gesagt,
das MDMA und das VH1, und als er sie am Tag danach anrief, hob sie
nicht ab.) Es hielt einen jung, wenn man sich hin und wieder so richtig
deppert aufführte. Alt wurde man vom Bravsein, vom Daheim-vorm-
Fernseher-Sitzen. Nur die Kinder brauchten nichts davon erfahren, also,
die älteren nicht. Und die Ärztin brauchte es auch nicht unbedingt zu
wissen. Allerdings fand man Spuren solcher Mittel bei einer Blutuntersuchung
vermutlich ohnehin nur, wenn man eigens danach suchte, und
er glaubte nicht, dass die Ärztin danach suchen würde. Doktor Haider.
Was für ein Name. Er war schon gespannt, wie sie aussah.
Seine Akut-Erschöpfung kam allerdings nicht von dem bisschen
MDMA und den paar Nasen am Montag, auch nicht vom Gras am
Dienstag und dem Wein am Mittwoch, nicht einmal von den vielen
Zigaretten, sondern resultierte wohl hauptsächlich aus dem Umstand,
dass diese Haider ihn bei der Terminvereinbarung ausdrücklich ermahnt
hatte, nüchtern zu der Untersuchung zu erscheinen, nein, keine
einzige Tasse Kaffee, nein, auch nicht, wenn Viktor ihn ohne Milch
trank. Kein Kaffee, das war nun eine für Viktor beinahe unüberwindliche
Hürde, er konnte für gewöhnlich kaum aufstehen ohne Kaffee, und
obgleich er wusste, wie umweltböse und verantwortungslos das war,
hatte er kürzlich auf die Anschaffung einer Kapsel-Espressomaschine
bestanden, gegen Magdas ausdrücklichen Willen, einfach weil er in der
Früh ohne Kaffee nicht einmal Kaffee machen konnte. Schon aufstehen
und einen Knopf drücken zu müssen, war eine kaum packbare Zumutung,
aber da die stets morgengrantige Magda sich weigerte, ihm Kaffee
ans Bett zu bringen, blieb ihm nichts anderes übrig.
Wenn Viktor dann endlich aus dem Bett kroch, war Magda meistens schon munter, hatte
die Kinder geweckt und gefrühstückt und die älteren in die Schule geschickt.
Aber bitte, Viktor war nun einmal ein Nachtarbeiter, ein Kulturbetriebsnachtarbeiter,
und die Nächte, die er mit Mitarbeiterinnen,
Kollegen und anderen Kulturbetriebsnachtarbeitern verbrachte, ressor-
tierten bei ihm auch unter Arbeit, er hatte da Besprechungen, das war
Socializing, Fact-Finding-Mission, kreativer Input. Er würde seinen Job
nicht gut, nein: würde ihn nicht machen, wenn er abends daheim vor
dem Fernseher säße, mit einem Kind und einer Katze auf dem Schoß.
Okay, Katze hatten sie keine, aber Kinder.
Viktor stand nun vor der Tür der Praxis, die Hände auf die Knie
gestützt, leicht keuchend, in der großen Hoffnung, dass in diesem Moment
keiner durch die Tür kam, vielleicht sollte er besser da vorne um
die Ecke verschnaufen. Und ja, er sollte definitiv weniger rauchen. Und
wenn bei diesem Vorsorgecheck alles okay war, würde er das auch, nein:
Er würde aufhören, er würde endlich mit dem Rauchen aufhören, und
diesmal endgültig, nicht wie die letzten drei, nein, vier, fünf Male, da
er es versucht hatte. Aber es wurde ihm auch wirklich nicht leichtgemacht
in dieser Stadt, in der absolut jeder rauchte, immer und überall.
Viktor ging zurück zur Eingangstür der Praxis und schnaufte noch einmal
durch. Neben ihm kam der Lift knarzend zum Stehen, die Tür ging
auf und eine mittelalte Frau trat heraus, sie kam genau auf Viktor zu,
mit einem etwas belustigten Blick, sie drückte auf die Klingel, und als
der Summer ertönte, drückte sie die Tür auf. Auch für Viktor, der ihr
bedeutete, sie solle ruhig vorgehen, er brauche noch einen Moment. Er
fischte sein Handy aus der Tasche, um diesen benötigten Moment mit
Sinn zu füllen, aber sie sah es schon gar nicht mehr. Viktor allerdings
sah auf seinem Handy eine SMS. Die Tür fiel schon wieder zu, Viktor
gab, während er seine Atmung beruhigte, schnell seinen Code ein. Von
Lisbeth, einer abgelegten Affäre, schon ein paar Monate her. Aha. Was
wollte die jetzt. Merkwürdig, aber: jetzt nicht, später. Viktor straffte sich
und drückte auf die Klingel, die sofort einen Summer auslöste. Viktor
stieß die Tür auf.
Helligkeit schlug ihm entgegen, der Raum war viel größer, als das
Haus hatte vermuten lassen, und viel moderner: durchzogenes, lackiertes
Schiffsholz überall an den Wänden und an der Decke, ein glänzender,
ozeanfarbener Fußboden. Rechts standen bequem aussehende Sessel
mit gelben Polstern, auf denen nun die Frau saß und Zeitung las,
Typ Anwaltsgattin.
Links entdeckte Viktor den Empfangstresen, ebenfalls
aus Holz. Er musste fünf oder sechs große Schritte machen, um
ihn zu erreichen, der Bodenbelag fühlte sich weich an und dämpfte seine
Schritte, und Viktor schritt mit bewusster Gelassenheit durch den
Raum, langsam und federnd. Denn er hatte hier nichts zu befürchten,
das war jedenfalls der Eindruck, den er zu machen trachtete, der aber
leider durch die Rötung seines kahlen Schädels etwas gestört wurde. Die
junge Frau hinter dem Pult blickte erst auf, als Viktor direkt vor ihr
stand, mit einem professionell fragenden Blick.
«Viktor Kirchner. Ich habe einen Termin mit Frau Doktor ...»
«Ihre e-Card bitte, Herr Kirchner.»
Viktor nestelte die grüne Karte aus seinem Portemonnaie, es dauerte
länger, als es sollte, das Mädel nahm sie, zog sie durch ein Lesegerät, zog
sie noch mal und energischer durch und gab sie Viktor zurück. Dann
tippte sie konzentriert in den Computer, während Viktor sich unauffällig
umsah: hinter ihr ein großes Regal mit Broschüren und ein paar ...
«Waren Sie schon einmal bei uns?»
«Nein.»
... Medikamentenpackungen, daneben stand ein bequem ...
«Ihre Adresse bitte.»
... aussehender Sessel mit Beistelltischchen, Viktor nannte seine Anschrift,
langsam und deutlich, die Frau tippte. Auf dem Tischchen erkannte
Viktor ein Blutdruckmessgerät und ein Fieberthermometer, und
er stellte sich vor, wie dort die Greise hinsanken und erst einmal festgestellt
wurde, ob sie überhaupt noch am Leben seien. Er war überrascht,
als die Frau ihm bedeutete, auf dem Sessel Platz zu nehmen. Er zog seine
Jacke aus und krempelte - das Blutdruckmessgerät - schon mal seinen
Ärmel hoch, aber die Frau ignorierte das und maß seinen Blutdruck
am Handgelenk. Aha, so machte man das heutzutage, Viktor war schon
länger nicht beim Arzt gewesen. Beziehungsweise: Er war ein alter Sack,
der mit der technischen Entwicklung im einundzwanzigsten Jahrhundert
nicht mehr nachkam, hier der Beweis. Die Frau schrieb etwas in
ein Formular, ohne Kommentar. Viktor krempelte seinen Ärmel herunter,
lautes Amselgezwitscher ertönte aus seiner Tasche. Die Frau blickte
missbilligend.
«Bitte das Telefon ausschalten.»
«Sorry», sagte Viktor, obwohl es ihm gar nicht leidtat. Das Handy
zwitscherte weiter, es schien lauter zu werden, bis Viktor es endlich aus
seiner Tasche gewühlt hatte. Lisbeth. Jetzt rief sie auch noch an. Sehr
ungewöhnlich. Sehr beunruhigend. Er schob den Regler auf lautlos. Er
hätte jetzt doch gern ihre SMS gelesen, wagte es aber nicht in der Gegenwart
der strengen Frau vor ihm. Die Sache machte ihm langsam Sorgen.
Die Arzthelferin drückte ihm, als Viktor seinen Ärmel wieder heruntergerollt
hatte, einen Kugelschreiber und zwei Zettel in die Hand, die
er bitte drüben im Wartebereich ausfüllen sollte, wo die Anwaltsgattin
gerade aus einer geöffneten Tür aufgerufen wurde, von einer schlanken
Frau in einem gut geschnittenen, schneeweißen Kittel. Sie nickte auch
Viktor zu, und Viktor, bepackt mit Jacke und Tasche, iPhone, Zetteln
und Kugelschreibern, nickte hilflos grinsend und heftig unterkoffeiniert
zurück und ließ sich dann auf den nächsten Sessel und seine Sachen auf
das Tischchen vor ihm fallen, auf die Zeitschriften, die dort lagen. Geo.
Zwei alte Vogues, eine Jagdzeitschrift, eine Brigitte (Brigitte: lange her,
unvergesslich. Sie war eine junge Schauspielerin in Viktors erstem Stück
gewesen, Viktor also selber noch jung. Sie hatte in einer schmutzigen,
überfüllten WG gewohnt, mit strangen Mädchen und merkwürdigen
Kerlen, einer von ihnen war Tätowierer gewesen und hatte Viktor sein
erstes Peckerl verpasst, einen nicht ganz exakten Barcode. Sie hatten hin
und wieder in ihrem Hochbett gevögelt, bis sie eines Nachts nach tüchtig
Flaschenbier abgestürzt waren, Viktor unten, sie oben, er brach sich
zwei Rippen. Hätte auch sein Hals sein können, Glück gehabt. Seither
hat er eine strikte No-Hochbett-Klausel. Brigitte hatte er kürzlich wiedergetroffen,
sie sah immer noch gut aus und spielte jetzt eine kleine
Rolle in einer nicht besonders hochwertigen Vorabendserie, die sie aber
wohl über Wasser hielt).
Viktor fand Platz für die Formulare und begann mit dem Ausfüllen.
Er war müde. Er hätte so dringend einen Kaffee gebraucht. Der eine
Zettel fragte Viktors medizinische Historie ab, Operationen, Allergien,
nein, nein, ja, nein, sein Handy leuchtete auf, eine Erinnerung an die
Vorsorgeuntersuchung, jaja, danke, er war ja eh da. Viktor füllte den
Zettel ohne Energie, aber routiniert aus. Er hatte erst kürzlich, wegen
anhaltender Magenschmerzen, eine Magenspiegelung im Krankenhaus
gehabt, er kannte das schon. Diagnose: chronische Gastritis, Reflux, die
üblichen Stresskrankheiten, nichts Schlimmes, zum Glück, außer dass
er sein Leben ändern sollte, aber. Das Handy leuchtete wieder auf, diesmal
war es Lisa, seine Assistentin, er blickte sich kurz nach der Arzthelferin
um, aber die hatte ihren Platz verlassen und war nicht zu sehen.
«Ich bin beim Arzt, Lisa. Ich ruf dich gleich an.» Viktor flüsterte
trotzdem.
«Okay», sagte Lisa, «ist dringend», und Viktor fühlte, wie sich in seinem
Nacken ein Muskel verkrampfte, noch einer, und er öffnete schnell
die Nachricht von Lisbeth.
Ich glaube, wir können das besser, Viktor.
Das stand da, sonst nichts. Merkwürdig. Was meinte sie? Er hatte
ewig nichts von ihr gehört, jetzt das, sehr merkwürdig war das, in der
Tat.
Aber jetzt musste Viktor erst einmal diese Formulare fertig ausfüllen.
Das zweite war anders, hellblau, ein sehr zartes, mit den Sesseln in
diesem Raum korrespondierendes Babyblau, auch darauf gab es Antworten
anzukreuzen, na gut, noch mal, seinetwegen. Viktor las gar nicht
erst, worum es ging, sondern setzte sofort den Stift an. Erste Frage: Wie
oft trinken Sie Alkohol? Viktor kreuzte bei «zwei- bis viermal in der Woche
» an, obwohl siebenmal in der Woche vermutlich zutreffender gewesen
wäre, aber Viktor war zu müde, um sich auf eine hundertprozentige
Antwort konzentrieren zu können. Auch die nächste Frage drehte sich
um Alkohol, und nun wurde Viktor misstrauisch, was war denn da los,
wieso wurde er hier so ausgefragt? Viktor fühlte seinen Lebensstil unhöflich
ins Licht gezerrt und überflog den Rest des Bogens: Ach, da ging
es überhaupt nur ums Trinken. Hier sollten wohl Alkoholiker überführt
werden, aha.
Das weckte Viktor ein wenig aus seiner entkoffeinierten Apathie,
vielleicht sollte er doch ein bisschen besser aufpassen beim Beantworten,
das ging vermutlich direkt an seine Versicherung, und wer weiß,
wo so was letztlich landete und welche unangenehmen Folgen das dann
haben könnte. Da saß vielleicht irgendein trauriger grauer Spießer an
einem traurigen grauen Laminatschreibtisch und legte Viktor in die Alkoholikerschublade,
weil sein eigenes Spießerleben so freudlos war und
er anderen auch keinen Spaß gönnen wollte. Aufpassen, Viktor, dachte
Viktor, aufpassen. Bei den restlichen Fragen kreuzte er nun also immer
die bravste Antwort an, so unwahr war das ja jetzt auch nicht. Wenn er
zu Hause war, trank er zum Beispiel kaum etwas, ein Glas Wein zum
Abendessen, manchmal danach noch eins oder zwei, drei auf dem winzigen
Balkon mit Magda, höchstens vier. Gut, er war nicht oft daheim,
aber dafür konnte er ja nichts, das war sein Beruf, und in seinem Beruf
gehörte Trinken nun mal zur Jobanforderung, was sollte er machen. Es
war Schicksal.
Allerdings störte ihn das jetzt, was er zu Beginn angekreuzt hatte.
Auf einen Laien, auf jemanden, der mit dem Kulturbetrieb, seinen Anforderungen
und Gepflogenheiten nicht vertraut war, auf eine Ärztin
oder auf den Spießer an seinem grauen Schreibtisch könnte viermaliges
Trinken pro Woche vielleicht einen falschen Eindruck machen, so
als würde Viktor den Alkohol benötigen, was selbstverständlich nicht
der Fall war. Viktor übermalte das angekreuzte Kasterl der ersten Frage
mit seinem Kugelschreiber und kreuzte ordentlich die zweite Antwort
an: «Zwei- bis viermal pro Monat», das klang doch moderat und
erwachsen. Auch bei der zweiten Frage verfuhr Viktor in dieser Weise,
bei der dritten ebenso, gut, das passte. Aber das Blatt sah natürlich
jetzt etwas lädiert und bearbeitet aus, unordentlich und nicht besonders
überzeugend. Drei gedokterte Fragen, das könnte wirken, als hätte er
aus taktischen Gründen günstigere Antworten gewählt. Das könnte den
Verdacht auf Viktor werfen, ein versteckter Alkoholiker zu sein, der gerade
noch klar genug im Kopf war, diesen Umstand vor seiner Ärztin
und seiner Versicherung verbergen zu wollen, allerdings nicht besonders
professionell. Diese drei mühsam ausgestrichenen Antworten, das
sah doch erst recht und ganz besonders so aus, als habe Viktor ein Problem.
Gar nicht gut sah das aus. Wenn einer drei Fragen noch einmal
neu beantwortete, da würde doch jeder misstrauisch, ganz besonders
aber eine Medizinerin, die würde einen Blick auf den Fragebogen werfen
und vermutlich nichts sagen, aber Viktor würde schon wissen, was
sie dachte.
Und Viktor wollte nicht, dass diese Ärztin, bei der er nie zuvor
war, die ihm nur empfohlen worden war, sich so was dachte. Etwas
Falsches nämlich. Er war ja kein Alkoholiker, er nicht. Paul hatte viel-
leicht ein bisschen ein Problem, auch der Kühn schlug gerade ziemlich
heftig über die Stränge. Und dass dem Ratzinger ein Zahn nach dem
anderen ausfiel, ohne dass der Ratzinger Anstalten machte, diese Zähne
zu ersetzen, setzte ihn in ein wenig positives Licht. Und wie der Miller,
der Nachbarin von nebenan, die Hände immer schon in der Früh
zitterten, war auch nicht mehr schön. Aber er nicht. Viktor nicht. Und
deshalb konnte er diesen Fragebogen so nicht abgeben, so viel war ihm
jetzt auch in seiner koffeinentzugsbedingten Semidämmerung klar.
Viktor nahm das Blatt und faltete es vorsichtig und unauffällig zusammen,
dann stand er auf und ging über den ozeanfarbenen Boden
zum Empfangstresen. Die Arzthelferin saß wieder an ihrem Platz und
war auf irgendwas im Computer fixiert, jedenfalls tat sie so, wahrscheinlich
aktualisierte sie gerade ihren Facebook-Status, twitterte oder
schickte ihrem Freund Nacktfotos. (Ursel: Sie hatte so einen unglaublichen
Körper. Und sie hatte ihm erlaubt, sie zu fotografieren, hatte ihm
auch selber ganz schön versaute Fotos geschickt. Erstaunlicherweise war
der Sex mit ihr trotzdem nicht gut, mechanisch, kantig, unsinnlich, und
sie beendeten die Sache schnell und in gegenseitigem Einvernehmen.
Die Fotos hatte Viktor allerdings behalten.) Sie blickte auf, als Viktor
seine Hand auf den Tresen legte, ungerührt: «Ja, bitte?»
«Können Sie mir bitte noch mal den blauen Fragebogen geben? Ich
habe da was falsch verstanden. Hatte heute noch keinen Kaffee.»
Viktor lächelte sein Verführerlächeln, beziehungsweise das, was er
dafür hielt. Die Arzthelferin lächelte nicht zurück.
«Bitte, gerne. Hier.»
Sie reichte Viktor ein neues blaues Formular. Falls seine Bitte sie mit
Misstrauen erfüllte, ließ sie sich das nicht anmerken.
«Ich danke Ihnen.»
«Sie können mir den alten Bogen geben, ich werfe ihn gleich weg.»
«Danke, kein Problem», sagte Viktor und ging langsam vom Tresen
weg, mit dem neuen und dem alten Fragebogen in der Hand, weil
hahaha, darauf fiel er nicht rein, sicher nicht, aber gewiss nicht. Guter
Versuch, aber. Die würde das doch nachher aus dem Papierkübel fischen
und mit dem korrigierten Blatt der Ärztin übergeben, Triumph
im Blick: Sehen Sie, den hab ich gerade noch erwischt. Eben nicht. Nicht
mit ihm, mit ihm nicht, mit Viktor sicher nicht.
Später, nachdem er zunächst in einem nach altem Rauch stinkenden
Café zwei doppelte Espressi geext und so zurück ins Leben gefunden
hatte, blinzelte Viktor auf dem Sessel in der Probebühne von seinem
Smartphone hoch, auf dem er noch mal Lisbeths Nachricht gelesen
hatte. Ich glaube, wir können das besser, Viktor. Was meinte sie damit?
Sollte er alarmiert sein? Sie war eine seltsame Person, immer gewesen,
viel zu anhänglich, viel zu verliebt. Er war alarmiert. Scheiße. Endlich
hatte Viktor sich in Sicherheit gefühlt, und jetzt: Was sollte das bedeuten?
Und war sie nicht in Griechenland, hatte er das nicht auf Facebook
gelesen? Hatte er doch. Das war nicht gut, dass die ihn anrief, anrufen
war überhaupt nie gut. Überhaupt: alles Scheiße.
Das Smartphone leuchtete, dann verlöschte es, während Viktor seinen
Blick auf die Bühne fokussierte: Es war alles überhaupt nicht gut,
nichts heute, Dreckstag das. Viktor strich sich über den kahlen Schädel,
vom Nacken nach vorne. Er bemerkte es gar nicht, es war eine unwillkürliche
Bewegung und voller Gram, erstens weil ihn Lisbeths SMS beunruhigte,
zweitens weil ihm nicht aus dem Kopf ging, was die Ärztin
über den Zustand seines fast fünfzigjährigen Organismus, speziell seines
Blutdrucks, gesagt hatte, also, so viel sie wissen konnte, bevor sie seine
Blutwerte aus dem Labor bekam, in drei Tagen wahrscheinlich, sie würde
ihn umgehend informieren. Drittens wollte ihn, wie Lisa ihm vorhin
mitgeteilt hatte, die Referentin des Ministers sprechen, viertens hatte
Magda in der Früh schon wieder das Hochzeitsthema angesprochen.
Und dann dieses Drama, das sich da gerade auf der improvisierten
Bühne vor ihm abspielte: Wäre Viktor hier der Regisseur, würde
er jetzt die beiden Schauspieler, die sich da vorne abmühten, kurz einmal
zur Ordnung rufen. Aber das würde a) nichts besser machen, und
b) war Viktor nicht der Regisseur. Nicht diesmal, nicht mehr. Viktor
war hier jetzt der Intendant. Allein der Gedanke machte Viktor breiter,
öffnete seinen Brustkorb, zog seine von der Haider'schen Diagnose
eingekrampften Schultern auseinander, drückte ihn schwer in die Lehne
des Sessels, auf dem er sich niedergelassen hatte. Er war Intendant
jetzt, er war der Intendant dieses Festivals, dieses gesamten Festivals,
und sein erstes Programm hatte selbstverständlich Flucht zum Thema,
Fluchtbewegungen, die Flüchtlingskrise in ihren Ursprüngen und ihren
Auswirkungen auf das große Politische und das kleine Private. Attentate.
Amokläufe. Angst. Das Erstarken der extremen Rechten. Die totale
Verunsicherung der Öffentlichkeit. Seine Schultern verkrampften sich
wieder, als er an den wohl unvermeidlichen Termin mit der Referentin
dachte. Er konnte sich schon vorstellen, um was es ging, es standen
Wahlen an, in wenigen Monaten.
Erst am Abend zuvor hatte er sich bei Kühn lange mit dem Schrader
über die Flüchtlingsproblematik und ihre Rezeption in der Kunst
unterhalten, dann gestritten: Schrader war ein großer, kompromissloser
Politisierer, der nach ein paar Bier immer laut und radikal wurde,
in seinem schrecklichen Tiroler Dialekt, wobei Schrader diese Radikalität
ausschließlich von anderen einforderte, diesfalls von Viktor und seinem
Festival. Das müsse krachen, hatte Schrader gebrüllt, da muss Leuten
in die Goschen gehaut werden, buchstäblich, deine Sprache muss
rohe Gewalt sein, nicht umgekehrt! Was willst du dem ganzen Internethass,
den Hatern, der ganzen rechten Dummheit sonst entgegensetzen?
Einen künstlerischen Diskurs, eine intellektuelle Auseinandersetzung?
Das hat sich doch komplett überholt! Schrader schrie, es war Viktor unangenehm,
selbst in diesem vertrauten Kreis, aber er wollte sich von so
einem Großmaul nicht diktieren lassen, wie er seine Arbeit, sein Festival
zu gestalten habe. Das hat, schrie Schrader, doch überhaupt nicht
funktioniert und wird auch nicht mehr funktionieren, das Internet hat
den gesamten Diskurs doch längst inhaliert, da kommt die Kunst doch
schon lange nicht mehr mit. Wie willst du mit Kunst ankommen gegen
Selbstmordattentate? Gegen das Grauen in Aleppo und die Kalifate des
IS? Vor allem auch gegen diese subjektive, aber massiv einbetonierte
Fremdenfeindlichkeit? Du musst was anderes machen, Viktor, das muss
krachen, Viktor, enttäusche mich bloß nicht mit kümmerlichen Kunstinstallationen,
mit mageren Manifesten oder traurigen Performances
mit ein paar herumhupferten Nackerten, Viktor! Das muss weh tun,
Viktor, körperlich, Viktor, ich erwarte Großes von dir, mein Freund,
Bahnbrechendes! Und wenn du das nicht bringst, kannst du gleich hinschmeißen,
ja, schmeiß besser gleich hin, tritt es in die Tonne, hier und
jetzt, und werd Investmentbanker. Oder Pfarrer. Hausmann. Oder, und
an dieser Stelle blickte Kühn hinterm Tresen böse, Wirt!
Oder geh heim, kümmere dich um deine Kinder!
Was sich Viktor wiederum von einem,
der seinen Lebensunterhalt mit dem Produzieren von, wie Viktor fand,
ganz, ganz seichter Musik verdiente, nicht erklären lassen brauchte, Sakrament,
und das tat er auch nicht. Der Abend war eskaliert, beinahe
wäre Viktor körperlich geworden, gegen Schrader, aber der hatte ihn
ausgelacht und einen polnischen Abgang gemacht, einfach weg, die feige
Sau.
Auch in dem, was er da jetzt auf der Probebühne sah, erkannte Viktor
ein großes, fundamentales Missverstehen seiner Ursprungsintention.
So konnte das nicht gezeigt werden, so konnte man das nicht erzählen.
Allerdings würde Viktor sich hier keinesfalls in die Niederungen der
direkten Kritik begeben, er machte sich höchstens für alle gut sichtbar
ein paar Notizen. Denn seine Kritik setzte jetzt höher an, grundsätzlicher.
Leider konnte Viktor den Theater-Regisseur in sich, der er so lange
war und von dem Viktor noch immer glaubte, dass er für das nationale
Theatergeschehen, ja für die Identität und die Gesundheit dieser Republik
eigentlich unverzichtbar und nicht zu ersetzen war, nicht vollständig
zum Schweigen bringen. Dieser Regisseur rumorte in Viktor wie ein
Zweit-Viktor, vernachlässigt, beleidigt, missverstanden, verletzt, übergangen,
wie eine seiner abgelegten Geliebten, wie Lisbeth. Nachdem
Viktor sie so vorsichtig wie möglich abserviert hatte, hatte er erst regelmäßig,
dann seltener Nachrichten von ihr bekommen, stets zärtlich und
verständnisvoll. Dann, nachdem er nur noch einsilbig und schließlich
nicht mehr geantwortet hatte, hatte er wochenlang nichts mehr von ihr
gehört, was ihn zunächst beunruhigt hatte, aber letztlich war er zu dem
Schluss gekommen, sie habe seinen Abgang akzeptiert und sich anderem
oder einem anderen zugewandt. Jetzt meldete sie sich auf einmal
aus Griechenland, mit so einer kryptischen Nachricht, was ihn ernstlich
beunruhigte. Denn sie war ja schon seltsam, als er sie noch traf. Ihre
Aufmerksamkeit Viktor gegenüber war zu stabil gewesen; eine konsequente
Zugeneigtheit, unbeirrbar auch von Viktors Launen. Eine fast
hündische Treue. Das sei so bei Steinböcken, hatte Lisbeth gesagt, wenn
Steinböcke einmal liebten (Liebe: Das Wort hörte Viktor im Kontext mit
Lisbeth und allen anderen seiner Affären ungern, um Liebe ging es hier
nicht und durfte es nicht gehen, wann würde sie das endlich begreifen),
blieben Steinböcke treu, immer treu, treu bis in den Tod. Was für ein
Scheiß! Und genau das hatte er nie gewollt, diese klebrige Anhänglichkeit,
und jetzt wollte er es schon gar nicht.
Das fand Viktor schon damals, als sie es sagte, während sie nackt auf
dem Rücken lag (ihre langen, steifen Nippel zeigten wie Pfeile zur Decke,
gerade und parallel nach oben, diese Nippel würden sich auch in
der Unendlichkeit nicht treffen, wirklich bemerkenswerte Nippel hatte
sie). Ihr Worte waren keine besonders vertrauenerweckende Botschaft,
die nachklang, über die Wochen, die seit ihrer letzten Begegnung vergangen
waren, Wochen ohne eine der kleinen, ziselierten Textnachrichten
von Lisbeth, in denen immer irgendeine Botschaft versteckt gewesen
war, wobei Viktor sich allerdings selten die Mühe gemacht hatte, diese
Botschaft zu dechiffrieren. Keine Facebook-Nachrichten mehr, nicht
einmal mehr ein Like hatte Viktor von Lisbeth noch bekommen; mehrmals
hatte Viktor kontrolliert, ob sie überhaupt noch befreundet waren
oder ob Lisbeth ihn entfreundet hatte, aber das hatte sie nicht. Doch die
immense Erleichterung, die er verspürt hatte, als ihre dauernde Betextung
weniger wurde, als sie allmählich verebbte und dann ganz abriss,
wich schnell anderen Gefühlen: der dumpfen, unsinnigen Gekränktheit
des plötzlich nicht mehr Umschwärmten, nicht mehr Wichtigsten, des
schieren Unglaubens darüber, dass er tatsächlich aus Lisbeths Gunst gefallen
sein könnte, vollständig und definitiv. Was Viktor natürlich misstrauisch
machte: Was machte sie, wenn nicht mit ihm? Was tat sie, wenn
sie ihm nicht mehr textete? Und nebenbei: Wem gab sie sich hin? Wo
ragten jetzt ihre Nippel in den Weltraum? Was dachte sie von ihm? Was
erzählte sie über ihn, und wem? Glaubte sie seine Ausflüchte, oder war
ihr klar, dass er sie einfach loswerden wollte, gleich nachdem sie getrennt,
Single und damit eine Gefahr für Viktor war? Und machte sie
das wütend? Hasste sie ihn vielleicht jetzt? Von wo drohte Ungemach?
Wollte sie Viktor etwas antun? Jetzt war sie also wieder da, und er bekam
noch mehr Angst.
Er hatte schon vor ein paar Wochen angefangen, Lisbeth aus naheliegenden,
durch und durch verständlichen Gründen ein wenig hinterherzuspionieren,
ihre Facebook-Posts zu checken, ihre Freundesliste zu
kontrollieren. Er analysierte Lisbeths Likes und die Likes, die Lisbeth
bekam, und ob sich welche überschnitten, mit Schrader zum Beispiel,
wo hatte sie nun den her, das war doch gar nicht ihr Freundeskreis. Viktor
las jetzt regelmäßig die Kommentare unter ihren Postings. Es war
ihm zu einer fast täglichen Routine geworden, Lisbeths Namen, so ihre
Aktualisierungen nicht sowieso gleich beim Öffnen in seiner Timeline
erschienen, ins Suchfeld einzugeben und schnell einmal durchzuscrollen,
was sie neu gepostet hatte. Alles zu seiner Sicherheit und der seiner
Familie.
Viktor hatte sich aus Lisbeths Leben entfernt, als sie sich von Jakob
getrennt hatte. Nicht wegen Viktor, hatte Lisbeth gesagt, aber Viktor
war sich da nicht so sicher. Es hatte seinen Fluchtimpuls ausgelöst, und
von da an hatte er sie und ihre eifrige Anteilnahme an allen Viktor'schen
Belangen abgewimmelt. Er fühlte sich schuldig deswegen. Nicht sehr,
ein bisschen. Ganz wenig; gerade genug. Denn eigentlich war es ja Lisbeth
gewesen, die das innere Gleichgewicht ihres Verhältnisses ruiniert
hatte. Das bequeme, harmonische Einverständnis, das sich in den Stunden
mit ihr in geschmeidigem, mühelosem Sex ausgedrückt hatte. Überraschend
unkompliziertem, geilem und absolut parallel schwingendem
Vögeln, umso bemerkenswerter bei einer so komplizierten, neurotischen,
zickigen Frau wie Lisbeth. Viktor hatte, das musste er sich eingestehen,
einen Hang zu zickigen Frauen, er sollte das vielleicht einmal mit
Professor Serafin besprechen. Jedenfalls hatte Viktor die schummerigen
Nachmittage mit ihr hinter den dicken Vorhängen durchaus gemocht,
auch wenn er nun ganz froh war, dass er mit den anderen Frauen keine
derartig verhirnten, beziehungsvollen Gespräche führen musste.
Aber wenn Lisbeth dann endlich die Klappe gehalten hatte, erfasste
sie eine überraschende Gelöstheit. Beim Sex war sie locker und unkompliziert.
Und diese luftige Einigkeit, diese einvernehmliche Leichtigkeit
hatte sie dann zerstört, ohne Not, wie Viktor fand. Sie hatte das Unaussprechliche
getan, sich von ihrem Freund getrennt und damit eine zwar
nur vage Möglichkeit in den Raum gestellt, aus der aber ganz schnell
ein konkreter Wunsch, ein Wollen, ein Beharren, eine Drohung, eine
echte Gefahr für Viktor erwachsen konnte. Erwachsen würde, Viktor
kannte so was doch. Zumindest aus Filmen kannte er das. Und er fühlte
hinter Lisbeths oberflächlichem Schmerz, hinter ihrem mit Viktor
vermeintlich überhaupt nicht zusammenhängenden Schritt der Trennung
ein zielgerichtetes Kalkül, das Viktors Existenz in wenigen Zügen
ruinieren konnte. (In Verfolgungswahn und Verschwörungsangst war
Viktor Number One: Man musste immer wachsam sein; immer schauen,
wer hinter einem her war, wer einem schaden wollte; und als Alltagsradfahrer
hatte man das ja, wie Viktor gern betonte, besonders gut
drauf, das ging einem quasi in Fleisch und Blut über: dass man nicht nur
für sich selber denken musste, sondern auch für andere, für die Autofahrer.
Was könnte der jetzt vorhaben, und der da drüben? Wurde Viktor
gesehen oder gleich gerammt? Immer Blickkontakt herstellen nach
allen Seiten, immer ganz schnell alle Gefahren abschätzen. Das machte
Radfahrer zu flexiblen und wendigen Denkern, fand und betonte Viktor
stets, wahrscheinlich um einiges flexibler und geschmeidiger als andere
Leute, Autofahrer im Speziellen, das sollte mal untersucht werden, fand
Viktor, da sollte wirklich dringend mal jemand eine Studie machen.)
Und weil er sich auf diese Weise eben auch sofort in Lisbeth hineinversetzen
konnte, oder es zumindest glaubte, floh Viktor. Und sie hatte
ihn fliehen lassen, anfangs jedenfalls. Dabei war sie aber eine Zeitlang
hinter ihm geblieben, in großem, angemessenem Abstand, doch in
Sichtweite: Wenn Viktor es wollte, hatte er sie quasi immer sehen können,
freundlich winkend aus der Ferne, wie eine fürsorgliche Mutter;
dann irgendwann nicht mehr. Im Prinzip alles paletti. Bis jetzt.
Er würde sich mit Lisbeths merkwürdiger Nachricht auseinandersetzen
müssen: sobald er Zeit dazu haben würde und genug Luft und
die notwendigen Nerven. Was in Viktors prallem, überfülltem Leben
nicht oft vorkam. Sowieso gar nicht mehr, seit er diesen Intendantenjob
angenommen hatte. Und jetzt, wo Magda heiraten wollte, plötzlich und
immer vehementer, und er sich mit einem Mal für etwas entscheiden
musste, für das er sich, so sah es jedenfalls Viktor, doch eh schon lange
entschieden hatte. Aber sie wollte, dass er sich festlegte, endgültig, mit
Dokument und Unterschrift und vor Zeugen. Und einen Ring, sie wollte
endlich einen Ring, alle ihre Freundinnen hatten Ringe, nur sie nicht.
Wieso habe ich keinen Ring, Viktor, hab ich keinen Ring verdient? Sie
wollte ihn an die Kette legen, final, so banal war es. Gewiss keine weltbewegenden
Probleme, die er da hatte, aber sie rührten sich in ihm und
nervten Viktor: Bruder von drei Schwestern, Vater von fünf Töchtern,
Lebensgefährte von Magda, Ex-Lebensabschnittspartner von Edith und
dann Natalie, gebenedeit unter den Frauen, Kulturmanager, Lebemann
und demnächst fünfzig.
Genau, darum musste er sich ja auch noch kümmern, um diesen
blöden Geburtstag. Alle erwarteten das, ständig kam eine an und sagte,
na, Viktor, du hast ja auch bald einen runden. Ein Runder. Was war bitte
rund am Altwerden? Viktor machte es unrund. Er fühlte sich krank,
wenn er nur daran dachte, dass er bald fünfzig sein würde, Viktor Kirchner,
fünfzig, er fand nicht, dass es ein Grund zum Feiern sei, definitiv
nein. Aber alle anderen fanden es offenbar schon und erwarteten von
Viktor eine erstklassige und extravagante Feierlichkeit, um sich auf seine
Kosten zu betrinken, satt zu fressen und tüchtig gehenzulassen. Er
hatte eh schon keine Kohle, die wurde eh schon verteilt unter all den
Frauen in seinem Leben. Jetzt sollte er auch noch feiern, als habe er
nichts Besseres zu tun. Als hätte er sich um nichts zu kümmern, außer
um eine, wie Viktor fand, völlig unnötige Hochzeit und einen noch viel,
viel unnötigeren fünfzigsten Geburtstag. Himmel, Heiliger, Fuck; ständig
musste er irgendwas.
Dieses Festival. Als Viktor den Ruf bekam, das Festival zu leiten, ein
kleines, nicht erstrangiges, aber doch gut beleumundetes und von der
Kritik fast durchgehend mit Wohlwollen bedachtes Festival, zögerte er
nicht lange, diesem Ruf zu folgen. Erstens und wichtigstens zum Vorteil
der hiesigen Kultur im Allgemeinen und des in den Jahren zuvor etwas
vernachlässigten und in die Bedeutungslosigkeit abgerutschten Festivals
im Speziellen. Zweitens zum Wohle seines Kontostandes, der unter
anderem von Alimentationszahlungen für die beiden Töchter aus
den Verbindungen mit Edith und Natalie seit je stark in Mitleidenschaft
gezogen wurde. Drittens, und stark im Kontext mit zweitens, im Dienste
seiner Selbstachtung. Denn auch wenn Viktor das stets mit innerem
Achselzucken vorgegeben hatte, hatte es ihn doch nie ganz gleichgültig
gelassen, dass Magda, seine Lebensgefährtin, jeden Monat mehr Geld
nach Hause gebracht hatte als er, der von der Kritik gefeierte Regisseur.
22
Magda verdiente ihr Geld mit einem kleinen, gänzlich prosaischen
Hausbetreuungs-Unternehmen, bestehend aus einer wachsenden Armada
vor allem tschechischer, aber auch ukrainischer und serbischer
Großmütter, die Magda befehligte. Die Firma war Magda eher passiert,
als dass sie sie tatsächlich gewollt und gegründet hatte, das passte zu ihr,
das war ihr doch mit Viktor ganz ähnlich gegangen. Magda hatte, als sie
nach Wien übersiedelt war, selbst geputzt, gemeinsam mit einer Tante,
in verschiedenen Häusern, und sie hatte auf kleine Kinder aufgepasst,
während sie Kunst studiert und fotografiert und so oft wie möglich bei
verschiedenen Fotografen assistiert hatte, fast immer ohne Honorar. Als
ihr das Fotografieren allmählich genug Geld einbrachte, um ihren Lebensunterhalt
einigermaßen bestreiten zu können, hatte sie die Putzjobs
reduziert.
Bis auf diesen letzten, von dem sie, wenn sie etwas mehr Bier getrunken
hatte (Magda war Tschechin, Magda trank Bier) und keine Kinder in
der Nähe waren, gerne den Freunden erzählte. Denn es hatte sich um die
Wohnung eines steinalten Kerls gehandelt, der ihr einen ungewöhnlich
hohen Stundenlohn dafür bezahlte, dass er ihr beim Putzen zuschauen
durfte, bevorzugt, wenn es sich um Bereiche in der Wohnung handelte,
die man nur auf Knien erreichen konnte. Handgreiflich, sagte Magda,
sei er nie geworden, aber während er ihr auf den Hintern starrte, habe
er merkwürdige Sachen erzählt.
«Was für Sachen?»
«Sachen von anderen Haushaltshilfen.» Magda wusste, wie man eine
Geschichte erzählt, jedenfalls diese.
«Was genau?»
«Die wurden dann seine Geliebten. Hat er erzählt. Und was er dann
so für Sachen mit ihnen gemacht hat, detailliert. Und was sie davon hatten.
»
«Echt jetzt?»
«Ja, echt.» Magda erzählte die Geschichte gern, zog die Vokale lang.
Die Backen ganz rot. Und sie wusste natürlich, welche Frage sich nun
zuverlässig anschloss.
23
«Was für Sachen, Magda? Details, Magda, Details!» Und Magda
grinste glücklich.
«Erzähl ich lieber nicht.» Und sie sagte nichts mehr, trotz der Proteste,
die zuverlässig vorgebracht wurden.
«He!»
«Gemein!»
«Jetzt komm!»
«Und du, Magda? Wurdest du auch seine Geliebte, Magda? Magda!»
Nein, wurde Magda nicht. Sie gab den Job bei dem geilen alten Knacker
schließlich ab. An eine jüngere Cousine, von der sie später nicht
sicher war, ob nicht die seine Geliebte wurde, wenngleich die Cousine
es stets abstritt. Magda lebte lieber ein paar Monate lang fast ausschließlich
von asiatischen Instant-Nudelsuppen, nährwertoptimierend
ergänzt von den Sonntagsessen bei ihrer Tante, opulenten böhmischen
Mahlzeiten mit Knödelschwerpunkt. Und sie hatte, nachdem sie zuerst
eine Tante, noch eine Tante, dann besagte Cousine als Haushaltshilfe
und Ersatz für sich selber vermittelt hatte, eine Liste angelegt. Als ihr
bei den Plaudereien während ihrer Fotoshootings aufgefallen war, wie
viele Leute auf der Suche nach zuverlässigen, vertrauenswürdigen Putzfrauen,
Nannys, Hausbetreuerinnen, Näherinnen und dergleichen waren,
hatte sie erst die Tante der Cousine vermittelt, dann die Schwester
der Tante der Cousine, dann die Nichte der Schwester der Tante der
Cousine als Kindermädchen - und auf einmal hatte Magda einen kleinen
Karteikasten mit Adressen und Telefonnummern, ein zweites Handy
und eine Unternehmenssteuernummer beim Finanzamt. Als Fanny
geboren wurde und Viktor aus augenfälliger Dringlichkeit - was würde
aus dem Theater als solchem werden, ohne ihn! - selbstverständlich
nicht in Karenz ging, setzte Magda vorübergehend ihre Fotojobs aus,
vergrößerte aber gleichzeitig den Karteikasten, denn telefonieren und
organisieren konnte eine patente Tschechin wie sie schließlich auch mit
einem saugenden Kind an der Brust, in fleckigen Pyjamahosen und dicken
Socken, sah ja keiner.
Jetzt außer Viktor, aber der war egal. Überhaupt drohte Viktor mit
der Geburt ihres ersten Kindes aus Magdas Augen und im Orkus der
Unsichtbarkeit zu verschwinden, wie früher schon. Er wehrte sich dagegen,
anfänglich. Dann erkannte er, dass ihm der ehemalige Makel hier
(warum hatte das eigentlich bei Edith und vor allem bei Natalie nicht
funktioniert?) durchaus zum Vorteil gereichte, und überließ (vielleicht
wegen seiner eigenen Ambitionen: Beim ersten Mal wollte er noch ein
richtiger, guter Vater sein, und nachdem er da versagte, wollte er's beim
zweiten Mal beweisen. Danach gab er auf) Magda dem Kind und dem
Karteikasten. Mit diesem, einer abgegriffenen alten Holzkiste, verdiente
Magda dann immer gerade ein bisschen mehr als Viktor am Theater
mit seiner Kunst, und wie nebenbei hatte sie sich dabei stets auch
noch um die Kinder gekümmert, erst eins, dann zwei und jetzt drei (alles
Töchter, offenbar konnte Viktor nur Mädchen), und schließlich auch
das Fotografieren wieder aufgenommen, zuerst auf ihrem Blog, dann
auch wieder mit echten Jobs von Zeitschriften und Agenturen. Natürlich,
das wurde Viktor nicht müde zu betonen, nicht ohne die Unterstützung
der Leih-Großmütter aus ihrem Zettelkasten, diese schaukelten
Magdas Werk mit der Energie von Frauen, die endlich wieder und
wider Erwarten doch noch gebraucht werden. Und von denen die meisten,
wie Viktor irgendwann zu seiner erheblichen Verblüffung feststelle,
viel jünger waren, als sie aussahen, was ihn, als er einmal in eine bierselige
Küchen-Geburtstagsfeier für eine der Damen platzte, in eine unschöne
Situation brachte: Äh, ja, Entschuldigung, ich hab jetzt gar nicht
richtig, sorry, sorry, sorry, das ist mir jetzt, ich muss dann wieder.
Kindischerweise bedeutete es für Viktor keine geringe Befriedigung,
dass er nun endlich mehr Mittel in den gemeinsamen Haushalt einbringen
konnte als seine Lebensgefährtin, der das wiederum vollkommen einerlei
zu sein schien. Geld war für Magda nicht so wichtig. Magda waren
andere Sachen wichtig: Kinder, Familie, Freunde, dieser blöde Schrebergarten
und die Paradeiser, die sie darin zog, und jetzt, jetzt auf einmal
war ihr wichtig, dass auch der Rahmen stimmte, dass sie nicht mehr
nur Viktors Lebensgefährtin war und die Mutter dreier seiner Kinder,
sie wollte jetzt mehr sein, offiziell sein, seine Frau, sie wollte geheiratet
werden mit allem Drumherum und Dran, wie sie es nannte.
Das Drum und Dran wiederum war Viktor einerlei, nein, im Gegenteil sogar, das
brauchte Viktor überhaupt nicht, da war er modern; wohingegen es ihm
plötzlich wichtig war, mehr zu verdienen als seine Frau, da war er altmodisch.
Das war ihm überhaupt nicht einerlei, und deshalb hatte Viktor sein
neues Intendantengehalt natürlich mit der maximal möglichen Nonchalance
präsentieren müssen, um nicht Magdas leicht reizbaren Spott
zu provozieren; du, übrigens. Magda hatte aus der präsentierten Zahl
allerdings vor allem die Miete für den langersehnten Garten herausgelesen,
ein geräumigeres, für Reparaturen weniger anfälliges Auto, ein neues
Sofa - nein, doch nicht, lieber erst, wenn die Kleine aus dem gröbsten
Schokoladenfingeralter raus ist. Und die Hochzeit, natürlich, das neue
Gehalt war eine Gelegenheit gewesen, auch dieses Thema aufs Tapet zu
bringen, damals noch etwas verhaltener als jetzt, als heute früh. Und
die Klavierstunden, um die Fanny seit Jahren bettelte. Ach ja, und dazu
natürlich ein Klavier, das Magda so lala ins Wohnzimmer gequetscht
hatte, zwischen Bücher- und Plattenregal, geht schon, passt. Sie nahm
es nicht so genau mit diesen Dingen, mit allen Dingen eigentlich, das
machte das Leben mit ihr so angenehm.
Während Viktor bei der Gehaltssache gar nicht so sehr das Pekuniäre
an und für sich im Sinn gehabt hatte, sondern eher, so peinlich
er das selbst fand, seine Männlichkeit: Mit seinem Gehalt war auch sein
Selbstwert um einen entscheidenden Faktor gewachsen. Er ging nun anders,
er sprach langsamer, und - okay, doch - es erleichterte ihm zudem
die Deckung einer Kreditkarte, von der Magda nichts ahnte und die es
Viktor ermöglichte, seine kleine, geheime Parallelexistenz mit der angemessenen
Bequemlichkeit weiterzuführen.
Es war übrigens möglich, dass Viktor an einem oder zweien der Nachmittage
mit Lisbeth sich hatte hinreißen lassen: zu übertriebenen, einem
hormonellen High und ein paar Gläsern Champagner geschuldeten Zuneigungsbekenntnissen;
zu dummen, undeutlichen Verweisen in eine
verschwommen vorstellbare Zukunft, wenn man es unbedingt so interpretieren
wollte, zu Bekenntnissen, die Fasern von Versprechen enthielten,
welche Viktor in unilluminiertem Zustande nicht einmal im Ansatz
erwogen hätte. Konnte also sein, dass er Lisbeth gesagt hatte, dass er sie
liebte, mit seinem Schwanz noch in ihrer muskulösen Möse. Man redet
ja viel Blödsinn in einem solchen Moment, man sollte gar nicht sprechen
beim Sex, nie, Viktor sagte es sich wieder und wieder und hielt sich
konsequent nicht daran. Aber es war vor allem auch Lisbeths Schuld.
Unglaublich, was sie mit dieser Möse konnte, es war nur ihre Möse, wegen
der er immer wieder zu ihr ging, warum er Lisbeth immer wieder
fühlen wollte, obwohl sie ihm eigentlich schon ziemlich auf die Nerven
ging. Aber first things first. Und, ja, konnte sein, dass er ihr einmal, während
er brüllend in ihr kam, völlig besinnungslos so eine Art Heiratsantrag
gemacht hatte, einen Spaßantrag, nur im Spiel!, wie die Kinder
sagten, dessen situationsbedingte Unernsthaftigkeit vollkommen deutlich
und klar war, wie wenn man sich im Karneval als römischer Kaiser
verkleidet, meint man ja auch nicht ernst. Zudem war dieser Antrag von
dem Umstand, dass nicht nur Viktor quasi verheiratet war, sondern damals
auch noch Lisbeth in einer, wie er glaubte, sehr stabilen Beziehung
war, logischerweise sowieso von vornherein aufgehoben, ausradiert, ungültig
gemacht, auch wenn man natürlich (wenn man unbedingt wollte,
und Lisbeth wollte vermutlich) aus der Tatsache, dass Viktor fünf Töchter
mit drei Frauen hatte, die Möglichkeit einer weiteren Neuorientierung
herauskitzeln konnte. Das hatte in einer leicht erregbaren Natur
wie Lisbeth die zarte Saat der Hoffnung gelegt. Zu allem Überfluss hatte
Lisbeth tatsächlich eine Freundin, die bekam, wie Lisbeth Viktor, während
er rauchend in ihrem Bett lag, ein paar Wochen später so nebenbei
erzählte, von ihrem langjährigen heimlichen Geliebten -
«in aller Heimlichkeit einen Heiratsantrag samt fettem Verlobungsring,
weißt du, dabei war der, als er ihr den Ring auf den Finger schob,
noch mit einer anderen Frau verheiratet, die von all dem keine Ahnung
hatte, das musst du dir einmal vorstellen.»
«Und hat er sein illegales Heiratsversprechen dann etwa gehalten?»
«Ja, hat er. Hat sich scheiden lassen und die Inge geheiratet.»
Das war ungeschickt, Viktor, überaus ungeschickt -
«Und sie sind sehr, sehr glücklich miteinander.»
- war das. Wieder mal -
«Und sie haben jetzt eine süße kleine Tochter namens Lily.»
- abgelenkt von ihren Mörder-Nippeln, ihren Raketen-Nippeln, die
auch jetzt wieder startklar in den Himmel ragten, wie eine Doppelerektion,
er konnte diese Nippel nicht fassen, sie brachten ihn noch um den
Verstand.
«Starrst du meine Brüste an?»
«Ja, definitiv.»
Aber es hatte mit Lisbeth ja sowieso immer alles auf einem Hintenherum
basiert: Lisbeth hatte, kurz nachdem er sie auf einem Begräbnis
wiedergesehen hatte, via Facebook Kontakt zu ihm aufgenommen,
sie hatten sich befreundet, was okay war, weil Josi war nicht auf Facebook;
Josi, über die Viktor Lisbeth ja eigentlich kannte, war das erste
Thema zwischen ihnen gewesen, wenngleich Viktor nicht durchblicken
ließ, dass er mit Josi nach wie vor Kontakt hatte, und zwar auf die gleiche
Weise wie früher in Lisbeths, ihrer Schwester, Gästezimmer, aber bald
war Josi eh kein Thema mehr. Bald war alles in ein Flirt-Pingpong ausgeartet,
ein Mail-Hinundher, das schnell an Tempo gewann, mit vollkommen
absehbaren und von Viktor absolut erwünschten Folgen, die
nach ein paar Wochen auch zwingend eintraten, nach einer Verabredung,
die so tat, als sei sie keine. Lisbeth sah in Wirklichkeit, wie er dann
wieder bemerkte, nicht annähernd so gut aus wie auf dem Profilfoto,
mit dem er jetzt wochenlang geflirtet hatte, aber nachdem er kurz darauf
ihrer Brüste ansichtig wurde, spielte das keine so große Rolle mehr. So
gesehen waren Missverständnisse die Grundlage ihrer Affäre und fürderhin
auch deren Treibstoff.
Obwohl: Viel Treibstoff brauchte Viktor nicht, nie.
[...]
©Rowohlt, Berlin
er achtzehn war oder neunzehn, und er konnte nicht behaupten, dass
es ihm nicht gefiel.)
Unter zusehends nötigerer Zuhilfenahme des hölzernen Handlaufs
erreichte Viktor das Mezzanin und zog sich dann in den ersten, also
eigentlich zweiten Stock hinauf, stark keuchend, was im Kontext mit
dem Betreten einer Arztpraxis zum Zwecke eines Gesundheitschecks
jetzt vielleicht nicht so günstig war.
Das ging schon länger so. Alles war viel anstrengender als früher.
Er hätte doch den Lift nehmen sollen, aber das könnte einen falschen
Eindruck erwecken, nämlich jenen, dass Viktor unfit sei. Wie es Magda
zu seinem Unvergnügen permanent behauptete: Schau, Viktor, hier bist
du zu mager, hier gehören Muskeln her und hier auch, dafür hast du
viel Bauch, zu viel für deine Größe, Viktor, aber schöne, feste Waden
hast du.
Viktor hasste das, denn Viktor war der Meinung, dass er, trotz Glatze,
insgesamt wesentlich besser und jünger aussah als alle anderen Fünfzigjährigen,
die er so kannte, und auch wesentlich fitter, er selbst hätte
sich, erblickte er sich zum ersten Mal, so grob auf Anfang vierzig geschätzt.
Erst am Abend zuvor hatte er das seinem Spiegelbild wieder erklärt,
zweiundvierzig, höchstens dreiundvierzig, und hey, Augenringe
hat doch jeder. Speziell in einer Position wie der seinen. Viktor hielt sich
zudem für ganz schön sehnig und zäh, also für sein Alter. Tatsächlich
war er vor allem mager und verfügte über entschieden zu wenig Muskelmasse,
was er schon sehr bald erfahren würde, zu seiner erheblichen
Verblüffung und zu seinem Ärger, denn es gab Magda recht.
Jetzt wusste er erst mal sicher, dass er unbedingt besser den Aufzug
genommen hätte. Und er sollte weniger rauchen. Viel weniger. Viel,
viel, viel weniger. Und er überlegte, wie lange eigentlich MDMA im
Blut nachweisbar ist, länger als zwei Tage? Das wäre nicht so gut, wenn
das noch nachweisbar wäre. Daran hätte er auch denken können, am
Montagabend, was für ein Mann in seinem Alter und in seiner Position
machte überhaupt so was? So eine Blödheit. Aber dann halt eben auch
wieder gut und lässig. (Nora: Sie war Künstlerin, und sie kannten sich
schon lange. Aber diesmal hatte sie zugelassen, dass er übrig blieb bei
ihrer Party. Sie hatte MDMA und VH1, und der Sex war unglaublich,
selbst für einen Sexmenschen wie Viktor war der Sex ziemlich toll, wegen
ihr, und wegen dem MDMA, das das Knutschen verstärkte und das
Fühlen und Festhalten und das In-die-Augen-Schauen, alles war stark
und echt, endlos und großartig; Liebe machen. Und auf VH1 liefen die
unglaublichste Musik und die unvorstellbarsten Videos, was Nora gar
nicht sehen konnte, weil sie ihre Brille nicht trug, aber Viktor schon,
Boney M., Dolly Parton und Kenny Rogers, Eurythmics, John Denver
und Whitney Houston, Simon and Garfunkel und Marvin Gaye.
John Farnhams «You are the Voice» sang er den ganzen nächsten Tag vor
sich hin, We're all someone's daughter, we're all someone's son, und ihren
Geruch auf seiner Haut, er musste sie dringend wiedersehen, dringend
wieder Liebe machen mit ihr. Das war nur das MDMA, hatte sie gesagt,
das MDMA und das VH1, und als er sie am Tag danach anrief, hob sie
nicht ab.) Es hielt einen jung, wenn man sich hin und wieder so richtig
deppert aufführte. Alt wurde man vom Bravsein, vom Daheim-vorm-
Fernseher-Sitzen. Nur die Kinder brauchten nichts davon erfahren, also,
die älteren nicht. Und die Ärztin brauchte es auch nicht unbedingt zu
wissen. Allerdings fand man Spuren solcher Mittel bei einer Blutuntersuchung
vermutlich ohnehin nur, wenn man eigens danach suchte, und
er glaubte nicht, dass die Ärztin danach suchen würde. Doktor Haider.
Was für ein Name. Er war schon gespannt, wie sie aussah.
Seine Akut-Erschöpfung kam allerdings nicht von dem bisschen
MDMA und den paar Nasen am Montag, auch nicht vom Gras am
Dienstag und dem Wein am Mittwoch, nicht einmal von den vielen
Zigaretten, sondern resultierte wohl hauptsächlich aus dem Umstand,
dass diese Haider ihn bei der Terminvereinbarung ausdrücklich ermahnt
hatte, nüchtern zu der Untersuchung zu erscheinen, nein, keine
einzige Tasse Kaffee, nein, auch nicht, wenn Viktor ihn ohne Milch
trank. Kein Kaffee, das war nun eine für Viktor beinahe unüberwindliche
Hürde, er konnte für gewöhnlich kaum aufstehen ohne Kaffee, und
obgleich er wusste, wie umweltböse und verantwortungslos das war,
hatte er kürzlich auf die Anschaffung einer Kapsel-Espressomaschine
bestanden, gegen Magdas ausdrücklichen Willen, einfach weil er in der
Früh ohne Kaffee nicht einmal Kaffee machen konnte. Schon aufstehen
und einen Knopf drücken zu müssen, war eine kaum packbare Zumutung,
aber da die stets morgengrantige Magda sich weigerte, ihm Kaffee
ans Bett zu bringen, blieb ihm nichts anderes übrig.
Wenn Viktor dann endlich aus dem Bett kroch, war Magda meistens schon munter, hatte
die Kinder geweckt und gefrühstückt und die älteren in die Schule geschickt.
Aber bitte, Viktor war nun einmal ein Nachtarbeiter, ein Kulturbetriebsnachtarbeiter,
und die Nächte, die er mit Mitarbeiterinnen,
Kollegen und anderen Kulturbetriebsnachtarbeitern verbrachte, ressor-
tierten bei ihm auch unter Arbeit, er hatte da Besprechungen, das war
Socializing, Fact-Finding-Mission, kreativer Input. Er würde seinen Job
nicht gut, nein: würde ihn nicht machen, wenn er abends daheim vor
dem Fernseher säße, mit einem Kind und einer Katze auf dem Schoß.
Okay, Katze hatten sie keine, aber Kinder.
Viktor stand nun vor der Tür der Praxis, die Hände auf die Knie
gestützt, leicht keuchend, in der großen Hoffnung, dass in diesem Moment
keiner durch die Tür kam, vielleicht sollte er besser da vorne um
die Ecke verschnaufen. Und ja, er sollte definitiv weniger rauchen. Und
wenn bei diesem Vorsorgecheck alles okay war, würde er das auch, nein:
Er würde aufhören, er würde endlich mit dem Rauchen aufhören, und
diesmal endgültig, nicht wie die letzten drei, nein, vier, fünf Male, da
er es versucht hatte. Aber es wurde ihm auch wirklich nicht leichtgemacht
in dieser Stadt, in der absolut jeder rauchte, immer und überall.
Viktor ging zurück zur Eingangstür der Praxis und schnaufte noch einmal
durch. Neben ihm kam der Lift knarzend zum Stehen, die Tür ging
auf und eine mittelalte Frau trat heraus, sie kam genau auf Viktor zu,
mit einem etwas belustigten Blick, sie drückte auf die Klingel, und als
der Summer ertönte, drückte sie die Tür auf. Auch für Viktor, der ihr
bedeutete, sie solle ruhig vorgehen, er brauche noch einen Moment. Er
fischte sein Handy aus der Tasche, um diesen benötigten Moment mit
Sinn zu füllen, aber sie sah es schon gar nicht mehr. Viktor allerdings
sah auf seinem Handy eine SMS. Die Tür fiel schon wieder zu, Viktor
gab, während er seine Atmung beruhigte, schnell seinen Code ein. Von
Lisbeth, einer abgelegten Affäre, schon ein paar Monate her. Aha. Was
wollte die jetzt. Merkwürdig, aber: jetzt nicht, später. Viktor straffte sich
und drückte auf die Klingel, die sofort einen Summer auslöste. Viktor
stieß die Tür auf.
Helligkeit schlug ihm entgegen, der Raum war viel größer, als das
Haus hatte vermuten lassen, und viel moderner: durchzogenes, lackiertes
Schiffsholz überall an den Wänden und an der Decke, ein glänzender,
ozeanfarbener Fußboden. Rechts standen bequem aussehende Sessel
mit gelben Polstern, auf denen nun die Frau saß und Zeitung las,
Typ Anwaltsgattin.
Links entdeckte Viktor den Empfangstresen, ebenfalls
aus Holz. Er musste fünf oder sechs große Schritte machen, um
ihn zu erreichen, der Bodenbelag fühlte sich weich an und dämpfte seine
Schritte, und Viktor schritt mit bewusster Gelassenheit durch den
Raum, langsam und federnd. Denn er hatte hier nichts zu befürchten,
das war jedenfalls der Eindruck, den er zu machen trachtete, der aber
leider durch die Rötung seines kahlen Schädels etwas gestört wurde. Die
junge Frau hinter dem Pult blickte erst auf, als Viktor direkt vor ihr
stand, mit einem professionell fragenden Blick.
«Viktor Kirchner. Ich habe einen Termin mit Frau Doktor ...»
«Ihre e-Card bitte, Herr Kirchner.»
Viktor nestelte die grüne Karte aus seinem Portemonnaie, es dauerte
länger, als es sollte, das Mädel nahm sie, zog sie durch ein Lesegerät, zog
sie noch mal und energischer durch und gab sie Viktor zurück. Dann
tippte sie konzentriert in den Computer, während Viktor sich unauffällig
umsah: hinter ihr ein großes Regal mit Broschüren und ein paar ...
«Waren Sie schon einmal bei uns?»
«Nein.»
... Medikamentenpackungen, daneben stand ein bequem ...
«Ihre Adresse bitte.»
... aussehender Sessel mit Beistelltischchen, Viktor nannte seine Anschrift,
langsam und deutlich, die Frau tippte. Auf dem Tischchen erkannte
Viktor ein Blutdruckmessgerät und ein Fieberthermometer, und
er stellte sich vor, wie dort die Greise hinsanken und erst einmal festgestellt
wurde, ob sie überhaupt noch am Leben seien. Er war überrascht,
als die Frau ihm bedeutete, auf dem Sessel Platz zu nehmen. Er zog seine
Jacke aus und krempelte - das Blutdruckmessgerät - schon mal seinen
Ärmel hoch, aber die Frau ignorierte das und maß seinen Blutdruck
am Handgelenk. Aha, so machte man das heutzutage, Viktor war schon
länger nicht beim Arzt gewesen. Beziehungsweise: Er war ein alter Sack,
der mit der technischen Entwicklung im einundzwanzigsten Jahrhundert
nicht mehr nachkam, hier der Beweis. Die Frau schrieb etwas in
ein Formular, ohne Kommentar. Viktor krempelte seinen Ärmel herunter,
lautes Amselgezwitscher ertönte aus seiner Tasche. Die Frau blickte
missbilligend.
«Bitte das Telefon ausschalten.»
«Sorry», sagte Viktor, obwohl es ihm gar nicht leidtat. Das Handy
zwitscherte weiter, es schien lauter zu werden, bis Viktor es endlich aus
seiner Tasche gewühlt hatte. Lisbeth. Jetzt rief sie auch noch an. Sehr
ungewöhnlich. Sehr beunruhigend. Er schob den Regler auf lautlos. Er
hätte jetzt doch gern ihre SMS gelesen, wagte es aber nicht in der Gegenwart
der strengen Frau vor ihm. Die Sache machte ihm langsam Sorgen.
Die Arzthelferin drückte ihm, als Viktor seinen Ärmel wieder heruntergerollt
hatte, einen Kugelschreiber und zwei Zettel in die Hand, die
er bitte drüben im Wartebereich ausfüllen sollte, wo die Anwaltsgattin
gerade aus einer geöffneten Tür aufgerufen wurde, von einer schlanken
Frau in einem gut geschnittenen, schneeweißen Kittel. Sie nickte auch
Viktor zu, und Viktor, bepackt mit Jacke und Tasche, iPhone, Zetteln
und Kugelschreibern, nickte hilflos grinsend und heftig unterkoffeiniert
zurück und ließ sich dann auf den nächsten Sessel und seine Sachen auf
das Tischchen vor ihm fallen, auf die Zeitschriften, die dort lagen. Geo.
Zwei alte Vogues, eine Jagdzeitschrift, eine Brigitte (Brigitte: lange her,
unvergesslich. Sie war eine junge Schauspielerin in Viktors erstem Stück
gewesen, Viktor also selber noch jung. Sie hatte in einer schmutzigen,
überfüllten WG gewohnt, mit strangen Mädchen und merkwürdigen
Kerlen, einer von ihnen war Tätowierer gewesen und hatte Viktor sein
erstes Peckerl verpasst, einen nicht ganz exakten Barcode. Sie hatten hin
und wieder in ihrem Hochbett gevögelt, bis sie eines Nachts nach tüchtig
Flaschenbier abgestürzt waren, Viktor unten, sie oben, er brach sich
zwei Rippen. Hätte auch sein Hals sein können, Glück gehabt. Seither
hat er eine strikte No-Hochbett-Klausel. Brigitte hatte er kürzlich wiedergetroffen,
sie sah immer noch gut aus und spielte jetzt eine kleine
Rolle in einer nicht besonders hochwertigen Vorabendserie, die sie aber
wohl über Wasser hielt).
Viktor fand Platz für die Formulare und begann mit dem Ausfüllen.
Er war müde. Er hätte so dringend einen Kaffee gebraucht. Der eine
Zettel fragte Viktors medizinische Historie ab, Operationen, Allergien,
nein, nein, ja, nein, sein Handy leuchtete auf, eine Erinnerung an die
Vorsorgeuntersuchung, jaja, danke, er war ja eh da. Viktor füllte den
Zettel ohne Energie, aber routiniert aus. Er hatte erst kürzlich, wegen
anhaltender Magenschmerzen, eine Magenspiegelung im Krankenhaus
gehabt, er kannte das schon. Diagnose: chronische Gastritis, Reflux, die
üblichen Stresskrankheiten, nichts Schlimmes, zum Glück, außer dass
er sein Leben ändern sollte, aber. Das Handy leuchtete wieder auf, diesmal
war es Lisa, seine Assistentin, er blickte sich kurz nach der Arzthelferin
um, aber die hatte ihren Platz verlassen und war nicht zu sehen.
«Ich bin beim Arzt, Lisa. Ich ruf dich gleich an.» Viktor flüsterte
trotzdem.
«Okay», sagte Lisa, «ist dringend», und Viktor fühlte, wie sich in seinem
Nacken ein Muskel verkrampfte, noch einer, und er öffnete schnell
die Nachricht von Lisbeth.
Ich glaube, wir können das besser, Viktor.
Das stand da, sonst nichts. Merkwürdig. Was meinte sie? Er hatte
ewig nichts von ihr gehört, jetzt das, sehr merkwürdig war das, in der
Tat.
Aber jetzt musste Viktor erst einmal diese Formulare fertig ausfüllen.
Das zweite war anders, hellblau, ein sehr zartes, mit den Sesseln in
diesem Raum korrespondierendes Babyblau, auch darauf gab es Antworten
anzukreuzen, na gut, noch mal, seinetwegen. Viktor las gar nicht
erst, worum es ging, sondern setzte sofort den Stift an. Erste Frage: Wie
oft trinken Sie Alkohol? Viktor kreuzte bei «zwei- bis viermal in der Woche
» an, obwohl siebenmal in der Woche vermutlich zutreffender gewesen
wäre, aber Viktor war zu müde, um sich auf eine hundertprozentige
Antwort konzentrieren zu können. Auch die nächste Frage drehte sich
um Alkohol, und nun wurde Viktor misstrauisch, was war denn da los,
wieso wurde er hier so ausgefragt? Viktor fühlte seinen Lebensstil unhöflich
ins Licht gezerrt und überflog den Rest des Bogens: Ach, da ging
es überhaupt nur ums Trinken. Hier sollten wohl Alkoholiker überführt
werden, aha.
Das weckte Viktor ein wenig aus seiner entkoffeinierten Apathie,
vielleicht sollte er doch ein bisschen besser aufpassen beim Beantworten,
das ging vermutlich direkt an seine Versicherung, und wer weiß,
wo so was letztlich landete und welche unangenehmen Folgen das dann
haben könnte. Da saß vielleicht irgendein trauriger grauer Spießer an
einem traurigen grauen Laminatschreibtisch und legte Viktor in die Alkoholikerschublade,
weil sein eigenes Spießerleben so freudlos war und
er anderen auch keinen Spaß gönnen wollte. Aufpassen, Viktor, dachte
Viktor, aufpassen. Bei den restlichen Fragen kreuzte er nun also immer
die bravste Antwort an, so unwahr war das ja jetzt auch nicht. Wenn er
zu Hause war, trank er zum Beispiel kaum etwas, ein Glas Wein zum
Abendessen, manchmal danach noch eins oder zwei, drei auf dem winzigen
Balkon mit Magda, höchstens vier. Gut, er war nicht oft daheim,
aber dafür konnte er ja nichts, das war sein Beruf, und in seinem Beruf
gehörte Trinken nun mal zur Jobanforderung, was sollte er machen. Es
war Schicksal.
Allerdings störte ihn das jetzt, was er zu Beginn angekreuzt hatte.
Auf einen Laien, auf jemanden, der mit dem Kulturbetrieb, seinen Anforderungen
und Gepflogenheiten nicht vertraut war, auf eine Ärztin
oder auf den Spießer an seinem grauen Schreibtisch könnte viermaliges
Trinken pro Woche vielleicht einen falschen Eindruck machen, so
als würde Viktor den Alkohol benötigen, was selbstverständlich nicht
der Fall war. Viktor übermalte das angekreuzte Kasterl der ersten Frage
mit seinem Kugelschreiber und kreuzte ordentlich die zweite Antwort
an: «Zwei- bis viermal pro Monat», das klang doch moderat und
erwachsen. Auch bei der zweiten Frage verfuhr Viktor in dieser Weise,
bei der dritten ebenso, gut, das passte. Aber das Blatt sah natürlich
jetzt etwas lädiert und bearbeitet aus, unordentlich und nicht besonders
überzeugend. Drei gedokterte Fragen, das könnte wirken, als hätte er
aus taktischen Gründen günstigere Antworten gewählt. Das könnte den
Verdacht auf Viktor werfen, ein versteckter Alkoholiker zu sein, der gerade
noch klar genug im Kopf war, diesen Umstand vor seiner Ärztin
und seiner Versicherung verbergen zu wollen, allerdings nicht besonders
professionell. Diese drei mühsam ausgestrichenen Antworten, das
sah doch erst recht und ganz besonders so aus, als habe Viktor ein Problem.
Gar nicht gut sah das aus. Wenn einer drei Fragen noch einmal
neu beantwortete, da würde doch jeder misstrauisch, ganz besonders
aber eine Medizinerin, die würde einen Blick auf den Fragebogen werfen
und vermutlich nichts sagen, aber Viktor würde schon wissen, was
sie dachte.
Und Viktor wollte nicht, dass diese Ärztin, bei der er nie zuvor
war, die ihm nur empfohlen worden war, sich so was dachte. Etwas
Falsches nämlich. Er war ja kein Alkoholiker, er nicht. Paul hatte viel-
leicht ein bisschen ein Problem, auch der Kühn schlug gerade ziemlich
heftig über die Stränge. Und dass dem Ratzinger ein Zahn nach dem
anderen ausfiel, ohne dass der Ratzinger Anstalten machte, diese Zähne
zu ersetzen, setzte ihn in ein wenig positives Licht. Und wie der Miller,
der Nachbarin von nebenan, die Hände immer schon in der Früh
zitterten, war auch nicht mehr schön. Aber er nicht. Viktor nicht. Und
deshalb konnte er diesen Fragebogen so nicht abgeben, so viel war ihm
jetzt auch in seiner koffeinentzugsbedingten Semidämmerung klar.
Viktor nahm das Blatt und faltete es vorsichtig und unauffällig zusammen,
dann stand er auf und ging über den ozeanfarbenen Boden
zum Empfangstresen. Die Arzthelferin saß wieder an ihrem Platz und
war auf irgendwas im Computer fixiert, jedenfalls tat sie so, wahrscheinlich
aktualisierte sie gerade ihren Facebook-Status, twitterte oder
schickte ihrem Freund Nacktfotos. (Ursel: Sie hatte so einen unglaublichen
Körper. Und sie hatte ihm erlaubt, sie zu fotografieren, hatte ihm
auch selber ganz schön versaute Fotos geschickt. Erstaunlicherweise war
der Sex mit ihr trotzdem nicht gut, mechanisch, kantig, unsinnlich, und
sie beendeten die Sache schnell und in gegenseitigem Einvernehmen.
Die Fotos hatte Viktor allerdings behalten.) Sie blickte auf, als Viktor
seine Hand auf den Tresen legte, ungerührt: «Ja, bitte?»
«Können Sie mir bitte noch mal den blauen Fragebogen geben? Ich
habe da was falsch verstanden. Hatte heute noch keinen Kaffee.»
Viktor lächelte sein Verführerlächeln, beziehungsweise das, was er
dafür hielt. Die Arzthelferin lächelte nicht zurück.
«Bitte, gerne. Hier.»
Sie reichte Viktor ein neues blaues Formular. Falls seine Bitte sie mit
Misstrauen erfüllte, ließ sie sich das nicht anmerken.
«Ich danke Ihnen.»
«Sie können mir den alten Bogen geben, ich werfe ihn gleich weg.»
«Danke, kein Problem», sagte Viktor und ging langsam vom Tresen
weg, mit dem neuen und dem alten Fragebogen in der Hand, weil
hahaha, darauf fiel er nicht rein, sicher nicht, aber gewiss nicht. Guter
Versuch, aber. Die würde das doch nachher aus dem Papierkübel fischen
und mit dem korrigierten Blatt der Ärztin übergeben, Triumph
im Blick: Sehen Sie, den hab ich gerade noch erwischt. Eben nicht. Nicht
mit ihm, mit ihm nicht, mit Viktor sicher nicht.
Später, nachdem er zunächst in einem nach altem Rauch stinkenden
Café zwei doppelte Espressi geext und so zurück ins Leben gefunden
hatte, blinzelte Viktor auf dem Sessel in der Probebühne von seinem
Smartphone hoch, auf dem er noch mal Lisbeths Nachricht gelesen
hatte. Ich glaube, wir können das besser, Viktor. Was meinte sie damit?
Sollte er alarmiert sein? Sie war eine seltsame Person, immer gewesen,
viel zu anhänglich, viel zu verliebt. Er war alarmiert. Scheiße. Endlich
hatte Viktor sich in Sicherheit gefühlt, und jetzt: Was sollte das bedeuten?
Und war sie nicht in Griechenland, hatte er das nicht auf Facebook
gelesen? Hatte er doch. Das war nicht gut, dass die ihn anrief, anrufen
war überhaupt nie gut. Überhaupt: alles Scheiße.
Das Smartphone leuchtete, dann verlöschte es, während Viktor seinen
Blick auf die Bühne fokussierte: Es war alles überhaupt nicht gut,
nichts heute, Dreckstag das. Viktor strich sich über den kahlen Schädel,
vom Nacken nach vorne. Er bemerkte es gar nicht, es war eine unwillkürliche
Bewegung und voller Gram, erstens weil ihn Lisbeths SMS beunruhigte,
zweitens weil ihm nicht aus dem Kopf ging, was die Ärztin
über den Zustand seines fast fünfzigjährigen Organismus, speziell seines
Blutdrucks, gesagt hatte, also, so viel sie wissen konnte, bevor sie seine
Blutwerte aus dem Labor bekam, in drei Tagen wahrscheinlich, sie würde
ihn umgehend informieren. Drittens wollte ihn, wie Lisa ihm vorhin
mitgeteilt hatte, die Referentin des Ministers sprechen, viertens hatte
Magda in der Früh schon wieder das Hochzeitsthema angesprochen.
Und dann dieses Drama, das sich da gerade auf der improvisierten
Bühne vor ihm abspielte: Wäre Viktor hier der Regisseur, würde
er jetzt die beiden Schauspieler, die sich da vorne abmühten, kurz einmal
zur Ordnung rufen. Aber das würde a) nichts besser machen, und
b) war Viktor nicht der Regisseur. Nicht diesmal, nicht mehr. Viktor
war hier jetzt der Intendant. Allein der Gedanke machte Viktor breiter,
öffnete seinen Brustkorb, zog seine von der Haider'schen Diagnose
eingekrampften Schultern auseinander, drückte ihn schwer in die Lehne
des Sessels, auf dem er sich niedergelassen hatte. Er war Intendant
jetzt, er war der Intendant dieses Festivals, dieses gesamten Festivals,
und sein erstes Programm hatte selbstverständlich Flucht zum Thema,
Fluchtbewegungen, die Flüchtlingskrise in ihren Ursprüngen und ihren
Auswirkungen auf das große Politische und das kleine Private. Attentate.
Amokläufe. Angst. Das Erstarken der extremen Rechten. Die totale
Verunsicherung der Öffentlichkeit. Seine Schultern verkrampften sich
wieder, als er an den wohl unvermeidlichen Termin mit der Referentin
dachte. Er konnte sich schon vorstellen, um was es ging, es standen
Wahlen an, in wenigen Monaten.
Erst am Abend zuvor hatte er sich bei Kühn lange mit dem Schrader
über die Flüchtlingsproblematik und ihre Rezeption in der Kunst
unterhalten, dann gestritten: Schrader war ein großer, kompromissloser
Politisierer, der nach ein paar Bier immer laut und radikal wurde,
in seinem schrecklichen Tiroler Dialekt, wobei Schrader diese Radikalität
ausschließlich von anderen einforderte, diesfalls von Viktor und seinem
Festival. Das müsse krachen, hatte Schrader gebrüllt, da muss Leuten
in die Goschen gehaut werden, buchstäblich, deine Sprache muss
rohe Gewalt sein, nicht umgekehrt! Was willst du dem ganzen Internethass,
den Hatern, der ganzen rechten Dummheit sonst entgegensetzen?
Einen künstlerischen Diskurs, eine intellektuelle Auseinandersetzung?
Das hat sich doch komplett überholt! Schrader schrie, es war Viktor unangenehm,
selbst in diesem vertrauten Kreis, aber er wollte sich von so
einem Großmaul nicht diktieren lassen, wie er seine Arbeit, sein Festival
zu gestalten habe. Das hat, schrie Schrader, doch überhaupt nicht
funktioniert und wird auch nicht mehr funktionieren, das Internet hat
den gesamten Diskurs doch längst inhaliert, da kommt die Kunst doch
schon lange nicht mehr mit. Wie willst du mit Kunst ankommen gegen
Selbstmordattentate? Gegen das Grauen in Aleppo und die Kalifate des
IS? Vor allem auch gegen diese subjektive, aber massiv einbetonierte
Fremdenfeindlichkeit? Du musst was anderes machen, Viktor, das muss
krachen, Viktor, enttäusche mich bloß nicht mit kümmerlichen Kunstinstallationen,
mit mageren Manifesten oder traurigen Performances
mit ein paar herumhupferten Nackerten, Viktor! Das muss weh tun,
Viktor, körperlich, Viktor, ich erwarte Großes von dir, mein Freund,
Bahnbrechendes! Und wenn du das nicht bringst, kannst du gleich hinschmeißen,
ja, schmeiß besser gleich hin, tritt es in die Tonne, hier und
jetzt, und werd Investmentbanker. Oder Pfarrer. Hausmann. Oder, und
an dieser Stelle blickte Kühn hinterm Tresen böse, Wirt!
Oder geh heim, kümmere dich um deine Kinder!
Was sich Viktor wiederum von einem,
der seinen Lebensunterhalt mit dem Produzieren von, wie Viktor fand,
ganz, ganz seichter Musik verdiente, nicht erklären lassen brauchte, Sakrament,
und das tat er auch nicht. Der Abend war eskaliert, beinahe
wäre Viktor körperlich geworden, gegen Schrader, aber der hatte ihn
ausgelacht und einen polnischen Abgang gemacht, einfach weg, die feige
Sau.
Auch in dem, was er da jetzt auf der Probebühne sah, erkannte Viktor
ein großes, fundamentales Missverstehen seiner Ursprungsintention.
So konnte das nicht gezeigt werden, so konnte man das nicht erzählen.
Allerdings würde Viktor sich hier keinesfalls in die Niederungen der
direkten Kritik begeben, er machte sich höchstens für alle gut sichtbar
ein paar Notizen. Denn seine Kritik setzte jetzt höher an, grundsätzlicher.
Leider konnte Viktor den Theater-Regisseur in sich, der er so lange
war und von dem Viktor noch immer glaubte, dass er für das nationale
Theatergeschehen, ja für die Identität und die Gesundheit dieser Republik
eigentlich unverzichtbar und nicht zu ersetzen war, nicht vollständig
zum Schweigen bringen. Dieser Regisseur rumorte in Viktor wie ein
Zweit-Viktor, vernachlässigt, beleidigt, missverstanden, verletzt, übergangen,
wie eine seiner abgelegten Geliebten, wie Lisbeth. Nachdem
Viktor sie so vorsichtig wie möglich abserviert hatte, hatte er erst regelmäßig,
dann seltener Nachrichten von ihr bekommen, stets zärtlich und
verständnisvoll. Dann, nachdem er nur noch einsilbig und schließlich
nicht mehr geantwortet hatte, hatte er wochenlang nichts mehr von ihr
gehört, was ihn zunächst beunruhigt hatte, aber letztlich war er zu dem
Schluss gekommen, sie habe seinen Abgang akzeptiert und sich anderem
oder einem anderen zugewandt. Jetzt meldete sie sich auf einmal
aus Griechenland, mit so einer kryptischen Nachricht, was ihn ernstlich
beunruhigte. Denn sie war ja schon seltsam, als er sie noch traf. Ihre
Aufmerksamkeit Viktor gegenüber war zu stabil gewesen; eine konsequente
Zugeneigtheit, unbeirrbar auch von Viktors Launen. Eine fast
hündische Treue. Das sei so bei Steinböcken, hatte Lisbeth gesagt, wenn
Steinböcke einmal liebten (Liebe: Das Wort hörte Viktor im Kontext mit
Lisbeth und allen anderen seiner Affären ungern, um Liebe ging es hier
nicht und durfte es nicht gehen, wann würde sie das endlich begreifen),
blieben Steinböcke treu, immer treu, treu bis in den Tod. Was für ein
Scheiß! Und genau das hatte er nie gewollt, diese klebrige Anhänglichkeit,
und jetzt wollte er es schon gar nicht.
Das fand Viktor schon damals, als sie es sagte, während sie nackt auf
dem Rücken lag (ihre langen, steifen Nippel zeigten wie Pfeile zur Decke,
gerade und parallel nach oben, diese Nippel würden sich auch in
der Unendlichkeit nicht treffen, wirklich bemerkenswerte Nippel hatte
sie). Ihr Worte waren keine besonders vertrauenerweckende Botschaft,
die nachklang, über die Wochen, die seit ihrer letzten Begegnung vergangen
waren, Wochen ohne eine der kleinen, ziselierten Textnachrichten
von Lisbeth, in denen immer irgendeine Botschaft versteckt gewesen
war, wobei Viktor sich allerdings selten die Mühe gemacht hatte, diese
Botschaft zu dechiffrieren. Keine Facebook-Nachrichten mehr, nicht
einmal mehr ein Like hatte Viktor von Lisbeth noch bekommen; mehrmals
hatte Viktor kontrolliert, ob sie überhaupt noch befreundet waren
oder ob Lisbeth ihn entfreundet hatte, aber das hatte sie nicht. Doch die
immense Erleichterung, die er verspürt hatte, als ihre dauernde Betextung
weniger wurde, als sie allmählich verebbte und dann ganz abriss,
wich schnell anderen Gefühlen: der dumpfen, unsinnigen Gekränktheit
des plötzlich nicht mehr Umschwärmten, nicht mehr Wichtigsten, des
schieren Unglaubens darüber, dass er tatsächlich aus Lisbeths Gunst gefallen
sein könnte, vollständig und definitiv. Was Viktor natürlich misstrauisch
machte: Was machte sie, wenn nicht mit ihm? Was tat sie, wenn
sie ihm nicht mehr textete? Und nebenbei: Wem gab sie sich hin? Wo
ragten jetzt ihre Nippel in den Weltraum? Was dachte sie von ihm? Was
erzählte sie über ihn, und wem? Glaubte sie seine Ausflüchte, oder war
ihr klar, dass er sie einfach loswerden wollte, gleich nachdem sie getrennt,
Single und damit eine Gefahr für Viktor war? Und machte sie
das wütend? Hasste sie ihn vielleicht jetzt? Von wo drohte Ungemach?
Wollte sie Viktor etwas antun? Jetzt war sie also wieder da, und er bekam
noch mehr Angst.
Er hatte schon vor ein paar Wochen angefangen, Lisbeth aus naheliegenden,
durch und durch verständlichen Gründen ein wenig hinterherzuspionieren,
ihre Facebook-Posts zu checken, ihre Freundesliste zu
kontrollieren. Er analysierte Lisbeths Likes und die Likes, die Lisbeth
bekam, und ob sich welche überschnitten, mit Schrader zum Beispiel,
wo hatte sie nun den her, das war doch gar nicht ihr Freundeskreis. Viktor
las jetzt regelmäßig die Kommentare unter ihren Postings. Es war
ihm zu einer fast täglichen Routine geworden, Lisbeths Namen, so ihre
Aktualisierungen nicht sowieso gleich beim Öffnen in seiner Timeline
erschienen, ins Suchfeld einzugeben und schnell einmal durchzuscrollen,
was sie neu gepostet hatte. Alles zu seiner Sicherheit und der seiner
Familie.
Viktor hatte sich aus Lisbeths Leben entfernt, als sie sich von Jakob
getrennt hatte. Nicht wegen Viktor, hatte Lisbeth gesagt, aber Viktor
war sich da nicht so sicher. Es hatte seinen Fluchtimpuls ausgelöst, und
von da an hatte er sie und ihre eifrige Anteilnahme an allen Viktor'schen
Belangen abgewimmelt. Er fühlte sich schuldig deswegen. Nicht sehr,
ein bisschen. Ganz wenig; gerade genug. Denn eigentlich war es ja Lisbeth
gewesen, die das innere Gleichgewicht ihres Verhältnisses ruiniert
hatte. Das bequeme, harmonische Einverständnis, das sich in den Stunden
mit ihr in geschmeidigem, mühelosem Sex ausgedrückt hatte. Überraschend
unkompliziertem, geilem und absolut parallel schwingendem
Vögeln, umso bemerkenswerter bei einer so komplizierten, neurotischen,
zickigen Frau wie Lisbeth. Viktor hatte, das musste er sich eingestehen,
einen Hang zu zickigen Frauen, er sollte das vielleicht einmal mit
Professor Serafin besprechen. Jedenfalls hatte Viktor die schummerigen
Nachmittage mit ihr hinter den dicken Vorhängen durchaus gemocht,
auch wenn er nun ganz froh war, dass er mit den anderen Frauen keine
derartig verhirnten, beziehungsvollen Gespräche führen musste.
Aber wenn Lisbeth dann endlich die Klappe gehalten hatte, erfasste
sie eine überraschende Gelöstheit. Beim Sex war sie locker und unkompliziert.
Und diese luftige Einigkeit, diese einvernehmliche Leichtigkeit
hatte sie dann zerstört, ohne Not, wie Viktor fand. Sie hatte das Unaussprechliche
getan, sich von ihrem Freund getrennt und damit eine zwar
nur vage Möglichkeit in den Raum gestellt, aus der aber ganz schnell
ein konkreter Wunsch, ein Wollen, ein Beharren, eine Drohung, eine
echte Gefahr für Viktor erwachsen konnte. Erwachsen würde, Viktor
kannte so was doch. Zumindest aus Filmen kannte er das. Und er fühlte
hinter Lisbeths oberflächlichem Schmerz, hinter ihrem mit Viktor
vermeintlich überhaupt nicht zusammenhängenden Schritt der Trennung
ein zielgerichtetes Kalkül, das Viktors Existenz in wenigen Zügen
ruinieren konnte. (In Verfolgungswahn und Verschwörungsangst war
Viktor Number One: Man musste immer wachsam sein; immer schauen,
wer hinter einem her war, wer einem schaden wollte; und als Alltagsradfahrer
hatte man das ja, wie Viktor gern betonte, besonders gut
drauf, das ging einem quasi in Fleisch und Blut über: dass man nicht nur
für sich selber denken musste, sondern auch für andere, für die Autofahrer.
Was könnte der jetzt vorhaben, und der da drüben? Wurde Viktor
gesehen oder gleich gerammt? Immer Blickkontakt herstellen nach
allen Seiten, immer ganz schnell alle Gefahren abschätzen. Das machte
Radfahrer zu flexiblen und wendigen Denkern, fand und betonte Viktor
stets, wahrscheinlich um einiges flexibler und geschmeidiger als andere
Leute, Autofahrer im Speziellen, das sollte mal untersucht werden, fand
Viktor, da sollte wirklich dringend mal jemand eine Studie machen.)
Und weil er sich auf diese Weise eben auch sofort in Lisbeth hineinversetzen
konnte, oder es zumindest glaubte, floh Viktor. Und sie hatte
ihn fliehen lassen, anfangs jedenfalls. Dabei war sie aber eine Zeitlang
hinter ihm geblieben, in großem, angemessenem Abstand, doch in
Sichtweite: Wenn Viktor es wollte, hatte er sie quasi immer sehen können,
freundlich winkend aus der Ferne, wie eine fürsorgliche Mutter;
dann irgendwann nicht mehr. Im Prinzip alles paletti. Bis jetzt.
Er würde sich mit Lisbeths merkwürdiger Nachricht auseinandersetzen
müssen: sobald er Zeit dazu haben würde und genug Luft und
die notwendigen Nerven. Was in Viktors prallem, überfülltem Leben
nicht oft vorkam. Sowieso gar nicht mehr, seit er diesen Intendantenjob
angenommen hatte. Und jetzt, wo Magda heiraten wollte, plötzlich und
immer vehementer, und er sich mit einem Mal für etwas entscheiden
musste, für das er sich, so sah es jedenfalls Viktor, doch eh schon lange
entschieden hatte. Aber sie wollte, dass er sich festlegte, endgültig, mit
Dokument und Unterschrift und vor Zeugen. Und einen Ring, sie wollte
endlich einen Ring, alle ihre Freundinnen hatten Ringe, nur sie nicht.
Wieso habe ich keinen Ring, Viktor, hab ich keinen Ring verdient? Sie
wollte ihn an die Kette legen, final, so banal war es. Gewiss keine weltbewegenden
Probleme, die er da hatte, aber sie rührten sich in ihm und
nervten Viktor: Bruder von drei Schwestern, Vater von fünf Töchtern,
Lebensgefährte von Magda, Ex-Lebensabschnittspartner von Edith und
dann Natalie, gebenedeit unter den Frauen, Kulturmanager, Lebemann
und demnächst fünfzig.
Genau, darum musste er sich ja auch noch kümmern, um diesen
blöden Geburtstag. Alle erwarteten das, ständig kam eine an und sagte,
na, Viktor, du hast ja auch bald einen runden. Ein Runder. Was war bitte
rund am Altwerden? Viktor machte es unrund. Er fühlte sich krank,
wenn er nur daran dachte, dass er bald fünfzig sein würde, Viktor Kirchner,
fünfzig, er fand nicht, dass es ein Grund zum Feiern sei, definitiv
nein. Aber alle anderen fanden es offenbar schon und erwarteten von
Viktor eine erstklassige und extravagante Feierlichkeit, um sich auf seine
Kosten zu betrinken, satt zu fressen und tüchtig gehenzulassen. Er
hatte eh schon keine Kohle, die wurde eh schon verteilt unter all den
Frauen in seinem Leben. Jetzt sollte er auch noch feiern, als habe er
nichts Besseres zu tun. Als hätte er sich um nichts zu kümmern, außer
um eine, wie Viktor fand, völlig unnötige Hochzeit und einen noch viel,
viel unnötigeren fünfzigsten Geburtstag. Himmel, Heiliger, Fuck; ständig
musste er irgendwas.
Dieses Festival. Als Viktor den Ruf bekam, das Festival zu leiten, ein
kleines, nicht erstrangiges, aber doch gut beleumundetes und von der
Kritik fast durchgehend mit Wohlwollen bedachtes Festival, zögerte er
nicht lange, diesem Ruf zu folgen. Erstens und wichtigstens zum Vorteil
der hiesigen Kultur im Allgemeinen und des in den Jahren zuvor etwas
vernachlässigten und in die Bedeutungslosigkeit abgerutschten Festivals
im Speziellen. Zweitens zum Wohle seines Kontostandes, der unter
anderem von Alimentationszahlungen für die beiden Töchter aus
den Verbindungen mit Edith und Natalie seit je stark in Mitleidenschaft
gezogen wurde. Drittens, und stark im Kontext mit zweitens, im Dienste
seiner Selbstachtung. Denn auch wenn Viktor das stets mit innerem
Achselzucken vorgegeben hatte, hatte es ihn doch nie ganz gleichgültig
gelassen, dass Magda, seine Lebensgefährtin, jeden Monat mehr Geld
nach Hause gebracht hatte als er, der von der Kritik gefeierte Regisseur.
22
Magda verdiente ihr Geld mit einem kleinen, gänzlich prosaischen
Hausbetreuungs-Unternehmen, bestehend aus einer wachsenden Armada
vor allem tschechischer, aber auch ukrainischer und serbischer
Großmütter, die Magda befehligte. Die Firma war Magda eher passiert,
als dass sie sie tatsächlich gewollt und gegründet hatte, das passte zu ihr,
das war ihr doch mit Viktor ganz ähnlich gegangen. Magda hatte, als sie
nach Wien übersiedelt war, selbst geputzt, gemeinsam mit einer Tante,
in verschiedenen Häusern, und sie hatte auf kleine Kinder aufgepasst,
während sie Kunst studiert und fotografiert und so oft wie möglich bei
verschiedenen Fotografen assistiert hatte, fast immer ohne Honorar. Als
ihr das Fotografieren allmählich genug Geld einbrachte, um ihren Lebensunterhalt
einigermaßen bestreiten zu können, hatte sie die Putzjobs
reduziert.
Bis auf diesen letzten, von dem sie, wenn sie etwas mehr Bier getrunken
hatte (Magda war Tschechin, Magda trank Bier) und keine Kinder in
der Nähe waren, gerne den Freunden erzählte. Denn es hatte sich um die
Wohnung eines steinalten Kerls gehandelt, der ihr einen ungewöhnlich
hohen Stundenlohn dafür bezahlte, dass er ihr beim Putzen zuschauen
durfte, bevorzugt, wenn es sich um Bereiche in der Wohnung handelte,
die man nur auf Knien erreichen konnte. Handgreiflich, sagte Magda,
sei er nie geworden, aber während er ihr auf den Hintern starrte, habe
er merkwürdige Sachen erzählt.
«Was für Sachen?»
«Sachen von anderen Haushaltshilfen.» Magda wusste, wie man eine
Geschichte erzählt, jedenfalls diese.
«Was genau?»
«Die wurden dann seine Geliebten. Hat er erzählt. Und was er dann
so für Sachen mit ihnen gemacht hat, detailliert. Und was sie davon hatten.
»
«Echt jetzt?»
«Ja, echt.» Magda erzählte die Geschichte gern, zog die Vokale lang.
Die Backen ganz rot. Und sie wusste natürlich, welche Frage sich nun
zuverlässig anschloss.
23
«Was für Sachen, Magda? Details, Magda, Details!» Und Magda
grinste glücklich.
«Erzähl ich lieber nicht.» Und sie sagte nichts mehr, trotz der Proteste,
die zuverlässig vorgebracht wurden.
«He!»
«Gemein!»
«Jetzt komm!»
«Und du, Magda? Wurdest du auch seine Geliebte, Magda? Magda!»
Nein, wurde Magda nicht. Sie gab den Job bei dem geilen alten Knacker
schließlich ab. An eine jüngere Cousine, von der sie später nicht
sicher war, ob nicht die seine Geliebte wurde, wenngleich die Cousine
es stets abstritt. Magda lebte lieber ein paar Monate lang fast ausschließlich
von asiatischen Instant-Nudelsuppen, nährwertoptimierend
ergänzt von den Sonntagsessen bei ihrer Tante, opulenten böhmischen
Mahlzeiten mit Knödelschwerpunkt. Und sie hatte, nachdem sie zuerst
eine Tante, noch eine Tante, dann besagte Cousine als Haushaltshilfe
und Ersatz für sich selber vermittelt hatte, eine Liste angelegt. Als ihr
bei den Plaudereien während ihrer Fotoshootings aufgefallen war, wie
viele Leute auf der Suche nach zuverlässigen, vertrauenswürdigen Putzfrauen,
Nannys, Hausbetreuerinnen, Näherinnen und dergleichen waren,
hatte sie erst die Tante der Cousine vermittelt, dann die Schwester
der Tante der Cousine, dann die Nichte der Schwester der Tante der
Cousine als Kindermädchen - und auf einmal hatte Magda einen kleinen
Karteikasten mit Adressen und Telefonnummern, ein zweites Handy
und eine Unternehmenssteuernummer beim Finanzamt. Als Fanny
geboren wurde und Viktor aus augenfälliger Dringlichkeit - was würde
aus dem Theater als solchem werden, ohne ihn! - selbstverständlich
nicht in Karenz ging, setzte Magda vorübergehend ihre Fotojobs aus,
vergrößerte aber gleichzeitig den Karteikasten, denn telefonieren und
organisieren konnte eine patente Tschechin wie sie schließlich auch mit
einem saugenden Kind an der Brust, in fleckigen Pyjamahosen und dicken
Socken, sah ja keiner.
Jetzt außer Viktor, aber der war egal. Überhaupt drohte Viktor mit
der Geburt ihres ersten Kindes aus Magdas Augen und im Orkus der
Unsichtbarkeit zu verschwinden, wie früher schon. Er wehrte sich dagegen,
anfänglich. Dann erkannte er, dass ihm der ehemalige Makel hier
(warum hatte das eigentlich bei Edith und vor allem bei Natalie nicht
funktioniert?) durchaus zum Vorteil gereichte, und überließ (vielleicht
wegen seiner eigenen Ambitionen: Beim ersten Mal wollte er noch ein
richtiger, guter Vater sein, und nachdem er da versagte, wollte er's beim
zweiten Mal beweisen. Danach gab er auf) Magda dem Kind und dem
Karteikasten. Mit diesem, einer abgegriffenen alten Holzkiste, verdiente
Magda dann immer gerade ein bisschen mehr als Viktor am Theater
mit seiner Kunst, und wie nebenbei hatte sie sich dabei stets auch
noch um die Kinder gekümmert, erst eins, dann zwei und jetzt drei (alles
Töchter, offenbar konnte Viktor nur Mädchen), und schließlich auch
das Fotografieren wieder aufgenommen, zuerst auf ihrem Blog, dann
auch wieder mit echten Jobs von Zeitschriften und Agenturen. Natürlich,
das wurde Viktor nicht müde zu betonen, nicht ohne die Unterstützung
der Leih-Großmütter aus ihrem Zettelkasten, diese schaukelten
Magdas Werk mit der Energie von Frauen, die endlich wieder und
wider Erwarten doch noch gebraucht werden. Und von denen die meisten,
wie Viktor irgendwann zu seiner erheblichen Verblüffung feststelle,
viel jünger waren, als sie aussahen, was ihn, als er einmal in eine bierselige
Küchen-Geburtstagsfeier für eine der Damen platzte, in eine unschöne
Situation brachte: Äh, ja, Entschuldigung, ich hab jetzt gar nicht
richtig, sorry, sorry, sorry, das ist mir jetzt, ich muss dann wieder.
Kindischerweise bedeutete es für Viktor keine geringe Befriedigung,
dass er nun endlich mehr Mittel in den gemeinsamen Haushalt einbringen
konnte als seine Lebensgefährtin, der das wiederum vollkommen einerlei
zu sein schien. Geld war für Magda nicht so wichtig. Magda waren
andere Sachen wichtig: Kinder, Familie, Freunde, dieser blöde Schrebergarten
und die Paradeiser, die sie darin zog, und jetzt, jetzt auf einmal
war ihr wichtig, dass auch der Rahmen stimmte, dass sie nicht mehr
nur Viktors Lebensgefährtin war und die Mutter dreier seiner Kinder,
sie wollte jetzt mehr sein, offiziell sein, seine Frau, sie wollte geheiratet
werden mit allem Drumherum und Dran, wie sie es nannte.
Das Drum und Dran wiederum war Viktor einerlei, nein, im Gegenteil sogar, das
brauchte Viktor überhaupt nicht, da war er modern; wohingegen es ihm
plötzlich wichtig war, mehr zu verdienen als seine Frau, da war er altmodisch.
Das war ihm überhaupt nicht einerlei, und deshalb hatte Viktor sein
neues Intendantengehalt natürlich mit der maximal möglichen Nonchalance
präsentieren müssen, um nicht Magdas leicht reizbaren Spott
zu provozieren; du, übrigens. Magda hatte aus der präsentierten Zahl
allerdings vor allem die Miete für den langersehnten Garten herausgelesen,
ein geräumigeres, für Reparaturen weniger anfälliges Auto, ein neues
Sofa - nein, doch nicht, lieber erst, wenn die Kleine aus dem gröbsten
Schokoladenfingeralter raus ist. Und die Hochzeit, natürlich, das neue
Gehalt war eine Gelegenheit gewesen, auch dieses Thema aufs Tapet zu
bringen, damals noch etwas verhaltener als jetzt, als heute früh. Und
die Klavierstunden, um die Fanny seit Jahren bettelte. Ach ja, und dazu
natürlich ein Klavier, das Magda so lala ins Wohnzimmer gequetscht
hatte, zwischen Bücher- und Plattenregal, geht schon, passt. Sie nahm
es nicht so genau mit diesen Dingen, mit allen Dingen eigentlich, das
machte das Leben mit ihr so angenehm.
Während Viktor bei der Gehaltssache gar nicht so sehr das Pekuniäre
an und für sich im Sinn gehabt hatte, sondern eher, so peinlich
er das selbst fand, seine Männlichkeit: Mit seinem Gehalt war auch sein
Selbstwert um einen entscheidenden Faktor gewachsen. Er ging nun anders,
er sprach langsamer, und - okay, doch - es erleichterte ihm zudem
die Deckung einer Kreditkarte, von der Magda nichts ahnte und die es
Viktor ermöglichte, seine kleine, geheime Parallelexistenz mit der angemessenen
Bequemlichkeit weiterzuführen.
Es war übrigens möglich, dass Viktor an einem oder zweien der Nachmittage
mit Lisbeth sich hatte hinreißen lassen: zu übertriebenen, einem
hormonellen High und ein paar Gläsern Champagner geschuldeten Zuneigungsbekenntnissen;
zu dummen, undeutlichen Verweisen in eine
verschwommen vorstellbare Zukunft, wenn man es unbedingt so interpretieren
wollte, zu Bekenntnissen, die Fasern von Versprechen enthielten,
welche Viktor in unilluminiertem Zustande nicht einmal im Ansatz
erwogen hätte. Konnte also sein, dass er Lisbeth gesagt hatte, dass er sie
liebte, mit seinem Schwanz noch in ihrer muskulösen Möse. Man redet
ja viel Blödsinn in einem solchen Moment, man sollte gar nicht sprechen
beim Sex, nie, Viktor sagte es sich wieder und wieder und hielt sich
konsequent nicht daran. Aber es war vor allem auch Lisbeths Schuld.
Unglaublich, was sie mit dieser Möse konnte, es war nur ihre Möse, wegen
der er immer wieder zu ihr ging, warum er Lisbeth immer wieder
fühlen wollte, obwohl sie ihm eigentlich schon ziemlich auf die Nerven
ging. Aber first things first. Und, ja, konnte sein, dass er ihr einmal, während
er brüllend in ihr kam, völlig besinnungslos so eine Art Heiratsantrag
gemacht hatte, einen Spaßantrag, nur im Spiel!, wie die Kinder
sagten, dessen situationsbedingte Unernsthaftigkeit vollkommen deutlich
und klar war, wie wenn man sich im Karneval als römischer Kaiser
verkleidet, meint man ja auch nicht ernst. Zudem war dieser Antrag von
dem Umstand, dass nicht nur Viktor quasi verheiratet war, sondern damals
auch noch Lisbeth in einer, wie er glaubte, sehr stabilen Beziehung
war, logischerweise sowieso von vornherein aufgehoben, ausradiert, ungültig
gemacht, auch wenn man natürlich (wenn man unbedingt wollte,
und Lisbeth wollte vermutlich) aus der Tatsache, dass Viktor fünf Töchter
mit drei Frauen hatte, die Möglichkeit einer weiteren Neuorientierung
herauskitzeln konnte. Das hatte in einer leicht erregbaren Natur
wie Lisbeth die zarte Saat der Hoffnung gelegt. Zu allem Überfluss hatte
Lisbeth tatsächlich eine Freundin, die bekam, wie Lisbeth Viktor, während
er rauchend in ihrem Bett lag, ein paar Wochen später so nebenbei
erzählte, von ihrem langjährigen heimlichen Geliebten -
«in aller Heimlichkeit einen Heiratsantrag samt fettem Verlobungsring,
weißt du, dabei war der, als er ihr den Ring auf den Finger schob,
noch mit einer anderen Frau verheiratet, die von all dem keine Ahnung
hatte, das musst du dir einmal vorstellen.»
«Und hat er sein illegales Heiratsversprechen dann etwa gehalten?»
«Ja, hat er. Hat sich scheiden lassen und die Inge geheiratet.»
Das war ungeschickt, Viktor, überaus ungeschickt -
«Und sie sind sehr, sehr glücklich miteinander.»
- war das. Wieder mal -
«Und sie haben jetzt eine süße kleine Tochter namens Lily.»
- abgelenkt von ihren Mörder-Nippeln, ihren Raketen-Nippeln, die
auch jetzt wieder startklar in den Himmel ragten, wie eine Doppelerektion,
er konnte diese Nippel nicht fassen, sie brachten ihn noch um den
Verstand.
«Starrst du meine Brüste an?»
«Ja, definitiv.»
Aber es hatte mit Lisbeth ja sowieso immer alles auf einem Hintenherum
basiert: Lisbeth hatte, kurz nachdem er sie auf einem Begräbnis
wiedergesehen hatte, via Facebook Kontakt zu ihm aufgenommen,
sie hatten sich befreundet, was okay war, weil Josi war nicht auf Facebook;
Josi, über die Viktor Lisbeth ja eigentlich kannte, war das erste
Thema zwischen ihnen gewesen, wenngleich Viktor nicht durchblicken
ließ, dass er mit Josi nach wie vor Kontakt hatte, und zwar auf die gleiche
Weise wie früher in Lisbeths, ihrer Schwester, Gästezimmer, aber bald
war Josi eh kein Thema mehr. Bald war alles in ein Flirt-Pingpong ausgeartet,
ein Mail-Hinundher, das schnell an Tempo gewann, mit vollkommen
absehbaren und von Viktor absolut erwünschten Folgen, die
nach ein paar Wochen auch zwingend eintraten, nach einer Verabredung,
die so tat, als sei sie keine. Lisbeth sah in Wirklichkeit, wie er dann
wieder bemerkte, nicht annähernd so gut aus wie auf dem Profilfoto,
mit dem er jetzt wochenlang geflirtet hatte, aber nachdem er kurz darauf
ihrer Brüste ansichtig wurde, spielte das keine so große Rolle mehr. So
gesehen waren Missverständnisse die Grundlage ihrer Affäre und fürderhin
auch deren Treibstoff.
Obwohl: Viel Treibstoff brauchte Viktor nicht, nie.
[...]
©Rowohlt, Berlin
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Autoren-Porträt von Doris Knecht
Knecht, DorisDoris Knecht geboren in Vorarlberg, ist Kolumnistin («Standard», «Falter») und Schriftstellerin. Ihr erster Roman, «Gruber geht» (2011), war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde fürs Kino verfilmt. Zuletzt erschienen die vielgelobten Romane «Wald» (2015) und «Alles über Beziehungen» (2017); letzterer wurde für den Österreichischen Buchpreis nominiert. Doris Knecht lebt in Wien und im Waldviertel.
Bibliographische Angaben
- Autor: Doris Knecht
- 2017, 3. Aufl., 288 Seiten, Maße: 13,5 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3871341681
- ISBN-13: 9783871341687
- Erscheinungsdatum: 10.03.2017
Rezension zu „Alles über Beziehungen “
Knechts Dialoge sind so rasant wie lakonisch, die inneren Monologe so überdreht wie luftig. Die Sprachkomik ist im besten Sinne unterhaltsam, weil schrecklich entlarvend ... Zeitgemäß und vor allem klug erzählt. Der Tagesspiegel
Kommentar zu "Alles über Beziehungen"
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