Am Rande der Schatten / Schatten Trilogie Bd.2
Roman. Deutsche Erstveröffentlichung
Die Ausbildung zum Assassinen hat sich für den ehemaligen Gassenjungen Azoth als überaus schmerzhaft erwiesen, denn sein einstiger Lehrer Durzo Blint und sein bester Freund Logan sind den Machenschaften des Gottkönigs von Khalidor zum Opfer...
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Produktinformationen zu „Am Rande der Schatten / Schatten Trilogie Bd.2 “
Die Ausbildung zum Assassinen hat sich für den ehemaligen Gassenjungen Azoth als überaus schmerzhaft erwiesen, denn sein einstiger Lehrer Durzo Blint und sein bester Freund Logan sind den Machenschaften des Gottkönigs von Khalidor zum Opfer gefallen. So ist es kein Wunder, dass Azoth seiner Profession den Rücken gekehrt hat. Doch dann hört er das Gerücht, dass Logan noch am Leben sein soll und sich versteckt. Und so muss Azoth sich der Frage stellen, ob die Schatten einen jemals wieder loslassen, wenn man sich erst einmal in sie hineinbegeben hat ...
Der heißersehnte zweite Roman der atemberaubend spannenden Trilogie.
Der heißersehnte zweite Roman der atemberaubend spannenden Trilogie.
Klappentext zu „Am Rande der Schatten / Schatten Trilogie Bd.2 “
Der heißersehnte zweite Roman der atemberaubend spannenden Trilogie.Die Ausbildung zum Assassinen hat sich für den ehemaligen Gassenjungen Azoth als überaus schmerzhaft erwiesen, denn sein einstiger Lehrer Durzo Blint und sein bester Freund Logan sind den Machenschaften des Gottkönigs von Khalidor zum Opfer gefallen. So ist es kein Wunder, dass Azoth seiner Profession den Rücken gekehrt hat. Doch dann hört er das Gerücht, dass Logan noch am Leben sein soll und sich versteckt. Und so muss Azoth sich der Frage stellen, ob die Schatten einen jemals wieder loslassen, wenn man sich erst einmal in sie hineinbegeben hat ...
Alle Bände der Schatten-Trilogie
Band 1 - Der Weg in die Schatten
Band 2 - Am Rande der Schatten
Band 3 - Jenseits der Schatten
Lese-Probe zu „Am Rande der Schatten / Schatten Trilogie Bd.2 “
Am Rande der Schatten von Brent Weeks 1
»Wir haben einen Auftrag für dich«, sagte Momma K. Wie
immer saß sie da wie eine Königin, den Rücken durchgedrückt,
das prächtige Kleid von perfektem Sitz, das Haar tadellos frisiert,
wenn auch grau an den Wurzeln. An diesem Morgen
hatte sie dunkle Ringe unter den Augen. Kylar vermutete, dass
keiner der überlebenden Anführer der Sa'kagé seit der khalidorischen
Invasion viel geschlafen hatte.
»Euch auch einen guten Morgen«, erwiderte Kylar, während
er sich in dem Ohrensessel im Arbeitszimmer niederließ.
Momma K wandte sich ihm nicht zu, sondern blickte
aus dem Fenster. Der Regen der vergangenen Nacht hatte
den größten Teil der Brände in der Stadt gelöscht, aber viele
schwelten noch immer und tauchten die Stadt mit ihrer Glut
in eine blutrote Morgendämmerung. Das Wasser des Plith,
der den reichen, östlichen Teil der Stadt Cenaria vom Labyrinth
trennte, war rot wie Blut. Kylar war sich nicht sicher, ob
das nur an der von Rauch verhüllten Sonne lag. In der Woche
seit dem Staatsstreich und der Invasion hatten die Khalidori
Tausende von Menschen massakriert.
Momma K sagte: »Die Sache hat einen Haken. Das Opfer
weiß Bescheid.«
»Woher?« Die Sa'kagé waren im Allgemeinen nicht so schlampig.
»Wir haben es ihm gesagt.«
Kylar rieb sich die Schläfen. Die Sa'kagé würden ein Opfer
nur deshalb einweihen, damit sie nicht kompromittiert wurden,
sollte der Anschlag scheitern. Das bedeutete, dass es sich
bei dem Opfer nur um einen Mann handeln konnte: Cenarias
Eroberer, Khalidors Gottkönig, Garoth Ursuul.
... mehr
»Ich bin nur gekommen, um mein Geld zu holen«, erklärte
Kylar. »Alle sicheren Häuser Durzos - all meine sicheren Häuser
sind niedergebrannt. Ich brauche nur genug, um die Torwachen
zu bestechen.« Er hatte ihr seit seiner Kindheit einen
Teil seiner Löhne gegeben, damit sie das Geld investierte. Sie
sollte reichlich haben für einige Bestechungen.
Momma K blätterte schweigend die Blätter Reispapier auf
ihrem Schreibtisch durch und reichte Kylar eins davon. Zuerst
machten ihn die Zahlen sprachlos. Er war an dem illegalen
Import von Gras und einem halben Dutzend anderer süchtig
machender Pflanzen beteiligt, hielt Anteile an einer Brauerei
und mehreren Geschäften, besaß ein Rennpferd und Importwaren
wie Seide und Edelsteine, die gesetzlich erlaubt waren,
wenn man von der Tatsache absah, dass die Sa'kagé zwanzig
Prozent für Bestechungen bezahlten, statt fünfzig Prozent
Zollgebühren. Die schiere Menge an Informationen auf der
Seite war sinnverwirrend. Bei der Hälfte der Einträge wusste
er nicht, was sie bedeuteten.
»Ich besitze ein Haus?«, fragte Kylar.
»Du hast eins besessen«, antwortete Momma K. »In dieser
Spalte ist vermerkt, wenn etwas bei den Bränden oder
Plünderungen verloren gegangen ist.« Das Zeichen stand bei
allen Eintragungen, nur nicht bei jenen Expeditionen, die
unterwegs waren, um Seide beziehungsweise Gras ins Land
zu bringen. Beinahe alles, was er besessen hatte, war verloren
gegangen. »Es wird Monate dauern, bis eine der beiden Expeditionen
zurückkehrt, falls sie überhaupt zurückkehren. Wenn
der Gottkönig weiter zivile Schiffe beschlagnahmt, werden sie
gewiss nicht zurückkommen. Natürlich, wenn er tot wäre ...«
Er konnte erkennen, worauf das hinauslief. »Hier steht,
dass mein Anteil immer noch zehn- bis fünfzehntausend wert
ist. Ich werde ihn Euch für tausend verkaufen. Das ist alles,
was ich brauche.«
Sie beachtete ihn nicht. »Sie brauchen einen dritten Blutjungen,
um sicherzustellen, dass es funktioniert. Fünfzigtausend
Gunder für einen Mord, Kylar. Mit so viel Geld könntest
du Elene und Uly überallhin bringen. Du hättest der Welt
einen Dienst erwiesen, und du würdest nie wieder arbeiten
müssen. Es ist nur ein letzter Auftrag.«
Er schwankte bloß einen Moment lang. »Es gibt immer
einen letzten Auftrag. Ich bin fertig.«
»Es liegt an Elene, nicht wahr?«, fragte Momma K.
»Momma K, denkt Ihr, ein Mensch kann sich ändern?«
Sie sah ihn mit einer tiefen Traurigkeit an. »Nein. Und am
Ende wird er jeden hassen, der das von ihm verlangt.«
Kylar stand auf und trat durch die Tür. Im Flur begegnete
er Jarl. Jarl grinste, wie er es getan hatte, als sie auf den Straßen
aufgewachsen waren und er nichts Gutes im Schilde geführt
hatte. Jarl trug ein Gewand, das wohl der neuesten Mode entsprach,
eine lange Jacke mit übertrieben breiten Schultern,
gepaart mit einer schmal geschnittenen Hose, die in hohen
Stiefeln steckte. Das Ganze wirkte vage khalidorisch. Das
Haar hatte er sich zu winzigen, kunstvollen Zöpfen geflochten,
die mit goldenen Perlen bedeckt waren; die Perlen brachten
seine schwarze Haut besonders gut zur Geltung.
»Ich habe den perfekten Auftrag für dich«, sagte Jarl mit
gesenkter Stimme, aber ohne zu bereuen, dass er gelauscht
hatte.
»Kein Mord?«, hakte Kylar nach.
»Nicht direkt.«
»Euer Heiligkeit, die Feiglinge stehen bereit, um ihre Schuld
zu begleichen«, erklärte Vürdmeister Neph Dada, dessen
Stimme sich über die Menge erhob. Er war ein alter Mann
mit deutlich hervortretenden Adern und zahlreichen Leberflecken,
gebeugt und nach Tod stinkend, den er mit Magie in
Schach hielt. Sein Atem rasselte von der Anstrengung, nachdem
er das Podest im großen Innenhof von Burg Cenaria
erklommen hatte. Zwölf mit Knoten versehene Schnüre hingen
über den Schultern seiner schwarzen Robe, Sinnbild für
die zwölf Shu'ras, die er gemeistert hatte. Neph kniete mit
einiger Mühe nieder und hielt dem Gottkönig eine Handvoll
Stroh hin.
Gottkönig Garoth Ursuul stand auf dem Podest und musterte
seine Truppen. Vorn und in der Mitte standen fast zweihundert
Hochländer aus Graavar, hochgewachsene, blauäugige
Wilde mit mächtigem Oberkörper, die ihr schwarzes Haar kurz
und ihre Schnurrbärte lang trugen. Zu beiden Seiten standen
die anderen Eliteeinheiten der Hochlandstämme, die die Burg
erobert hatten. Hinter ihnen wartete der Rest der regulären
Armee, die seit der Befreiung in Cenaria einmarschiert war.
Zu beiden Seiten der Burg erhob sich Nebel über dem Plith,
glitt unter die rostigen Zähne des eisernen Fallgitters und ließ
die Menge frieren. Die Graavar waren in fünfzehn Gruppen
von jeweils dreizehn Männern aufgeteilt worden, und sie
allein hatten weder Waffen noch Rüstung noch Roben. Sie
standen in ihren Hosen da, die bleichen Gesichter starr, aber
statt an dem kühlen Herbstmorgen zu zittern, schwitzten sie.
Es gab niemals Unruhe, wenn der Gottkönig seine Truppen
begutachtete, aber heute schmerzte das Schweigen, obwohl
Tausende gekommen waren, um zuzuschauen. Garoth hatte
so viele Soldaten wie möglich versammelt und den cenarischen
Dienstboten, den Adligen und den kleinen Leuten
ebenfalls gestattet zuzusehen. Meister in ihren schwarz-roten
Halbumhängen standen Schulter an Schulter mit in Roben
gewandeten Vürdmeistern, Soldaten, Kleinbauern, Fassbindern,
Adligen, Feldarbeitern, Mägden, Seeleuten und cenarischen
Spionen.
Der Gottkönig trug einen weiten, weißen Umhang mit
Hermelinbesatz, um seine breiten Schultern gewaltig wirken
zu lassen. Darunter befand sich eine ärmellose, weiße
Robe über weiten, weißen Hosen. All das Weiß ließ seine
bleiche khalidorische Haut geisterhaft erscheinen und lenkte
die Aufmerksamkeit auf die Vir, die auf seiner Haut spielten.
Schwarze Ranken der Macht stiegen an die Oberfläche seiner
Arme. Große Knoten hoben und senkten sich, Knoten,
umrahmt von Dornen, die sich nicht nur hin und her bewegten,
sondern auch in Wellen von oben und unten aufstiegen
und sich aus seiner Haut drückten. Die Vir beschränkten sich
nicht auf seine Arme. Sie erhoben sich, um sein Gesicht einzurahmen.
Sie erhoben sich zu seinem kahlen Schädel und
durchdrangen die Haut, sodass sie eine dornige, bebende,
schwarze Krone bildeten. Blut rann an den Seiten seines
Gesichts hinab.
Für viele Cenarier war es das erste Mal, dass sie den Gottkönig
sahen. Ihre Münder standen vor Staunen weit offen.
Sie schauderten, als sein Blick über sie hinwegglitt. Es war
genauso, wie er es beabsichtigt hatte.
Schließlich wählte Garoth einen der Strohhalme von Neph
Dada und brach ihn entzwei. Eine Hälfte warf er weg und
griff dann nach zwölf unversehrten Halmen. »So soll Khali
sprechen«, sagte er, seine Stimme kraftvoll vor Macht.
Er bedeutete den Graavar, auf das Podest zu steigen. Während
der Befreiung hatten sie den Befehl gehabt, diesen Innenhof
zu sichern, damit die cenarischen Edelleute nicht entkommen
und später ermordet werden konnten. Stattdessen
waren die Hochländer in die Flucht geschlagen worden, und
Terah Graesin und ihre Edelleute waren geflohen. Dies war
inakzeptabel, unerklärlich und untypisch für die grimmigen
Graavar. Garoth verstand nicht, was Männer dazu brachte, an
einem Tag zu kämpfen und am nächsten zu fliehen.
Was er jedoch verstand, war Scham. Während der vergangenen
Woche hatten die Graavar Ställe ausgemistet, Nachttöpfe
geleert und Böden geschrubbt. Es war ihnen nicht gestattet
worden zu schlafen, stattdessen hatten sie die Nächte damit
verbracht, die Rüstungen und Waffen Höhergestellter zu
polieren. Heute würden sie ihre Schuld sühnen, und während
des nächsten Jahres würden sie erpicht darauf sein, ihre Heldenhaftigkeit
zu beweisen. Als er sich zusammen mit Neph
der ersten Gruppe näherte, zog er die Vir aus seinen Händen
zurück. Wenn die Männer ihre Strohhalme zogen, durften
sie es nicht für das Wirken von Magie halten oder für das
Wohlwollen des Gottkönigs, das den einen verschonte und
den anderen verdammte. Stattdessen war es schlichtes Schicksal,
die unausweichliche Konsequenz ihrer eigenen Feigheit.
Garoth hob die Hände, und alle Khalidori beteten einstimmig:
»Khali vas, Khalivos ras en me, Khali mevirtu rapt, recu virtum defite.«
Während die Worte verklangen, trat der erste Soldat vor.
Er war noch keine sechzehn und auf seiner Lippe nur der
Hauch eines Schnurrbarts. Er schien am Rand eines Zusammenbruchs
zu stehen, während sein Blick von dem eisigen
Gesicht des Gottkönigs zu den Strohhalmen flackerte. Auf
seiner nackten Brust leuchtete Schweiß im heller werdenden
Licht des Morgens, und seine Muskeln zuckten. Er zog einen
Strohhalm. Er war lang.
Die Hälfte der Anspannung wich aus seinem Körper, aber
nur die Hälfte. Der junge Mann neben ihm, der ihm so ähnlich
sah, dass es sich um seinen älteren Bruder handeln musste,
befeuchtete sich die Lippen und griff nach einem Strohhalm.
Er war kurz.
Die fast Übelkeit erregende Erleichterung des Rests der
Gruppe war mit Händen greifbar, und die vielen tausend
Zuschauer, die den kurzen Strohhalm unmöglich sehen konnten,
wussten aufgrund dieser Reaktion, dass er gezogen worden
war. Der Mann, der den kurzen Strohhalm in der Hand
hielt, sah seinen kleinen Bruder an. Der jüngere Mann schaute
ihm nicht ins Gesicht. Der Verurteilte richtete einen ungläubigen
Blick auf den Gottkönig und reichte ihm den kurzen Strohhalm.
Garoth trat zurück. »Khali hat gesprochen«, erklärte er.
Die Menge sog beinahe gleichzeitig die Luft ein, und er nickte
der Gruppe zu.
Sie schlossen sich um den jungen Mann, jeder Einzelne von
ihnen - selbst sein Bruder -, und begannen auf ihn einzuschlagen.
Es wäre schneller gegangen, hätte Garoth der Gruppe gestattet,
Panzerhandschuhe zu tragen oder das stumpfe Ende von
Speeren oder die Flachseite von Klingen zu benutzen, aber er
hielt es für besser so. Wenn das Blut zu fließen begann und
aus dem Fleisch spritzte, während auf den Verurteilten eingedroschen
wurde, sollte es nicht von der Kleidung der übrigen
Männer abgefangen werden. Sie sollten es auf der Haut spüren.
Sie sollten die Wärme des Blutes dieses Jungen spüren,
während er starb. Sie sollten den Preis für Feigheit erfahren.
Khalidori flohen nicht.
Die Gruppe griff mit beträchtlichem Elan an. Der Kreis
schloss sich, und Schreie wurden laut. Es hatte etwas Intimes,
wie nacktes Fleisch auf nacktes Fleisch drosch. Der junge
Mann verschwand, und alles, was noch zu sehen war, waren
Ellbogen, die sich erhoben und mit jedem Hieb verschwanden,
und Füße, die zu neuen Tritten zurückgezogen wurden.
Und Augenblicke später Blut. Mit dem kurzen Strohhalm war
der junge Mann zu ihrer Schwäche geworden. Es war Khalis
Erlass. Er war nicht länger Bruder oder Freund, er war alles,
was sie falsch gemacht hatten.
Binnen zwei Minuten war der junge Mann tot.
Die Gruppe formierte sich neu, blutbespritzt und schwer
atmend vor Anstrengung und Erregung. Sie betrachteten
den Leichnam zu ihren Füßen nicht. Garoth musterte sie der
Reihe nach, schaute jedem Einzelnen von ihnen in die Augen
und ließ seinen Blick auf dem Bruder verweilen. Dann trat er
vor den Leichnam und streckte eine Hand aus. Die Vir lugten
aus seinem Handgelenk hervor und dehnten sich aus, krallenartig
und zerklüftet, und umfassten den Kopf des Leichnams.
Dann zuckten die Krallen, und der Kopf knackte, ein Geräusch,
das Dutzenden von Cenariern Brechreiz verursachte.
»Euer Opfer ist akzeptiert worden. Dadurch seid ihr gereinigt«,
verkündete er und salutierte ihnen.
Sie erwiderten seinen Salut voller Stolz und nahmen ihre
Plätze im hinteren Teil der Formation auf dem Innenhof ein,
während der Leichnam weggeschleift wurde.
Er deutete auf die nächste Gruppe. Die nächsten vierzehn
Wiederholungen würden nichts Neues bringen. Obwohl jede
einzelne Gruppe noch immer voller Anspannung war - selbst
diejenigen, die fertig waren, würden Freunde und Verwandte
in anderen Gruppen verlieren -, erlosch Garoths Interesse.
»Neph, erzählt mir, was Ihr über diesen Mann erfahren habt,
diesen Nachtengel, der meinen Sohn getötet hat.«
Burg Cenaria gehörte nicht unbedingt zu den Orten, zu denen
es Kylar besonders hinzog. Er war als Gerber getarnt, mit
einem schmutzigen, wollenen Handwerkerkittel, die Hände
und Arme bis zu den Ellbogen mit Farbe befleckt, und hatte
sich mit einigen Tropfen des speziellen Parfüms benetzt, das
Durzo Blint, sein toter Meister, entwickelt hatte. Er stank
nur eine Spur weniger, als ein echter Gerber gestunken hätte.
Durzo hatte stets Tarnungen als Gerber, Schweinebauer oder
Bettler und dergleichen bevorzugt - Typen eben, die zu übersehen
respektable Leute ihr Bestes gaben, weil sie nicht umhinkonnten,
sie zu riechen. Das Parfüm wurde nur auf die äußeren
Kleidungsstücke aufgetragen, die man, sollte es notwendig
werden, abstreifen konnte. Ein Teil des Gestanks würde ihm
trotzdem anhaften, aber jede Tarnung hatte ihre Nachteile.
Die Kunst bestand darin, die Nachteile dem Auftrag anzupassen.
Die Ostbrücke oder, wie sie eigentlich hieß, Östliche
Königsbrücke, war während des Kampfes um Burg Cenaria
abgebrannt, und obwohl die Meister sie größtenteils wieder
instand gesetzt hatten, war sie immer noch gesperrt. Daher
musste Kylar vom Westufer des Flusses aus über die Westbrücke
oder Westliche Königsbrücke gehen, um zu der auf
einer Insel im Plith gelegenen Burg zu gelangen. Die khalidorischen
Wachen würdigten ihn kaum eines Blickes, als er vorbeiging.
Es schien, als sei die Aufmerksamkeit aller - selbst
der Meister - auf ein Podest in der Mitte des Burghofs und
auf eine Gruppe von Hochländern gerichtet, die barbrüstig
in der Kälte standen. Kylar ignorierte die Gruppe auf dem
Podest, während er nach möglichen Bedrohungen Ausschau
hielt. Er war sich immer noch nicht sicher, ob Meister seine
magische Begabung wahrnehmen konnten, obwohl er vermutete,
dass sie es nicht konnten, solange er seine Magie nicht
benutzte. Ihre Fähigkeiten schienen mehr als die der Magi an
den Geruch gebunden zu sein - was der Hauptgrund dafür
war, dass er als Gerber gekommen war. Wenn ein Meister ihm
nahe kam, konnte Kylar nur hoffen, dass weltliche Gerüche
die magischen überlagerten.
Vier Wachen standen an jeder Seite des Tores, sechs auf jedem
Teilstück der diamantförmigen Burgmauer und vielleicht tausend
in Formation auf dem Hof, zusätzlich zu den etwa zweihundert
Graavar-Hochländern. In der mehrere tausend Menschen
umfassenden Menge hatten in regelmäßigen Abständen
fünfzig Meister Aufstellung genommen. In der Mitte des Ganzen
befanden sich auf dem Podest eine Anzahl ceranischer
Adliger, mehrere verstümmelte Leichen und Gottkönig Garoth
Ursuul selbst, der mit einem Vürdmeister sprach. Es war
lächerlich, aber selbst angesichts der Anzahl von Soldaten und
Meistern hier war dies wahrscheinlich die beste Chance, die ein
Blutjunge haben konnte, um den Mann zu töten.
Aber Kylar war nicht hier, um zu töten. Er war hier, um
wegen des seltsamsten Auftrags, den er je angenommen
hatte, einen Mann in Augenschein zu nehmen. Er suchte in
der Menge nach dem Mann, von dem Jarl ihm erzählt hatte,
und fand ihn sehr bald. Baron Kirof war ein Vasall der Gyres
gewesen. Da sein Lord tot war und seine Ländereien nahe
der Stadt lagen, war er einer der ersten cenarischen Edelleute
gewesen, die das Knie vor Garoth Ursuul gebeugt hatten. Er
war ein fetter Mann mit rotem Bart, den er im Stil der Khalidori
aus dem Tiefland kantig geschnitten hatte, großer, gebogener
Nase, schwachem Kinn und dicken, buschigen Augenbrauen.
Kylar ging näher heran. Baron Kirof schwitzte und wischte
sich die Hände an seiner Robe ab, während er sich nervös
mit den khalidorischen Edelleuten unterhielt, mit denen er
zusammen dastand. Kylar schob sich gerade um einen hochgewachsenen,
stinkenden Schmied herum, als der Mann ihm
plötzlich einen Ellbogen in die Magengrube rammte.
Der Schlag trieb alle Luft aus Kylars Lunge, und noch während
er sich vorbeugte, erschien in seiner Hand der Ka'kari
und formte einen Dolch.
»Wenn du einen besseren Blick haben willst, komm gefälligst
frühzeitig, wie wir anderen es getan haben«, sagte der
Schmied. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schob
seine Ärmel hoch, um gewaltige Muskeln zu zeigen.
Mit einiger Mühe zwang Kylar den Ka'kari zurück in seine
Haut und entschuldigte sich mit niedergeschlagenen Augen.
Der Schmied lachte höhnisch und wandte sich um, um weiter
den Spaß zu beobachten.
Kylar begnügte sich mit dem, was er von seinem Platz aus
sehen konnte. Baron Kirof. Der Gottkönig hatte etwa die
Hälfte der Hochländereinheiten abgearbeitet, und Buchmacher
der Sa'kagé nahmen bereits Wetten darauf an, welcher
Mann aus jeder der noch verbliebenen dreizehnköpfigen
Gruppen sterben würde. Die khalidorischen Soldaten
bemerkten es. Kylar fragte sich, wie viele Cenarier wegen der
Herzlosigkeit der Buchmacher sterben würden, wenn die khalidorischen
Soldaten heute Nacht durch die Stadt streiften,
in Trauer um ihre Toten und voller Zorn darüber, dass die
Sa'kagé alles besudelten, was sie berührten.
Ich muss raus aus dieser verdammten Stadt.
Die nächste Gruppe musste bis zum zehnten Mann warten,
ohne dass der kurze Strohhalm gezogen wurde. Es lohnte sich
beinahe, dem Geschehen Beachtung zu schenken, da die sichtbare
Verzweiflung der Männer wuchs, während jeder ihrer
Nachbarn verschont blieb und ihre eigenen Chancen schlechter
wurden. Der elfte Mann, um die vierzig und sehnig, zog
den kurzen Strohhalm. Er kaute an den Enden seines Schnurrbarts,
während er dem Gottkönig den Strohhalm zurückgab,
zeigte ansonsten jedoch keine Regung.
Neph schaute zu Herzogin Jadwin und ihrem Gemahl
hinüber, die auf dem Podest saßen. »Ich habe den Thronsaal
untersucht, und ich bin auf etwas gestoßen, das mir noch
nie zuvor untergekommen ist. Die ganze Burg riecht nach der
Magie, die so viele unserer Meister getötet hat. Aber einige
Stellen im Thronsaal ... tun das einfach nicht. Es ist, als sei
ein Feuer im Haus, aber wenn man einen bestimmten Raum
betritt, riecht es dort nicht nach Rauch.«
Blutspritzer flogen jetzt durch die Luft, und Garoth war
einigermaßen sicher, dass der Mann tot sein musste, aber die
Gruppe schlug immer weiter und weiter und weiter zu.
»Das passt nicht zu dem, was wir über den silbernen Ka'kari
wissen«, sagte Garoth.
»Nein, Euer Heiligkeit. Ich denke, es gibt einen siebten
Ka'kari, einen geheimen Ka'kari. Ich denke, er kehrt Magie
um, und ich denke, dass dieser Nachtengel ihn hat.«
Garoth dachte darüber nach, während die Ränge sich neu
formierten und eine Leiche zwischen ihnen lag. Das Gesicht
des Mannes war vollkommen zerstört. Es war eine beeindruckende
Arbeit. Die Gruppe hatte sich entweder besonders ins
Zeug gelegt, um ihre Hingabe zu beweisen, oder die Männer
hatten den armen Bastard nicht gemocht. Garoth nickte
erfreut. Er streckte die Virkrallen wieder aus und zerquetschte
den Kopf des Toten. »Euer Opfer ist akzeptiert worden.
Dadurch seid Ihr gereinigt.«
Zwei seiner Leibwachen schafften den Leichnam an den
Rand des Podests. Die Leichen lagen dort in ihrem Blut aufgestapelt,
sodass die Cenarier, wenn sie schon nicht das Sterben
eines jeden einzelnen Mannes beobachten konnten, doch
zumindest das Ergebnis der Bestrafung zu Gesicht bekamen.
Als die nächste Gruppe begann, fragte Garoth: »Ein
Ka'kari, der siebenhundert Jahre lang versteckt war? Welche
Meisterschaft verleiht er? Das Verborgensein? Was bedeutet
das für mich?«
»Euer Heiligkeit, mit einem solchen Ka'kari könntet Ihr
oder Euer Beauftragter ins Herz der Chantry spazieren und
Euch jeden Schatz nehmen, den sie dort haben. Ungesehen. Es
wäre möglich, dass Euer Beauftragter selbst Ezras Wald betreten
und Artefakte für Euch holen könnte, die dort seit siebenhundert
Jahren liegen. Dann gäbe es keinen Grund mehr für
Armeen oder vorsichtiges Vorgehen. Auf einen Streich könntet
Ihr ganz Midcyru an der Kehle packen.«
Mein Beauftragter. Zweifellos würde Neph sich mutig erbieten,
die gefährliche Aufgabe selbst zu übernehmen. Trotzdem,
der bloße Gedanke an einen solchen Ka'kari beschäftigte
Garoth während des Sterbens eines weiteren Halbwüchsigen,
zweier Männer im besten Alter und eines erfahrenen Veteranen,
der einen der höchsten Verdienstorden trug, die der
Gottkönig verlieh. Einzig dieser Mann hatte so etwas wie Verrat
in den Augen.
»Geht der Sache nach«, sagte Garoth. Er fragte sich, ob
Khali von diesem siebten Ka'kari wusste. Er fragte sich, ob
Dorian davon wusste. Dorian, sein erster anerkannter Sohn,
Dorian, der sein Erbe gewesen wäre, Dorian der Prophet,
Dorian der Verräter. Dorian war hier gewesen, dessen war sich
Garoth gewiss. Einzig Dorian konnte Curoch mitgebracht
haben, Jorsin Alkestes' mächtiges Schwert. Irgendein Magus
war für einen einzigen Augenblick mit Curoch erschienen und
hatte fünfzig Meister und drei Vürdmeister ausgelöscht, bevor
er verschwunden war. Neph wartete offensichtlich darauf,
dass Garoth ihn deswegen befragen würde, aber Garoth hatte
die Suche nach Curoch aufgegeben. Dorian war kein Narr. Er
hätte Curoch nicht hergebracht, wenn er gedacht hätte, dass
er ihn vielleicht verlieren würde. Wie überlistete man einen
Menschen, der in die Zukunft schauen konnte?
Der Gottkönig blinzelte, während er einen weiteren Kopf
zerquetschte. Wann immer er das tat, bekam er Blut auf seine
schneeweiße Kleidung. Es geschah mit Absicht - war aber
dennoch ärgerlich, und es war nichts Würdevolles daran, wenn
einem Blut in die Augen spritzte. »Euer Opfer ist akzeptiert
worden«, erklärte er den Männern. »Dadurch seid Ihr gereinigt.«
Er trat an den vorderen Rand des Podests, während
die Gruppe ihren Platz hinten auf dem Paradefeld einnahm.
Während der ganzen Angelegenheit hatte er sich nicht zu den
Cenariern umgedreht, die hinter ihm auf dem Podest saßen.
Jetzt tat er es.
Die Vir erwachten zum Leben, als er sich umwandte.
Schwarze Ranken krochen sein Gesicht hinauf, glitten über
seine Arme, durch seine Beine und kamen sogar aus seinen
Pupillen heraus. Er ließ ihnen einen Augenblick Zeit, das
Licht in sich aufzusaugen, sodass der Gottkönig ein unnatürlicher
Flecken Dunkelheit im aufkommenden Morgenlicht zu
sein schien. Dann machte er dem ein Ende. Er wollte, dass die
Edelleute ihn sahen.
Da war nicht ein Auge, das nicht riesig gewesen wäre. Es
waren nicht ausschließlich die Vir oder Garoths angeborene
Würde, die sie sprachlos machten. Es waren die Leichen, die
links und rechts von ihm und hinter ihm aufgestapelt waren
wie Holzscheite und ihn umrahmten wie ein Gemälde. Es war
die mit Blut und Hirnmasse bespritzte weiße Kleidung, die er
trug. Er war ehrfurchtgebietend in seiner Macht und schrecklich
in seiner Erhabenheit. Falls sie überlebte, würde er Herzogin
Trudana Jadwin die Szene vielleicht malen lassen.
Der Gottkönig betrachtete die Edelleute, und die Edelleute
auf dem Podest betrachteten den Gottkönig. Er fragte sich,
ob einige von ihnen schon ihre eigene Zahl ermittelt hatten:
dreizehn.
Er streckte seine Hand voller Strohhalme den Edelleuten
entgegen. »Kommt«, forderte er sie auf. »Khali wird Euch
reinigen.« Diesmal hatte er nicht die Absicht, vom Schicksal
entscheiden zu lassen, wer sterben würde.
Kommandant Gher sah den Gottkönig an. »Euer Heiligkeit,
da muss ein ...« Er brach ab. Gottkönige machten keine
Fehler. Alle Farbe wich aus Ghers Gesicht. Er zog einen lan-
gen Strohhalm. Es verstrichen einige Augenblicke, bevor ihm
in den Sinn kam, dass er nicht allzu erleichtert wirken sollte.
Die meisten der Übrigen waren Edelleute von geringerem
Stand - die Männer und Frauen, die dafür gesorgt hatten,
dass die Regierung des verstorbenen Königs Aleine Gun-
der IX. funktioniert hatte. Es war so leicht gewesen, sie zu
stürzen. Erpressung konnte so einfach sein. Aber es brachte
Garoth nichts ein, diese Tagelöhner zu töten, selbst wenn sie
ihn enttäuscht hatten.
Dies führte ihn zu einer schwitzenden Trudana Jadwin. Sie
war die Zwölfte in der Reihe, und ihr Gemahl war der Letzte.
Garoth hielt inne. Er ließ die beiden einander ansehen. Sie
wussten, allen Zuschauern war klar, dass einer von ihnen sterben
würde, und es hing alles von dem Strohhalm ab, den Trudana
zog. Der Herzog schluckte krampfhaft. Garoth sagte:
»Von allen Edelleuten hier seid Ihr, Herzog Jadwin, derjenige,
der nie in meinen Diensten stand. Also habt Ihr mich
offenkundig nicht enttäuscht. Eure Gemahlin dagegen hat es
getan.«
»Was?«, fragte der Herzog und sah Trudana an.
»Wusstet Ihr nicht, dass sie Euch mit dem Prinzen betrogen
hat? Sie hat ihn auf meinen Befehl hin ermordet«, erklärte Garoth.
Es hatte etwas sehr Schönes, inmitten von etwas zu stehen,
das eigentlich ein zutiefst privater Augenblick hätte sein
sollen. Das vor Furcht bleiche Gesicht des Herzogs wurde
grau. Er war offensichtlich noch weniger scharfsinnig gewesen
als die meisten gehörnten Gatten. Garoth konnte sehen,
wie die Erkenntnis den armen Mann ansprang. Jeder dumpfe
Verdacht, den er jemals beiseitegewischt hatte, jede schlechte
Ausrede, die er je gehört hatte, stürzten auf ihn ein.
Faszinierenderweise wirkte Trudana Jadwin erschüttert.
Ihre Miene war nicht so selbstgerecht, wie Garoth erwartet
hatte. Er hatte gedacht, dass sie den Finger ausstrecken und
ihrem Gemahl sagen würde, warum dies sein Fehler gewesen
war. Stattdessen sprachen ihre Augen von reiner Schuld.
Garoth konnte nur vermuten, dass der Herzog ein anständiger
Gemahl gewesen war, und sie es wusste. Sie hatte ihn
betrogen, weil sie es hatte tun wollen, und jetzt stürzten zwei
Jahrzehnte der Lügen in sich zusammen.
»Trudana«, sagte der Gottkönig, bevor einer der beiden
etwas erwidern konnte, »Ihr habt mir gute Dienste geleistet,
aber Ihr hättet mir noch bessere leisten können. Also ist hier
Euer Lohn und Eure Strafe.« Er hielt ihr die Strohhalme hin.
»Der kurze Strohhalm ist der linke.«
Sie blickte in Garoths von Vir verdunkelte Augen, dann auf
die Strohhalme und schließlich in die Augen ihres Gemahls.
Es war ein unsterblicher Moment. Garoth wusste, dass der
klagende Ausdruck in den Augen des Herzogs Trudana verfolgen
würde, solange sie lebte. Der Gottkönig hatte keinen
Zweifel daran, wie sie sich entscheiden würde, aber offensichtlich
hielt Trudana sich der Selbstaufopferung für fähig.
Sie wappnete sich, streckte die Hand nach dem kurzen
Strohhalm aus und hielt dann inne. Sie sah ihren Mann an, sah
weg und zog schließlich den langen Strohhalm für sich selbst.
Der Herzog heulte auf. Es war zauberhaft. Das Geräusch
durchstach jedes cenarische Herz im Hof. Es schien genau die
richtige Tonhöhe zu haben, um die Botschaft des Gottkönigs
zu verbreiten: Dies könntest du sein.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung August 2010
bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House Gmbh, München.
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Brent Weeks
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Kartenillustration: Jürgen Speh
Redaktion: Alexander Groß
Lektorat: Urban Hofstetter
Herstellung: Sabine Müller
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-442-26629-6
www.blanvalet.de
»Ich bin nur gekommen, um mein Geld zu holen«, erklärte
Kylar. »Alle sicheren Häuser Durzos - all meine sicheren Häuser
sind niedergebrannt. Ich brauche nur genug, um die Torwachen
zu bestechen.« Er hatte ihr seit seiner Kindheit einen
Teil seiner Löhne gegeben, damit sie das Geld investierte. Sie
sollte reichlich haben für einige Bestechungen.
Momma K blätterte schweigend die Blätter Reispapier auf
ihrem Schreibtisch durch und reichte Kylar eins davon. Zuerst
machten ihn die Zahlen sprachlos. Er war an dem illegalen
Import von Gras und einem halben Dutzend anderer süchtig
machender Pflanzen beteiligt, hielt Anteile an einer Brauerei
und mehreren Geschäften, besaß ein Rennpferd und Importwaren
wie Seide und Edelsteine, die gesetzlich erlaubt waren,
wenn man von der Tatsache absah, dass die Sa'kagé zwanzig
Prozent für Bestechungen bezahlten, statt fünfzig Prozent
Zollgebühren. Die schiere Menge an Informationen auf der
Seite war sinnverwirrend. Bei der Hälfte der Einträge wusste
er nicht, was sie bedeuteten.
»Ich besitze ein Haus?«, fragte Kylar.
»Du hast eins besessen«, antwortete Momma K. »In dieser
Spalte ist vermerkt, wenn etwas bei den Bränden oder
Plünderungen verloren gegangen ist.« Das Zeichen stand bei
allen Eintragungen, nur nicht bei jenen Expeditionen, die
unterwegs waren, um Seide beziehungsweise Gras ins Land
zu bringen. Beinahe alles, was er besessen hatte, war verloren
gegangen. »Es wird Monate dauern, bis eine der beiden Expeditionen
zurückkehrt, falls sie überhaupt zurückkehren. Wenn
der Gottkönig weiter zivile Schiffe beschlagnahmt, werden sie
gewiss nicht zurückkommen. Natürlich, wenn er tot wäre ...«
Er konnte erkennen, worauf das hinauslief. »Hier steht,
dass mein Anteil immer noch zehn- bis fünfzehntausend wert
ist. Ich werde ihn Euch für tausend verkaufen. Das ist alles,
was ich brauche.«
Sie beachtete ihn nicht. »Sie brauchen einen dritten Blutjungen,
um sicherzustellen, dass es funktioniert. Fünfzigtausend
Gunder für einen Mord, Kylar. Mit so viel Geld könntest
du Elene und Uly überallhin bringen. Du hättest der Welt
einen Dienst erwiesen, und du würdest nie wieder arbeiten
müssen. Es ist nur ein letzter Auftrag.«
Er schwankte bloß einen Moment lang. »Es gibt immer
einen letzten Auftrag. Ich bin fertig.«
»Es liegt an Elene, nicht wahr?«, fragte Momma K.
»Momma K, denkt Ihr, ein Mensch kann sich ändern?«
Sie sah ihn mit einer tiefen Traurigkeit an. »Nein. Und am
Ende wird er jeden hassen, der das von ihm verlangt.«
Kylar stand auf und trat durch die Tür. Im Flur begegnete
er Jarl. Jarl grinste, wie er es getan hatte, als sie auf den Straßen
aufgewachsen waren und er nichts Gutes im Schilde geführt
hatte. Jarl trug ein Gewand, das wohl der neuesten Mode entsprach,
eine lange Jacke mit übertrieben breiten Schultern,
gepaart mit einer schmal geschnittenen Hose, die in hohen
Stiefeln steckte. Das Ganze wirkte vage khalidorisch. Das
Haar hatte er sich zu winzigen, kunstvollen Zöpfen geflochten,
die mit goldenen Perlen bedeckt waren; die Perlen brachten
seine schwarze Haut besonders gut zur Geltung.
»Ich habe den perfekten Auftrag für dich«, sagte Jarl mit
gesenkter Stimme, aber ohne zu bereuen, dass er gelauscht
hatte.
»Kein Mord?«, hakte Kylar nach.
»Nicht direkt.«
»Euer Heiligkeit, die Feiglinge stehen bereit, um ihre Schuld
zu begleichen«, erklärte Vürdmeister Neph Dada, dessen
Stimme sich über die Menge erhob. Er war ein alter Mann
mit deutlich hervortretenden Adern und zahlreichen Leberflecken,
gebeugt und nach Tod stinkend, den er mit Magie in
Schach hielt. Sein Atem rasselte von der Anstrengung, nachdem
er das Podest im großen Innenhof von Burg Cenaria
erklommen hatte. Zwölf mit Knoten versehene Schnüre hingen
über den Schultern seiner schwarzen Robe, Sinnbild für
die zwölf Shu'ras, die er gemeistert hatte. Neph kniete mit
einiger Mühe nieder und hielt dem Gottkönig eine Handvoll
Stroh hin.
Gottkönig Garoth Ursuul stand auf dem Podest und musterte
seine Truppen. Vorn und in der Mitte standen fast zweihundert
Hochländer aus Graavar, hochgewachsene, blauäugige
Wilde mit mächtigem Oberkörper, die ihr schwarzes Haar kurz
und ihre Schnurrbärte lang trugen. Zu beiden Seiten standen
die anderen Eliteeinheiten der Hochlandstämme, die die Burg
erobert hatten. Hinter ihnen wartete der Rest der regulären
Armee, die seit der Befreiung in Cenaria einmarschiert war.
Zu beiden Seiten der Burg erhob sich Nebel über dem Plith,
glitt unter die rostigen Zähne des eisernen Fallgitters und ließ
die Menge frieren. Die Graavar waren in fünfzehn Gruppen
von jeweils dreizehn Männern aufgeteilt worden, und sie
allein hatten weder Waffen noch Rüstung noch Roben. Sie
standen in ihren Hosen da, die bleichen Gesichter starr, aber
statt an dem kühlen Herbstmorgen zu zittern, schwitzten sie.
Es gab niemals Unruhe, wenn der Gottkönig seine Truppen
begutachtete, aber heute schmerzte das Schweigen, obwohl
Tausende gekommen waren, um zuzuschauen. Garoth hatte
so viele Soldaten wie möglich versammelt und den cenarischen
Dienstboten, den Adligen und den kleinen Leuten
ebenfalls gestattet zuzusehen. Meister in ihren schwarz-roten
Halbumhängen standen Schulter an Schulter mit in Roben
gewandeten Vürdmeistern, Soldaten, Kleinbauern, Fassbindern,
Adligen, Feldarbeitern, Mägden, Seeleuten und cenarischen
Spionen.
Der Gottkönig trug einen weiten, weißen Umhang mit
Hermelinbesatz, um seine breiten Schultern gewaltig wirken
zu lassen. Darunter befand sich eine ärmellose, weiße
Robe über weiten, weißen Hosen. All das Weiß ließ seine
bleiche khalidorische Haut geisterhaft erscheinen und lenkte
die Aufmerksamkeit auf die Vir, die auf seiner Haut spielten.
Schwarze Ranken der Macht stiegen an die Oberfläche seiner
Arme. Große Knoten hoben und senkten sich, Knoten,
umrahmt von Dornen, die sich nicht nur hin und her bewegten,
sondern auch in Wellen von oben und unten aufstiegen
und sich aus seiner Haut drückten. Die Vir beschränkten sich
nicht auf seine Arme. Sie erhoben sich, um sein Gesicht einzurahmen.
Sie erhoben sich zu seinem kahlen Schädel und
durchdrangen die Haut, sodass sie eine dornige, bebende,
schwarze Krone bildeten. Blut rann an den Seiten seines
Gesichts hinab.
Für viele Cenarier war es das erste Mal, dass sie den Gottkönig
sahen. Ihre Münder standen vor Staunen weit offen.
Sie schauderten, als sein Blick über sie hinwegglitt. Es war
genauso, wie er es beabsichtigt hatte.
Schließlich wählte Garoth einen der Strohhalme von Neph
Dada und brach ihn entzwei. Eine Hälfte warf er weg und
griff dann nach zwölf unversehrten Halmen. »So soll Khali
sprechen«, sagte er, seine Stimme kraftvoll vor Macht.
Er bedeutete den Graavar, auf das Podest zu steigen. Während
der Befreiung hatten sie den Befehl gehabt, diesen Innenhof
zu sichern, damit die cenarischen Edelleute nicht entkommen
und später ermordet werden konnten. Stattdessen
waren die Hochländer in die Flucht geschlagen worden, und
Terah Graesin und ihre Edelleute waren geflohen. Dies war
inakzeptabel, unerklärlich und untypisch für die grimmigen
Graavar. Garoth verstand nicht, was Männer dazu brachte, an
einem Tag zu kämpfen und am nächsten zu fliehen.
Was er jedoch verstand, war Scham. Während der vergangenen
Woche hatten die Graavar Ställe ausgemistet, Nachttöpfe
geleert und Böden geschrubbt. Es war ihnen nicht gestattet
worden zu schlafen, stattdessen hatten sie die Nächte damit
verbracht, die Rüstungen und Waffen Höhergestellter zu
polieren. Heute würden sie ihre Schuld sühnen, und während
des nächsten Jahres würden sie erpicht darauf sein, ihre Heldenhaftigkeit
zu beweisen. Als er sich zusammen mit Neph
der ersten Gruppe näherte, zog er die Vir aus seinen Händen
zurück. Wenn die Männer ihre Strohhalme zogen, durften
sie es nicht für das Wirken von Magie halten oder für das
Wohlwollen des Gottkönigs, das den einen verschonte und
den anderen verdammte. Stattdessen war es schlichtes Schicksal,
die unausweichliche Konsequenz ihrer eigenen Feigheit.
Garoth hob die Hände, und alle Khalidori beteten einstimmig:
»Khali vas, Khalivos ras en me, Khali mevirtu rapt, recu virtum defite.«
Während die Worte verklangen, trat der erste Soldat vor.
Er war noch keine sechzehn und auf seiner Lippe nur der
Hauch eines Schnurrbarts. Er schien am Rand eines Zusammenbruchs
zu stehen, während sein Blick von dem eisigen
Gesicht des Gottkönigs zu den Strohhalmen flackerte. Auf
seiner nackten Brust leuchtete Schweiß im heller werdenden
Licht des Morgens, und seine Muskeln zuckten. Er zog einen
Strohhalm. Er war lang.
Die Hälfte der Anspannung wich aus seinem Körper, aber
nur die Hälfte. Der junge Mann neben ihm, der ihm so ähnlich
sah, dass es sich um seinen älteren Bruder handeln musste,
befeuchtete sich die Lippen und griff nach einem Strohhalm.
Er war kurz.
Die fast Übelkeit erregende Erleichterung des Rests der
Gruppe war mit Händen greifbar, und die vielen tausend
Zuschauer, die den kurzen Strohhalm unmöglich sehen konnten,
wussten aufgrund dieser Reaktion, dass er gezogen worden
war. Der Mann, der den kurzen Strohhalm in der Hand
hielt, sah seinen kleinen Bruder an. Der jüngere Mann schaute
ihm nicht ins Gesicht. Der Verurteilte richtete einen ungläubigen
Blick auf den Gottkönig und reichte ihm den kurzen Strohhalm.
Garoth trat zurück. »Khali hat gesprochen«, erklärte er.
Die Menge sog beinahe gleichzeitig die Luft ein, und er nickte
der Gruppe zu.
Sie schlossen sich um den jungen Mann, jeder Einzelne von
ihnen - selbst sein Bruder -, und begannen auf ihn einzuschlagen.
Es wäre schneller gegangen, hätte Garoth der Gruppe gestattet,
Panzerhandschuhe zu tragen oder das stumpfe Ende von
Speeren oder die Flachseite von Klingen zu benutzen, aber er
hielt es für besser so. Wenn das Blut zu fließen begann und
aus dem Fleisch spritzte, während auf den Verurteilten eingedroschen
wurde, sollte es nicht von der Kleidung der übrigen
Männer abgefangen werden. Sie sollten es auf der Haut spüren.
Sie sollten die Wärme des Blutes dieses Jungen spüren,
während er starb. Sie sollten den Preis für Feigheit erfahren.
Khalidori flohen nicht.
Die Gruppe griff mit beträchtlichem Elan an. Der Kreis
schloss sich, und Schreie wurden laut. Es hatte etwas Intimes,
wie nacktes Fleisch auf nacktes Fleisch drosch. Der junge
Mann verschwand, und alles, was noch zu sehen war, waren
Ellbogen, die sich erhoben und mit jedem Hieb verschwanden,
und Füße, die zu neuen Tritten zurückgezogen wurden.
Und Augenblicke später Blut. Mit dem kurzen Strohhalm war
der junge Mann zu ihrer Schwäche geworden. Es war Khalis
Erlass. Er war nicht länger Bruder oder Freund, er war alles,
was sie falsch gemacht hatten.
Binnen zwei Minuten war der junge Mann tot.
Die Gruppe formierte sich neu, blutbespritzt und schwer
atmend vor Anstrengung und Erregung. Sie betrachteten
den Leichnam zu ihren Füßen nicht. Garoth musterte sie der
Reihe nach, schaute jedem Einzelnen von ihnen in die Augen
und ließ seinen Blick auf dem Bruder verweilen. Dann trat er
vor den Leichnam und streckte eine Hand aus. Die Vir lugten
aus seinem Handgelenk hervor und dehnten sich aus, krallenartig
und zerklüftet, und umfassten den Kopf des Leichnams.
Dann zuckten die Krallen, und der Kopf knackte, ein Geräusch,
das Dutzenden von Cenariern Brechreiz verursachte.
»Euer Opfer ist akzeptiert worden. Dadurch seid ihr gereinigt«,
verkündete er und salutierte ihnen.
Sie erwiderten seinen Salut voller Stolz und nahmen ihre
Plätze im hinteren Teil der Formation auf dem Innenhof ein,
während der Leichnam weggeschleift wurde.
Er deutete auf die nächste Gruppe. Die nächsten vierzehn
Wiederholungen würden nichts Neues bringen. Obwohl jede
einzelne Gruppe noch immer voller Anspannung war - selbst
diejenigen, die fertig waren, würden Freunde und Verwandte
in anderen Gruppen verlieren -, erlosch Garoths Interesse.
»Neph, erzählt mir, was Ihr über diesen Mann erfahren habt,
diesen Nachtengel, der meinen Sohn getötet hat.«
Burg Cenaria gehörte nicht unbedingt zu den Orten, zu denen
es Kylar besonders hinzog. Er war als Gerber getarnt, mit
einem schmutzigen, wollenen Handwerkerkittel, die Hände
und Arme bis zu den Ellbogen mit Farbe befleckt, und hatte
sich mit einigen Tropfen des speziellen Parfüms benetzt, das
Durzo Blint, sein toter Meister, entwickelt hatte. Er stank
nur eine Spur weniger, als ein echter Gerber gestunken hätte.
Durzo hatte stets Tarnungen als Gerber, Schweinebauer oder
Bettler und dergleichen bevorzugt - Typen eben, die zu übersehen
respektable Leute ihr Bestes gaben, weil sie nicht umhinkonnten,
sie zu riechen. Das Parfüm wurde nur auf die äußeren
Kleidungsstücke aufgetragen, die man, sollte es notwendig
werden, abstreifen konnte. Ein Teil des Gestanks würde ihm
trotzdem anhaften, aber jede Tarnung hatte ihre Nachteile.
Die Kunst bestand darin, die Nachteile dem Auftrag anzupassen.
Die Ostbrücke oder, wie sie eigentlich hieß, Östliche
Königsbrücke, war während des Kampfes um Burg Cenaria
abgebrannt, und obwohl die Meister sie größtenteils wieder
instand gesetzt hatten, war sie immer noch gesperrt. Daher
musste Kylar vom Westufer des Flusses aus über die Westbrücke
oder Westliche Königsbrücke gehen, um zu der auf
einer Insel im Plith gelegenen Burg zu gelangen. Die khalidorischen
Wachen würdigten ihn kaum eines Blickes, als er vorbeiging.
Es schien, als sei die Aufmerksamkeit aller - selbst
der Meister - auf ein Podest in der Mitte des Burghofs und
auf eine Gruppe von Hochländern gerichtet, die barbrüstig
in der Kälte standen. Kylar ignorierte die Gruppe auf dem
Podest, während er nach möglichen Bedrohungen Ausschau
hielt. Er war sich immer noch nicht sicher, ob Meister seine
magische Begabung wahrnehmen konnten, obwohl er vermutete,
dass sie es nicht konnten, solange er seine Magie nicht
benutzte. Ihre Fähigkeiten schienen mehr als die der Magi an
den Geruch gebunden zu sein - was der Hauptgrund dafür
war, dass er als Gerber gekommen war. Wenn ein Meister ihm
nahe kam, konnte Kylar nur hoffen, dass weltliche Gerüche
die magischen überlagerten.
Vier Wachen standen an jeder Seite des Tores, sechs auf jedem
Teilstück der diamantförmigen Burgmauer und vielleicht tausend
in Formation auf dem Hof, zusätzlich zu den etwa zweihundert
Graavar-Hochländern. In der mehrere tausend Menschen
umfassenden Menge hatten in regelmäßigen Abständen
fünfzig Meister Aufstellung genommen. In der Mitte des Ganzen
befanden sich auf dem Podest eine Anzahl ceranischer
Adliger, mehrere verstümmelte Leichen und Gottkönig Garoth
Ursuul selbst, der mit einem Vürdmeister sprach. Es war
lächerlich, aber selbst angesichts der Anzahl von Soldaten und
Meistern hier war dies wahrscheinlich die beste Chance, die ein
Blutjunge haben konnte, um den Mann zu töten.
Aber Kylar war nicht hier, um zu töten. Er war hier, um
wegen des seltsamsten Auftrags, den er je angenommen
hatte, einen Mann in Augenschein zu nehmen. Er suchte in
der Menge nach dem Mann, von dem Jarl ihm erzählt hatte,
und fand ihn sehr bald. Baron Kirof war ein Vasall der Gyres
gewesen. Da sein Lord tot war und seine Ländereien nahe
der Stadt lagen, war er einer der ersten cenarischen Edelleute
gewesen, die das Knie vor Garoth Ursuul gebeugt hatten. Er
war ein fetter Mann mit rotem Bart, den er im Stil der Khalidori
aus dem Tiefland kantig geschnitten hatte, großer, gebogener
Nase, schwachem Kinn und dicken, buschigen Augenbrauen.
Kylar ging näher heran. Baron Kirof schwitzte und wischte
sich die Hände an seiner Robe ab, während er sich nervös
mit den khalidorischen Edelleuten unterhielt, mit denen er
zusammen dastand. Kylar schob sich gerade um einen hochgewachsenen,
stinkenden Schmied herum, als der Mann ihm
plötzlich einen Ellbogen in die Magengrube rammte.
Der Schlag trieb alle Luft aus Kylars Lunge, und noch während
er sich vorbeugte, erschien in seiner Hand der Ka'kari
und formte einen Dolch.
»Wenn du einen besseren Blick haben willst, komm gefälligst
frühzeitig, wie wir anderen es getan haben«, sagte der
Schmied. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schob
seine Ärmel hoch, um gewaltige Muskeln zu zeigen.
Mit einiger Mühe zwang Kylar den Ka'kari zurück in seine
Haut und entschuldigte sich mit niedergeschlagenen Augen.
Der Schmied lachte höhnisch und wandte sich um, um weiter
den Spaß zu beobachten.
Kylar begnügte sich mit dem, was er von seinem Platz aus
sehen konnte. Baron Kirof. Der Gottkönig hatte etwa die
Hälfte der Hochländereinheiten abgearbeitet, und Buchmacher
der Sa'kagé nahmen bereits Wetten darauf an, welcher
Mann aus jeder der noch verbliebenen dreizehnköpfigen
Gruppen sterben würde. Die khalidorischen Soldaten
bemerkten es. Kylar fragte sich, wie viele Cenarier wegen der
Herzlosigkeit der Buchmacher sterben würden, wenn die khalidorischen
Soldaten heute Nacht durch die Stadt streiften,
in Trauer um ihre Toten und voller Zorn darüber, dass die
Sa'kagé alles besudelten, was sie berührten.
Ich muss raus aus dieser verdammten Stadt.
Die nächste Gruppe musste bis zum zehnten Mann warten,
ohne dass der kurze Strohhalm gezogen wurde. Es lohnte sich
beinahe, dem Geschehen Beachtung zu schenken, da die sichtbare
Verzweiflung der Männer wuchs, während jeder ihrer
Nachbarn verschont blieb und ihre eigenen Chancen schlechter
wurden. Der elfte Mann, um die vierzig und sehnig, zog
den kurzen Strohhalm. Er kaute an den Enden seines Schnurrbarts,
während er dem Gottkönig den Strohhalm zurückgab,
zeigte ansonsten jedoch keine Regung.
Neph schaute zu Herzogin Jadwin und ihrem Gemahl
hinüber, die auf dem Podest saßen. »Ich habe den Thronsaal
untersucht, und ich bin auf etwas gestoßen, das mir noch
nie zuvor untergekommen ist. Die ganze Burg riecht nach der
Magie, die so viele unserer Meister getötet hat. Aber einige
Stellen im Thronsaal ... tun das einfach nicht. Es ist, als sei
ein Feuer im Haus, aber wenn man einen bestimmten Raum
betritt, riecht es dort nicht nach Rauch.«
Blutspritzer flogen jetzt durch die Luft, und Garoth war
einigermaßen sicher, dass der Mann tot sein musste, aber die
Gruppe schlug immer weiter und weiter und weiter zu.
»Das passt nicht zu dem, was wir über den silbernen Ka'kari
wissen«, sagte Garoth.
»Nein, Euer Heiligkeit. Ich denke, es gibt einen siebten
Ka'kari, einen geheimen Ka'kari. Ich denke, er kehrt Magie
um, und ich denke, dass dieser Nachtengel ihn hat.«
Garoth dachte darüber nach, während die Ränge sich neu
formierten und eine Leiche zwischen ihnen lag. Das Gesicht
des Mannes war vollkommen zerstört. Es war eine beeindruckende
Arbeit. Die Gruppe hatte sich entweder besonders ins
Zeug gelegt, um ihre Hingabe zu beweisen, oder die Männer
hatten den armen Bastard nicht gemocht. Garoth nickte
erfreut. Er streckte die Virkrallen wieder aus und zerquetschte
den Kopf des Toten. »Euer Opfer ist akzeptiert worden.
Dadurch seid Ihr gereinigt.«
Zwei seiner Leibwachen schafften den Leichnam an den
Rand des Podests. Die Leichen lagen dort in ihrem Blut aufgestapelt,
sodass die Cenarier, wenn sie schon nicht das Sterben
eines jeden einzelnen Mannes beobachten konnten, doch
zumindest das Ergebnis der Bestrafung zu Gesicht bekamen.
Als die nächste Gruppe begann, fragte Garoth: »Ein
Ka'kari, der siebenhundert Jahre lang versteckt war? Welche
Meisterschaft verleiht er? Das Verborgensein? Was bedeutet
das für mich?«
»Euer Heiligkeit, mit einem solchen Ka'kari könntet Ihr
oder Euer Beauftragter ins Herz der Chantry spazieren und
Euch jeden Schatz nehmen, den sie dort haben. Ungesehen. Es
wäre möglich, dass Euer Beauftragter selbst Ezras Wald betreten
und Artefakte für Euch holen könnte, die dort seit siebenhundert
Jahren liegen. Dann gäbe es keinen Grund mehr für
Armeen oder vorsichtiges Vorgehen. Auf einen Streich könntet
Ihr ganz Midcyru an der Kehle packen.«
Mein Beauftragter. Zweifellos würde Neph sich mutig erbieten,
die gefährliche Aufgabe selbst zu übernehmen. Trotzdem,
der bloße Gedanke an einen solchen Ka'kari beschäftigte
Garoth während des Sterbens eines weiteren Halbwüchsigen,
zweier Männer im besten Alter und eines erfahrenen Veteranen,
der einen der höchsten Verdienstorden trug, die der
Gottkönig verlieh. Einzig dieser Mann hatte so etwas wie Verrat
in den Augen.
»Geht der Sache nach«, sagte Garoth. Er fragte sich, ob
Khali von diesem siebten Ka'kari wusste. Er fragte sich, ob
Dorian davon wusste. Dorian, sein erster anerkannter Sohn,
Dorian, der sein Erbe gewesen wäre, Dorian der Prophet,
Dorian der Verräter. Dorian war hier gewesen, dessen war sich
Garoth gewiss. Einzig Dorian konnte Curoch mitgebracht
haben, Jorsin Alkestes' mächtiges Schwert. Irgendein Magus
war für einen einzigen Augenblick mit Curoch erschienen und
hatte fünfzig Meister und drei Vürdmeister ausgelöscht, bevor
er verschwunden war. Neph wartete offensichtlich darauf,
dass Garoth ihn deswegen befragen würde, aber Garoth hatte
die Suche nach Curoch aufgegeben. Dorian war kein Narr. Er
hätte Curoch nicht hergebracht, wenn er gedacht hätte, dass
er ihn vielleicht verlieren würde. Wie überlistete man einen
Menschen, der in die Zukunft schauen konnte?
Der Gottkönig blinzelte, während er einen weiteren Kopf
zerquetschte. Wann immer er das tat, bekam er Blut auf seine
schneeweiße Kleidung. Es geschah mit Absicht - war aber
dennoch ärgerlich, und es war nichts Würdevolles daran, wenn
einem Blut in die Augen spritzte. »Euer Opfer ist akzeptiert
worden«, erklärte er den Männern. »Dadurch seid Ihr gereinigt.«
Er trat an den vorderen Rand des Podests, während
die Gruppe ihren Platz hinten auf dem Paradefeld einnahm.
Während der ganzen Angelegenheit hatte er sich nicht zu den
Cenariern umgedreht, die hinter ihm auf dem Podest saßen.
Jetzt tat er es.
Die Vir erwachten zum Leben, als er sich umwandte.
Schwarze Ranken krochen sein Gesicht hinauf, glitten über
seine Arme, durch seine Beine und kamen sogar aus seinen
Pupillen heraus. Er ließ ihnen einen Augenblick Zeit, das
Licht in sich aufzusaugen, sodass der Gottkönig ein unnatürlicher
Flecken Dunkelheit im aufkommenden Morgenlicht zu
sein schien. Dann machte er dem ein Ende. Er wollte, dass die
Edelleute ihn sahen.
Da war nicht ein Auge, das nicht riesig gewesen wäre. Es
waren nicht ausschließlich die Vir oder Garoths angeborene
Würde, die sie sprachlos machten. Es waren die Leichen, die
links und rechts von ihm und hinter ihm aufgestapelt waren
wie Holzscheite und ihn umrahmten wie ein Gemälde. Es war
die mit Blut und Hirnmasse bespritzte weiße Kleidung, die er
trug. Er war ehrfurchtgebietend in seiner Macht und schrecklich
in seiner Erhabenheit. Falls sie überlebte, würde er Herzogin
Trudana Jadwin die Szene vielleicht malen lassen.
Der Gottkönig betrachtete die Edelleute, und die Edelleute
auf dem Podest betrachteten den Gottkönig. Er fragte sich,
ob einige von ihnen schon ihre eigene Zahl ermittelt hatten:
dreizehn.
Er streckte seine Hand voller Strohhalme den Edelleuten
entgegen. »Kommt«, forderte er sie auf. »Khali wird Euch
reinigen.« Diesmal hatte er nicht die Absicht, vom Schicksal
entscheiden zu lassen, wer sterben würde.
Kommandant Gher sah den Gottkönig an. »Euer Heiligkeit,
da muss ein ...« Er brach ab. Gottkönige machten keine
Fehler. Alle Farbe wich aus Ghers Gesicht. Er zog einen lan-
gen Strohhalm. Es verstrichen einige Augenblicke, bevor ihm
in den Sinn kam, dass er nicht allzu erleichtert wirken sollte.
Die meisten der Übrigen waren Edelleute von geringerem
Stand - die Männer und Frauen, die dafür gesorgt hatten,
dass die Regierung des verstorbenen Königs Aleine Gun-
der IX. funktioniert hatte. Es war so leicht gewesen, sie zu
stürzen. Erpressung konnte so einfach sein. Aber es brachte
Garoth nichts ein, diese Tagelöhner zu töten, selbst wenn sie
ihn enttäuscht hatten.
Dies führte ihn zu einer schwitzenden Trudana Jadwin. Sie
war die Zwölfte in der Reihe, und ihr Gemahl war der Letzte.
Garoth hielt inne. Er ließ die beiden einander ansehen. Sie
wussten, allen Zuschauern war klar, dass einer von ihnen sterben
würde, und es hing alles von dem Strohhalm ab, den Trudana
zog. Der Herzog schluckte krampfhaft. Garoth sagte:
»Von allen Edelleuten hier seid Ihr, Herzog Jadwin, derjenige,
der nie in meinen Diensten stand. Also habt Ihr mich
offenkundig nicht enttäuscht. Eure Gemahlin dagegen hat es
getan.«
»Was?«, fragte der Herzog und sah Trudana an.
»Wusstet Ihr nicht, dass sie Euch mit dem Prinzen betrogen
hat? Sie hat ihn auf meinen Befehl hin ermordet«, erklärte Garoth.
Es hatte etwas sehr Schönes, inmitten von etwas zu stehen,
das eigentlich ein zutiefst privater Augenblick hätte sein
sollen. Das vor Furcht bleiche Gesicht des Herzogs wurde
grau. Er war offensichtlich noch weniger scharfsinnig gewesen
als die meisten gehörnten Gatten. Garoth konnte sehen,
wie die Erkenntnis den armen Mann ansprang. Jeder dumpfe
Verdacht, den er jemals beiseitegewischt hatte, jede schlechte
Ausrede, die er je gehört hatte, stürzten auf ihn ein.
Faszinierenderweise wirkte Trudana Jadwin erschüttert.
Ihre Miene war nicht so selbstgerecht, wie Garoth erwartet
hatte. Er hatte gedacht, dass sie den Finger ausstrecken und
ihrem Gemahl sagen würde, warum dies sein Fehler gewesen
war. Stattdessen sprachen ihre Augen von reiner Schuld.
Garoth konnte nur vermuten, dass der Herzog ein anständiger
Gemahl gewesen war, und sie es wusste. Sie hatte ihn
betrogen, weil sie es hatte tun wollen, und jetzt stürzten zwei
Jahrzehnte der Lügen in sich zusammen.
»Trudana«, sagte der Gottkönig, bevor einer der beiden
etwas erwidern konnte, »Ihr habt mir gute Dienste geleistet,
aber Ihr hättet mir noch bessere leisten können. Also ist hier
Euer Lohn und Eure Strafe.« Er hielt ihr die Strohhalme hin.
»Der kurze Strohhalm ist der linke.«
Sie blickte in Garoths von Vir verdunkelte Augen, dann auf
die Strohhalme und schließlich in die Augen ihres Gemahls.
Es war ein unsterblicher Moment. Garoth wusste, dass der
klagende Ausdruck in den Augen des Herzogs Trudana verfolgen
würde, solange sie lebte. Der Gottkönig hatte keinen
Zweifel daran, wie sie sich entscheiden würde, aber offensichtlich
hielt Trudana sich der Selbstaufopferung für fähig.
Sie wappnete sich, streckte die Hand nach dem kurzen
Strohhalm aus und hielt dann inne. Sie sah ihren Mann an, sah
weg und zog schließlich den langen Strohhalm für sich selbst.
Der Herzog heulte auf. Es war zauberhaft. Das Geräusch
durchstach jedes cenarische Herz im Hof. Es schien genau die
richtige Tonhöhe zu haben, um die Botschaft des Gottkönigs
zu verbreiten: Dies könntest du sein.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung August 2010
bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House Gmbh, München.
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Brent Weeks
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Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
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Kartenillustration: Jürgen Speh
Redaktion: Alexander Groß
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Autoren-Porträt von Brent Weeks
Brent Weeks wurde in Montana geboren und wuchs auch dort auf. Seine ersten Geschichten schrieb er auf Papierservietten und Stundenplänen. Doch tausende Manuskriptseiten später konnte er endlich seinen Brotjob kündigen und sich ganz darauf konzentrieren, was er wirklich machen wollte: Schreiben. Seither wurde er mehrfach für sein Werk ausgezeichnet und ist ein fester Bestandteil der »New York Times«- und der SPIEGEL-Bestsellerliste. Brent Weeks lebt heute mit seiner Frau und seinen Töchtern in Oregon.
Bibliographische Angaben
- Autor: Brent Weeks
- 2010, Deutsche Erstausgabe, 698 Seiten, Maße: 13,8 x 20,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Hans Link
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442266297
- ISBN-13: 9783442266296
- Erscheinungsdatum: 13.07.2010
Kommentar zu "Am Rande der Schatten / Schatten Trilogie Bd.2"
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