Alles zu seiner Zeit
Mein Leben
Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow lässt sein Leben Revue passieren: seinen politischen Werdegang, die Liebe zu Raissa. Plus Tagebuchauzeichnungen , die kurz nach dem Krebstod seiner Frau 1999 entstanden. Das beeindruckende Zeugnis...
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Produktinformationen zu „Alles zu seiner Zeit “
Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow lässt sein Leben Revue passieren: seinen politischen Werdegang, die Liebe zu Raissa. Plus Tagebuchauzeichnungen , die kurz nach dem Krebstod seiner Frau 1999 entstanden. Das beeindruckende Zeugnis eines der mächtigsten Männer des 20. Jahrhunderts.
Klappentext zu „Alles zu seiner Zeit “
Die beeindruckende Autobiographie eines großen Staatsmanns und eine berührende Liebesgeschichte.Der Friedensnobelpreisträger, der das Ende des Kalten Krieges einleitete, lässt sein Leben Revue passieren: Er erzählt von den wichtigsten Stationen seines politischen Werdegangs und den für ihn prägendsten persönlichen Erfahrungen - das beeindruckende Zeugnis eines der mächtigsten Männer des 20. Jahrhunderts.
Fast fünfzig Jahre lang lebte Michail Gorbatschow an der Seite seiner Frau Raissa, die er während des Studiums in Moskau kennenlernte. Beide verband eine innige Liebe und ein intensiver geistiger Austausch. Der Krebstod seiner Frau 1999 in Deutschland traf den einst mächtigsten Mann der Sowjetunion tief. In diesem Buch geht er unter anderem der Frage nach, ob er ihn hätte verhindern können. Anlässlich ihres Todes ruft er sich die aus heutiger Sicht wichtigsten Stationen seines Lebens ins Gedächtnis zurück. Flankiert werden seine Erinnerungen von Tagebuchaufzeichnungen, die kurz nach dem Tod seiner Frau entstanden. - Eine reife Auseinandersetzung mit dem Lebenswerk, die durch Aufrichtigkeit überzeugt.
Lese-Probe zu „Alles zu seiner Zeit “
Alles zu seiner Zeit von Michail GorbatschowAus dem Tagebuch
21.September 2000 Ein Jahr ohne Raissa. Wir, die Angehörigen und enge Freunde, haben uns heute versammelt, um den Grabstein zu enthüllen. Er stammt von dem Bildhauer Friedrich Sogojan. Eine farbige Marmorplatte - wie ein blühendes Feld. Große Steine. Die Inschrift: »Raissa Maximowna Gorbatschowa. 5. Januar 1932 - 20.September 1999«. Die Gestalt einer jungen Frau, die Raissa sehr ähnlich sieht. Sie bückt sich, um Feldblumen auf die Grabplatte zu legen.
Ein Jahr ist vergangen, das allerschwerste vielleicht. Mein Leben hatte seinen eigentlichen Sinn verloren. Ich brauchte Monate, um zu mir zu kommen. Was mich gerettet hat, ist die Nähe zu meiner Tochter Irina, meinen Enkelinnen Xenia und Anastasia sowie Freunde.
Nach Raissas Tod stellte ich für einige Monate meine Reisen und öffentlichen Auftritte ein. Ich verbrachte die ganze Zeit auf meiner Datscha. Nie zuvor habe ich mich so furchtbar einsam gefühlt. Fast fünfzig Jahre waren Raissa und ich zusammen, einer an der Seite des anderen, und nie haben wir das als Last empfunden, im Gegenteil: Es ging uns immer gut zu zweit. Wir liebten uns, obwohl wir auch unter vier Augen nicht groß darüber sprachen. Die Hauptsache war: Wir wollten all das bewahren, was uns in unserer Jugend zusammengebracht hatte. Wir verstanden uns und hüteten unsere Beziehung.
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Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich schuld bin an Raissas Tod. Ich rufe mir alles ins Gedächtnis zurück, um herauszufinden, wie es möglich war, dass ich sie nicht habe retten können. Ich habe gesehen, wie sehr ihr die Ereignisse der letzten Zeit zusetzten: Wie konnte es geschehen, dass unanständige, gewissen- und verantwortungslose Menschen in unserem Land die Oberhand gewonnen hatten? Raissa kam ständig auf dieses Thema zu sprechen, und wenn ich ihr vorhielt, man könne nicht die ganze Zeit an ein und dasselbe denken, zog sie sich in ihr Schneckenhaus zurück und schwieg. Sie tat mir leid. Es quälte mich, dass sie litt.
Immer wieder kommt mir die Erinnerung an die letzte Nacht, die sie lebte, die Nacht vom 19. auf den 20. September. Raissa starb am 20.September 1999, um 2 Uhr 57. Sie starb ohne Schmerzen, lag im Koma. Wir konnten einander nichts zum Abschied sagen. Sie starb zwei Tage vor der geplanten Stammzellentransplantation aus dem Rückenmark ihrer Schwester Ljudmila - fünf Tage vor dem 46. Jahrestag unserer standesamtlichen Trauung in Moskau.
Bis zum Ende glaubte ich an ihre Rettung und konnte das Geschehene lange nicht fassen. Hilflos und verstört standen Irina und ich an ihrem Bett: »Geh nicht fort, Sacharka.1 Hörst du?« Ich ergriff ihre Hände in der Hoffnung, sie würde mir vielleicht mit einem Händedruck antworten. Raissa schwieg - sie war tot.
Vor der Krankheit hatten Raissa und ich wiederholt über unsere Zukunft gesprochen. Einmal hörte ich von ihr: »Ich möchte nicht ohne dich zurückbleiben. Das ist kein Leben für mich. Du, du heiratest dann eben und lebst weiter.« Ich war erschüttert darüber, was ihr durch den Kopf ging. »Was redest du?! Wie kommst du darauf? Wieso sprichst du vom Tod? Du bist jung, schau dich im Spiegel an. Hör, was die Leute sagen. Du bist einfach müde!«
»Ich will keine alte Frau sein«, sagte sie oft. Als dann die Enkel kamen, musste entschieden werden, wie sie uns beide anreden sollten. Sie wollte »Babulja« genannt werden. »Babuschka, das klingt so klapprig, aber Babulja, da steckt doch Energie drin!« So war sie eben ...
Raissa mochte den Spruch vom Alter einer Frau: »Kind, Mädchen, junge Frau, junge Frau, junge Frau, junge Frau - eine alte Frau ist eine tote Frau.«
In den letzten Jahren unseres Zusammenlebens träumte sie oft davon, dass einer von uns stirbt. Immer häufiger merkte ich, dass sie Angst hatte. Manchmal sagte sie: »Lass uns weniger reisen.« Es fiel ihr zunehmend schwer, weite Reisen mit mir zu unternehmen. Doch wie ich an ihren traurigen Augen ablas, fiel es ihr noch schwerer, allein zurückzubleiben.
In jener Nacht standen Irina und ich an ihrem Bett. Wir weinten und konnten nichts mehr machen.
5. Januar 2001 Raissas Geburtstag. Sie wäre 69 Jahre alt geworden. In unseren Gesprächen über die Zukunft hat sie oft gesagt: »Wenn ich bis zum Anbruch des neuen Jahrhunderts und Jahrtausends leben würde, wäre das vollkommen ausreichend.« Sie hat dieses Ziel um drei Monate verfehlt. Dabei hatten wir einen Plan: Wir wollten das Jahr 2000 so begrüßen, dass wir es nie vergessen würden. Und da Irina und die Kinder noch nie in Paris waren, hatten wir vor, das Jahr 2000 auf den Champs-Élysées in dieser wunderbarsten Stadt der Welt zu begrüßen.
Darauf freuten wir uns, bis uns dieser schreckliche Verlust traf. Und trotzdem bin ich mit den Mädchen nach Paris gefahren, ihr Weihnachtsgeschenk von Raissa.
Heute waren wir auf dem Neujungfrauenfriedhof. Wir haben viele Blumen mitgebracht - Vorweihnachtszeit. In der Nacht ist Schnee gefallen. Ich habe Raissas Lieblingsblumen mitgebracht: rote Rosen. Ein unvergessliches Bild: die roten Rosen auf dem blütenweißen Schnee. Auf der Grabplatte.
Als wir zurückkamen, haben wir uns an den Tisch gesetzt. An der Wand ein großes Porträt von ihr, im Zimmer Blumen, brennende Kerzen, der geschmückte Weihnachtsbaum und der Duft von Nadelholz. Auf dem Tisch alles, womit sie uns immer verwöhnte. Kurz: eine russische Tafel mit sibirischem Anstrich in Gestalt von Pelmeni und der Torte namens »Avantgarde«, die in der Kreml-Konditorei zubereitet wurde und deren Name von Raissa stammt. Wir hoben die Gläser und standen schweigend da ...
Nach dem Abendessen ging ich nach oben in mein Arbeitszimmer. Ich machte kein Licht und stand am Fenster. Das von Laternen beleuchtete Datschengrundstück, der dichte russische Wald und der unentwegt fallende Schnee - ich kam mir vor, als säße ich im Bolschoj- Theater, im Nussknacker. Wir hatten eine Familientradition, nach der wir jedes Jahr an Silvester ins Bolschoj-Theater gingen. Wir schauten uns den Nussknacker an, und wenn wir nach Hause kamen, feierten wir den Ausklang des alten Jahres und verteilten die Geschenke, die Väterchen Frost trotz der erhöhten Sicherheitsstufe in die Präsidentenvilla geschleust und uns unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte. Musik, fröhliches Beisammensein ...
All das sind nun Erinnerungen an ein vergangenes Leben, an die Zeit, da wir alle noch zusammen waren.
Raissa liebte den russischen Winter, besonders wenn es ordentlich stürmte und schneite. So war es schon, als wir noch in der Region Stawropol wohnten, wo wir uns sogar einmal bei einem Schneetreiben verirrt haben. Und so war es auch in Moskau. Raissa stammt aus dem Altai-Gebirge und wuchs in Sibirien auf. Ein paar Jahre lebte die Eisenbahnbauer-Familie auch im Nordural in der Taiga.
Oft erzählte sie von Schlittenfahrten, bei denen die drei Kinder Raissa, Shenja und Ljudotschka in Pelzmäntel eingepackt an einen neuen Wohnort gebracht wurden. An Winterabenden war es in den Familien Brauch, die berühmten Pelmeni zu kneten, sibirische Teigtaschen, die man einfror und in einem Sack an der eiskalten Luft aufbewahrte. Pelmeni, das war Raissas Leibgericht.
Wieder komme ich auf ihre letzten Tage zurück. Tapfer kämpfte sie um ihr Leben und ertrug geduldig alles, was die Ärzte mit ihr anstellten. Es war eine Qual, das mit ansehen zu müssen. In Minuten der Verzweiflung suchte sie in meinen Augen und in denen ihrer Tochter nach einer Antwort auf die Frage, wie es mit ihr weitergehen würde.
Als Raissa am 19. Juli nach der Diagnose ins Krankenzimmer gebracht wurde, ging ich zu ihr. Sie schaute mir in die Augen und fragte: »Was haben die Ärzte gesagt?«
Vorsichtig sagte ich: »Sie sagen, es handle sich um eine akute Blutkrankheit. «
»Ist das das Ende?«, fragte sie.
»Nein. Wir haben beschlossen, morgen mit dir nach Deutschland zu fliegen, wo man zusätzliche Untersuchungen vornehmen wird, um sich ein genaues Bild von der Krankheit zu verschaffen. Dort wird auch entschieden, wie sie zu heilen ist.«
Wir flogen nach Münster mit der Hoffnung auf Raissas Genesung. Am 21. September mussten wir mit der toten Raissa zurückkehren.
Ich beschloss, ein Buch über unser Leben zu schreiben. Das hatte ich schon lange vor, brachte es aber nicht fertig. Dieses Buch ist mir schwergefallen. Ich stand die ganze Zeit unter dem Eindruck des mit Rotstift geschriebenen Titels, den Raissa ihrem Buch geben wollte: Was mir auf der Seele liegt.
Vorbemerkung
Dieses Buch ist anders als alle Bücher, die ich bisher verfasst habe. Es gibt keine feste Struktur, es handelt sich um keine Memoiren im eigentlichen Sinne, sondern einfach um meine Sicht unseres Lebens.
Diejenigen, die ich gebeten habe, dieses Buch zu lesen und zu beurteilen, haben gesagt, es gefalle ihnen. Wenn sie keinerlei Beanstandungen gehabt hätten, hätte ich das als Wunsch gewertet, mir nach dem Mund zu reden, um mich zu unterstützen. Aber neben der positiven Bewertung hat es durchaus auch sehr nützliche Kritik gegeben, die ich bei der Schlussredaktion nach Möglichkeit berücksichtigt habe.
Ich hoffe, es ist mir gelungen, eine umfassende Vorstellung von der Geschichte meines Lebens zu geben. Dieses Buch ist meine Antwort auf die Frage nach den Faktoren, die letztlich ausschlaggebend waren für meinen politischen Weg.
Teil I
MEINE UNIVERSITÄTEN
1. Kapitel Wo ich herkomme
Von den etwas über achtzig Jahren meines Lebens habe ich zweiundvierzig in der Region Stawropol verbracht, die anderen in Moskau. Im Nordkaukasus treffen verschiedene Kulturen und Religionen aufeinander. Die facettenreiche Geschichte dieser Region hat mich immer lebhaft interessiert.
Mit der Erstarkung des Russischen Reiches suchten die Kaukasusvölker Schutz bei ihm vor allen möglichen Eroberern. Im August 1555 kehrte Andrej Schtschepetow, von Iwan dem Schrecklichen in den Nordkaukasus entsandt, mit einer Botschaft der Fürsten von Adygeja zurück. Der Zar erklärte das Reich von Pjatigorsk zu russischem Territorium. Die russische Seite legte Grenzbefestigungen an. Unter Katharina der Großen begann der Bau der Grenzlinie von Asow bis Mosdok mit sieben Festungen, darunter die Festung von Stawropol. Die ersten Grenzwächter waren Kosaken vom Fluss Chopjor (Gouvernement Woronesch) und Grenadiere des Wladimir- Regiments (Gouvernement Wladimir).
Und dann entstand eine Kosakensiedlung nach der anderen. Erst flüchteten die Bauern vor der Leibeigenschaft in den Süden. Später siedelte man sie zwangsweise dort an. Das Gouvernement Stawropol, ein Vorläufer der Region Stawropol, der ich später vorstehen sollte, ist eine relativ späte Verwaltungseinheit des Russischen Reiches. Den Status eines Gouvernements bekam es erst 1848, Hauptstadt ist das auf dem höchsten Punkt gelegene Stawropol, das von einem vorwiegend ebenen Steppengebiet von 400 Kilometern Länge und 200 Kilometern Breite umgeben ist. Vom eigentlichen Kaukasus trennten es die Ländereien der Terek-Kosaken sowie im Südwesten die Ländereien der Kuban-Kosaken, die Katharina die Große von der Ukraine in den Nordkaukasus umgesiedelt hatte. Im Nordwesten erstreckte sich das Territorium der Don-Kosaken, im Nordosten das Gouvernement Astrachan.
Die Region Stawropol gehört zum Nordkaukasus. Sie liegt an der Grenze zwischen Europa und Asien. Im Osten, an der Grenze zu Tschetschenien, gibt es 14 Prozent Sandboden und 31 Prozent Trockensteppe; die restliche Fläche bilden fruchtbare Kastanien- und Schwarzerdeböden.
Die Winter sind streng. Oft fällt die Temperatur auf minus 20 bis minus 30 Grad. Aber das Hauptproblem sind die heißen Winde, die Staubstürme regenarmer Jahre. Es ist statistisch belegt, dass diese in den letzten hundert Jahren stark zugenommen haben. Der Aprilsturm des Jahres 1898, der 200000 Stück Vieh vernichtete, ist in die Geschichte eingegangen. Die Staubstürme des Frühlings 1948 fegten die oberste Schicht des Bodens weg, 1975/76 (als ich Erster Sekretär des Regionskomitees der KPdSU war) herrschte eine katastrophale Dürre.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten ca. eine Million Menschen in der Region. Das waren im wesentlichen Russen (beziehungsweise »Großrussen«, wie sie damals offiziell hießen), ein Drittel waren Ukrainer (offiziell: »Kleinrussen«), dann Nogaier, Turkmenen, Kalmücken, Armenier, Grusinier, Griechen, Esten, Juden und Polen. Die Deutschen mit ihren großen, reichen Farmen lebten abgesondert von den anderen in der Steppe. Es gab auch reiche russische Höfe. Einer, der seinerzeit ziemlich bekannt war in der Region Stawropol, gehörte der Familie, aus der Solschenizyn stammt. 40 Prozent der Fläche des Gouvernements Stawropol war von Nomaden bevölkert: Nogaiern, Turkmenen und Kalmücken. Die eigentlichen Bergvölker des Kaukasus (Karatschaier, Tscherkessen und Abasinzen) kamen erst in der sowjetischen Zeit hinzu.
Im Gouvernement lagen zwei Städte (die Stadt Stawropol hatte vor der Revolution etwas mehr als 40 000 Einwohner) und 130 Dörfer, darunter zehn größere (das heißt mit einer Einwohnerzahl von bis zu 15 000). Es gab elf Bahnstationen, neun Telegrafenämter, 21 Postämter, 22 staatliche Ärzte in der Stadt, zu denen ebenso viele frei praktizierende hinzukamen, ein paar Krankenhäuser auf dem Land mit je fünf Betten, fünf Mittelschulen, 313 Schulen mit nur einer Klasse und drei Buchhandlungen, die alle in der Stadt Stawropol ansässig waren.
Vorherrschend war die Landwirtschaft: Ackerbau, Vieh- und Schafzucht. Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse waren zum Export bestimmt: nach Petersburg, Moskau und Paris. An Industrie gab es: Müllerei- und Wachsbetriebe (die auch Kerzen herstellten), Buttereien, Schnapsbrennereien, Ledergerbereien, Ziegeleien, kurz: alles, was charakteristisch für ein ländliches Gouvernement ist.
Die soziale Schichtung war charakteristisch für die Provinz jener Zeit: eine recht große Zahl von Adligen, Großgrundbesitzer, Geistliche, Kaufleute und Händler, Kleinbürger (Angestellte, Beamte, Hausbesitzer); die Bauernschaft (mit Ländereien einer Ausdehnung von 2 bis 5 Desjatinen2) stellte 90 Prozent der Bevölkerung; hinzu kamen Arbeiter unterschiedlicher Art (darunter viele Tagelöhner) und arme Leute ohne bestimmte Beschäftigung. So sah das Gouvernement Stawropol vor dem Ersten Weltkrieg und der Revolution von 1917 aus.
Die Geschichte dieses Landstrichs ist reich an Ereignissen. Über einige sind bis heute Legenden im Umlauf. Mit der Zeit erfuhr ich, dass 25 der Offiziere, die 1825 am Dezemberaufstand gegen den Zaren teilgenommen hatten, hierhin verbannt worden waren. Das Leben vieler von ihnen endete während der Kaukasuskriege in den zahllosen Zusammenstößen mit den Bergbewohnern. Unter den Verbannten war auch der Dichter Alexander Odojewskij, der Verfasser einer in Versform gefassten Antwort auf Puschkins Sendschreiben an die Dekabristen, das die berühmte Zeile enthält: »Der Funken wird zu einer Flamme.«
Im Lermontow-Museum in Pjatigorsk ist ein Tagebuch Odojewskijs ausgestellt. Auf den vergilbten Seiten begegnet man Namen, die einem aus der Schule bekannt sind. Hier freundete sich Odojewskij mit Lermontow an und traf Ogarjow, den Freund Alexander Herzens. Und als ich in einem Lehrbuch las, »die Dekabristen haben Herzen aufgerüttelt«, erschien mir das wie eine lebendige Verbindung zu den früheren mir bekannten und vertrauten Menschen meiner Heimat.
Wie der Fluss nach dem Frühjahrshochwasser große und kleine Seen an den Ufern zurücklässt, so haben auch die Umsiedlungen und Wanderungen verschiedener Völker in den Steppen und Vorgebirgen des Stawropoler Landes viele Spuren hinterlassen. Neben russischen Namen begegnet man immer wieder Namen wie Antusta, Dshalga und Tachta, die mongolischen Ursprungs sind, oder Atschikulak und Arsgir, die turksprachig sind.
Eine solche Mischung von Ethnien auf kleinem Raum, einen solchen Reichtum von Sprachen, Kulturen und Religionen haben nur wenige Regionen der Welt aufzuweisen. Außer den Russen, die 83 Prozent ausmachten, lebten im Stawropoler Land zu meiner Zeit Karatschaier, Tscherkessen, Abasinzen, Nogaier, Osseten, Griechen, Armenier und Turkmenen. Es ist unmöglich, alle aufzuzählen. Und jedes Volk bringt nicht nur seine Sprache, sondern seine Bräuche, Sitten und Trachten mit, ja sogar seine jeweilige Gestaltung und Aufteilung des Hofs.
Heute sehen die Siedlungen ganz anders aus, sie sind einheitlicher geworden. Aber noch Anfang des 20. Jahrhunderts konnte man den typischen kaukasischen Aul der Bergbewohner antreffen und daneben eine Kosakensiedlung oder ein russisches Dorf mit Samankaten unter einem Stroh- oder Schilfdach. Und um jede Kate zog sich ein Zaun, geflochten aus den Ruten junger Bäume. Ich verstand mich damals auch nicht schlecht auf diese Flechtkunst, und genauso wusste ich, wie man ein Dach deckt und mit welcher Lösung man das Stroh begießen muss, damit die Vögel es nicht rauben.
Die Bewohner des Landstrichs sind gesellig und kompromissbereit. Das Auskommen mit Menschen verschiedener Ethnien war ja die wichtigste Voraussetzung für ein Überleben im Nordkaukasus. Sich in einem mehrsprachigen, multikulturellen Milieu bewegen zu müssen, erzog zu Toleranz und einem respektvollen Umgang miteinander. Wenn man einen Bergbewohner beleidigte oder kränkte, hatte man sich einen Todfeind gemacht. Respekt vor der Würde und den Bräuchen eines Bergbewohners hieß, einen treuen Freund gewonnen zu haben. Ich hatte eine Vielzahl solcher Freunde, denn schon damals kam ich, ohne entsprechende hochtrabende Worte zu kennen, immer mehr zu der Einsicht, dass nur Toleranz und Eintracht den Frieden zwischen den Menschen sicherstellen können.
Hier in meiner Heimat bekam ich den ersten Unterricht in internationaler Erziehung. Nicht in der Theorie, sondern als fundamentalen Bestandteil des Alltagslebens. Im Nordkaukasus leben Menschen verschiedener Ethnien nebeneinander, manchmal sogar in ein und demselben Dorf, derselben Siedlung, demselben Aul oder derselben Ortschaft. Sie bewahren ihre Kultur und ihre Traditionen, helfen einander aber auch, besuchen sich, bemühen sich, eine gemeinsame Sprache zu finden, und arbeiten zusammen.
Als ich Präsident der UdSSR wurde und es mit den Konflikten der Nationalitäten in meinem Land zu tun bekam, war ich kein Neuling in diesen Fragen: Hier in der geistigen Atmosphäre des Nordkaukasus sehe ich den Ursprung meiner Neigung, in Konfliktfällen nach einem Kompromiss zu suchen; nicht aus Charakterschwäche, wie einige meinen. Rebellen gab es im Nordkaukasus mehr als genug. Gerade hier haben viele Anführer echter Volksbewegungen ihr Heer um sich geschart und ihren Vormarsch begonnen: Kondratij Bulawin, Ignat Nekrassow, Stepan Rasin und Jemeljan Pugatschow. Der Überlieferung nach stammt auch Jermak, der Eroberer Sibiriens, aus dieser Gegend.
Die zahllosen Überfälle von Eroberern in alter Zeit und die langjährigen Kaukasuskriege in jüngster Vergangenheit haben eine Menge Menschenleben gekostet. Auch der Bürgerkrieg des vergangenen Jahrhunderts hat eine furchtbare Blutspur in unserer Gegend hinterlassen. Die Sowjetmacht drang von Rostow aus in Richtung Stawropol vor. Unsere Orte waren die ersten auf diesem Weg, und so formierten sich auf dem Boden meiner Region die ersten Abteilungen der Roten Garde. Bekannt ist Lenins Grußschreiben an die »Front von Medweschje«.
Am 1. Januar 1918 wurde die Stawropoler Sowjetrepublik ausgerufen und ein Rat der Volkskommissare gebildet. Eine halbe Million Bauern erhielten Land von der neuen Regierung. Man führte den Achtstundentag ein, errichtete eine Arbeiterkontrolle in den Fabriken, und der Schulunterricht war von nun an kostenlos. Doch schon im März kam es im Landkreis Medweschje zu Kämpfen mit Offizierseinheiten des weißen Generals Kornilow und im April mit der Freiwilligenarmee des Generals Alexejew. Im Juli 1918 schloss sich die Stawropoler Sowjetrepublik mit der Kuban- und Schwarzmeerrepublik sowie der Republik Terek zur Sowjetrepublik Nordkaukasus zusammen, die bis zum Januar 1919 Bestand hatte. Danach übernahmen die weißen Generäle Denikin und Schkuro die Macht.
Die Kämpfe im Nordkaukasus wurden mit äußerster Erbitterung geführt. Ein Teil der Kosaken ging in die Rote Armee, sodass in der zweiten Hälfte des Jahres 1918 an der Südfront vierzehn rote Kosakenregimenter im Einsatz waren, die später zu Brigaden und Reiterarmeen umformiert wurden. Wie unsere örtlichen Veteranen versicherten, waren in der berühmten 1. Reiterarmee von Budjonnyj und Woroschilow nahezu 40 Prozent der Soldaten aus Stawropol. Ein anderer, nicht unbeträchtlicher Teil der Kosaken dagegen schloss sich den Weißen an. Als es am Don zu einer Meuterei kam und General Krasnow mit Hilfe deutscher Truppen eine Militärdiktatur errichtete, wurden 45 000 mit der Sowjetmacht sympathisierende Kosaken erschossen oder erhängt. Aber auch die Roten machten keine Umstände und schreckten nicht vor den brutalsten Maßnahmen zurück, sogar gegen Alte, Frauen und Kinder. Ich erinnere mich noch an folgende Episode, von der General Kniga erzählte.
1967 feierte man den 50. Jahrestag der Sowjetmacht. Zahlreiche Teilnehmer des Bürgerkriegs fuhren in die Städte und Dörfer und erzählten von ihren Erinnerungen. Besonders viele Begegnungen fanden für die Jugendlichen statt. Auch General Kniga, ein Held des Bürgerkriegs, wurde gebeten, seine Heimat im Norden des Gouvernements aufzusuchen, wo er für die Sowjetmacht gekämpft hatte. Der General erklärte sich einverstanden, bat aber zur allgemeinen Verwunderung um Begleitschutz.
»Wofür brauchst du denn Begleitschutz, Wasilij?«
»Ich brauche ihn unbedingt. Wir haben dort im Bürgerkrieg ein ganzes Dorf niedergesäbelt.«
»Wie - niedergesäbelt?«
»Na so ...«
»Alle Dorfbewohner?«
»Möglicherweise eben nicht alle, deshalb denke ich, vielleicht hat einer überlebt und erinnert sich daran.«
Wie oft habe ich zu hören bekommen, beim Übergang zu einer neuen Gesellschaft sei Gewalt nicht nur gerechtfertigt, sondern eine Notwendigkeit. Dass sich Blutvergießen bei Revolutionen tatsächlich oft nicht vermeiden lässt, ist ein Faktum. Aber in der Gewalt ein Allheilmittel für die Lösung von Problemen zu sehen, zu ihr aufzurufen, um irgendwelche vermeintlich »hehren« Ziele zu erreichen, also im Zweifelsfall wieder das Volk niederzusäbeln, das ist unmenschlich.
Die Familie der Gorbatschows war nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das Stawropoler Land gekommen. Mein Urgroßvater, Moisej Gorbatschow, siedelte sich mit seinen drei Söhnen Alexej, Grigorij und Andrej am Rand des sehr viel früher entstandenen Dorfes Priwolnoje an. Die Gorbatschows wohnten zuerst alle zusammen, eine Großfamilie von 18 Personen. In der Nähe lebten ihre nahen und fernen Verwandten, ebenfalls Gorbatschows. Später wurden für die Söhne mit ihren Familien Hütten gebaut. Auch mein Großvater Andrej Moisejewitsch, der meine Großmutter Stepanida heiratete, trennte sich mit der Familiengründung von seinen Eltern. 1909 kam Sergej zur Welt, mein Vater.
Am Rand des Dorfes Priwolnoje, das von den Gorbatschows und ihren engen Verwandten besiedelt war, wohnten auch Pantelej Jefimowitsch und Wasilisa Gopkalo. Auch sie waren zugereist: Er stammte aus der Gegend um Tschernigow, sie aus der Gegend um Charkow, ihrem Ursprung nach waren sie also Ukrainer. Offenbar kamen sie zur selben Zeit wie die Gorbatschows und ließen sich am Rande des Dorfes nieder. Sie hatten eine Tochter Maria, meine Mutter.
1929, als mein Vater zwanzig und meine Mutter achtzehn war, heirateten sie. Aus der mündlichen Familienüberlieferung ist bekannt, dass meine Mutter meinen Vater nicht heiraten wollte, die Großväter sich aber abgesprochen hatten. Meinem Vater gefiel meine Mutter. Er liebte sie. Er liebte sie sein ganzes Leben und kümmerte sich um sie. Er verzieh ihr vieles. Wenn er wegfuhr, brachte er bei der Rückkehr immer Geschenke mit. Geschenke für Maria!
Ich wurde am 2. März 1931 geboren und in der Kirche des Nachbardorfs Letnizkoje getauft. Infolge der Revolution von 1917 wurde die Religion ja verfolgt, und die Kirchen in Priwolnoje waren zerstört worden. Meine Mutter und mein Vater hatten mir bei der Geburt den Namen Viktor gegeben. Doch bei der Taufe antwortete Großvater Andrej auf die Frage des Geistlichen nach meinem Namen, ich solle Michail heißen. Dann packte man mich in einen warmen Schafpelz und brachte mich nach Priwolnoje zurück. Dies geschah weniger, damit ich nicht erfror, sondern weil es Reichtum verspricht - so will es der Brauch.
Die Hütte von Großvater Andrej erstreckte sich von Osten nach Westen und bestand aus drei Räumen. Zuerst kam die gute Stube, wo Großvater und Großmutter schliefen. Die Ostecke dieses Zimmers nahm eine große, wunderschöne Ikonenwand ein. Der Lehmboden war mit selbstgewebten Läufern bedeckt. Der zweite Raum war der Gemeinschaftsraum für die Familie mit einem russischen Ofen, an den ein kleiner Ofen angebaut war. An der Fensterwand standen ein Esstisch und eine Bank. Im großen Ofen wurde das Brot gebacken, alles andere wurde in dem Öfchen zubereitet. Die kleinen Kinder schliefen oben auf dem Ofen.
Als Vater und Mutter geheiratet hatten, wurde ein Teil dieses Zimmers für die beiden abgetrennt. Dann gab es noch einen Flur. Der dritte Teil der Hütte diente als Vorratsraum, wo man Getreide, Futter und Saatgut aufbewahrte. Unter dem Dach hingen Säcke mit Zwieback. Als ich schon größer war, ging ich gern auf den Speicher dieses Raums und suchte mir ein stilles Plätzchen, wo ich oft einschlief. Einmal entdeckte ich zwei Säcke mit merkwürdigen farbigen Scheinen. Es stellte sich heraus, dass das Kerenki waren, Geldscheine, die 1917 unter der von Kerenskij angeführten provisorischen Regierung ausgegeben worden waren. Sie lagen da noch lange. Großvater hoffte wohl darauf, sie könnten noch einmal von Nutzen sein. Wie Bauern eben so denken!
Im vierten Raum war das Vieh untergebracht. Daneben befand sich Futter und ein Teil des Heizmaterials. So war die Hütte aufgeteilt.
Vor vielen Jahren erzählte meine Mutter meiner Tochter Irina, ihrer ersten Enkelin, wie ich auf die Welt gekommen bin. Als die Wehen einsetzten, brachte man meine Mutter in den Vorratsraum. Man legte Stroh auf den Boden und bettete sie auf ein Lager. Zwischen dem Wohnraum und dem Stall, da wurde ich also geboren. Als Irina erwachsen war, kam sie auf diese Geschichte zu sprechen und sagte: »Papa, hör mal, du bist ja geboren wie Jesus Christus.«
»Ja! Schreib es dir hinter die Ohren. Aber sag es niemand weiter«, sagte ich aus Spaß.
Ich möchte jetzt von meinen beiden Großvätern erzählen. Ihr Schicksal ist typisch für das Schicksal der Bauern unter der Sowjet- macht. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte Großvater Pantelej von der türkischen Front zurück, Großvater Andrej von der österreichischen. Beide Familien waren bettelarm. Großvater Pantelej verlor mit 13 Jahren seinen Vater und hatte noch vier jüngere Geschwister.
Obwohl von Natur aus ruhig, stand ihm der Sinn nach Veränderungen, er gründete erst eine Bauernkommune und dann eine Genossenschaft zur gemeinsamen Bearbeitung des Bodens, eine damals berühmte Form des Zusammenschlusses.
»Die Sowjetmacht hat uns nicht gerettet, sie hat uns Land gegeben «. Diese Worte habe ich von Großvater Pantelej immer wieder gehört. Und das war entscheidend für sein Verhältnis zur Sowjetmacht. Die Kollektivierung begann. Er wurde Organisator und Vorsitzender einer Kolchose.
Großvater Andrej, von Natur aus schroff, erkannte die Kolchose nicht an und bewirtschaftete sein Land allein. Mein Vater schlug sich auf die Seite von Großvater Pantelej, trat in die Kolchose ein, wurde Traktorist und riskierte den Bruch mit seinem Vater.
Bei Großvater Andrej lief alles gut. Er bekam vom Staat Auflagen, wie viel Getreide er zu säen und wie viel er abzugeben habe, und erfüllte sie gewissenhaft. In beiden Familien normalisierte sich das Leben allmählich, wenn auch auf unterschiedliche Weise.
Da kam das Jahr 1933 mit der schrecklichen Hungersnot. Großvater Andrejs Familie war in einer äußerst kritischen Lage. Sie wussten nicht, wie sie die Kinder ernähren sollten. Drei von ihnen verhungerten im Winter. Als der Frühling kam, hatten sie kein Saatgut. Die Behörden werteten das als Sabotage, als Nichterfüllung des Aussaatplans. Großvater Andrej wurde zu Holzfällerarbeiten nach Sibirien verbannt. Er kam vor der Zeit frei, 1935, und brachte einige Auszeichnungen mit. Er rahmte die Urkunden ein und hängte sie neben die Ikonen. Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung trat Großvater in die Kolchose ein und arbeitete dort bis zu seinem Tod. Und fast immer wurde seine Arbeit als die beste ausgezeichnet, und er bekam eine Prämie.
1938 brach ein neues Unglück über uns herein. Großvater Pantelej wurde auf einmal verhaftet und des Trotzkismus beschuldigt. Sie verhörten und folterten ihn vierzehn Monate lang.
Als sie ihn verhaftet hatten, zog Großmutter Wasilisa zu uns. Sofort änderte sich vieles. Die Nachbarn besuchten uns nicht mehr, und wenn doch, dann nur nachts. Es war, als stünde das Haus unter Quarantäne: »Das Haus eines Volksfeindes!«
Man bemühte sich in der Familie, die schreckliche Zeit zu vergessen. Ich habe nie Einzelheiten gehört. Zu fragen war unangenehm. Später begriff ich dann, dass sie sich nicht so verhielten, um so schnell wie möglich zu vergessen, sondern einfach aus Angst. Solche Gespräche sah die Sowjetmacht nicht gerne.
Fast zwanzig Jahre kam ich nicht aus Priwolnoje heraus. Nur einmal fuhr ich in einem Lastwagen mit einer Gruppe von Mechanikern nach Stawropol, wo uns Auszeichnungen der Regierung für besondere Arbeitsleistungen ausgehändigt wurden. Und noch davor fuhren Tante Sanja (eine Schwester meines Vaters) und ich mit dem Getreidewagen-Tross zum staatlichen Getreidespeicher der Bahnstation Pestschanokopsk.
Das war unheimlich interessant: meine erste weite Reise mit einer Übernachtung in der Steppe am Brunnen, wo sich alle niederließen. Wir aßen zusammen zu Abend und schliefen auf den Getreidewagen. Und am Bahnhof, da sah ich zum ersten Mal eine Lokomotive!
Oft war ich bei Großvater Pantelej und Großmutter Wasilisa, die mit der Zeit ins Nachbardorf zogen, wo Großvater zum Kolchosvorsitzenden gewählt worden war. Darüber waren nicht nur meine Großmutter (das wurde sie übrigens, als sie gerade mal achtunddreißig war) und ich sehr glücklich, sondern besonders meine Eltern. Manchmal versuchten sie, mich im Dorf Priwolnoje zu behalten, aber ich wollte wieder zu Großvater und Großmutter zurück. Alle Versuche meiner Eltern endeten mit einem Sieg meinerseits. Ich lief einen und anderthalb Kilometer hinter dem Fuhrwerk des Großvaters her, bis er sich erbarmte und mich mitnahm.
Großmutter wusste später immer wieder davon zu erzählen, wie gut wir miteinander auskamen, wie ich sie zum Beispiel im Haus einsperrte, weil sie mir nicht so viel Zucker gab, wie ich wollte. Was ist da nicht so alles vorgekommen! Ihr ganzes Leben blieb ich der Lieblingsenkel.
Ende der dreißiger Jahre bürgerte es sich ein, dass man an Sonn- und Feiertagen in den Waldgürtel der Steppe ging, um sich zu erholen. Ganze Familien zogen los, auf Pferden, Stieren oder, wenn es nicht weit war, zu Fuß. Allen gefiel das friedliche Leben. Die Kinder spielten Schlagball, warfen Stöcke in die Luft, die man auffangen musste, oder jagten hinter einem selbstgebastelten Ball hinterher. Die Mütter schwatzten und klatschten. Die Väter besprachen ihre »Männer «-Probleme. Dabei wurde getrunken und gesungen. Und wenn einer zu viel getrunken hatte und außer sich geriet, kam es auch zu Schlägereien. Nur die Frauen konnten die Raufbolde auseinanderbringen, indem sie sich mit vereinten Kräften auf sie stürzten.
Während eines solchen Ausflugs ins Grüne, am Sonntag, dem 22. Juni, kam auf einmal ein Reiter an und meldete: »Es ist Krieg! Alle müssen um 12 Uhr auf dem Zentralen Platz in Priwolnoje sein. Molotow wird eine Rede halten.« In Priwolnoje gab es kein Radio. Es wurde extra eine Funkanlage herbeigeschafft. Wir Kinder nahmen das anders auf als die Erwachsenen, die mit versteinerten Gesichtern dastanden. Wir meinten: »Wir werden es den Faschisten schon zeigen!« Dann setzte die Mobilisierung ein, und im Herbst kamen die ersten Gefallenenmeldungen. In der Regel trafen sie abends ein. Wir standen da und lauschten, wo der Berittene stehenbliebe, bei welchem Haus. Es waren junge Männer, die umkamen: unsere Väter, Brüder und Nachbarn.
Heute wissen wir: Die Ersten, die in den Kampf mit den Faschisten verwickelt wurden, waren unsere Grenztruppen. Jungen der Jahrgänge 1921/22 und etwas älter. Die Mehrheit von ihnen kam nicht zurück. Etwa fünf Prozent der Männer dieses Alters überlebte. Ein entsetzlicher Schlag für die Mütter, Frauen, Kinder und Bräute.
© 2013 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich schuld bin an Raissas Tod. Ich rufe mir alles ins Gedächtnis zurück, um herauszufinden, wie es möglich war, dass ich sie nicht habe retten können. Ich habe gesehen, wie sehr ihr die Ereignisse der letzten Zeit zusetzten: Wie konnte es geschehen, dass unanständige, gewissen- und verantwortungslose Menschen in unserem Land die Oberhand gewonnen hatten? Raissa kam ständig auf dieses Thema zu sprechen, und wenn ich ihr vorhielt, man könne nicht die ganze Zeit an ein und dasselbe denken, zog sie sich in ihr Schneckenhaus zurück und schwieg. Sie tat mir leid. Es quälte mich, dass sie litt.
Immer wieder kommt mir die Erinnerung an die letzte Nacht, die sie lebte, die Nacht vom 19. auf den 20. September. Raissa starb am 20.September 1999, um 2 Uhr 57. Sie starb ohne Schmerzen, lag im Koma. Wir konnten einander nichts zum Abschied sagen. Sie starb zwei Tage vor der geplanten Stammzellentransplantation aus dem Rückenmark ihrer Schwester Ljudmila - fünf Tage vor dem 46. Jahrestag unserer standesamtlichen Trauung in Moskau.
Bis zum Ende glaubte ich an ihre Rettung und konnte das Geschehene lange nicht fassen. Hilflos und verstört standen Irina und ich an ihrem Bett: »Geh nicht fort, Sacharka.1 Hörst du?« Ich ergriff ihre Hände in der Hoffnung, sie würde mir vielleicht mit einem Händedruck antworten. Raissa schwieg - sie war tot.
Vor der Krankheit hatten Raissa und ich wiederholt über unsere Zukunft gesprochen. Einmal hörte ich von ihr: »Ich möchte nicht ohne dich zurückbleiben. Das ist kein Leben für mich. Du, du heiratest dann eben und lebst weiter.« Ich war erschüttert darüber, was ihr durch den Kopf ging. »Was redest du?! Wie kommst du darauf? Wieso sprichst du vom Tod? Du bist jung, schau dich im Spiegel an. Hör, was die Leute sagen. Du bist einfach müde!«
»Ich will keine alte Frau sein«, sagte sie oft. Als dann die Enkel kamen, musste entschieden werden, wie sie uns beide anreden sollten. Sie wollte »Babulja« genannt werden. »Babuschka, das klingt so klapprig, aber Babulja, da steckt doch Energie drin!« So war sie eben ...
Raissa mochte den Spruch vom Alter einer Frau: »Kind, Mädchen, junge Frau, junge Frau, junge Frau, junge Frau - eine alte Frau ist eine tote Frau.«
In den letzten Jahren unseres Zusammenlebens träumte sie oft davon, dass einer von uns stirbt. Immer häufiger merkte ich, dass sie Angst hatte. Manchmal sagte sie: »Lass uns weniger reisen.« Es fiel ihr zunehmend schwer, weite Reisen mit mir zu unternehmen. Doch wie ich an ihren traurigen Augen ablas, fiel es ihr noch schwerer, allein zurückzubleiben.
In jener Nacht standen Irina und ich an ihrem Bett. Wir weinten und konnten nichts mehr machen.
5. Januar 2001 Raissas Geburtstag. Sie wäre 69 Jahre alt geworden. In unseren Gesprächen über die Zukunft hat sie oft gesagt: »Wenn ich bis zum Anbruch des neuen Jahrhunderts und Jahrtausends leben würde, wäre das vollkommen ausreichend.« Sie hat dieses Ziel um drei Monate verfehlt. Dabei hatten wir einen Plan: Wir wollten das Jahr 2000 so begrüßen, dass wir es nie vergessen würden. Und da Irina und die Kinder noch nie in Paris waren, hatten wir vor, das Jahr 2000 auf den Champs-Élysées in dieser wunderbarsten Stadt der Welt zu begrüßen.
Darauf freuten wir uns, bis uns dieser schreckliche Verlust traf. Und trotzdem bin ich mit den Mädchen nach Paris gefahren, ihr Weihnachtsgeschenk von Raissa.
Heute waren wir auf dem Neujungfrauenfriedhof. Wir haben viele Blumen mitgebracht - Vorweihnachtszeit. In der Nacht ist Schnee gefallen. Ich habe Raissas Lieblingsblumen mitgebracht: rote Rosen. Ein unvergessliches Bild: die roten Rosen auf dem blütenweißen Schnee. Auf der Grabplatte.
Als wir zurückkamen, haben wir uns an den Tisch gesetzt. An der Wand ein großes Porträt von ihr, im Zimmer Blumen, brennende Kerzen, der geschmückte Weihnachtsbaum und der Duft von Nadelholz. Auf dem Tisch alles, womit sie uns immer verwöhnte. Kurz: eine russische Tafel mit sibirischem Anstrich in Gestalt von Pelmeni und der Torte namens »Avantgarde«, die in der Kreml-Konditorei zubereitet wurde und deren Name von Raissa stammt. Wir hoben die Gläser und standen schweigend da ...
Nach dem Abendessen ging ich nach oben in mein Arbeitszimmer. Ich machte kein Licht und stand am Fenster. Das von Laternen beleuchtete Datschengrundstück, der dichte russische Wald und der unentwegt fallende Schnee - ich kam mir vor, als säße ich im Bolschoj- Theater, im Nussknacker. Wir hatten eine Familientradition, nach der wir jedes Jahr an Silvester ins Bolschoj-Theater gingen. Wir schauten uns den Nussknacker an, und wenn wir nach Hause kamen, feierten wir den Ausklang des alten Jahres und verteilten die Geschenke, die Väterchen Frost trotz der erhöhten Sicherheitsstufe in die Präsidentenvilla geschleust und uns unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte. Musik, fröhliches Beisammensein ...
All das sind nun Erinnerungen an ein vergangenes Leben, an die Zeit, da wir alle noch zusammen waren.
Raissa liebte den russischen Winter, besonders wenn es ordentlich stürmte und schneite. So war es schon, als wir noch in der Region Stawropol wohnten, wo wir uns sogar einmal bei einem Schneetreiben verirrt haben. Und so war es auch in Moskau. Raissa stammt aus dem Altai-Gebirge und wuchs in Sibirien auf. Ein paar Jahre lebte die Eisenbahnbauer-Familie auch im Nordural in der Taiga.
Oft erzählte sie von Schlittenfahrten, bei denen die drei Kinder Raissa, Shenja und Ljudotschka in Pelzmäntel eingepackt an einen neuen Wohnort gebracht wurden. An Winterabenden war es in den Familien Brauch, die berühmten Pelmeni zu kneten, sibirische Teigtaschen, die man einfror und in einem Sack an der eiskalten Luft aufbewahrte. Pelmeni, das war Raissas Leibgericht.
Wieder komme ich auf ihre letzten Tage zurück. Tapfer kämpfte sie um ihr Leben und ertrug geduldig alles, was die Ärzte mit ihr anstellten. Es war eine Qual, das mit ansehen zu müssen. In Minuten der Verzweiflung suchte sie in meinen Augen und in denen ihrer Tochter nach einer Antwort auf die Frage, wie es mit ihr weitergehen würde.
Als Raissa am 19. Juli nach der Diagnose ins Krankenzimmer gebracht wurde, ging ich zu ihr. Sie schaute mir in die Augen und fragte: »Was haben die Ärzte gesagt?«
Vorsichtig sagte ich: »Sie sagen, es handle sich um eine akute Blutkrankheit. «
»Ist das das Ende?«, fragte sie.
»Nein. Wir haben beschlossen, morgen mit dir nach Deutschland zu fliegen, wo man zusätzliche Untersuchungen vornehmen wird, um sich ein genaues Bild von der Krankheit zu verschaffen. Dort wird auch entschieden, wie sie zu heilen ist.«
Wir flogen nach Münster mit der Hoffnung auf Raissas Genesung. Am 21. September mussten wir mit der toten Raissa zurückkehren.
Ich beschloss, ein Buch über unser Leben zu schreiben. Das hatte ich schon lange vor, brachte es aber nicht fertig. Dieses Buch ist mir schwergefallen. Ich stand die ganze Zeit unter dem Eindruck des mit Rotstift geschriebenen Titels, den Raissa ihrem Buch geben wollte: Was mir auf der Seele liegt.
Vorbemerkung
Dieses Buch ist anders als alle Bücher, die ich bisher verfasst habe. Es gibt keine feste Struktur, es handelt sich um keine Memoiren im eigentlichen Sinne, sondern einfach um meine Sicht unseres Lebens.
Diejenigen, die ich gebeten habe, dieses Buch zu lesen und zu beurteilen, haben gesagt, es gefalle ihnen. Wenn sie keinerlei Beanstandungen gehabt hätten, hätte ich das als Wunsch gewertet, mir nach dem Mund zu reden, um mich zu unterstützen. Aber neben der positiven Bewertung hat es durchaus auch sehr nützliche Kritik gegeben, die ich bei der Schlussredaktion nach Möglichkeit berücksichtigt habe.
Ich hoffe, es ist mir gelungen, eine umfassende Vorstellung von der Geschichte meines Lebens zu geben. Dieses Buch ist meine Antwort auf die Frage nach den Faktoren, die letztlich ausschlaggebend waren für meinen politischen Weg.
Teil I
MEINE UNIVERSITÄTEN
1. Kapitel Wo ich herkomme
Von den etwas über achtzig Jahren meines Lebens habe ich zweiundvierzig in der Region Stawropol verbracht, die anderen in Moskau. Im Nordkaukasus treffen verschiedene Kulturen und Religionen aufeinander. Die facettenreiche Geschichte dieser Region hat mich immer lebhaft interessiert.
Mit der Erstarkung des Russischen Reiches suchten die Kaukasusvölker Schutz bei ihm vor allen möglichen Eroberern. Im August 1555 kehrte Andrej Schtschepetow, von Iwan dem Schrecklichen in den Nordkaukasus entsandt, mit einer Botschaft der Fürsten von Adygeja zurück. Der Zar erklärte das Reich von Pjatigorsk zu russischem Territorium. Die russische Seite legte Grenzbefestigungen an. Unter Katharina der Großen begann der Bau der Grenzlinie von Asow bis Mosdok mit sieben Festungen, darunter die Festung von Stawropol. Die ersten Grenzwächter waren Kosaken vom Fluss Chopjor (Gouvernement Woronesch) und Grenadiere des Wladimir- Regiments (Gouvernement Wladimir).
Und dann entstand eine Kosakensiedlung nach der anderen. Erst flüchteten die Bauern vor der Leibeigenschaft in den Süden. Später siedelte man sie zwangsweise dort an. Das Gouvernement Stawropol, ein Vorläufer der Region Stawropol, der ich später vorstehen sollte, ist eine relativ späte Verwaltungseinheit des Russischen Reiches. Den Status eines Gouvernements bekam es erst 1848, Hauptstadt ist das auf dem höchsten Punkt gelegene Stawropol, das von einem vorwiegend ebenen Steppengebiet von 400 Kilometern Länge und 200 Kilometern Breite umgeben ist. Vom eigentlichen Kaukasus trennten es die Ländereien der Terek-Kosaken sowie im Südwesten die Ländereien der Kuban-Kosaken, die Katharina die Große von der Ukraine in den Nordkaukasus umgesiedelt hatte. Im Nordwesten erstreckte sich das Territorium der Don-Kosaken, im Nordosten das Gouvernement Astrachan.
Die Region Stawropol gehört zum Nordkaukasus. Sie liegt an der Grenze zwischen Europa und Asien. Im Osten, an der Grenze zu Tschetschenien, gibt es 14 Prozent Sandboden und 31 Prozent Trockensteppe; die restliche Fläche bilden fruchtbare Kastanien- und Schwarzerdeböden.
Die Winter sind streng. Oft fällt die Temperatur auf minus 20 bis minus 30 Grad. Aber das Hauptproblem sind die heißen Winde, die Staubstürme regenarmer Jahre. Es ist statistisch belegt, dass diese in den letzten hundert Jahren stark zugenommen haben. Der Aprilsturm des Jahres 1898, der 200000 Stück Vieh vernichtete, ist in die Geschichte eingegangen. Die Staubstürme des Frühlings 1948 fegten die oberste Schicht des Bodens weg, 1975/76 (als ich Erster Sekretär des Regionskomitees der KPdSU war) herrschte eine katastrophale Dürre.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten ca. eine Million Menschen in der Region. Das waren im wesentlichen Russen (beziehungsweise »Großrussen«, wie sie damals offiziell hießen), ein Drittel waren Ukrainer (offiziell: »Kleinrussen«), dann Nogaier, Turkmenen, Kalmücken, Armenier, Grusinier, Griechen, Esten, Juden und Polen. Die Deutschen mit ihren großen, reichen Farmen lebten abgesondert von den anderen in der Steppe. Es gab auch reiche russische Höfe. Einer, der seinerzeit ziemlich bekannt war in der Region Stawropol, gehörte der Familie, aus der Solschenizyn stammt. 40 Prozent der Fläche des Gouvernements Stawropol war von Nomaden bevölkert: Nogaiern, Turkmenen und Kalmücken. Die eigentlichen Bergvölker des Kaukasus (Karatschaier, Tscherkessen und Abasinzen) kamen erst in der sowjetischen Zeit hinzu.
Im Gouvernement lagen zwei Städte (die Stadt Stawropol hatte vor der Revolution etwas mehr als 40 000 Einwohner) und 130 Dörfer, darunter zehn größere (das heißt mit einer Einwohnerzahl von bis zu 15 000). Es gab elf Bahnstationen, neun Telegrafenämter, 21 Postämter, 22 staatliche Ärzte in der Stadt, zu denen ebenso viele frei praktizierende hinzukamen, ein paar Krankenhäuser auf dem Land mit je fünf Betten, fünf Mittelschulen, 313 Schulen mit nur einer Klasse und drei Buchhandlungen, die alle in der Stadt Stawropol ansässig waren.
Vorherrschend war die Landwirtschaft: Ackerbau, Vieh- und Schafzucht. Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse waren zum Export bestimmt: nach Petersburg, Moskau und Paris. An Industrie gab es: Müllerei- und Wachsbetriebe (die auch Kerzen herstellten), Buttereien, Schnapsbrennereien, Ledergerbereien, Ziegeleien, kurz: alles, was charakteristisch für ein ländliches Gouvernement ist.
Die soziale Schichtung war charakteristisch für die Provinz jener Zeit: eine recht große Zahl von Adligen, Großgrundbesitzer, Geistliche, Kaufleute und Händler, Kleinbürger (Angestellte, Beamte, Hausbesitzer); die Bauernschaft (mit Ländereien einer Ausdehnung von 2 bis 5 Desjatinen2) stellte 90 Prozent der Bevölkerung; hinzu kamen Arbeiter unterschiedlicher Art (darunter viele Tagelöhner) und arme Leute ohne bestimmte Beschäftigung. So sah das Gouvernement Stawropol vor dem Ersten Weltkrieg und der Revolution von 1917 aus.
Die Geschichte dieses Landstrichs ist reich an Ereignissen. Über einige sind bis heute Legenden im Umlauf. Mit der Zeit erfuhr ich, dass 25 der Offiziere, die 1825 am Dezemberaufstand gegen den Zaren teilgenommen hatten, hierhin verbannt worden waren. Das Leben vieler von ihnen endete während der Kaukasuskriege in den zahllosen Zusammenstößen mit den Bergbewohnern. Unter den Verbannten war auch der Dichter Alexander Odojewskij, der Verfasser einer in Versform gefassten Antwort auf Puschkins Sendschreiben an die Dekabristen, das die berühmte Zeile enthält: »Der Funken wird zu einer Flamme.«
Im Lermontow-Museum in Pjatigorsk ist ein Tagebuch Odojewskijs ausgestellt. Auf den vergilbten Seiten begegnet man Namen, die einem aus der Schule bekannt sind. Hier freundete sich Odojewskij mit Lermontow an und traf Ogarjow, den Freund Alexander Herzens. Und als ich in einem Lehrbuch las, »die Dekabristen haben Herzen aufgerüttelt«, erschien mir das wie eine lebendige Verbindung zu den früheren mir bekannten und vertrauten Menschen meiner Heimat.
Wie der Fluss nach dem Frühjahrshochwasser große und kleine Seen an den Ufern zurücklässt, so haben auch die Umsiedlungen und Wanderungen verschiedener Völker in den Steppen und Vorgebirgen des Stawropoler Landes viele Spuren hinterlassen. Neben russischen Namen begegnet man immer wieder Namen wie Antusta, Dshalga und Tachta, die mongolischen Ursprungs sind, oder Atschikulak und Arsgir, die turksprachig sind.
Eine solche Mischung von Ethnien auf kleinem Raum, einen solchen Reichtum von Sprachen, Kulturen und Religionen haben nur wenige Regionen der Welt aufzuweisen. Außer den Russen, die 83 Prozent ausmachten, lebten im Stawropoler Land zu meiner Zeit Karatschaier, Tscherkessen, Abasinzen, Nogaier, Osseten, Griechen, Armenier und Turkmenen. Es ist unmöglich, alle aufzuzählen. Und jedes Volk bringt nicht nur seine Sprache, sondern seine Bräuche, Sitten und Trachten mit, ja sogar seine jeweilige Gestaltung und Aufteilung des Hofs.
Heute sehen die Siedlungen ganz anders aus, sie sind einheitlicher geworden. Aber noch Anfang des 20. Jahrhunderts konnte man den typischen kaukasischen Aul der Bergbewohner antreffen und daneben eine Kosakensiedlung oder ein russisches Dorf mit Samankaten unter einem Stroh- oder Schilfdach. Und um jede Kate zog sich ein Zaun, geflochten aus den Ruten junger Bäume. Ich verstand mich damals auch nicht schlecht auf diese Flechtkunst, und genauso wusste ich, wie man ein Dach deckt und mit welcher Lösung man das Stroh begießen muss, damit die Vögel es nicht rauben.
Die Bewohner des Landstrichs sind gesellig und kompromissbereit. Das Auskommen mit Menschen verschiedener Ethnien war ja die wichtigste Voraussetzung für ein Überleben im Nordkaukasus. Sich in einem mehrsprachigen, multikulturellen Milieu bewegen zu müssen, erzog zu Toleranz und einem respektvollen Umgang miteinander. Wenn man einen Bergbewohner beleidigte oder kränkte, hatte man sich einen Todfeind gemacht. Respekt vor der Würde und den Bräuchen eines Bergbewohners hieß, einen treuen Freund gewonnen zu haben. Ich hatte eine Vielzahl solcher Freunde, denn schon damals kam ich, ohne entsprechende hochtrabende Worte zu kennen, immer mehr zu der Einsicht, dass nur Toleranz und Eintracht den Frieden zwischen den Menschen sicherstellen können.
Hier in meiner Heimat bekam ich den ersten Unterricht in internationaler Erziehung. Nicht in der Theorie, sondern als fundamentalen Bestandteil des Alltagslebens. Im Nordkaukasus leben Menschen verschiedener Ethnien nebeneinander, manchmal sogar in ein und demselben Dorf, derselben Siedlung, demselben Aul oder derselben Ortschaft. Sie bewahren ihre Kultur und ihre Traditionen, helfen einander aber auch, besuchen sich, bemühen sich, eine gemeinsame Sprache zu finden, und arbeiten zusammen.
Als ich Präsident der UdSSR wurde und es mit den Konflikten der Nationalitäten in meinem Land zu tun bekam, war ich kein Neuling in diesen Fragen: Hier in der geistigen Atmosphäre des Nordkaukasus sehe ich den Ursprung meiner Neigung, in Konfliktfällen nach einem Kompromiss zu suchen; nicht aus Charakterschwäche, wie einige meinen. Rebellen gab es im Nordkaukasus mehr als genug. Gerade hier haben viele Anführer echter Volksbewegungen ihr Heer um sich geschart und ihren Vormarsch begonnen: Kondratij Bulawin, Ignat Nekrassow, Stepan Rasin und Jemeljan Pugatschow. Der Überlieferung nach stammt auch Jermak, der Eroberer Sibiriens, aus dieser Gegend.
Die zahllosen Überfälle von Eroberern in alter Zeit und die langjährigen Kaukasuskriege in jüngster Vergangenheit haben eine Menge Menschenleben gekostet. Auch der Bürgerkrieg des vergangenen Jahrhunderts hat eine furchtbare Blutspur in unserer Gegend hinterlassen. Die Sowjetmacht drang von Rostow aus in Richtung Stawropol vor. Unsere Orte waren die ersten auf diesem Weg, und so formierten sich auf dem Boden meiner Region die ersten Abteilungen der Roten Garde. Bekannt ist Lenins Grußschreiben an die »Front von Medweschje«.
Am 1. Januar 1918 wurde die Stawropoler Sowjetrepublik ausgerufen und ein Rat der Volkskommissare gebildet. Eine halbe Million Bauern erhielten Land von der neuen Regierung. Man führte den Achtstundentag ein, errichtete eine Arbeiterkontrolle in den Fabriken, und der Schulunterricht war von nun an kostenlos. Doch schon im März kam es im Landkreis Medweschje zu Kämpfen mit Offizierseinheiten des weißen Generals Kornilow und im April mit der Freiwilligenarmee des Generals Alexejew. Im Juli 1918 schloss sich die Stawropoler Sowjetrepublik mit der Kuban- und Schwarzmeerrepublik sowie der Republik Terek zur Sowjetrepublik Nordkaukasus zusammen, die bis zum Januar 1919 Bestand hatte. Danach übernahmen die weißen Generäle Denikin und Schkuro die Macht.
Die Kämpfe im Nordkaukasus wurden mit äußerster Erbitterung geführt. Ein Teil der Kosaken ging in die Rote Armee, sodass in der zweiten Hälfte des Jahres 1918 an der Südfront vierzehn rote Kosakenregimenter im Einsatz waren, die später zu Brigaden und Reiterarmeen umformiert wurden. Wie unsere örtlichen Veteranen versicherten, waren in der berühmten 1. Reiterarmee von Budjonnyj und Woroschilow nahezu 40 Prozent der Soldaten aus Stawropol. Ein anderer, nicht unbeträchtlicher Teil der Kosaken dagegen schloss sich den Weißen an. Als es am Don zu einer Meuterei kam und General Krasnow mit Hilfe deutscher Truppen eine Militärdiktatur errichtete, wurden 45 000 mit der Sowjetmacht sympathisierende Kosaken erschossen oder erhängt. Aber auch die Roten machten keine Umstände und schreckten nicht vor den brutalsten Maßnahmen zurück, sogar gegen Alte, Frauen und Kinder. Ich erinnere mich noch an folgende Episode, von der General Kniga erzählte.
1967 feierte man den 50. Jahrestag der Sowjetmacht. Zahlreiche Teilnehmer des Bürgerkriegs fuhren in die Städte und Dörfer und erzählten von ihren Erinnerungen. Besonders viele Begegnungen fanden für die Jugendlichen statt. Auch General Kniga, ein Held des Bürgerkriegs, wurde gebeten, seine Heimat im Norden des Gouvernements aufzusuchen, wo er für die Sowjetmacht gekämpft hatte. Der General erklärte sich einverstanden, bat aber zur allgemeinen Verwunderung um Begleitschutz.
»Wofür brauchst du denn Begleitschutz, Wasilij?«
»Ich brauche ihn unbedingt. Wir haben dort im Bürgerkrieg ein ganzes Dorf niedergesäbelt.«
»Wie - niedergesäbelt?«
»Na so ...«
»Alle Dorfbewohner?«
»Möglicherweise eben nicht alle, deshalb denke ich, vielleicht hat einer überlebt und erinnert sich daran.«
Wie oft habe ich zu hören bekommen, beim Übergang zu einer neuen Gesellschaft sei Gewalt nicht nur gerechtfertigt, sondern eine Notwendigkeit. Dass sich Blutvergießen bei Revolutionen tatsächlich oft nicht vermeiden lässt, ist ein Faktum. Aber in der Gewalt ein Allheilmittel für die Lösung von Problemen zu sehen, zu ihr aufzurufen, um irgendwelche vermeintlich »hehren« Ziele zu erreichen, also im Zweifelsfall wieder das Volk niederzusäbeln, das ist unmenschlich.
Die Familie der Gorbatschows war nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das Stawropoler Land gekommen. Mein Urgroßvater, Moisej Gorbatschow, siedelte sich mit seinen drei Söhnen Alexej, Grigorij und Andrej am Rand des sehr viel früher entstandenen Dorfes Priwolnoje an. Die Gorbatschows wohnten zuerst alle zusammen, eine Großfamilie von 18 Personen. In der Nähe lebten ihre nahen und fernen Verwandten, ebenfalls Gorbatschows. Später wurden für die Söhne mit ihren Familien Hütten gebaut. Auch mein Großvater Andrej Moisejewitsch, der meine Großmutter Stepanida heiratete, trennte sich mit der Familiengründung von seinen Eltern. 1909 kam Sergej zur Welt, mein Vater.
Am Rand des Dorfes Priwolnoje, das von den Gorbatschows und ihren engen Verwandten besiedelt war, wohnten auch Pantelej Jefimowitsch und Wasilisa Gopkalo. Auch sie waren zugereist: Er stammte aus der Gegend um Tschernigow, sie aus der Gegend um Charkow, ihrem Ursprung nach waren sie also Ukrainer. Offenbar kamen sie zur selben Zeit wie die Gorbatschows und ließen sich am Rande des Dorfes nieder. Sie hatten eine Tochter Maria, meine Mutter.
1929, als mein Vater zwanzig und meine Mutter achtzehn war, heirateten sie. Aus der mündlichen Familienüberlieferung ist bekannt, dass meine Mutter meinen Vater nicht heiraten wollte, die Großväter sich aber abgesprochen hatten. Meinem Vater gefiel meine Mutter. Er liebte sie. Er liebte sie sein ganzes Leben und kümmerte sich um sie. Er verzieh ihr vieles. Wenn er wegfuhr, brachte er bei der Rückkehr immer Geschenke mit. Geschenke für Maria!
Ich wurde am 2. März 1931 geboren und in der Kirche des Nachbardorfs Letnizkoje getauft. Infolge der Revolution von 1917 wurde die Religion ja verfolgt, und die Kirchen in Priwolnoje waren zerstört worden. Meine Mutter und mein Vater hatten mir bei der Geburt den Namen Viktor gegeben. Doch bei der Taufe antwortete Großvater Andrej auf die Frage des Geistlichen nach meinem Namen, ich solle Michail heißen. Dann packte man mich in einen warmen Schafpelz und brachte mich nach Priwolnoje zurück. Dies geschah weniger, damit ich nicht erfror, sondern weil es Reichtum verspricht - so will es der Brauch.
Die Hütte von Großvater Andrej erstreckte sich von Osten nach Westen und bestand aus drei Räumen. Zuerst kam die gute Stube, wo Großvater und Großmutter schliefen. Die Ostecke dieses Zimmers nahm eine große, wunderschöne Ikonenwand ein. Der Lehmboden war mit selbstgewebten Läufern bedeckt. Der zweite Raum war der Gemeinschaftsraum für die Familie mit einem russischen Ofen, an den ein kleiner Ofen angebaut war. An der Fensterwand standen ein Esstisch und eine Bank. Im großen Ofen wurde das Brot gebacken, alles andere wurde in dem Öfchen zubereitet. Die kleinen Kinder schliefen oben auf dem Ofen.
Als Vater und Mutter geheiratet hatten, wurde ein Teil dieses Zimmers für die beiden abgetrennt. Dann gab es noch einen Flur. Der dritte Teil der Hütte diente als Vorratsraum, wo man Getreide, Futter und Saatgut aufbewahrte. Unter dem Dach hingen Säcke mit Zwieback. Als ich schon größer war, ging ich gern auf den Speicher dieses Raums und suchte mir ein stilles Plätzchen, wo ich oft einschlief. Einmal entdeckte ich zwei Säcke mit merkwürdigen farbigen Scheinen. Es stellte sich heraus, dass das Kerenki waren, Geldscheine, die 1917 unter der von Kerenskij angeführten provisorischen Regierung ausgegeben worden waren. Sie lagen da noch lange. Großvater hoffte wohl darauf, sie könnten noch einmal von Nutzen sein. Wie Bauern eben so denken!
Im vierten Raum war das Vieh untergebracht. Daneben befand sich Futter und ein Teil des Heizmaterials. So war die Hütte aufgeteilt.
Vor vielen Jahren erzählte meine Mutter meiner Tochter Irina, ihrer ersten Enkelin, wie ich auf die Welt gekommen bin. Als die Wehen einsetzten, brachte man meine Mutter in den Vorratsraum. Man legte Stroh auf den Boden und bettete sie auf ein Lager. Zwischen dem Wohnraum und dem Stall, da wurde ich also geboren. Als Irina erwachsen war, kam sie auf diese Geschichte zu sprechen und sagte: »Papa, hör mal, du bist ja geboren wie Jesus Christus.«
»Ja! Schreib es dir hinter die Ohren. Aber sag es niemand weiter«, sagte ich aus Spaß.
Ich möchte jetzt von meinen beiden Großvätern erzählen. Ihr Schicksal ist typisch für das Schicksal der Bauern unter der Sowjet- macht. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte Großvater Pantelej von der türkischen Front zurück, Großvater Andrej von der österreichischen. Beide Familien waren bettelarm. Großvater Pantelej verlor mit 13 Jahren seinen Vater und hatte noch vier jüngere Geschwister.
Obwohl von Natur aus ruhig, stand ihm der Sinn nach Veränderungen, er gründete erst eine Bauernkommune und dann eine Genossenschaft zur gemeinsamen Bearbeitung des Bodens, eine damals berühmte Form des Zusammenschlusses.
»Die Sowjetmacht hat uns nicht gerettet, sie hat uns Land gegeben «. Diese Worte habe ich von Großvater Pantelej immer wieder gehört. Und das war entscheidend für sein Verhältnis zur Sowjetmacht. Die Kollektivierung begann. Er wurde Organisator und Vorsitzender einer Kolchose.
Großvater Andrej, von Natur aus schroff, erkannte die Kolchose nicht an und bewirtschaftete sein Land allein. Mein Vater schlug sich auf die Seite von Großvater Pantelej, trat in die Kolchose ein, wurde Traktorist und riskierte den Bruch mit seinem Vater.
Bei Großvater Andrej lief alles gut. Er bekam vom Staat Auflagen, wie viel Getreide er zu säen und wie viel er abzugeben habe, und erfüllte sie gewissenhaft. In beiden Familien normalisierte sich das Leben allmählich, wenn auch auf unterschiedliche Weise.
Da kam das Jahr 1933 mit der schrecklichen Hungersnot. Großvater Andrejs Familie war in einer äußerst kritischen Lage. Sie wussten nicht, wie sie die Kinder ernähren sollten. Drei von ihnen verhungerten im Winter. Als der Frühling kam, hatten sie kein Saatgut. Die Behörden werteten das als Sabotage, als Nichterfüllung des Aussaatplans. Großvater Andrej wurde zu Holzfällerarbeiten nach Sibirien verbannt. Er kam vor der Zeit frei, 1935, und brachte einige Auszeichnungen mit. Er rahmte die Urkunden ein und hängte sie neben die Ikonen. Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung trat Großvater in die Kolchose ein und arbeitete dort bis zu seinem Tod. Und fast immer wurde seine Arbeit als die beste ausgezeichnet, und er bekam eine Prämie.
1938 brach ein neues Unglück über uns herein. Großvater Pantelej wurde auf einmal verhaftet und des Trotzkismus beschuldigt. Sie verhörten und folterten ihn vierzehn Monate lang.
Als sie ihn verhaftet hatten, zog Großmutter Wasilisa zu uns. Sofort änderte sich vieles. Die Nachbarn besuchten uns nicht mehr, und wenn doch, dann nur nachts. Es war, als stünde das Haus unter Quarantäne: »Das Haus eines Volksfeindes!«
Man bemühte sich in der Familie, die schreckliche Zeit zu vergessen. Ich habe nie Einzelheiten gehört. Zu fragen war unangenehm. Später begriff ich dann, dass sie sich nicht so verhielten, um so schnell wie möglich zu vergessen, sondern einfach aus Angst. Solche Gespräche sah die Sowjetmacht nicht gerne.
Fast zwanzig Jahre kam ich nicht aus Priwolnoje heraus. Nur einmal fuhr ich in einem Lastwagen mit einer Gruppe von Mechanikern nach Stawropol, wo uns Auszeichnungen der Regierung für besondere Arbeitsleistungen ausgehändigt wurden. Und noch davor fuhren Tante Sanja (eine Schwester meines Vaters) und ich mit dem Getreidewagen-Tross zum staatlichen Getreidespeicher der Bahnstation Pestschanokopsk.
Das war unheimlich interessant: meine erste weite Reise mit einer Übernachtung in der Steppe am Brunnen, wo sich alle niederließen. Wir aßen zusammen zu Abend und schliefen auf den Getreidewagen. Und am Bahnhof, da sah ich zum ersten Mal eine Lokomotive!
Oft war ich bei Großvater Pantelej und Großmutter Wasilisa, die mit der Zeit ins Nachbardorf zogen, wo Großvater zum Kolchosvorsitzenden gewählt worden war. Darüber waren nicht nur meine Großmutter (das wurde sie übrigens, als sie gerade mal achtunddreißig war) und ich sehr glücklich, sondern besonders meine Eltern. Manchmal versuchten sie, mich im Dorf Priwolnoje zu behalten, aber ich wollte wieder zu Großvater und Großmutter zurück. Alle Versuche meiner Eltern endeten mit einem Sieg meinerseits. Ich lief einen und anderthalb Kilometer hinter dem Fuhrwerk des Großvaters her, bis er sich erbarmte und mich mitnahm.
Großmutter wusste später immer wieder davon zu erzählen, wie gut wir miteinander auskamen, wie ich sie zum Beispiel im Haus einsperrte, weil sie mir nicht so viel Zucker gab, wie ich wollte. Was ist da nicht so alles vorgekommen! Ihr ganzes Leben blieb ich der Lieblingsenkel.
Ende der dreißiger Jahre bürgerte es sich ein, dass man an Sonn- und Feiertagen in den Waldgürtel der Steppe ging, um sich zu erholen. Ganze Familien zogen los, auf Pferden, Stieren oder, wenn es nicht weit war, zu Fuß. Allen gefiel das friedliche Leben. Die Kinder spielten Schlagball, warfen Stöcke in die Luft, die man auffangen musste, oder jagten hinter einem selbstgebastelten Ball hinterher. Die Mütter schwatzten und klatschten. Die Väter besprachen ihre »Männer «-Probleme. Dabei wurde getrunken und gesungen. Und wenn einer zu viel getrunken hatte und außer sich geriet, kam es auch zu Schlägereien. Nur die Frauen konnten die Raufbolde auseinanderbringen, indem sie sich mit vereinten Kräften auf sie stürzten.
Während eines solchen Ausflugs ins Grüne, am Sonntag, dem 22. Juni, kam auf einmal ein Reiter an und meldete: »Es ist Krieg! Alle müssen um 12 Uhr auf dem Zentralen Platz in Priwolnoje sein. Molotow wird eine Rede halten.« In Priwolnoje gab es kein Radio. Es wurde extra eine Funkanlage herbeigeschafft. Wir Kinder nahmen das anders auf als die Erwachsenen, die mit versteinerten Gesichtern dastanden. Wir meinten: »Wir werden es den Faschisten schon zeigen!« Dann setzte die Mobilisierung ein, und im Herbst kamen die ersten Gefallenenmeldungen. In der Regel trafen sie abends ein. Wir standen da und lauschten, wo der Berittene stehenbliebe, bei welchem Haus. Es waren junge Männer, die umkamen: unsere Väter, Brüder und Nachbarn.
Heute wissen wir: Die Ersten, die in den Kampf mit den Faschisten verwickelt wurden, waren unsere Grenztruppen. Jungen der Jahrgänge 1921/22 und etwas älter. Die Mehrheit von ihnen kam nicht zurück. Etwa fünf Prozent der Männer dieses Alters überlebte. Ein entsetzlicher Schlag für die Mütter, Frauen, Kinder und Bräute.
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CoverTitelseiteWidmungPrologVorbemerkungTeil I - Meine UniversitätenTeil II - Der Weg nach obenTeil III - Wie die Perestrojka aussahPersonenverzeichnisAnmerkungenÜber Michail GorbatschowImpressum
Autoren-Porträt von Michail Gorbatschow
Michail Sergejewitsch Gorbatschow, geboren 1931 in Priwolnoje (Kaukasus), studierte Jura in Moskau und arbeitete als Agraringenieur in seiner Heimatregion Stawropol. Nach einer steilen Parteikarriere war er von 1985 bis 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. 1986 begann er seine Kampagne für Perestrojka ("Umbau") und Glasnost ("Offenheit"). 1990/91 war er Präsident der Sowjetunion und erhielt 1990 den Friedensnobelpreis. 1992 gründete er die Gorbatschow-Stiftung, 1993 die Umweltschutzorganisation Internationales Grünes Kreuz. Seit dem Tod seiner Frau Raissa 1999 lebt Gorbatschow unweit seiner Tochter Irina bei Moskau.
Autoren-Interview mit Michail Gorbatschow
Warum lag es Ihnen so am Herzen, dieses Buch zu schreiben?M.G.: »Eigentlich dachte ich, das werde mein letztes Buch sein. Ich habe nicht ursprünglich den Text selbst geschrieben, ich habe das auf Band gesprochen. Es fällt mir leichter, über diese Sachen zu sprechen, als einfach trockene Sätze zu Papier zu bringen.«
Wir kennen Sie als großen Politiker,als Staatsmann. Aber so privat wie in diesem Buch hat man noch nie Dinge von Ihnen gehört.
M.G.: »Irgendwann musste es soweit sein. Aber es gibt bestimmte Geheimnisse, die ich immer noch für mich behalte und es gibt auch Staatsgeheimnisse, die ich immer noch nicht preisgeben darf.«
Aber einige Geheimnisse verraten Sie. Zum Beispiel, dass Raissa am Anfang gar nicht so begeistert von Ihnen war, als sie Sie kennengelernt hat.
M.G.: »Mit unserer Kooperation, wie wir Politiker das so ausdrücken, hat es nicht auf Anhieb geklappt. Es ist wirklich wahr und ich übertreibe es nicht; ein halbes Jahr sind wir einfach nebeneinander spaziert und haben Händchen gehalten. Das lag wahrscheinlich daran, dass wir beide damals erkannten, dass wir unser Glück gefunden haben und dass wir dieses Glück wirklich hüten sollen. Ich schreibe auch in meinem Buch, dass wir uns sehr innig geliebt haben, aber darüber geredet haben wir ganz selten oder so gut wie gar nicht. Wir haben im Endeffekt 46 Jahre zusammen verbracht, und es gab nie einen Augenblick in unserer Beziehung, in dem wir das bereut hätten. Wir standen uns sehr nahe. Um zu beweisen, dass man wirklich den anderen Menschen innig liebt, braucht man keine großen Worte.«
Sie schreiben, dass Sie sich mitschuldig fühlen am Tod ihrer Frau.Woher kommt dieses Gefühl?
M.G.:»Was ich mir vorwerfe, ist, dass ich vermutlich viel früher als alle anderen hätte erkennen
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müssen, wie schlecht es ihr geht und wie schwer es ihr fällt, mit den Belastungen, die mit ihrer Stellung als First Lady zusammenhingen, zurecht zu kommen. Sie war ein sehr moralischer Mensch, sehr integer. Sie fand nicht so einfach Kontakt zu anderen Menschen und ließ andere nicht so leicht an sich heran. Wenn es mal so war, hat sie diesem Menschen grenzenlos vertraut. Und immer wenn dieses Vertrauen enttäuscht wurde,war das ein sehr schwerer Schlag für sie.«
(Auszüge aus einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk am 7. April 2013)
(Auszüge aus einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk am 7. April 2013)
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Bibliographische Angaben
- Autor: Michail Gorbatschow
- 2013, 1, 552 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 15,3 x 22,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Birgit Veit
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455502768
- ISBN-13: 9783455502763
- Erscheinungsdatum: 08.03.2013
Rezension zu „Alles zu seiner Zeit “
"Ein Buch als Liebeserklärung." (Focus, 18.3.2013) "Die Geschichte seines Lebens ist zugleich ein Denkmal für Raissa Gorbatschow - und liest sich in seiner Intimität, seiner präzisen Innensicht beinahe als Roman über die Liebe in Zeiten der Sowjetunion." (Britta Heidemann, WAZ, 11.3.2013) "Gorbatschow offenbart in seinem Buch eine ungewöhnlich offene und menschliche Seite und - was die Anfechtungen des Alters betrifft - eine unnachgiebig kämpferische." (3sat, 20.3.2013) "Diese beeindruckende Politiker-Autobiographie zeigt auf faszinierende Weise auch die menschlichen Aspekte der Weltpolitik" (Buchmagazin Leipziger Volkszeitung 13.03.2013) "Ein sehr persönliches, aufschlussreiches Buch über die Liebe seines Lebens, über Politik, Macht, Zeitgeschichte, aber auch den Glauben an eine gute Zukunft." (Reinhard Zweigler, Märkische Allgemeine Zeitung, 14.3.2013) "So offen wie noch kein Kremlchef vor ihm hat Michail Gorbatschow die Jahrzehnte mit seiner Ehefrau nun in einem Buch beschrieben." (www.shz.de, 12.3.2013) "Die Gorbimania flammt wieder auf, 23 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung." (Handelsblatt, 15.3.2013)
Pressezitat
»Entstanden ist ein sehr ungewöhnliches Buch mit einer ganz eigenen Handschrift.« Klaus-D. Dobat Gießner Allgemeine, 11.05.2013
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