Arletty und ihr deutscher Offizier
Eine Liebe in Zeiten des Krieges
Gegen alle Widerstände - der Filmstar und der deutsche Offizier
Paris zur Zeit der deutschen Besatzung: Der Theater- und Filmstar Arletty, unvergessen als Garance in »Die Kinder des Olymp«, verliebt sich in den deutschen Offizier Hans Jürgen Soehring,...
Paris zur Zeit der deutschen Besatzung: Der Theater- und Filmstar Arletty, unvergessen als Garance in »Die Kinder des Olymp«, verliebt sich in den deutschen Offizier Hans Jürgen Soehring,...
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Produktinformationen zu „Arletty und ihr deutscher Offizier “
Klappentext zu „Arletty und ihr deutscher Offizier “
Gegen alle Widerstände - der Filmstar und der deutsche OffizierParis zur Zeit der deutschen Besatzung: Der Theater- und Filmstar Arletty, unvergessen als Garance in »Die Kinder des Olymp«, verliebt sich in den deutschen Offizier Hans Jürgen Soehring, einen Juristen, der sich nach dem Krieg als Schriftsteller versuchte, später Diplomat wurde und als Botschafter in der Republik Kongo auf dramatische Weise das Leben verlor. Die beiden verbindet eine leidenschaftliche Affäre unter den feindseligen Blicken der französischen Landsleute und der deutschen Besatzungsmacht. Doch selbst Auftrittsverbot, Hausarrest und Degradierung nach der Befreiung können ihrer Liebe nichts anhaben. Arletty, während der letzten zwanzig Jahre blind,starb hochbetagt 1992.
Eine glamouröse deutsch-französische Geschichte von Liebe und Krieg, die Klaus Harpprecht mit großer Leidenschaft und Eleganz zu erzählen weiß.
Lese-Probe zu „Arletty und ihr deutscher Offizier “
Arletty und ihr deutscher Offizier von Klaus HarpprechtA Garance
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Ihr Blick für die Merkwürdigkeiten von Gesicht und Charakter war rasch und genau, in den Jahrzehnten ihrer Theater- und Filmerfahrung geübt, früh geweckt durch das latente Misstrauen des Kindes armer Leute, geschärft durch die ironische Distanz zur Gesellschaft der Reichen und Schönen, zu der sie nun selber zählte. Sie hätte keinen Augenblick gezögert, den eleganten deutschen Offizier, der ihr in einer Konzertpause vorgestellt wurde, einen schönen Mann zu nennen: klare, klassisch geformte, ausgeprägt maskuline Züge, die sie faszinierten. Doch unverzüglich nahm sie an Hans Jürgen Soehring auch eine Besonderheit wahr, die dem harmonischen Bild widersprach: seine spitzen Ohren. Ihr fielen - gleich oder später? - die Bilder der mythischen Faune in den Künsten der Antike ein: jener lüsternen Geschöpfe, halb Mann und halb Ziegenbock, die sämtlich spitze Ohren hatten wie ihr griechischer Ahnherr Pan.
Erkannte sie in dem weltläufigen Bediensteten der Besatzungsmacht gleich von dieser ersten Begegnung an ihren ganz persönlichen Faun? Soviel ist gewiss (wie sie hernach in vertrauten Gesprächen erkennen ließ): der Austausch von Blicken, von Gesten, von Worten war für sie ein »coup du foudre«, der erotische Blitzschlag, wie die Franzosen die »Liebe auf den ersten Blick« beschreiben. Sie kannte sich in amourösen Verhältnissen aus, doch eine Anziehung von solch fast schmerzhafter Heftigkeit war ihr selten, wenn denn je, widerfahren. Sie empfand den Offizier nicht als Fremden. Er drückte sich in ihrer Sprache mit einer Selbstverständlichkeit aus, an der nichts aufgesetzt war. Nur durch den Hauch eines Akzentes gab er sich manchmal als Nicht-Franzose zu erkennen - zumal, wenn er Zivil trug, was er der Uniform vorzog, und sie erst recht, die alle Uniformen hasste.
Wer von den beiden hatte den Einfall, sie »biche« zu nennen, das Reh, das sanfte, großäugige, graziöse, stets fluchtbereite? Von ihren Filmen und von den Theater- und Revuebühnen kannte das Publikum - nicht anders als die Kollegen und Freunde - ihre provokante Modernität, ihren Witz, ihre Eigenwilligkeit, ihren offen ausgespielten Sexappeal; sie waren mit jener Mischung von Härte und Hingabe vertraut, die ihre Persönlichkeit bestimmte, vielleicht auch mit dem Schatten der Melancholie, der sie gelegentlich streifte, auch wenn sie lachte. Aber das »Reh«? Das sollte sie sein, die Aufsässige, die Unangepasste, oft Trotzige?
Alle Briefe, die sie an ihren »Faun« schrieb, unterzeichnete sie »Biche«. Ihr schien die Rolle zu gefallen. Vielleicht weil sie witterte, dass sich in der Beziehung zu diesem so männlichen Mann eine Sehnsucht erfüllen könnte, der sie niemals völlig nachgegeben hatte? So brennend diese und jene Leidenschaften in ihrer bisherigen Existenz gewesen sein mochten - sie hatte stets ihre Unabhängigkeit behauptet, selbst in den frühen Jahren, in denen sie auf die Generosität ihrer Partner angewiesen war, um ohne tägliche Sorge überleben zu können. Sie zeigte sich dankbar, wenngleich niemals unterwürfig. Von ihrer Freiheit ließ sie nicht. Nun gab es dafür erst recht keinen Anlass, denn sie war von 1937 oder 1938 an (bis zur Befreiung im Sommer 1944) die höchstbezahlte Schauspielerin des französischen Films. Nun hätte sie, wäre es notwendig gewesen, ihre Liebhaber aushalten können. Ohnehin betonte sie stets, bis ins Alter, dass sie es gewesen sei, die sich ihre lover gesucht und die Liebe kontrolliert habe - niemals umgekehrt.
Verhielt es sich mit dem Deutschen so anders? War nicht sie es, die sich ihn als »amant« gewünscht hatte, ehe er davon zu träumen wagte: der »Faun«, der immer und überall liebesbereite Frauen und Mädchen zu finden schien, obwohl er sich des Öfteren einredete, er habe in der Liebe kein Glück? In Wahrheit sagte man ihm nicht zu Unrecht nach, er sei ein »homme à femmes« - ein »Mann der Frauen«, »ein Mann, der für die Frauen lebt« - Formeln, an die man im Deutschen nicht gewohnt war. Unter Soehrings Landsleuten sprach man eher täppisch von »Weiberhelden«, von »Schürzenjägern«, von »Herzensbrechern«, heutzutage in banalem Amerikanisch von »womenizer«.
Die Zurückhaltung, die Arletty sich auferlegte, wenn sie einander in den folgenden Wochen über den Weg liefen, tarnte ihren diskreten Eroberungswillen, dem Soehring zunächst mit einer seltsamen Schüchternheit begegnete, die so gar nicht der Mentalität eines Faunes entsprach. Beeindruckte es ihn bis zur Erstarrung, dass die First Lady des französischen Films ihm solch freundliche Beachtung zu schenken schien? Schließlich bot sich der Liebe ganz von selber und ohne kompliziertes Arrangement die Chance, die beide willig und ohne weiteren Umstand wahrnahmen. Davon wird später zu erzählen sein.
Der Autor dieser Zeilen sah die Arletty zum ersten Mal - es muss 1947 gewesen sein - auf der Leinwand eines Stuttgarter Kinos: in ihrem großen Film Les enfants du Paradis, der noch immer zu den Klassikern der siebten Muse zählt. Von den Kindern des Olymp wurde der Schreiber überwältigt wie niemals zuvor und selten danach von einem Werk der Filmkunst. Der Titel verwies im Französischen wie im Deutschen (nach der Gewohnheit des neunzehnten Jahrhunderts) auf das Publikum des letzten Ranges im Theater, auf die armen Schlucker, die Studenten, die Dienstmädchen, die Lehrlinge, die Ladengehilfen, die sich unter dem Dachboden zusammendrängten, da sie sich nur die Stehplätze dort droben leisten konnten, allesamt passionierte Theater-Schwärmer (sofern sie nicht gekaufte Claqueure waren), die mit ihren donnernden Bravos, aber auch mit ihren röhrenden Buhs über das Geschick eines Stückes schon bei der Premiere entscheiden konnten.
Dem Film von Marcel Carné, 1945 in zwei Pariser Kinos uraufgeführt, ging ein legendärer Ruf voraus, der auch in der amerikanisch oder britisch lizenzierten Presse der westlichen Zonen Deutschlands und Berlins ein Echo fand. Die Legende bestätigte sich. Wie alle Welt war der Autor dieser Zeilen hingerissen von der Qualität, der Vitalität, der Virtuosität des Spektakels aus der Pariser Theater- und Halbwelt, von dem bunten, ja phantastischen Treiben am »Boulevard du Temple«, den man damals, in den dreißiger und vierziger Jahren des vorvergangenen Jahrhunderts »Boulevard du Crime« genannt hat. Der junge deutsche Zuschauer in der Trümmerlandschaft war verführt von der schwelgerischen Eleganz der aristokratischen Residenzen. Doch vor allem fasziniert von der hohen Kunst der Akteure, zumal von der melancholischen Komik des Mimen Baptiste, den Jean-Louis Barrault auf so bewegende Weise spielte, von Fréderick Lemaitre, dem genialen Theaterstar jener Tage, den Pierre Brasseur mit einem überschäumenden, ja ruchlosen Temperament und funkelndem Witz auferstehen ließ (er selber der Gründer einer Schauspieler-Dynastie, die nun in der dritten Generation in der Pariser Szene zu Hause ist). Die konzentrierte Aufmerksamkeit des jungen Mannes richtete sich freilich auf Arletty, die schöne Garance, deren beunruhigende Passionen die komplexe Handlung aufzusprengen drohten - und sie in Wahrheit mit sanfter Unerbittlichkeit zusammenhielten. Sie wurde seine unsterbliche Kinoliebe, niemals aus der Erinnerung gelöscht, in mehr als sechs Jahrzehnten nicht blass geworden, noch immer eine Lockung für unverwelkte Sehnsüchte und Phantasien: die großen dunklen Augen, die am liebsten lachten und sich dennoch in Traurigkeiten verlieren konnten, die schimmernde Haut der Schultern und des Décolletés, das amüsierte Spiel der Mundwinkel, wenn sie aus ihrer Loge die Freunde und Flirts aus den eigenen Jahren im Gewerbe der Schausteller beobachtete, die kleinen Gesten der Kameraderie, die gelassene Anmut, die natürliche Noblesse der Bewegungen dieser Courtisane hohen Ranges, zur Maitresse ihres unbeirrbaren Verehrers, des Grafen Edouard de Montray aufgestiegen.
Der französische Film der Nachkriegsepoche genoss eine hohe Reputation, die später von dem internationalen Applaus für die Produktionen des italienischen »Neoverismo« beiseitegedrängt wurde. Damals, in den ersten Jahren nach der deutschen Kapitulation, schien die französische Militärverwaltung in ihrem Okkupations-Gebiet eine Strategie zu verfolgen, die mit der deutschen im besetzten Frankreich das eine gemein hatte: dass sie die politische Kontrolle und die Ausbeutung der Wirtschaft von Beginn an mit einer höchst aktiven Kulturpolitik überspielte. In der Tat war die Tinte unter dem Waffenstillstandsabkommen mit den Trümmerkommandeuren des Dritten Reiches noch kaum getrocknet, als die erste Pariser Theatertruppe in dem Universitätsstädtchen Tübingen auftrat (vermutlich auch in Freiburg und in Mainz), vielleicht dank der Vermittlung des erzbürgerlichen Sozialdemokraten Carlo Schmid, hernach Kulturminister des alemannischen Kunstländchens Südwürttemberg-Hohenzollern-Südbaden, der durch die Mutter ein halber Franzose war. In den Jahren der Okkupation hatte er als Kriegsrichter in Lille ohne Fehl und Tadel agiert.
Konsequenter noch als die Amerikaner, vor allem sehr viel früher, bedienten sich die französischen Kommandeure der Kulturpolitik als eines Instrumentes der Umerziehung. Vielleicht war es das wirksamste und wichtigste. Überdies lenkten die kulturellen Verwöhnungen von den Hungerrationen ab. Es war töricht, aber die französischen Offiziere sagten uns nicht, dass auch ihre Familien in Paris und anderswo partiell noch immer darbten, sich von mageren Rationen nährten, natürlich auch vom Schwarzmarkt, der üppiger blühte denn je und den Bürgern das letzte Geld aus der Tasche zog. Sie sagten auch nicht, dass viele Bürger in den großen Städten ihres Landes noch immer froren. Sie sprachen kaum davon, mit welcher Brutalität und mit welcher Systematik die Deutschen ihr Land geplündert und welche Verheerungen die amerikanischen Bombergeschwader und die Rückzugsschlachten der Wehrmacht auch in ihren Städten angerichtet hatten. Was Wunder, dass sie den Grimm der Besiegten über den sogenannten Kahlschlag im Schwarzwald als wehleidige Heuchelei betrachteten. -
Schon einmal war der Autor dem Geist Frankreichs mit einer Intensität begegnet, die ihn niemals mehr aus ihrem Bann entließ: er war vierzehn Jahre alt, vielleicht auch fünfzehn, als der Bruder seiner Klavierlehrerin, der in Paris gelebt hatte (sozusagen in erotischer Emigration), ihm Stendhals Rot und Schwarz schenkte. Er entdeckte eine Qualität des Erzählens, die er aus seiner deutschen Lektüre nicht kannte, damals nicht, als seine literarische Neugier gerade wach zu werden begann. Die schlanken Sätze, ihre verdichtete Poesie, Stendhals psychologische Sensibilität, dem Stefan Zweig (wie er später las) »kluge Nerven« attestierte, die nur halb verborgenen erotischen Lockungen - sie sorgten für eine lebenslange Liebe zu dem schwierigen Dichter, dessen hohen Rang der alte Goethe nach der Lektüre von Le Rouge et le Noir mit bewundernswerter Wachheit bestätigt hatte. Nietzsche war der nächste große Leser des Schriftstellers Henri Beyle, der sein Pseudonym von dem deutschen Städtchen lieh, das er als Verwaltungsoffizier der napoleonischen Armee flüchtig kennengelernt hatte.
Der Arletty-Film war das zweite Frankreich-Erlebnis, das den Autor prägte (und ihm vermutlich den Weg in das Land wies, das seine zweite Heimat werden sollte). Anders als die französischen Kulturoffiziere wusste der dankbare junge Zuschauer damals nicht das Geringste von den deutschen Anfälligkeiten der Diva. Hätte ihn das davon abgehalten, sich Hals über Kopf in die Aktrice zu verlieben? Kaum. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert danach, darf er feststellen, dass sie die passionierteste seiner Kinolieben war - und es bis auf diesen Tag geblieben ist.
Nein, er wusste damals nichts von den deutschen Bindungen der Schauspielerin, die ihr nach der Befreiung so böses Ungemach bereiteten, nichts von der Existenz des Luftwaffen-Feldrichters Hans Jürgen Soehring. Er kannte auch keinen der literarischen Versuche Soehrings, der 1947 schon diese und jene kleinen Texte publiziert hatte. Im Zusammenhang mit der »Gruppe 47«, damals noch in einer Art präpubertärem Stadium, wurde sein Name nicht genannt, obschon er - schierer Zufall - zu den Gründungsmitgliedern zählte. Man hörte erst recht nichts von ihm, als dieser merkwürdige Club der unterschiedlichsten Talente (und Halbtalente) den ersten Rang in der deutschen Nachkriegsliteratur zu besetzen schien, unter Hans-Werner Richters strengem Regiment, umstritten und umjubelt, oft überschätzt, seltener unterschätzt (aber auch das kam vor). Lange Jahre danach las er, dass sich Soehring bemüht hatte, Gespräche zwischen seinen deutschen Freunden und französischen Intellektuellen zu vermitteln. Die erste Garde der Literaten Frankreichs war für ihn unerreichbar, und die deutschen Schriftsteller interessierten sich für Frankreich nur am Rande. Die Vereinigung Europas, muss bilanzierend gesagt werden, fand im Wesentlichen ohne die Intellektuellen statt. Zumal die Gruppe 47 verstand sich, trotz gelegentlicher Ausflüge in andere Länder, als nationale Institution.
Von Soehring und der Arletty darf behauptet werden, dass sie ihr privates Europa vorauslebten. Sie hätten es am liebsten von jeder Politik ferngehalten und gegen die Zeitgeschichte abgeschottet. Das ging nicht an. Vor allem Arletty erfuhr es auf bittere Weise - als ein Opfer des dramatischen Wandels, den ihr Land durchlebte und durchlitt.
Dennoch: sie war La France in seiner schönsten Gestalt. Die attraktivste, aufregendste, zugleich die herzlichste Verkörperung der femininen Genialität des Landes. Sie wusste es. Aber das hätte sie kaum dazu verführt, ihr Gesicht für die Büsten der »Marianne« auszuleihen, wie es in der fünften, der gaullistischen Republik üblich wurde, in der sich die Bürgermeistereien mit den Nationaldamen Brigitte Bardot und Catherine Deneuve schmücken durften, die jener vaterländischen Pflicht mit Entzücken gehorchten, um für die Schönheit des Landes der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit (vielmehr: der Geschwisterlichkeit) zu zeugen. Arletty hätte sich keine phrygische Mütze aufs Haupt gestülpt (ein Erkennungsmerkmal der revolutionären Geheimgesellschaften) wie die Barrikaden-Stürmerin von Delacroix. An den nackten Brüsten der revolutionären Kämpferin hätte sie sich nicht aufgehalten. Sie selber mit ihrer knabenhaften Figur wies freilich nicht die üppige Pracht auf, die es gebraucht hätte, um mit der schwelgerischen Patriotin konkurrieren zu können. Zum anderen machte sie sich nichts aus geschwungenen Fahnen. Sie hätte sich auch nicht - es sei denn auf der Bühne und in parodistischer Absicht - den Helm der Jeanne d'Arc auf die Ohren gesetzt. Ihre patriotischen Wallungen waren (um es vorsichtig zu sagen) eher gezügelt. Für Charles de Gaulle, den Befreier, brachte sie keine allzu herzlichen Gefühle auf, doch es gefiel ihr, dass Frankreich für den General nicht nur »eine gewisse Idee« war, wie er sich in einer seiner hochtönenden, nichts-und allessagenden Sentenzen ausdrückte, sondern La France gelegentlich als eine Prinzessin herbei-träumte, die aus der teutonischen Gefangenschaft zu befreien und aus der Abhängigkeit von den Supermächten zu lösen sein gottgewollter Auftrag war.
Indes, auch dieser majestätische Repräsentant der Nation und ihrer Souveränität diente schließlich - ob er sich dessen bewusst war oder auch nicht - der »List der Geschichte«, von der Hegel gesprochen und geschrieben hat. Wäre es ihm im August 1945, als er durch das befreite Paris schritt, in den Sinn gekommen, eine französisch-deutsche Gemeinschaft vorauszudenken, die der Kern einer europäischen Union sein würde? Hatte er sich nicht weit von seinem einstigen Weggenossen Jean Monnet entfernt, der in Washington mit einigen jungen amerikanischen Gehilfen die Grundrisse eines vereinten Europa entwarf, das seine Identität und seine friedenstiftende, friedensichernde Macht nur durch den schrittweisen Verzicht auf jene sakrosankte, in Wahrheit längst fiktive Souveränität gewinnen konnte, auf die sich der Generalpräsident so oft berief? Beugte sich de Gaulle beim Abschluss des Elysée-Vertrages über die deutsch-französische Kooperation, der seit fast einem halben Jahrhundert Bestand hat, nicht entschlossen jener historischen Logik, der er lang genug den Weg zu verstellen versucht hatte?
Nein, keiner, der sich im Mai 1945 als Überlebender wiederfand, hätte es gewagt, öffentlich vom Traum einer Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen zu reden. (Im privaten Zirkel mochte Konrad Adenauer, der einstige und künftige Bürgermeister von Köln, solch kühne Visionen vielleicht in Stichworten andeuten. Er hatte diesem Ziel schon in der ersten Republik entgegengestrebt, im Zeichen der Strategie des Ausgleichs, die der französische Außenminister Aristide Briand und sein deutscher Partner Gustav Stresemann miteinander verfolgten.) Der Wandel, der von den Mutigen trotz des Vernichtungskrieges der nazistischen Diktatur im Geheimen noch immer erhofft wurde, setzte Freiheit voraus: die Freiheit der Gedanken, die Freiheit der Debatte, schließlich die Freiheit der Entscheidung, die Freiheit des Handelns.
Freiheit. Als am achten Mai 1945 dem großen Morden und dem großen Sterben (partiell) Einhalt geboten wurde, erreichte auch die Deutschen im Elend der zerschlagenen Städte, der Flüchtlingszüge, der Notlager, des Hungers und der Schuld ein erster Hauch von Freiheit (den sie in der Regel nicht wahrnahmen). Mit der Kapitulation, die auch für die Deutschen in Wahrheit ein Tag der Befreiung war - erst vier Jahrzehnte später von Bundespräsident von Weizsäcker beim Namen genannt -, mit diesem Tag der Götzendämmerung begann sich die Tür zur Welt einen Spalt weit zu öffnen. Der Autor, damals kaum achtzehn Jahre alt, schleppte sich an jenem Morgen im Mai ans Fenster eines Notlazaretts in Bayern, in dem er seine nicht allzu schwere Verwundung auskurieren sollte. Drunten hockten auf ihren Fersen drei amerikanische Infanteristen, die Helme nach hinten geschoben, Zigarette im Mundwinkel baumelnd, die Maschinenpistole lässig über die Schenkel gelegt. Die GIs schauten mit einem schrägen Lächeln herauf. Hinter ihnen eine rotschwarze Klinkermauer, auf der mit Kreide geschrieben stand: »Hitler dead«.
Der kleine Soldat begriff sehr wohl, dass dies die Stunde der Befreiung war, die seine Familie (was von ihr übrig war) so sehnlich, oft fast verzweifelt herbeigefleht hatte; das Ende des abertausendfachen gewaltsamen Sterbens an den Fronten und noch viehischer in den Lagern, Tag um Tag und Nacht um Nacht, das Ende des Terrors, der Bedrohung, der Angst. Er begriff, dass er befreit und zugleich gefangen war. Die Soldaten dort unten, auch das verstand er, waren die Boten der Welt, einer fremden, lockenden Welt, von der wir - die Freunde, die Brüder (die es nicht mehr gab) und er selber - durch Bücher, durch einige Filme, vor allem aber durch ihre Musik (manche der Kameraden hörten heimlich Jazz) eine ferne Ahnung zu haben glaubten.
Es gingen lange, harte Jahre in das zerstörte Land, ehe sich die Tore zur Welt ganz geöffnet hatten. Im Fortgang der Nachkriegsepoche schlossen sie sich, manchmal zunächst kaum wahrnehmbar, immer weiter auf, zum Beispiel durch die Bibliothek des Amerika-Hauses (eine der schönsten jungen Frauen der Stadt saß, Neugierige lockend, am Empfangstisch), durch die spärlichen Neuerscheinungen auf grauem Papier, durch Zufallsfunde in den Antiquariaten, in denen unversehens manche der verbotenen Bücher aus der ersten Republik zum Vorschein kamen, die Bücher von jüdischen, linken, kommunistischen, emigrierten Autoren. Dann erschienen - es war eine Art Kultur-Erdbeben - Rowohlts Rotations-Romane auf Zeitungspapier. Die geistigen Landschaften der westlichen Welt (aber auch jene des Ostens, dank der besseren sowjetischen Autoren) vermittelten ihren Reichtum durchs Radio, das unter der Aufsicht der Besatzungsmächte in der Tat eine Institution der Kultur war, von keinen Parteifunktionären kontrolliert und belästigt. Das Theater überwältigte uns mit den Stücken von Thornton Wilder und Tennessee Williams, von Jean-Paul Sartre und Albert Camus, von Jean Giraudoux und vor allem mit Jean Anouilhs Antigone.
Der Autor zählte zwanzig, einundzwanzig Jahre, und er genoss das Abenteuer der Welt, das er im Theater, in Filmen, in Büchern mitleben konnte, in vollen Zügen. Die Freiheit, die sich ihm durch die Künste, die Literatur, die Musik (ob Klassik, ob Moderne, ob Jazz), durch politische Diskussion und vor allem durch die Liebe öffnete, zähmte den Hunger. Sie erlaubte keine Depression, trotz der Trauer um die Verluste, trotz der Ruinen, in denen wir hausten, trotz der rationalen Einsicht, dass uns wenigstens ein Jahrzehnt im Elend bevorstehe. Wir froren. Wir krochen durch die Fenster in die berstend überfüllten Züge, hockten auch auf den Dächern, wenn wir reisen wollten. Wir saßen in unseren stinkenden Soldatenmänteln in den (meist todlangweiligen) Kollegs. Der Autor fand - dank eines Freundes seines Vaters, der den Widerstand überlebt hatte - als Volontär einen Platz in der einstigen Flakbaracke, in der sich die Redaktion des Wochenblattes Christ und Welt mit angemessener Bescheidenheit eingerichtet hatte. Wir waren noch immer auf die Glückstreffer am Schwarzmarkt angewiesen, ohne die der Schreiber, die Freundinnen, die Schwester und vor allem die Eltern im braven Pfarrhaus kaum über die Zeiten gekommen wären. Das Leben war dürftig und unendlich reich, wir liebten es, das Leben, wir liebten die Liebe, und es war das schiere Vergnügen, wie sich die jungen Frauen auch in ihren aufgetragenen Fetzen hübsch zu machen wussten, mit erstaunlichem Geschick.
Wir bewunderten natürlich auch die Damen von Hollywood, allen voran die rotmähnige Rita Hayworth, die in Wahrheit mexikanischer Herkunft und pechschwarzhaarig war, die hochblonde, blitzsauber gewaschene, dennoch keineswegs unerotische Doris Day, die so schmelzende, manchmal auch frivole Schlager trällerte, in Wirklichkeit ein Fräulein aus deutschem Kleinadel.
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Ihr Blick für die Merkwürdigkeiten von Gesicht und Charakter war rasch und genau, in den Jahrzehnten ihrer Theater- und Filmerfahrung geübt, früh geweckt durch das latente Misstrauen des Kindes armer Leute, geschärft durch die ironische Distanz zur Gesellschaft der Reichen und Schönen, zu der sie nun selber zählte. Sie hätte keinen Augenblick gezögert, den eleganten deutschen Offizier, der ihr in einer Konzertpause vorgestellt wurde, einen schönen Mann zu nennen: klare, klassisch geformte, ausgeprägt maskuline Züge, die sie faszinierten. Doch unverzüglich nahm sie an Hans Jürgen Soehring auch eine Besonderheit wahr, die dem harmonischen Bild widersprach: seine spitzen Ohren. Ihr fielen - gleich oder später? - die Bilder der mythischen Faune in den Künsten der Antike ein: jener lüsternen Geschöpfe, halb Mann und halb Ziegenbock, die sämtlich spitze Ohren hatten wie ihr griechischer Ahnherr Pan.
Erkannte sie in dem weltläufigen Bediensteten der Besatzungsmacht gleich von dieser ersten Begegnung an ihren ganz persönlichen Faun? Soviel ist gewiss (wie sie hernach in vertrauten Gesprächen erkennen ließ): der Austausch von Blicken, von Gesten, von Worten war für sie ein »coup du foudre«, der erotische Blitzschlag, wie die Franzosen die »Liebe auf den ersten Blick« beschreiben. Sie kannte sich in amourösen Verhältnissen aus, doch eine Anziehung von solch fast schmerzhafter Heftigkeit war ihr selten, wenn denn je, widerfahren. Sie empfand den Offizier nicht als Fremden. Er drückte sich in ihrer Sprache mit einer Selbstverständlichkeit aus, an der nichts aufgesetzt war. Nur durch den Hauch eines Akzentes gab er sich manchmal als Nicht-Franzose zu erkennen - zumal, wenn er Zivil trug, was er der Uniform vorzog, und sie erst recht, die alle Uniformen hasste.
Wer von den beiden hatte den Einfall, sie »biche« zu nennen, das Reh, das sanfte, großäugige, graziöse, stets fluchtbereite? Von ihren Filmen und von den Theater- und Revuebühnen kannte das Publikum - nicht anders als die Kollegen und Freunde - ihre provokante Modernität, ihren Witz, ihre Eigenwilligkeit, ihren offen ausgespielten Sexappeal; sie waren mit jener Mischung von Härte und Hingabe vertraut, die ihre Persönlichkeit bestimmte, vielleicht auch mit dem Schatten der Melancholie, der sie gelegentlich streifte, auch wenn sie lachte. Aber das »Reh«? Das sollte sie sein, die Aufsässige, die Unangepasste, oft Trotzige?
Alle Briefe, die sie an ihren »Faun« schrieb, unterzeichnete sie »Biche«. Ihr schien die Rolle zu gefallen. Vielleicht weil sie witterte, dass sich in der Beziehung zu diesem so männlichen Mann eine Sehnsucht erfüllen könnte, der sie niemals völlig nachgegeben hatte? So brennend diese und jene Leidenschaften in ihrer bisherigen Existenz gewesen sein mochten - sie hatte stets ihre Unabhängigkeit behauptet, selbst in den frühen Jahren, in denen sie auf die Generosität ihrer Partner angewiesen war, um ohne tägliche Sorge überleben zu können. Sie zeigte sich dankbar, wenngleich niemals unterwürfig. Von ihrer Freiheit ließ sie nicht. Nun gab es dafür erst recht keinen Anlass, denn sie war von 1937 oder 1938 an (bis zur Befreiung im Sommer 1944) die höchstbezahlte Schauspielerin des französischen Films. Nun hätte sie, wäre es notwendig gewesen, ihre Liebhaber aushalten können. Ohnehin betonte sie stets, bis ins Alter, dass sie es gewesen sei, die sich ihre lover gesucht und die Liebe kontrolliert habe - niemals umgekehrt.
Verhielt es sich mit dem Deutschen so anders? War nicht sie es, die sich ihn als »amant« gewünscht hatte, ehe er davon zu träumen wagte: der »Faun«, der immer und überall liebesbereite Frauen und Mädchen zu finden schien, obwohl er sich des Öfteren einredete, er habe in der Liebe kein Glück? In Wahrheit sagte man ihm nicht zu Unrecht nach, er sei ein »homme à femmes« - ein »Mann der Frauen«, »ein Mann, der für die Frauen lebt« - Formeln, an die man im Deutschen nicht gewohnt war. Unter Soehrings Landsleuten sprach man eher täppisch von »Weiberhelden«, von »Schürzenjägern«, von »Herzensbrechern«, heutzutage in banalem Amerikanisch von »womenizer«.
Die Zurückhaltung, die Arletty sich auferlegte, wenn sie einander in den folgenden Wochen über den Weg liefen, tarnte ihren diskreten Eroberungswillen, dem Soehring zunächst mit einer seltsamen Schüchternheit begegnete, die so gar nicht der Mentalität eines Faunes entsprach. Beeindruckte es ihn bis zur Erstarrung, dass die First Lady des französischen Films ihm solch freundliche Beachtung zu schenken schien? Schließlich bot sich der Liebe ganz von selber und ohne kompliziertes Arrangement die Chance, die beide willig und ohne weiteren Umstand wahrnahmen. Davon wird später zu erzählen sein.
Der Autor dieser Zeilen sah die Arletty zum ersten Mal - es muss 1947 gewesen sein - auf der Leinwand eines Stuttgarter Kinos: in ihrem großen Film Les enfants du Paradis, der noch immer zu den Klassikern der siebten Muse zählt. Von den Kindern des Olymp wurde der Schreiber überwältigt wie niemals zuvor und selten danach von einem Werk der Filmkunst. Der Titel verwies im Französischen wie im Deutschen (nach der Gewohnheit des neunzehnten Jahrhunderts) auf das Publikum des letzten Ranges im Theater, auf die armen Schlucker, die Studenten, die Dienstmädchen, die Lehrlinge, die Ladengehilfen, die sich unter dem Dachboden zusammendrängten, da sie sich nur die Stehplätze dort droben leisten konnten, allesamt passionierte Theater-Schwärmer (sofern sie nicht gekaufte Claqueure waren), die mit ihren donnernden Bravos, aber auch mit ihren röhrenden Buhs über das Geschick eines Stückes schon bei der Premiere entscheiden konnten.
Dem Film von Marcel Carné, 1945 in zwei Pariser Kinos uraufgeführt, ging ein legendärer Ruf voraus, der auch in der amerikanisch oder britisch lizenzierten Presse der westlichen Zonen Deutschlands und Berlins ein Echo fand. Die Legende bestätigte sich. Wie alle Welt war der Autor dieser Zeilen hingerissen von der Qualität, der Vitalität, der Virtuosität des Spektakels aus der Pariser Theater- und Halbwelt, von dem bunten, ja phantastischen Treiben am »Boulevard du Temple«, den man damals, in den dreißiger und vierziger Jahren des vorvergangenen Jahrhunderts »Boulevard du Crime« genannt hat. Der junge deutsche Zuschauer in der Trümmerlandschaft war verführt von der schwelgerischen Eleganz der aristokratischen Residenzen. Doch vor allem fasziniert von der hohen Kunst der Akteure, zumal von der melancholischen Komik des Mimen Baptiste, den Jean-Louis Barrault auf so bewegende Weise spielte, von Fréderick Lemaitre, dem genialen Theaterstar jener Tage, den Pierre Brasseur mit einem überschäumenden, ja ruchlosen Temperament und funkelndem Witz auferstehen ließ (er selber der Gründer einer Schauspieler-Dynastie, die nun in der dritten Generation in der Pariser Szene zu Hause ist). Die konzentrierte Aufmerksamkeit des jungen Mannes richtete sich freilich auf Arletty, die schöne Garance, deren beunruhigende Passionen die komplexe Handlung aufzusprengen drohten - und sie in Wahrheit mit sanfter Unerbittlichkeit zusammenhielten. Sie wurde seine unsterbliche Kinoliebe, niemals aus der Erinnerung gelöscht, in mehr als sechs Jahrzehnten nicht blass geworden, noch immer eine Lockung für unverwelkte Sehnsüchte und Phantasien: die großen dunklen Augen, die am liebsten lachten und sich dennoch in Traurigkeiten verlieren konnten, die schimmernde Haut der Schultern und des Décolletés, das amüsierte Spiel der Mundwinkel, wenn sie aus ihrer Loge die Freunde und Flirts aus den eigenen Jahren im Gewerbe der Schausteller beobachtete, die kleinen Gesten der Kameraderie, die gelassene Anmut, die natürliche Noblesse der Bewegungen dieser Courtisane hohen Ranges, zur Maitresse ihres unbeirrbaren Verehrers, des Grafen Edouard de Montray aufgestiegen.
Der französische Film der Nachkriegsepoche genoss eine hohe Reputation, die später von dem internationalen Applaus für die Produktionen des italienischen »Neoverismo« beiseitegedrängt wurde. Damals, in den ersten Jahren nach der deutschen Kapitulation, schien die französische Militärverwaltung in ihrem Okkupations-Gebiet eine Strategie zu verfolgen, die mit der deutschen im besetzten Frankreich das eine gemein hatte: dass sie die politische Kontrolle und die Ausbeutung der Wirtschaft von Beginn an mit einer höchst aktiven Kulturpolitik überspielte. In der Tat war die Tinte unter dem Waffenstillstandsabkommen mit den Trümmerkommandeuren des Dritten Reiches noch kaum getrocknet, als die erste Pariser Theatertruppe in dem Universitätsstädtchen Tübingen auftrat (vermutlich auch in Freiburg und in Mainz), vielleicht dank der Vermittlung des erzbürgerlichen Sozialdemokraten Carlo Schmid, hernach Kulturminister des alemannischen Kunstländchens Südwürttemberg-Hohenzollern-Südbaden, der durch die Mutter ein halber Franzose war. In den Jahren der Okkupation hatte er als Kriegsrichter in Lille ohne Fehl und Tadel agiert.
Konsequenter noch als die Amerikaner, vor allem sehr viel früher, bedienten sich die französischen Kommandeure der Kulturpolitik als eines Instrumentes der Umerziehung. Vielleicht war es das wirksamste und wichtigste. Überdies lenkten die kulturellen Verwöhnungen von den Hungerrationen ab. Es war töricht, aber die französischen Offiziere sagten uns nicht, dass auch ihre Familien in Paris und anderswo partiell noch immer darbten, sich von mageren Rationen nährten, natürlich auch vom Schwarzmarkt, der üppiger blühte denn je und den Bürgern das letzte Geld aus der Tasche zog. Sie sagten auch nicht, dass viele Bürger in den großen Städten ihres Landes noch immer froren. Sie sprachen kaum davon, mit welcher Brutalität und mit welcher Systematik die Deutschen ihr Land geplündert und welche Verheerungen die amerikanischen Bombergeschwader und die Rückzugsschlachten der Wehrmacht auch in ihren Städten angerichtet hatten. Was Wunder, dass sie den Grimm der Besiegten über den sogenannten Kahlschlag im Schwarzwald als wehleidige Heuchelei betrachteten. -
Schon einmal war der Autor dem Geist Frankreichs mit einer Intensität begegnet, die ihn niemals mehr aus ihrem Bann entließ: er war vierzehn Jahre alt, vielleicht auch fünfzehn, als der Bruder seiner Klavierlehrerin, der in Paris gelebt hatte (sozusagen in erotischer Emigration), ihm Stendhals Rot und Schwarz schenkte. Er entdeckte eine Qualität des Erzählens, die er aus seiner deutschen Lektüre nicht kannte, damals nicht, als seine literarische Neugier gerade wach zu werden begann. Die schlanken Sätze, ihre verdichtete Poesie, Stendhals psychologische Sensibilität, dem Stefan Zweig (wie er später las) »kluge Nerven« attestierte, die nur halb verborgenen erotischen Lockungen - sie sorgten für eine lebenslange Liebe zu dem schwierigen Dichter, dessen hohen Rang der alte Goethe nach der Lektüre von Le Rouge et le Noir mit bewundernswerter Wachheit bestätigt hatte. Nietzsche war der nächste große Leser des Schriftstellers Henri Beyle, der sein Pseudonym von dem deutschen Städtchen lieh, das er als Verwaltungsoffizier der napoleonischen Armee flüchtig kennengelernt hatte.
Der Arletty-Film war das zweite Frankreich-Erlebnis, das den Autor prägte (und ihm vermutlich den Weg in das Land wies, das seine zweite Heimat werden sollte). Anders als die französischen Kulturoffiziere wusste der dankbare junge Zuschauer damals nicht das Geringste von den deutschen Anfälligkeiten der Diva. Hätte ihn das davon abgehalten, sich Hals über Kopf in die Aktrice zu verlieben? Kaum. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert danach, darf er feststellen, dass sie die passionierteste seiner Kinolieben war - und es bis auf diesen Tag geblieben ist.
Nein, er wusste damals nichts von den deutschen Bindungen der Schauspielerin, die ihr nach der Befreiung so böses Ungemach bereiteten, nichts von der Existenz des Luftwaffen-Feldrichters Hans Jürgen Soehring. Er kannte auch keinen der literarischen Versuche Soehrings, der 1947 schon diese und jene kleinen Texte publiziert hatte. Im Zusammenhang mit der »Gruppe 47«, damals noch in einer Art präpubertärem Stadium, wurde sein Name nicht genannt, obschon er - schierer Zufall - zu den Gründungsmitgliedern zählte. Man hörte erst recht nichts von ihm, als dieser merkwürdige Club der unterschiedlichsten Talente (und Halbtalente) den ersten Rang in der deutschen Nachkriegsliteratur zu besetzen schien, unter Hans-Werner Richters strengem Regiment, umstritten und umjubelt, oft überschätzt, seltener unterschätzt (aber auch das kam vor). Lange Jahre danach las er, dass sich Soehring bemüht hatte, Gespräche zwischen seinen deutschen Freunden und französischen Intellektuellen zu vermitteln. Die erste Garde der Literaten Frankreichs war für ihn unerreichbar, und die deutschen Schriftsteller interessierten sich für Frankreich nur am Rande. Die Vereinigung Europas, muss bilanzierend gesagt werden, fand im Wesentlichen ohne die Intellektuellen statt. Zumal die Gruppe 47 verstand sich, trotz gelegentlicher Ausflüge in andere Länder, als nationale Institution.
Von Soehring und der Arletty darf behauptet werden, dass sie ihr privates Europa vorauslebten. Sie hätten es am liebsten von jeder Politik ferngehalten und gegen die Zeitgeschichte abgeschottet. Das ging nicht an. Vor allem Arletty erfuhr es auf bittere Weise - als ein Opfer des dramatischen Wandels, den ihr Land durchlebte und durchlitt.
Dennoch: sie war La France in seiner schönsten Gestalt. Die attraktivste, aufregendste, zugleich die herzlichste Verkörperung der femininen Genialität des Landes. Sie wusste es. Aber das hätte sie kaum dazu verführt, ihr Gesicht für die Büsten der »Marianne« auszuleihen, wie es in der fünften, der gaullistischen Republik üblich wurde, in der sich die Bürgermeistereien mit den Nationaldamen Brigitte Bardot und Catherine Deneuve schmücken durften, die jener vaterländischen Pflicht mit Entzücken gehorchten, um für die Schönheit des Landes der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit (vielmehr: der Geschwisterlichkeit) zu zeugen. Arletty hätte sich keine phrygische Mütze aufs Haupt gestülpt (ein Erkennungsmerkmal der revolutionären Geheimgesellschaften) wie die Barrikaden-Stürmerin von Delacroix. An den nackten Brüsten der revolutionären Kämpferin hätte sie sich nicht aufgehalten. Sie selber mit ihrer knabenhaften Figur wies freilich nicht die üppige Pracht auf, die es gebraucht hätte, um mit der schwelgerischen Patriotin konkurrieren zu können. Zum anderen machte sie sich nichts aus geschwungenen Fahnen. Sie hätte sich auch nicht - es sei denn auf der Bühne und in parodistischer Absicht - den Helm der Jeanne d'Arc auf die Ohren gesetzt. Ihre patriotischen Wallungen waren (um es vorsichtig zu sagen) eher gezügelt. Für Charles de Gaulle, den Befreier, brachte sie keine allzu herzlichen Gefühle auf, doch es gefiel ihr, dass Frankreich für den General nicht nur »eine gewisse Idee« war, wie er sich in einer seiner hochtönenden, nichts-und allessagenden Sentenzen ausdrückte, sondern La France gelegentlich als eine Prinzessin herbei-träumte, die aus der teutonischen Gefangenschaft zu befreien und aus der Abhängigkeit von den Supermächten zu lösen sein gottgewollter Auftrag war.
Indes, auch dieser majestätische Repräsentant der Nation und ihrer Souveränität diente schließlich - ob er sich dessen bewusst war oder auch nicht - der »List der Geschichte«, von der Hegel gesprochen und geschrieben hat. Wäre es ihm im August 1945, als er durch das befreite Paris schritt, in den Sinn gekommen, eine französisch-deutsche Gemeinschaft vorauszudenken, die der Kern einer europäischen Union sein würde? Hatte er sich nicht weit von seinem einstigen Weggenossen Jean Monnet entfernt, der in Washington mit einigen jungen amerikanischen Gehilfen die Grundrisse eines vereinten Europa entwarf, das seine Identität und seine friedenstiftende, friedensichernde Macht nur durch den schrittweisen Verzicht auf jene sakrosankte, in Wahrheit längst fiktive Souveränität gewinnen konnte, auf die sich der Generalpräsident so oft berief? Beugte sich de Gaulle beim Abschluss des Elysée-Vertrages über die deutsch-französische Kooperation, der seit fast einem halben Jahrhundert Bestand hat, nicht entschlossen jener historischen Logik, der er lang genug den Weg zu verstellen versucht hatte?
Nein, keiner, der sich im Mai 1945 als Überlebender wiederfand, hätte es gewagt, öffentlich vom Traum einer Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen zu reden. (Im privaten Zirkel mochte Konrad Adenauer, der einstige und künftige Bürgermeister von Köln, solch kühne Visionen vielleicht in Stichworten andeuten. Er hatte diesem Ziel schon in der ersten Republik entgegengestrebt, im Zeichen der Strategie des Ausgleichs, die der französische Außenminister Aristide Briand und sein deutscher Partner Gustav Stresemann miteinander verfolgten.) Der Wandel, der von den Mutigen trotz des Vernichtungskrieges der nazistischen Diktatur im Geheimen noch immer erhofft wurde, setzte Freiheit voraus: die Freiheit der Gedanken, die Freiheit der Debatte, schließlich die Freiheit der Entscheidung, die Freiheit des Handelns.
Freiheit. Als am achten Mai 1945 dem großen Morden und dem großen Sterben (partiell) Einhalt geboten wurde, erreichte auch die Deutschen im Elend der zerschlagenen Städte, der Flüchtlingszüge, der Notlager, des Hungers und der Schuld ein erster Hauch von Freiheit (den sie in der Regel nicht wahrnahmen). Mit der Kapitulation, die auch für die Deutschen in Wahrheit ein Tag der Befreiung war - erst vier Jahrzehnte später von Bundespräsident von Weizsäcker beim Namen genannt -, mit diesem Tag der Götzendämmerung begann sich die Tür zur Welt einen Spalt weit zu öffnen. Der Autor, damals kaum achtzehn Jahre alt, schleppte sich an jenem Morgen im Mai ans Fenster eines Notlazaretts in Bayern, in dem er seine nicht allzu schwere Verwundung auskurieren sollte. Drunten hockten auf ihren Fersen drei amerikanische Infanteristen, die Helme nach hinten geschoben, Zigarette im Mundwinkel baumelnd, die Maschinenpistole lässig über die Schenkel gelegt. Die GIs schauten mit einem schrägen Lächeln herauf. Hinter ihnen eine rotschwarze Klinkermauer, auf der mit Kreide geschrieben stand: »Hitler dead«.
Der kleine Soldat begriff sehr wohl, dass dies die Stunde der Befreiung war, die seine Familie (was von ihr übrig war) so sehnlich, oft fast verzweifelt herbeigefleht hatte; das Ende des abertausendfachen gewaltsamen Sterbens an den Fronten und noch viehischer in den Lagern, Tag um Tag und Nacht um Nacht, das Ende des Terrors, der Bedrohung, der Angst. Er begriff, dass er befreit und zugleich gefangen war. Die Soldaten dort unten, auch das verstand er, waren die Boten der Welt, einer fremden, lockenden Welt, von der wir - die Freunde, die Brüder (die es nicht mehr gab) und er selber - durch Bücher, durch einige Filme, vor allem aber durch ihre Musik (manche der Kameraden hörten heimlich Jazz) eine ferne Ahnung zu haben glaubten.
Es gingen lange, harte Jahre in das zerstörte Land, ehe sich die Tore zur Welt ganz geöffnet hatten. Im Fortgang der Nachkriegsepoche schlossen sie sich, manchmal zunächst kaum wahrnehmbar, immer weiter auf, zum Beispiel durch die Bibliothek des Amerika-Hauses (eine der schönsten jungen Frauen der Stadt saß, Neugierige lockend, am Empfangstisch), durch die spärlichen Neuerscheinungen auf grauem Papier, durch Zufallsfunde in den Antiquariaten, in denen unversehens manche der verbotenen Bücher aus der ersten Republik zum Vorschein kamen, die Bücher von jüdischen, linken, kommunistischen, emigrierten Autoren. Dann erschienen - es war eine Art Kultur-Erdbeben - Rowohlts Rotations-Romane auf Zeitungspapier. Die geistigen Landschaften der westlichen Welt (aber auch jene des Ostens, dank der besseren sowjetischen Autoren) vermittelten ihren Reichtum durchs Radio, das unter der Aufsicht der Besatzungsmächte in der Tat eine Institution der Kultur war, von keinen Parteifunktionären kontrolliert und belästigt. Das Theater überwältigte uns mit den Stücken von Thornton Wilder und Tennessee Williams, von Jean-Paul Sartre und Albert Camus, von Jean Giraudoux und vor allem mit Jean Anouilhs Antigone.
Der Autor zählte zwanzig, einundzwanzig Jahre, und er genoss das Abenteuer der Welt, das er im Theater, in Filmen, in Büchern mitleben konnte, in vollen Zügen. Die Freiheit, die sich ihm durch die Künste, die Literatur, die Musik (ob Klassik, ob Moderne, ob Jazz), durch politische Diskussion und vor allem durch die Liebe öffnete, zähmte den Hunger. Sie erlaubte keine Depression, trotz der Trauer um die Verluste, trotz der Ruinen, in denen wir hausten, trotz der rationalen Einsicht, dass uns wenigstens ein Jahrzehnt im Elend bevorstehe. Wir froren. Wir krochen durch die Fenster in die berstend überfüllten Züge, hockten auch auf den Dächern, wenn wir reisen wollten. Wir saßen in unseren stinkenden Soldatenmänteln in den (meist todlangweiligen) Kollegs. Der Autor fand - dank eines Freundes seines Vaters, der den Widerstand überlebt hatte - als Volontär einen Platz in der einstigen Flakbaracke, in der sich die Redaktion des Wochenblattes Christ und Welt mit angemessener Bescheidenheit eingerichtet hatte. Wir waren noch immer auf die Glückstreffer am Schwarzmarkt angewiesen, ohne die der Schreiber, die Freundinnen, die Schwester und vor allem die Eltern im braven Pfarrhaus kaum über die Zeiten gekommen wären. Das Leben war dürftig und unendlich reich, wir liebten es, das Leben, wir liebten die Liebe, und es war das schiere Vergnügen, wie sich die jungen Frauen auch in ihren aufgetragenen Fetzen hübsch zu machen wussten, mit erstaunlichem Geschick.
Wir bewunderten natürlich auch die Damen von Hollywood, allen voran die rotmähnige Rita Hayworth, die in Wahrheit mexikanischer Herkunft und pechschwarzhaarig war, die hochblonde, blitzsauber gewaschene, dennoch keineswegs unerotische Doris Day, die so schmelzende, manchmal auch frivole Schlager trällerte, in Wirklichkeit ein Fräulein aus deutschem Kleinadel.
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Autoren-Porträt von Klaus Harpprecht
Klaus Harpprecht (1927-2016) arbeitete viele Jahre als Journalist, u.a. für den RIAS Berlin, SFB und WDR. Er war der erste Amerika-Korrespondent für das ZDF und fertigte mehr als fünfzig Fernsehdokumentationen. 1966 bis 1969 Leiter des S. Fischer Verlags, 1972 bis 1974 Redenschreiber und Berater von Bundeskanzler Willy Brandt. Regelmäßige Beiträge für die »Süddeutsche Zeitung«, »Frankfurter Allgemeine Zeitung« und vor allem »Die Zeit«. Klaus Harpprecht ist Autor und Herausgeber vieler erfolgreicher Bücher, darunter seine hoch gerühmte Biographie Thomas Manns, eine Biographie Marion Gräfin Dönhoffs und zuletzt die Geschichte einer Liebe in Zeiten des Krieges: 'Arletty und ihr deutscher Offizier'. Zu seinen vielfachen Auszeichnungen gehören der Lessing-Preis der Hansestadt Hamburg, der Theodor-Wolff-Preis und der Schlag zum Ritter der französischen Ehrenlegion. Mit seiner Frau Renate Lasker-Harpprecht lebte er seit 1982 im südfranzösischen La Croix-Valmer.
Bibliographische Angaben
- Autor: Klaus Harpprecht
- 2012, 1. Auflage, 448 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 12,8 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596188636
- ISBN-13: 9783596188635
- Erscheinungsdatum: 24.09.2012
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