Aschenblüte
Immaculée Ilibagiza überlebte wie durch ein Wunder in einem winzigen Versteck den Völkermord in Ruanda. Mit Hilfe ihres Glaubens gelingt es ihr, die Angst vor Entdeckung und das Grauen der Massaker zu ertragen. Aber auch, den Mördern ihrer Familie zu...
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Immaculée Ilibagiza überlebte wie durch ein Wunder in einem winzigen Versteck den Völkermord in Ruanda. Mit Hilfe ihres Glaubens gelingt es ihr, die Angst vor Entdeckung und das Grauen der Massaker zu ertragen. Aber auch, den Mördern ihrer Familie zu verzeihen und ein neues Leben zu beginnen. Hier erzählt sie ihre erschütternde Geschichte.
Aschenblüte von Immaculée Ilibagiza
LESEPROBE
EINLEITUNG
Ich heiße Immaculée
Ich hörtesie meinen Namen brüllen.
Sie warenauf der anderen Seite der Wand, gerade mal zwei Zentimeter Holz und Tünchetrennten uns.
»Sie isthier! Wir wissen, dass sie hier irgendwo ist! Findet sie! Sucht Immaculée!«
Es warenviele Stimmen, viele Killer. Ich sah sie in Gedanken vor mir: meine früherenFreunde und Nachbarn, die mir immer nett und freundlich begegnet waren jetztliefen sie mit Speeren und Macheten bewaffnet durchs Haus und suchten nach mir ...
»Ich habe399 Kakerlaken getötet«, sagte einer von ihnen. »Mit Immaculéesind es 400. Eine runde Zahl.«
Ich kauertein der Ecke des kleinen Toilettenraums, ohne einen Muskel zu bewegen. Wie diesieben anderen Frauen, die hier mit mir um ihr Leben bangten, hielt ich dieLuft an, damit die Killer mich nicht atmen hörten.
IhreStimmen krallten sich in mich, sie klangen kalt, hart und entschlossen. Ichfühlte mich, als würde ich auf einem Bett aus glühenden Kohlen liegen, als wäreich angezündet worden. Schmerzen liefen in Wellen durch meinen Körper, tausendunsichtbare Nadeln rissen mir die Haut auf. Ich hätte nie gedacht, dass Angstsolche furchtbaren physischen Qualen verursachen kann.
Ichversuchte zu schlucken, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich hatte keinenSpeichel, mein Mund war trockener als Sand. Ich schloss die Augen und wünschtemir, unsichtbar zu sein. Ihre Stimmen wurden lauter. Ich wusste, sie würden keineGnade kennen, und ich konnte nur noch eines denken: Wenn sie mich finden, tötensie mich. Wenn sie mich finden, töten sie mich. Wenn sie mich finden, töten siemich ...
Die Killerstanden direkt vor der Tür, und ich wusste, dass sie mich jeden Momententdecken würden. Wie es sich wohl anfühlte, wenn die Machete ins Fleischdrang, bis auf die Knochen? Ich dachte an meine Brüder und an meine geliebtenEltern und überlegte, ob sie wohl schon tot waren oder noch am Leben und ob wirbald im Himmel vereint sein würden.
Ich faltetedie Hände um den Rosenkranz meines Vaters und begann stumm zu beten: Lieber Gott,bitte hilf mir. Lass mich nicht auf diese Weise sterben, nicht so. Lass nichtzu, dass sie mich finden. Du sagst uns in der Bibel, dass uns gegeben wird, wennwir bitten ... Also, lieber Gott, ich bitte dich. Bitte mach, dass siefortgehen. Bitte lass mich nicht in diesem Toilettenraum sterben. Bitte, Gott,bitte, bitte, bitte - rette mich! Rette mich!
Die Killerverschwanden und wir in unserem Versteck wagten wieder zu atmen. Sie warenfort, aber sie würden wieder kommen.
Ich bin überzeugt,dass Gott mich hat überleben lassen, aber ich begriff in diesen einundneunzigTagen, die ich zitternd vor Angst mit sieben anderen Mädchen und Frauen ineinem schrankgroßen Toilettenraum verbrachte, dass »überleben« etwas ganzanderes ist als »gerettet werden« - und diese Erkenntnis hat mich grundlegendverändert. Mitten im Massenmord lernte ich diejenigen zu lieben, die mich hasstenund jagten - und denen zu vergeben, die meine Familie abschlachteten.
Ich heiße Immaculée Ilibagiza. Dies ist dieGeschichte, wie ich während eines der blutigsten Völkermorde in der Geschichteder Menschheit Gott entdeckte.
KAPITEL 10
OhnmächtigerZorn
MehrereTage vergingen relativ ruhig. Nur hin und wieder hörten wir draußen die Killerihre makabren Lieder singen. Tagsüber beteten wir stumm und verständigten unsdurch Zeichensprache. Alle zwölf Stunden etwa durfte jede von uns der Reihenach für ein paar kostbare Augenblicke ihre Glieder strecken. Ansonstenbewegten wir uns nur, wenn es unbedingt nötig war, und saßen Tag und Nacht inder gleichen Stellung am Boden.
DieToilettenspülung betätigten wir gemäß Pastor MurinzisAnweisung nur, wenn dies irgendein Hausbewohner auch auf der anderen Seite derWand tat. Es war immer eine große Aktion, die Toilette zu benutzen: Wir hattenso wenig Platz, dass eine von uns immer auf der Toilette sitzen musste. Wennjemand ein menschliches Bedürfnis verspürte, mussten wir uns also alleumschichten und liefen dadurch Gefahr, Lärm zu machen und entdeckt zu werden.
Seltsamerweisekann ich mich nicht daran erinnern, dass ich in der ganzen Zeit jemand dieToilette hätte benutzen sehen, noch erinnere ich mich, dass mich irgendwelcheGerüche gestört hätten. Wir bekamen auch eine nach der anderen unsere Periodeund irritierten den Pastor mit der ständigen Bitte nach mehr Toilettenpapier.Doch keiner von uns war die Situation peinlich; wir lernten, dieseKörperfunktionen zu ignorieren und auf den Luxus einer Intimsphäre zuverzichten - ein Luxus, der im Vergleich dazu, noch am Leben zu sein, ohnehin ziemlichbelanglos erschien.
Wir aßen,wenn der Pastor uns etwas brachte, was nur sporadisch der Fall war. An manchenTagen kam er erst um drei oder vier Uhr nachmittags, an anderen Tagen überhauptnicht. Wenn er mit uns sprechen musste oder Essen brachte, schob er den Schrankbeiseite, aber er achtete immer sehr darauf, dass niemand ihn hörte. Unter demSchrank lag ein kleiner Teppich, der die Geräusche dämpfte; Gott hielt alsowieder einmal seine Hand über uns. Aus Angst, dass es auffallen würde, wenn größereMengen gekocht wurden als üblich, bekamen wir das zu essen, was die Kinder beiTisch übrig ließen oder die Dienstboten in den Abfall warfen. Manchmal brachtenwir keinen Bissen hinunter, auch wenn wir noch so hungrig waren, weil das Essenwie Schweinefutter aussah. (Und wie wählerisch war ich zu Hause mit dem Essengewesen!) Zum Glück brachte er uns auch Wasser zum Trinken.
Es klingtunvorstellbar, aber nach einigen Tagen der Ruhe ließ unsere angespannteVorsicht ein wenig nach. Der Pastor indes holte uns sehr schnell in dieRealität zurück. Eines Nachts kam er und berichtete, dass die Killer in derNähe seien, von Haus zu Haus gingen, alles durchwühlten und jeden Tutsi töteten, den sie fanden. »Vielleicht sind sie schon inein paar Minuten hier, vielleicht kommen sie erst morgen oder übermorgen. Aberkommen werden sie auf jeden Fall, also seid leise«, ermahnte er uns.
Dass wir inunserem Versteck ein gewisses Maß an innerer Ruhe finden könnten, mussten wiruns aus dem Kopf schlagen. Die Angst vor der Rückkehr der Killer war eine permanenteseelische und körperliche Folter. Wenn irgendwo im Haus der Boden knarrte oderdraußen ein Hund bellte - schon beim kleinsten Geräusch zuckte ich zusammen,als hätte mir jemand einen Speer in die Seite gerammt. Da wir immer nur kurzeZeit schlafen konnten, hatte ich ständig Kopfschmerzen, und außerdem wurdemeine Haut bald trocken und schuppig.
Nochschlimmer war die psychische Belastung. Ich war allein mit meinen Gedanken,ganz auf mich selbst zurückgeworfen, und die dunklen Ängste und Zweifel, diemich seit meiner Ankunft in diesem Haus verfolgten, drangen unerbittlich inmeine Seele ein und begannen, das Fundament meines Glaubens zu untergraben.Waren die Killer außer Hörweite, lösten sich meine Gedanken von Gott, und anihre Stelle trat sofort die negative Energie. Doch sobald ich betete, fühlteich mich gleich wieder von seiner Liebe umgeben, und meine Angst schwand.
Alsobeschloss ich, in jedem wachen Augenblick zu beten. Meistens begann ich damitgegen vier oder fünf Uhr morgens, sobald ich die Augen öffnete. Mit meinemersten Gebet dankte ich Gott stets dafür, dass das Haus des Pastors gebautworden war und uns nun Schutz vor den Verfolgungen bieten konnte. Dann dankteich ihm dafür, dass er den Architekten das Haus mit einer zusätzlichen Toilettehatte ausstatten lassen und dass er dem Pastor eingegeben hatte, einenKleiderschrank zu erstehen, der genau die richtigen Maße hatte, um die Tür zuunserem Versteck zu verbergen. ()
Schon wennich nur ein paar Minuten nicht mit Gebeten oder Meditationen verbrachte, rücktemir der Satan mit seinem zweischneidigen Messer des Zweifels und des Selbstmitleidszu Leibe. Das Gebet wurde zur schützenden Rüstung meiner Seele.
© UllsteinVerlag
Übersetzung:Maria Zybak
- Autor: Immaculée Ilibagiza
- 2011, 9. Aufl., 288 Seiten, 8 farbige Abbildungen, Maße: 11,9 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Maria Zybak
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548369812
- ISBN-13: 9783548369815
- Erscheinungsdatum: 14.01.2008
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