Ari heißt Löwe
Erinnerungen
Sternstunden der Geschichte - die spannenden Lebenserinnerungen des legendären Journalisten Ari RathEr war als einziger Journalist Zeuge eines der wichtigsten Treffen der deutschen Nachkriegsgeschichte: zwischen Konrad Adenauer und dem israelischen...
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Produktinformationen zu „Ari heißt Löwe “
Klappentext zu „Ari heißt Löwe “
Sternstunden der Geschichte - die spannenden Lebenserinnerungen des legendären Journalisten Ari RathEr war als einziger Journalist Zeuge eines der wichtigsten Treffen der deutschen Nachkriegsgeschichte: zwischen Konrad Adenauer und dem israelischen Premierminister David Ben-Gurion. Hier erzählt Ari Rath die spannende Geschichte seines Lebens, von der Kindheit in Wien über die Flucht nach Palästina und das Leben im Kibbuz bis zu den Jahren als Redakteur der »Jerusalem Post«, dem Sprachrohr eines politisch liberalen Israel. Er berichtet von seinen Begegnungen mit Helmut Schmidt und Bruno Kreisky, Kurt Waldheim und Willy Brandt. Eine persönliche Geschichte und ein ungewöhnlicher Blick auf einschneidende Ereignisse und zentrale Personen der Zeitgeschichte.»Ari Rath erforscht und beleuchtet die Seele des Zionismus, vom Nazi-Wien bis zum heutigen Israel, in seiner spannenden Lebensgeschichte.«Ruth Klüger
Lese-Probe zu „Ari heißt Löwe “
Ari heißt Löwe von Ari RathEine Kindheit in Wien
Meine Eltern stammen aus Galizien; meine Mutter Laura, geborene Gross, wurde 1889 in Stryj südlich von Lemberg geboren, mein Vater, Josef Rath, kam 1893 in Kolomiya zur Welt, einem Ort in der Nähe von Czernowitz, an der galizischen Grenze zur Bukowina. Stryj und Kolomiya gehörten damals zur kaiserlich-königlichen Habsburgermonarchie, heute liegen sie in der Ukraine.
Trotz jahrzehntelanger kommunistischer Herrschaft ist der österreichische Ursprung in den Städten Lwiw/Lemberg und Tscherniwzi/ Czernowitz immer noch deutlich fühlbar. Als ich im September 2008 zum ersten Mal nach Lwiw kam, um die verlorene Welt meiner Eltern zu suchen, erinnerte es mich sehr an Wien. Altmodische Straßenbahnen fahren durch die kopfsteingepflasterten Straßen, viele der historischen Stadtpaläste haben überdauert, und hier und da gibt es auch wieder traditionelle Kaffeehäuser.
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Mein Vater meldete sich am Anfang des Ersten Weltkriegs zum österreichischen Militär. Er hatte gerade seine Matura an einem deutschsprachigen Gymnasium in Kolomiya abgelegt und landete, da er körperlich eher schmächtig war, als Beamter im Kriegsministerium in Wien. Warum meine Mutter von Stryj nach Wien ging, weiß ich nicht. Beide Familien kannten sich schon in Galizien, doch lernten die Eltern einander erst während des Weltkriegs in Wien näher kennen und heirateten nach Kriegsende. Im November 1921 kam mein Bruder Maximilian (»Maxi«) zur Welt, ich gut drei Jahre später, am 6. Jänner 1925, dem Tag der Heiligen Drei Könige, sodass mein Geburtstag im katholischen Österreich immer ein schulfreier Tag war. Nach dem hebräischen (jüdischen) Mondkalender fiel mein Geburtstag auf den zehnten Tag des Monats Tewet, ein Fasttag für streng Religiöse, da an diesem Tag die erste Stadtmauer Jerusalems an die Römer gefallen ist.
Wir wohnten zunächst im 8. Bezirk in der Piaristengasse 46, um die Ecke des Theaters in der Josefstadt. Mein Bruder behauptet sich erinnern zu können, wie unser Vater im Taxi mit einem kleinen Bündel nach Hause kam, in dem ich mich befand. Einige Monate nach meiner Geburt zogen wir in die Porzellangasse 50 im 9. Bezirk in der Nähe des Franz-Josefs-Bahnhofs. Mein Vater und sein zehn Jahre älterer Bruder Jakob Fried (obwohl sie leibliche Brüder waren, trugen sie wegen eines Irrtums der österreichischen Magistratsbehörden in Kolomiya verschiedene Familiennamen) hatten zusammen eine Papiergroßhandelsfirma, Fried & Rath, gegründet, die sich vorerst in einem kleinen Geschäft in der Innenstadt befand. Nach einigen Jahren übersiedelten sie in größere Geschäftsräume gegenüber dem Kriegsministerium in der Wiesingerstraße. Ich erinnere mich, wie ich als Kind auf dem Warenaufzug gespielt habe, der große Papierballen von den Lieferwagen auf der Straße zu den Lagerräumen im Keller brachte. Als Belohnung für meine »Hilfe« in den Lagerräumen durfte ich im Kaffeehaus gegenüber eine Linzertorte oder ein Baiser mit Schlagobers bestellen.
Das Geschäft scheint ziemlich gutgegangen zu sein, da mein Vater und mein Onkel in den späteren zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre von ihren Gewinnen in Berlin investieren konnten. Sie kauften fünf Mietshäuser. Allerdings stritten sie häufig, mein Vater war anscheinend der ungeduldigere und manchmal jähzornige jüngere Bruder. Schon als Kind fühlte ich mich meinem gütigen »Onkel Jakub« sehr verbunden. Der wiederholte Streit führte Anfang der dreißiger Jahre auch zur geschäftlichen Trennung der beiden, obwohl die Firma ihren Namen Fried & Rath bis zum Ende, nach dem »Anschluss« im März 1938, beibehielt. Von seinem Anteil an der Papiergroßhandelsfirma kaufte Jakob Fried Anfang der dreißiger Jahre eine große Pelzgerberei namens Schlammerdinger in der Muthgasse im 19. Bezirk. Dieses Geschäft hielt sich aber nicht lange; 1935, als Hitler in Deutschland bereits an der Macht war, zogen Onkel Jakob und seine Frau Bassia mit ihren Töchtern Dolly und Lore nach Berlin, um dort die Häuser der Familie zu verwalten. Das Haus in der Muthgasse blieb in seinem Besitz und wurde 1939 von den Nazis zwangsversteigert. Bis heute ist es nicht in den Besitz seiner Familie zurückgelangt, obwohl alle Urkunden dieses Zwangsverkaufs vorhanden sind. So wissen wir, dass ein Architekt namens Pichler 17 100 Reichsmark für das Haus gezahlt hat, zuzüglich eines »Entjudungszuschlags« von 1800 Reichsmark an die Gestapo. In Österreich aber kann ein Grundstück an die ursprünglichen jüdischen Inhaber und ihre Erben nur dann zurückerstattet werden, wenn es im Besitz der Stadt oder des Landes Wien oder des Bundes ist. Bis heute profitieren also die Nachkommen der Ariseure von damals.
Meine erste konkrete Kindheitserinnerung ist zugleich eine der traurigsten meines Lebens: Während der Pessachfeiertage im April 1929 starb meine Mutter. Trotz meines guten Gedächtnisses habe ich überhaupt keine Erinnerung an sie und kann mir ihre Gestalt nicht vorstellen. Das einzige Bild, das ich von ihr habe, stammt aus dem schwarz gebundenen Traueralbum, das die jüdische »Chewra Kadischa«, die Beerdigungsgesellschaft, nach ihrem Tod der Familie übergeben hat. Es muss eines der letzten Fotos meiner Mutter sein, denn es zeigt ziemlich deutlich ihr geschwollenes Gesicht und ihren dicken Hals, die charakteristischen Symptome der Basedowschen Krankheit. Die damit verbundene Störung der Schilddrüse und des Stoffwechsels kann zu tiefer Depression führen und war damals noch nicht wirksam zu behandeln. Doch erinnere ich mich gut an den Tag, an dem das Unglück geschah: Wir beiden Kinder, mein siebeneinhalbjähriger Bruder Maxi und ich mit meinen vier Jahren und bald vier Monaten, waren mit unserer Gouvernante im sogenannten Beserlpark am Franz-Josefs-Bahnhof unterwegs, weil die Familie ein feierliches Mittagessen zum achtzehnten Geburtstag unserer Cousine Dolly vorbereitete. Plötzlich kam unsere Köchin ganz aufgeregt zu uns und flüsterte unserer Gouvernante etwas ins Ohr. Beide begannen fürchterlich zu weinen; darauf fuhren wir mit der Gouvernante mit der Straßenbahn zur Wohnung unseres Onkels Jakob in der Kaiserstraße im 7. Bezirk, wo wir einige Wochen blieben. Wir Buben hatten natürlich keine Ahnung, warum wir jetzt bei Onkel Jakob und seiner Familie wohnen sollten. Erst vierzig Jahre später, bei Dollys erstem Besuch in Israel, erzählte sie mir die dramatischen Ereignisse an diesem fürchterlichsten Tag meines Lebens. Dolly war mit der Straßenbahn zu unserem Haus gefahren und hatte schon beim Aussteigen den Rettungswagen und viel Polizei gesehen, die den Eingang zu unserem Haus sperrten. Als sie darauf bestand, als enge Verwandte der Familie Rath Zutritt in das Haus zu erhalten, erfuhr sie, was Schreckliches geschehen war. Kurz vor dem geplanten Geburtstagsessen war unsere Mutter plötzlich in den dritten Stock hinaufgerannt und hatte sich durch ein Fenster in den Hof des Hauses gestürzt. Sie war sofort tot. Für uns Kinder hieß es damals, unsere Mutter Laura sei an Lungenentzündung erkrankt und im Krankenhaus, wo wir sie nicht besuchen dürften. Ein ganzes Jahr lang hat man mich belogen, was man einemaufgeweckten Kind, wie ich eines war, nicht antun sollte.
Am ersten Todestag meiner Mutter durfte ich mit der Familie zur Enthüllung des Grabsteins auf dem jüdischen Friedhof am vierten Tor des Zentralfriedhofs mitkommen. Es ist ein riesiger Friedhof mit vielen tausend jüdischen Gräbern, die die Nazizeit und den Krieg überdauert haben. Ich habe nie verstanden, wieso die Nazis Millionen von jüdischen Menschen grausam ermordeten, jüdische Friedhöfe aber verschonten. Der ursprüngliche Grabstein meiner Mutter war eine runde, weißgraue Marmorsäule, in der Mitte schräg abgesägt, ein Symbol für ein frühzeitig abgeschnittenes Leben. Während der letzten Kämpfe um die Befreiung Wiens wurde dieser Grabstein von einem Kanonenschuss schwer beschädigt. Mein Bruder ließ ihn bei seinem ersten Besuch in Wien nach dem Krieg im Dezember 1947 durch einen einfachen, rechteckigen grauen Grabstein ersetzen. Wann immer ich in Wien bin, besuche ich das Grab meiner Mutter. Ich lege einen kleinen Stein auf ihr Grab und stelle einen Blumentopf hin, den ich am zweiten Tor kaufen muss, denn am Eingang zum jüdischen Friedhof gibt es keine Blumenläden - es kommen zu wenige Besucher hin. Ich trage dann immer mein kleines schwarzes Trauergebetbuch bei mir und spreche das traditionelle hebräisch-aramäische Trauergebet, das Kaddisch. Es beginnt mit den Worten »Jit'gadal wejitkadasch sch'me rabba« (Erhoben und geheiligt sei Sein großer Name). Eigentlich handelt es sich um ein Ruhmgebet: Gott, der Allmächtige wird hier in herrlichen Adjektiven angerufen und als derjenige gerühmt, der »Frieden in seinen Höhenmacht und Frieden auf uns und auf ganz Israel bringen wird«. Das Kaddisch bringt keine persönliche Trauer zum Ausdruck. Deshalb bete ich auch immer »El male rachamim«, ein Gebet, das an den Gott voller Barmherzigkeit gerichtet ist und den Namen der oder des Verstorbenen nennt, für dessen ewige Ruhe im Himmelreich Gottes wir bitten.
Der frühe Tod meiner Mutter Laura, der den Verlust der wichtigsten Person in meinem Leben bedeutete, hat mich sehr geprägt und zweifellos mein Verhältnis zu Frauen bestimmt. Unmittelbar nach der Beerdigung zog Omama Frimtsche bei uns ein, meine Großmutter mütterlicherseits. Sie war eine liebevolle, großherzige Frau, aber die Mutterliebe konnte sie nicht ersetzen. Ich war ein Kind, das nie »Mama« sagen konnte. Der Begriff »Mutter« war für mich ein düsteres Grab. Überhaupt fehlte mir neben Omama Frimtsche eine ständige weibliche Bezugsperson, denn auch die Gouvernanten wechselten ständig. Kaum hatte ich mich an eine ein wenig gewöhnt, musste sie schon wieder weggehen. Mein eher verwöhnter und jedem Sport abgeneigter Bruder beschwerte sich bei unserem Vater so eindringlich über die Gouvernanten, die ihn in der Sommerfrische zum Bergsteigen oder Schwimmen gezwungen hätten, dass mein Vater immer nachgab. Ungeduldig, wie er war, wollte er wohl einfach seine Ruhe haben und kündigte die Gouvernante, bis die nächste kam. In sieben Jahren hatten wir mindestens sieben. Schon als Kind musste ich mich daran gewöhnen, mich nicht zu fest an Frauen zu binden, da ich immer fürchtete, sie würden mich bald wieder verlassen.
Wir waren eine typische moderne jüdische Familie der dreißiger Jahre in Mitteleuropa. Mein Vater hatte sich bereits vollständig an die westeuropäischen Werte und Gebräuche angepasst, obwohl er ursprünglich aus einer angesehenen Rabbiner-Familie stammte. Zu seinen Vorfahren zählte ein weiser Thora-Gelehrter namens Meshulam Rath, der Namensgeber für unseren Rabbiner-Onkel und auch für meinen Bruder Meshulam (Maximilian). Rabbiner Meshulam Rath, eigentlich ein Cousin unseres Vaters, lebte vor dem Zweiten Weltkrieg in zwei kleinen Städten in Galizien und der Bukowina, Tschortkow und Chorsokow. Den Krieg überlebte er als Rabbiner in Czernowitz. Im Sommer 1946 kam er mit seiner Familie mit der Bahn aus Rumänien über die Türkei, Syrien und den Libanon nach Palästina. Seine Tochter Surka kannte ich aus meiner Kindheit, da sie uns einige Male in Wien besucht hatte und mir immer kleine Geschenke brachte. Gemeinsam mit vielen seiner chassidischen Anhänger, die lange schwarze Kaftane und breite Hüte trugen, erwartete ich in Rosch Hanikra, der Grenzstation zwischen dem Libanon und Palästina, mit großer Neugier die Familie meines Onkels. Ich war der Einzige ohne Kopfbedeckung in der Menge, die den angesehenen Rabbiner bei seiner Ankunft im Land Israel begrüßen wollten. Obwohl sein langer weißer Bart sein schmales Gesicht prägte, konnte ich die Gesichtszüge der Rath-Fried-Familie deutlich erkennen. Ich begleitete meinen neu gefundenen Onkel und seine Familie im Zug die kurze Strecke nach Haifa, wo ihre Station in Palästina war.
Rabbiner Meshulam Rath war streng religiös-orthodox, in seiner Weltanschauung jedoch fortschrittlich. So versuchte er auch strenge religiöse Bräuche der modernen Lebenswirklichkeit anzupassen. Seine pro-zionistische Einstellung machte ihn sehr unbeliebt in den Kreisen der ultraorthodoxen Partei Agudat Jisra'el, die damals in Polen sehr stark war, und behinderte seine rabbinische Karriere. Doch im jüdischen Palästina und nachher in Israel beantwortete er öfters schwierige talmudische Fragen für den langjährigen Oberrabbiner Yitzhak Halevy Herzog, den Vater von Israels Staatpräsidenten Chaim Herzog. Die jüdischen Rechtssprüche von Rabbiner Meshulam Rath sind in einem großen Sammelband unter dem Titel »Kol Hamewasser« (Die Stimme des Verkünders) erschienen. Einer der Brüder des Rabbiners, Moses Rath, der während des Ersten Weltkriegs ebenfalls aus Kolomiya nach Wien kam, hat das erste große hebräisch-deutsche Lehrbuch »Sfat Amenu« (Die Sprache unseres Volkes) verfasst und herausgegeben.
Für unser Wiener Alltagsleben aber spielte der Einfluss der Omama Frimtsche eine deutlich größere Rolle. Sie vermittelte uns die religiösen Traditionen. Freitagabend zündete sie die Schabbatkerzen an. Unser Vater sprach mehrmals den Segensspruch über den Wein und das traditionelle geflochtene Weißbrot, die »Challes«. Es gab natürlich auch »Gefilte Fisch« als Vorspeise und Hühnersuppe mit Nudeln. An den jüdischen Pessach-Feiertagen wechselte unsere treue Köchin und Haushälterin Mizzi mit der Großmutter das gesamte Geschirr aus. In den großen Kredenzen im Speisezimmer bewahrten wir das Jahr über Porzellan und Besteck für Pessach auf. Die Alltagstöpfe und Pfannen wurden mit siedendem Wasser koscher gemacht. Unser Vater hielt die Pessach-Feiertage jedes Jahr streng ein: Wie in der Diaspora üblich, feierten wir zwei Seder-Abende. Es wurde meist die ganze Hagadah gelesen - die Geschichte des Auszugs der Kinder Israel aus Ägypten - und ich, als der jüngste Bub, musste schon mit sechs Jahren die vier »Ma-Nischtana«- Fragen stellen: »Warum ist diese Nacht anders als alle Nächte?« Der zweite Teil des Seder-Abends, nach der üppigen Mahlzeit mit zwei Gläsern Wein oder Traubensaft für die Kinder, war dann lockerer und meist den traditionellen Liedern aus der Hagadah gewidmet.
Freitagabend und an den Feiertagen besuchten wir in der Regel den Müllnertempel in der Grünentorgasse, Ecke Müllnergasse, der in der Pogromnacht 1938 vollständig zerstört wurde. Dort wirkte Rabbiner Arthur Zacharias Schwarz, der Schwiegervater von Teddy Kollek, dem späteren Bürgermeister Jerusalems. Der Müllnertempel galt als konservativ und modern zugleich. Freitagabend wurde der erste Teil des Schabbatgebets, in dem die »Schabbatbraut« empfangen wird, mit Orgel und Chor begleitet. Die Gebetssprache war prononciert aschkenasisch, im Gegensatz zur sephardischen Aussprache, die wir im modernen, gesprochenen Hebräisch benutzen. Unsere streng fromme Omama Frimtsche betete mit meinem Bruder öfters in der kleinen »Schil« (jiddisch für Schule, ein kleines Gebetshaus) in der Stroheckgasse. Aus lauter Frömmigkeit band sie sich den Hausschlüssel am Schabbat mit einem Taschentuch an den Arm, damit nur ja alle Taschen leer blieben. Womöglich hätte sie sonst vielleicht einen Groschen in einer Tasche behalten und wäre in Versuchung geraten, etwas einzukaufen. Man sollte am Schabbat auch nichts tragen.
Omama Frimtsche legte Wert auf eine streng koschere Küche. Außerhalb des Hauses allerdings aßen wir öfters in gewöhnlichen Kaffeehäusern und Restaurants und durften auch am Schabbat mit der Straßenbahn fahren. Allerdings hatte mein Bruder Maxi unter dem Einfluss von Omama Frimtsche einige Jahre lang eine strengere fromme Phase und bestand darauf, nur koscheres Fleisch zu essen. Bei der Wahl eines Ortes für unsere alljährliche zweimonatige Sommerfrische war es ausschlaggebend, ob und von wo man koscheres Fleisch beziehen konnte. Ich hingegen machte mir keine Sorgen darüber und mokierte mich öfter über meinen Bruder, den ich »kuscheren Moische« nannte.
Von 1930 bis 1934 besuchte ich die Schubertschule in der Grünentorgasse, eine Volksschule, an der schon Franz Schubert unterrichtet hatte. Da ich vor dem 15. Januar geboren war, mussten wir beim Bezirksschulrat um Genehmigung ansuchen, dass ich schon vier Monate vor meinem sechsten Geburtstag in die Schule gehen konnte. Unsere Klassenlehrerin in den vier Volksschulklassen war Marie Blesson. Sie arbeitete nach Pestalozzi-Methoden und hatte mit ihrer gütigen und kenntnisreichen Persönlichkeit eine sehr positive Wirkung auf alle Schulkinder in den prägenden ersten Schuljahren. Für mich wurde sie zu einer Art Mutterersatz. Ich war sehr überrascht, als 2006 eine Rundfunkjournalistin, deren Kind ebenfalls in der Schubertschule in der Grünentorgasse gelernt hatte, mir sehr persönliche Zeugnisse von mir und von meinem Bruder überreichte; sie hatte im Archiv des Bezirksamts Alsergrund die alten Fragebogen gefunden, mittels denen mein Vater und die Klassenlehrerin Marie Blesson in allen vier Volksschuljahren gegenüber dem Schulamt über unseren Entwicklungsstand berichteten. Zunächst war ich etwas schockiert, welch tiefen Einblick sie in die Gefühle und Gedankenwelt meiner Kinderjahre geben, heute schätze ich dieses Dokument allerdings aus zweierlei Gründen: Zum einen belegt es, wie fortschrittlich die damalige Wiener Grundschulpädagogik ausgerichtet war, zum anderen zeigt es mir, dass etliche Eigenschaften, die ich als sehr charakteristisch für mich empfinde, schon in frühester Kindheit angelegt waren. So attestiert mir der Fragebogen etwa ein »vorzügliches Gedächtnis«. Weiter heißt es: »(Das Kind) behält das Gelernte dauernd, beobachtet sehr genau, bemerkt jedes Detail, arbeitet ausdauernd, bringt häufig eigene Gedanken, verbessert seine Klassenkameraden [...] ist schlagfertig.« Außerdem sah Marie Blesson in mir ein heiteres Kind - allerdings »liebesbedürftig« und »sehr zugänglich für Lob«. Und über die häusliche Lage nach dem Tod meiner Mutter schreibt sie: »Das Kind wird von der Großmutter, die seit dem Tode der Mutter mit einem ›Fräulein‹ die Erziehung leitet, sehr verwöhnt.« Es mag an dieser großmütterlichen Verwöhnung gelegen haben, dass ich ein besonders dicker Bub war. Zwei- bis dreimal wöchentlich bereitete die Gouvernante in der häuslichen Badewanne einen höllischen Schwefelsud, in dem ich zum Abnehmen eine gute halbe Stunde schmoren musste - er hat seine Wirkung nicht verfehlt.
Bis Anfang der dreißiger Jahre musste unsere Familie die polnische Staatsbürgerschaft behalten, da unsere Eltern beide im polnisch-galizischen Teil der Monarchie geboren waren. Auch in den zitierten Schulfragebogen findet sich in der Rubrik »Staatsbürgerschaft und Heimatberechtigung « für meine Person der Eintrag: »Kolomea, Polen«. Obwohl mein Vater im Ersten Weltkrieg in der k.u.k. Armee auch in Wien gedient und sich in Wien niedergelassen hatte, wurde das von der Ersten Republik nicht als Berechtigung für die österreichische Staatsbürgerschaft anerkannt. Das bedeutete auch, dass er für uns ein sehr hohes Schulgeld zahlen musste, bis wir im Jahr 1931 österreichische Staatsbürger werden konnten.
An das Jahr 1931 erinnere ich mich aber aus einem anderen Grund: Im Sommer jenes Jahres fuhren wir für zwei Monate in die Sommerfrische nach Spital am Semmering, wo unser Vater ein Haus in der Nähe der Eisenbahn gemietet hatte. Ich liebte es, die Waggons der Güterzüge zu zählen, die in beiden Richtungen von der Steiermark nach Wien und zurück langsam über den Berg fuhren, und führte Strichlisten darüber, welche Züge die längsten waren. Die Gouvernante des Sommers 1931 war Laura Korn, die ich schon deshalb besonders mochte, weil sie denselben Vornamen trug wie meine verstorbene Mutter. An den Wochenenden besuchte uns auch ihr Freund Bruno Völkel, ein begeisterter Wanderer. Gemeinsam gingen wir sonntags zur Jause in eines der Gasthäuser in der Nähe. Bis heute steht mir Bruno mit seiner damals seltenen Brille ohne Rahmen, seinen hohen Wanderschuhen, kurzen Lederhosen und langen weißen oder grünen Stutzen vor Augen. An einem dieser Sonntage, an dem unser Vater nicht zu Besuch war, sagte Bruno zu meinem Bruder und zu mir: »Heute werden wir zur Jause nach Steinhaus wandern.« Das kleine Dorf lag etwa fünf Kilometer entfernt. Dieser Ausflug von Spital am Semmering nach Steinhaus hat mich tief geprägt. Zum ersten Mal ging ich von einem Ort zum anderen - und auf einmal erschloss sich mir die unglaubliche Freiheit des Menschen, zu bleiben oder zu gehen. Jederzeit, an jeden Ort. Bis dahin wusste ich, dass man von einem Ort zu einem anderen fährt und dabei abhängig ist von anderen Menschen oder von Transportmitteln, von der Bahn, der Kutsche, dem Auto oder dem Autobus. Noch Wochen später berichtete ich meinen Freunden und Verwandten begeistert: »Wir sind von einem Ort zum anderen gegangen.« Mein Leben lang habe ich diese Freiheit ausgiebig ausgekostet, über Tausende von Kilometern bin ich in meinem Erwachsenenleben allein im Auto gereist, frei und selbstbestimmt.
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Mein Vater meldete sich am Anfang des Ersten Weltkriegs zum österreichischen Militär. Er hatte gerade seine Matura an einem deutschsprachigen Gymnasium in Kolomiya abgelegt und landete, da er körperlich eher schmächtig war, als Beamter im Kriegsministerium in Wien. Warum meine Mutter von Stryj nach Wien ging, weiß ich nicht. Beide Familien kannten sich schon in Galizien, doch lernten die Eltern einander erst während des Weltkriegs in Wien näher kennen und heirateten nach Kriegsende. Im November 1921 kam mein Bruder Maximilian (»Maxi«) zur Welt, ich gut drei Jahre später, am 6. Jänner 1925, dem Tag der Heiligen Drei Könige, sodass mein Geburtstag im katholischen Österreich immer ein schulfreier Tag war. Nach dem hebräischen (jüdischen) Mondkalender fiel mein Geburtstag auf den zehnten Tag des Monats Tewet, ein Fasttag für streng Religiöse, da an diesem Tag die erste Stadtmauer Jerusalems an die Römer gefallen ist.
Wir wohnten zunächst im 8. Bezirk in der Piaristengasse 46, um die Ecke des Theaters in der Josefstadt. Mein Bruder behauptet sich erinnern zu können, wie unser Vater im Taxi mit einem kleinen Bündel nach Hause kam, in dem ich mich befand. Einige Monate nach meiner Geburt zogen wir in die Porzellangasse 50 im 9. Bezirk in der Nähe des Franz-Josefs-Bahnhofs. Mein Vater und sein zehn Jahre älterer Bruder Jakob Fried (obwohl sie leibliche Brüder waren, trugen sie wegen eines Irrtums der österreichischen Magistratsbehörden in Kolomiya verschiedene Familiennamen) hatten zusammen eine Papiergroßhandelsfirma, Fried & Rath, gegründet, die sich vorerst in einem kleinen Geschäft in der Innenstadt befand. Nach einigen Jahren übersiedelten sie in größere Geschäftsräume gegenüber dem Kriegsministerium in der Wiesingerstraße. Ich erinnere mich, wie ich als Kind auf dem Warenaufzug gespielt habe, der große Papierballen von den Lieferwagen auf der Straße zu den Lagerräumen im Keller brachte. Als Belohnung für meine »Hilfe« in den Lagerräumen durfte ich im Kaffeehaus gegenüber eine Linzertorte oder ein Baiser mit Schlagobers bestellen.
Das Geschäft scheint ziemlich gutgegangen zu sein, da mein Vater und mein Onkel in den späteren zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre von ihren Gewinnen in Berlin investieren konnten. Sie kauften fünf Mietshäuser. Allerdings stritten sie häufig, mein Vater war anscheinend der ungeduldigere und manchmal jähzornige jüngere Bruder. Schon als Kind fühlte ich mich meinem gütigen »Onkel Jakub« sehr verbunden. Der wiederholte Streit führte Anfang der dreißiger Jahre auch zur geschäftlichen Trennung der beiden, obwohl die Firma ihren Namen Fried & Rath bis zum Ende, nach dem »Anschluss« im März 1938, beibehielt. Von seinem Anteil an der Papiergroßhandelsfirma kaufte Jakob Fried Anfang der dreißiger Jahre eine große Pelzgerberei namens Schlammerdinger in der Muthgasse im 19. Bezirk. Dieses Geschäft hielt sich aber nicht lange; 1935, als Hitler in Deutschland bereits an der Macht war, zogen Onkel Jakob und seine Frau Bassia mit ihren Töchtern Dolly und Lore nach Berlin, um dort die Häuser der Familie zu verwalten. Das Haus in der Muthgasse blieb in seinem Besitz und wurde 1939 von den Nazis zwangsversteigert. Bis heute ist es nicht in den Besitz seiner Familie zurückgelangt, obwohl alle Urkunden dieses Zwangsverkaufs vorhanden sind. So wissen wir, dass ein Architekt namens Pichler 17 100 Reichsmark für das Haus gezahlt hat, zuzüglich eines »Entjudungszuschlags« von 1800 Reichsmark an die Gestapo. In Österreich aber kann ein Grundstück an die ursprünglichen jüdischen Inhaber und ihre Erben nur dann zurückerstattet werden, wenn es im Besitz der Stadt oder des Landes Wien oder des Bundes ist. Bis heute profitieren also die Nachkommen der Ariseure von damals.
Meine erste konkrete Kindheitserinnerung ist zugleich eine der traurigsten meines Lebens: Während der Pessachfeiertage im April 1929 starb meine Mutter. Trotz meines guten Gedächtnisses habe ich überhaupt keine Erinnerung an sie und kann mir ihre Gestalt nicht vorstellen. Das einzige Bild, das ich von ihr habe, stammt aus dem schwarz gebundenen Traueralbum, das die jüdische »Chewra Kadischa«, die Beerdigungsgesellschaft, nach ihrem Tod der Familie übergeben hat. Es muss eines der letzten Fotos meiner Mutter sein, denn es zeigt ziemlich deutlich ihr geschwollenes Gesicht und ihren dicken Hals, die charakteristischen Symptome der Basedowschen Krankheit. Die damit verbundene Störung der Schilddrüse und des Stoffwechsels kann zu tiefer Depression führen und war damals noch nicht wirksam zu behandeln. Doch erinnere ich mich gut an den Tag, an dem das Unglück geschah: Wir beiden Kinder, mein siebeneinhalbjähriger Bruder Maxi und ich mit meinen vier Jahren und bald vier Monaten, waren mit unserer Gouvernante im sogenannten Beserlpark am Franz-Josefs-Bahnhof unterwegs, weil die Familie ein feierliches Mittagessen zum achtzehnten Geburtstag unserer Cousine Dolly vorbereitete. Plötzlich kam unsere Köchin ganz aufgeregt zu uns und flüsterte unserer Gouvernante etwas ins Ohr. Beide begannen fürchterlich zu weinen; darauf fuhren wir mit der Gouvernante mit der Straßenbahn zur Wohnung unseres Onkels Jakob in der Kaiserstraße im 7. Bezirk, wo wir einige Wochen blieben. Wir Buben hatten natürlich keine Ahnung, warum wir jetzt bei Onkel Jakob und seiner Familie wohnen sollten. Erst vierzig Jahre später, bei Dollys erstem Besuch in Israel, erzählte sie mir die dramatischen Ereignisse an diesem fürchterlichsten Tag meines Lebens. Dolly war mit der Straßenbahn zu unserem Haus gefahren und hatte schon beim Aussteigen den Rettungswagen und viel Polizei gesehen, die den Eingang zu unserem Haus sperrten. Als sie darauf bestand, als enge Verwandte der Familie Rath Zutritt in das Haus zu erhalten, erfuhr sie, was Schreckliches geschehen war. Kurz vor dem geplanten Geburtstagsessen war unsere Mutter plötzlich in den dritten Stock hinaufgerannt und hatte sich durch ein Fenster in den Hof des Hauses gestürzt. Sie war sofort tot. Für uns Kinder hieß es damals, unsere Mutter Laura sei an Lungenentzündung erkrankt und im Krankenhaus, wo wir sie nicht besuchen dürften. Ein ganzes Jahr lang hat man mich belogen, was man einemaufgeweckten Kind, wie ich eines war, nicht antun sollte.
Am ersten Todestag meiner Mutter durfte ich mit der Familie zur Enthüllung des Grabsteins auf dem jüdischen Friedhof am vierten Tor des Zentralfriedhofs mitkommen. Es ist ein riesiger Friedhof mit vielen tausend jüdischen Gräbern, die die Nazizeit und den Krieg überdauert haben. Ich habe nie verstanden, wieso die Nazis Millionen von jüdischen Menschen grausam ermordeten, jüdische Friedhöfe aber verschonten. Der ursprüngliche Grabstein meiner Mutter war eine runde, weißgraue Marmorsäule, in der Mitte schräg abgesägt, ein Symbol für ein frühzeitig abgeschnittenes Leben. Während der letzten Kämpfe um die Befreiung Wiens wurde dieser Grabstein von einem Kanonenschuss schwer beschädigt. Mein Bruder ließ ihn bei seinem ersten Besuch in Wien nach dem Krieg im Dezember 1947 durch einen einfachen, rechteckigen grauen Grabstein ersetzen. Wann immer ich in Wien bin, besuche ich das Grab meiner Mutter. Ich lege einen kleinen Stein auf ihr Grab und stelle einen Blumentopf hin, den ich am zweiten Tor kaufen muss, denn am Eingang zum jüdischen Friedhof gibt es keine Blumenläden - es kommen zu wenige Besucher hin. Ich trage dann immer mein kleines schwarzes Trauergebetbuch bei mir und spreche das traditionelle hebräisch-aramäische Trauergebet, das Kaddisch. Es beginnt mit den Worten »Jit'gadal wejitkadasch sch'me rabba« (Erhoben und geheiligt sei Sein großer Name). Eigentlich handelt es sich um ein Ruhmgebet: Gott, der Allmächtige wird hier in herrlichen Adjektiven angerufen und als derjenige gerühmt, der »Frieden in seinen Höhenmacht und Frieden auf uns und auf ganz Israel bringen wird«. Das Kaddisch bringt keine persönliche Trauer zum Ausdruck. Deshalb bete ich auch immer »El male rachamim«, ein Gebet, das an den Gott voller Barmherzigkeit gerichtet ist und den Namen der oder des Verstorbenen nennt, für dessen ewige Ruhe im Himmelreich Gottes wir bitten.
Der frühe Tod meiner Mutter Laura, der den Verlust der wichtigsten Person in meinem Leben bedeutete, hat mich sehr geprägt und zweifellos mein Verhältnis zu Frauen bestimmt. Unmittelbar nach der Beerdigung zog Omama Frimtsche bei uns ein, meine Großmutter mütterlicherseits. Sie war eine liebevolle, großherzige Frau, aber die Mutterliebe konnte sie nicht ersetzen. Ich war ein Kind, das nie »Mama« sagen konnte. Der Begriff »Mutter« war für mich ein düsteres Grab. Überhaupt fehlte mir neben Omama Frimtsche eine ständige weibliche Bezugsperson, denn auch die Gouvernanten wechselten ständig. Kaum hatte ich mich an eine ein wenig gewöhnt, musste sie schon wieder weggehen. Mein eher verwöhnter und jedem Sport abgeneigter Bruder beschwerte sich bei unserem Vater so eindringlich über die Gouvernanten, die ihn in der Sommerfrische zum Bergsteigen oder Schwimmen gezwungen hätten, dass mein Vater immer nachgab. Ungeduldig, wie er war, wollte er wohl einfach seine Ruhe haben und kündigte die Gouvernante, bis die nächste kam. In sieben Jahren hatten wir mindestens sieben. Schon als Kind musste ich mich daran gewöhnen, mich nicht zu fest an Frauen zu binden, da ich immer fürchtete, sie würden mich bald wieder verlassen.
Wir waren eine typische moderne jüdische Familie der dreißiger Jahre in Mitteleuropa. Mein Vater hatte sich bereits vollständig an die westeuropäischen Werte und Gebräuche angepasst, obwohl er ursprünglich aus einer angesehenen Rabbiner-Familie stammte. Zu seinen Vorfahren zählte ein weiser Thora-Gelehrter namens Meshulam Rath, der Namensgeber für unseren Rabbiner-Onkel und auch für meinen Bruder Meshulam (Maximilian). Rabbiner Meshulam Rath, eigentlich ein Cousin unseres Vaters, lebte vor dem Zweiten Weltkrieg in zwei kleinen Städten in Galizien und der Bukowina, Tschortkow und Chorsokow. Den Krieg überlebte er als Rabbiner in Czernowitz. Im Sommer 1946 kam er mit seiner Familie mit der Bahn aus Rumänien über die Türkei, Syrien und den Libanon nach Palästina. Seine Tochter Surka kannte ich aus meiner Kindheit, da sie uns einige Male in Wien besucht hatte und mir immer kleine Geschenke brachte. Gemeinsam mit vielen seiner chassidischen Anhänger, die lange schwarze Kaftane und breite Hüte trugen, erwartete ich in Rosch Hanikra, der Grenzstation zwischen dem Libanon und Palästina, mit großer Neugier die Familie meines Onkels. Ich war der Einzige ohne Kopfbedeckung in der Menge, die den angesehenen Rabbiner bei seiner Ankunft im Land Israel begrüßen wollten. Obwohl sein langer weißer Bart sein schmales Gesicht prägte, konnte ich die Gesichtszüge der Rath-Fried-Familie deutlich erkennen. Ich begleitete meinen neu gefundenen Onkel und seine Familie im Zug die kurze Strecke nach Haifa, wo ihre Station in Palästina war.
Rabbiner Meshulam Rath war streng religiös-orthodox, in seiner Weltanschauung jedoch fortschrittlich. So versuchte er auch strenge religiöse Bräuche der modernen Lebenswirklichkeit anzupassen. Seine pro-zionistische Einstellung machte ihn sehr unbeliebt in den Kreisen der ultraorthodoxen Partei Agudat Jisra'el, die damals in Polen sehr stark war, und behinderte seine rabbinische Karriere. Doch im jüdischen Palästina und nachher in Israel beantwortete er öfters schwierige talmudische Fragen für den langjährigen Oberrabbiner Yitzhak Halevy Herzog, den Vater von Israels Staatpräsidenten Chaim Herzog. Die jüdischen Rechtssprüche von Rabbiner Meshulam Rath sind in einem großen Sammelband unter dem Titel »Kol Hamewasser« (Die Stimme des Verkünders) erschienen. Einer der Brüder des Rabbiners, Moses Rath, der während des Ersten Weltkriegs ebenfalls aus Kolomiya nach Wien kam, hat das erste große hebräisch-deutsche Lehrbuch »Sfat Amenu« (Die Sprache unseres Volkes) verfasst und herausgegeben.
Für unser Wiener Alltagsleben aber spielte der Einfluss der Omama Frimtsche eine deutlich größere Rolle. Sie vermittelte uns die religiösen Traditionen. Freitagabend zündete sie die Schabbatkerzen an. Unser Vater sprach mehrmals den Segensspruch über den Wein und das traditionelle geflochtene Weißbrot, die »Challes«. Es gab natürlich auch »Gefilte Fisch« als Vorspeise und Hühnersuppe mit Nudeln. An den jüdischen Pessach-Feiertagen wechselte unsere treue Köchin und Haushälterin Mizzi mit der Großmutter das gesamte Geschirr aus. In den großen Kredenzen im Speisezimmer bewahrten wir das Jahr über Porzellan und Besteck für Pessach auf. Die Alltagstöpfe und Pfannen wurden mit siedendem Wasser koscher gemacht. Unser Vater hielt die Pessach-Feiertage jedes Jahr streng ein: Wie in der Diaspora üblich, feierten wir zwei Seder-Abende. Es wurde meist die ganze Hagadah gelesen - die Geschichte des Auszugs der Kinder Israel aus Ägypten - und ich, als der jüngste Bub, musste schon mit sechs Jahren die vier »Ma-Nischtana«- Fragen stellen: »Warum ist diese Nacht anders als alle Nächte?« Der zweite Teil des Seder-Abends, nach der üppigen Mahlzeit mit zwei Gläsern Wein oder Traubensaft für die Kinder, war dann lockerer und meist den traditionellen Liedern aus der Hagadah gewidmet.
Freitagabend und an den Feiertagen besuchten wir in der Regel den Müllnertempel in der Grünentorgasse, Ecke Müllnergasse, der in der Pogromnacht 1938 vollständig zerstört wurde. Dort wirkte Rabbiner Arthur Zacharias Schwarz, der Schwiegervater von Teddy Kollek, dem späteren Bürgermeister Jerusalems. Der Müllnertempel galt als konservativ und modern zugleich. Freitagabend wurde der erste Teil des Schabbatgebets, in dem die »Schabbatbraut« empfangen wird, mit Orgel und Chor begleitet. Die Gebetssprache war prononciert aschkenasisch, im Gegensatz zur sephardischen Aussprache, die wir im modernen, gesprochenen Hebräisch benutzen. Unsere streng fromme Omama Frimtsche betete mit meinem Bruder öfters in der kleinen »Schil« (jiddisch für Schule, ein kleines Gebetshaus) in der Stroheckgasse. Aus lauter Frömmigkeit band sie sich den Hausschlüssel am Schabbat mit einem Taschentuch an den Arm, damit nur ja alle Taschen leer blieben. Womöglich hätte sie sonst vielleicht einen Groschen in einer Tasche behalten und wäre in Versuchung geraten, etwas einzukaufen. Man sollte am Schabbat auch nichts tragen.
Omama Frimtsche legte Wert auf eine streng koschere Küche. Außerhalb des Hauses allerdings aßen wir öfters in gewöhnlichen Kaffeehäusern und Restaurants und durften auch am Schabbat mit der Straßenbahn fahren. Allerdings hatte mein Bruder Maxi unter dem Einfluss von Omama Frimtsche einige Jahre lang eine strengere fromme Phase und bestand darauf, nur koscheres Fleisch zu essen. Bei der Wahl eines Ortes für unsere alljährliche zweimonatige Sommerfrische war es ausschlaggebend, ob und von wo man koscheres Fleisch beziehen konnte. Ich hingegen machte mir keine Sorgen darüber und mokierte mich öfter über meinen Bruder, den ich »kuscheren Moische« nannte.
Von 1930 bis 1934 besuchte ich die Schubertschule in der Grünentorgasse, eine Volksschule, an der schon Franz Schubert unterrichtet hatte. Da ich vor dem 15. Januar geboren war, mussten wir beim Bezirksschulrat um Genehmigung ansuchen, dass ich schon vier Monate vor meinem sechsten Geburtstag in die Schule gehen konnte. Unsere Klassenlehrerin in den vier Volksschulklassen war Marie Blesson. Sie arbeitete nach Pestalozzi-Methoden und hatte mit ihrer gütigen und kenntnisreichen Persönlichkeit eine sehr positive Wirkung auf alle Schulkinder in den prägenden ersten Schuljahren. Für mich wurde sie zu einer Art Mutterersatz. Ich war sehr überrascht, als 2006 eine Rundfunkjournalistin, deren Kind ebenfalls in der Schubertschule in der Grünentorgasse gelernt hatte, mir sehr persönliche Zeugnisse von mir und von meinem Bruder überreichte; sie hatte im Archiv des Bezirksamts Alsergrund die alten Fragebogen gefunden, mittels denen mein Vater und die Klassenlehrerin Marie Blesson in allen vier Volksschuljahren gegenüber dem Schulamt über unseren Entwicklungsstand berichteten. Zunächst war ich etwas schockiert, welch tiefen Einblick sie in die Gefühle und Gedankenwelt meiner Kinderjahre geben, heute schätze ich dieses Dokument allerdings aus zweierlei Gründen: Zum einen belegt es, wie fortschrittlich die damalige Wiener Grundschulpädagogik ausgerichtet war, zum anderen zeigt es mir, dass etliche Eigenschaften, die ich als sehr charakteristisch für mich empfinde, schon in frühester Kindheit angelegt waren. So attestiert mir der Fragebogen etwa ein »vorzügliches Gedächtnis«. Weiter heißt es: »(Das Kind) behält das Gelernte dauernd, beobachtet sehr genau, bemerkt jedes Detail, arbeitet ausdauernd, bringt häufig eigene Gedanken, verbessert seine Klassenkameraden [...] ist schlagfertig.« Außerdem sah Marie Blesson in mir ein heiteres Kind - allerdings »liebesbedürftig« und »sehr zugänglich für Lob«. Und über die häusliche Lage nach dem Tod meiner Mutter schreibt sie: »Das Kind wird von der Großmutter, die seit dem Tode der Mutter mit einem ›Fräulein‹ die Erziehung leitet, sehr verwöhnt.« Es mag an dieser großmütterlichen Verwöhnung gelegen haben, dass ich ein besonders dicker Bub war. Zwei- bis dreimal wöchentlich bereitete die Gouvernante in der häuslichen Badewanne einen höllischen Schwefelsud, in dem ich zum Abnehmen eine gute halbe Stunde schmoren musste - er hat seine Wirkung nicht verfehlt.
Bis Anfang der dreißiger Jahre musste unsere Familie die polnische Staatsbürgerschaft behalten, da unsere Eltern beide im polnisch-galizischen Teil der Monarchie geboren waren. Auch in den zitierten Schulfragebogen findet sich in der Rubrik »Staatsbürgerschaft und Heimatberechtigung « für meine Person der Eintrag: »Kolomea, Polen«. Obwohl mein Vater im Ersten Weltkrieg in der k.u.k. Armee auch in Wien gedient und sich in Wien niedergelassen hatte, wurde das von der Ersten Republik nicht als Berechtigung für die österreichische Staatsbürgerschaft anerkannt. Das bedeutete auch, dass er für uns ein sehr hohes Schulgeld zahlen musste, bis wir im Jahr 1931 österreichische Staatsbürger werden konnten.
An das Jahr 1931 erinnere ich mich aber aus einem anderen Grund: Im Sommer jenes Jahres fuhren wir für zwei Monate in die Sommerfrische nach Spital am Semmering, wo unser Vater ein Haus in der Nähe der Eisenbahn gemietet hatte. Ich liebte es, die Waggons der Güterzüge zu zählen, die in beiden Richtungen von der Steiermark nach Wien und zurück langsam über den Berg fuhren, und führte Strichlisten darüber, welche Züge die längsten waren. Die Gouvernante des Sommers 1931 war Laura Korn, die ich schon deshalb besonders mochte, weil sie denselben Vornamen trug wie meine verstorbene Mutter. An den Wochenenden besuchte uns auch ihr Freund Bruno Völkel, ein begeisterter Wanderer. Gemeinsam gingen wir sonntags zur Jause in eines der Gasthäuser in der Nähe. Bis heute steht mir Bruno mit seiner damals seltenen Brille ohne Rahmen, seinen hohen Wanderschuhen, kurzen Lederhosen und langen weißen oder grünen Stutzen vor Augen. An einem dieser Sonntage, an dem unser Vater nicht zu Besuch war, sagte Bruno zu meinem Bruder und zu mir: »Heute werden wir zur Jause nach Steinhaus wandern.« Das kleine Dorf lag etwa fünf Kilometer entfernt. Dieser Ausflug von Spital am Semmering nach Steinhaus hat mich tief geprägt. Zum ersten Mal ging ich von einem Ort zum anderen - und auf einmal erschloss sich mir die unglaubliche Freiheit des Menschen, zu bleiben oder zu gehen. Jederzeit, an jeden Ort. Bis dahin wusste ich, dass man von einem Ort zu einem anderen fährt und dabei abhängig ist von anderen Menschen oder von Transportmitteln, von der Bahn, der Kutsche, dem Auto oder dem Autobus. Noch Wochen später berichtete ich meinen Freunden und Verwandten begeistert: »Wir sind von einem Ort zum anderen gegangen.« Mein Leben lang habe ich diese Freiheit ausgiebig ausgekostet, über Tausende von Kilometern bin ich in meinem Erwachsenenleben allein im Auto gereist, frei und selbstbestimmt.
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Autoren-Porträt von Ari Rath
Ari Rath wurde 1925 in Wien geboren und musste im November 1938 flüchten. In Palästina, das er mit dem Kindertransport auf der »Galilea« erreichte, lebte er zunächst in einem Kibbuz. Seit 1958 war er Redakteur, seit 1975 Chefredakteur der »Jerusalem Post«. Er gehört zur Generation von Yitzhak Rabin, Teddy Kollek und Shimon Peres und war Berater von Ben-Gurion.2005 erhielt er das deutsche Bundesverdienstkreuz, 2011 das Große Ehrenzeichen der Republik Österreich.Literaturpreise:Bundesverdienstkreuz 2005Großes Ehrenzeichen der Republik Österreich 2011
Bibliographische Angaben
- Autor: Ari Rath
- 2014, 2. Aufl., 344 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596198364
- ISBN-13: 9783596198368
- Erscheinungsdatum: 25.06.2014
Kommentar zu "Ari heißt Löwe"
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