Auf der Flucht
Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers
Sie fliehen vor Krieg, Angst und Terror aus Syrien und dem Irak und vor der trostlosen Armut in Afrika. Viele Millionen sind es, die auf ein besseres Leben anderswo hoffen. Allein in der libanesischen Beka-Ebene leben über 200.000 Menschen in...
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Produktinformationen zu „Auf der Flucht “
Sie fliehen vor Krieg, Angst und Terror aus Syrien und dem Irak und vor der trostlosen Armut in Afrika. Viele Millionen sind es, die auf ein besseres Leben anderswo hoffen. Allein in der libanesischen Beka-Ebene leben über 200.000 Menschen in notdürftig mit Planen abgedeckten Verschlägen in zutiefst menschenverachtenden Verhältnissen. "Ich habe mein Baby bei Schnee und Eis zur Welt gebracht und in der Kälte ist es dann gestorben", erzählt etwa Fatma bitter traurig. Manche wagen todesmutig den lebensgefährlichen Weg durch die Wüste und über das Meer, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. "Das Schlimmste", sagt Dembo aus Gambia, "war die Fahrt durch die Sahara." Eine Flasche Wasser musste für eine Woche reichen. Für unsereins absolut undenkbar, einfach unvorstellbar. Hinzu kam die peinigende – nicht unrealistische – Angst, auf dem vollgepferchten Pick-up zu sterben. Und auch das Sterben der Mitflüchtigen ist schwer traumatisierend. Für Schlepper sind Flüchtlinge ein gutes Geschäft. Sie bringen "mehr Geld als Drogen", brüstet sich ein Drahtzieher der römischen "Maia-Capitale". Nur wenige schaffen es in sichere Staaten - wie die menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen gelingen kann, zeigt das letzte Kapitel des Buches.
Zutiefst bewegend, schwer erschütternd und doch so wahr und nicht von der Hand zu weisend beleuchtet dieses Sachbuch die so aktuelle Flüchtlingsthematik ungeschminkt und gnadenlos ehrlich. Die Autoren Karim El-Gawhary, Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Zeitungen, u.a. die tageszeitung (Berlin), die Presse (Wien), die Sonntagszeitung (Zürich), die Hannoversche Allgemeine, die Stuttgarter Nachrichten, die Badische Zeitung (Freiburg), die Rheinische Post (Düsseldorf), usw. und Mathilde Schwabeneder, seit 2007 ORF-Korrespondentin in Rom, zeigen in diesem Buch mit offenen Augen, wie das Leben eines Flüchtlings aussieht und unter was für traumatischen Umständen oft nur die Flucht gelingt.
Zutiefst bewegend, schwer erschütternd und doch so wahr und nicht von der Hand zu weisend beleuchtet dieses Sachbuch die so aktuelle Flüchtlingsthematik ungeschminkt und gnadenlos ehrlich. Die Autoren Karim El-Gawhary, Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Zeitungen, u.a. die tageszeitung (Berlin), die Presse (Wien), die Sonntagszeitung (Zürich), die Hannoversche Allgemeine, die Stuttgarter Nachrichten, die Badische Zeitung (Freiburg), die Rheinische Post (Düsseldorf), usw. und Mathilde Schwabeneder, seit 2007 ORF-Korrespondentin in Rom, zeigen in diesem Buch mit offenen Augen, wie das Leben eines Flüchtlings aussieht und unter was für traumatischen Umständen oft nur die Flucht gelingt.
Klappentext zu „Auf der Flucht “
Sie fliehen vor Krieg und Terror aus Syrien und dem Irak und vor der Armut in Afrika. Viele Millionen sind es. Allein in der libanesischen Beka-ebene leben über 200.000 Menschen in notdürftig mit Planen abgedeckten Verschlägen. "Ich habe mein Baby bei Schnee und Eis zur Welt gebracht und in der Kälte ist es dann gestorben", erzählt etwa Fatma.Manche wagen den lebensgefährlichen Weg durch die Wüste und über das Meer. "Das schlimmste", sagt Dembo aus Gambia, "war die Fahrt durch die Sahara." Eine Flasche Wasser musste für eine Woche reichen. Hinzu kam die peinigende Angst, auf dem vollgepferchten Pick-up zu sterben. Für Schlepper sind Flüchtlinge ein gutes Geschäft. Sie bringen "mehr Geld als Drogen", brüstet sich ein Drahtzieher der römischen "Maia-Capitale". Nur wenige schaffen es in sichere Staaten - wie die menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen gelingen kann, zeigt das letzte Kapitel des Buches.
Lese-Probe zu „Auf der Flucht “
Karim El-Gawhary, Mathilde Schwabeneder - Auf der FluchtVon der Gnade des Geburtsortes
Karim El-Gawhary
Was muss ein Kind erlebt haben, das so etwas zeichnet? Am
lila gekritzelten, bedrohlichen Himmel ist schemenhaft ein
Flugzeug zu erkennen. Schon deutlicher sind die Bomben
zu sehen, die es abwirft. Unten werden schwarze Figuren
in Stücke gerissen. Am meisten sticht das Rot ins Auge, der
Schwall von Blut, den das Kind mit Wachsmalkreide zwischen
abgerissenen Gliedmaßen, Köpfen und um jede einzelne
Figur gezeichnet hat.
Das Bild stammt von dem achtjährigen syrischen Flüchtlingskind
Abdallah im Libanon und wurde mir in einem
Kindergarten in Beirut gezeigt, der ein paar der Kleinen aus
dem Nachbarland aufgenommen hat. Viele der syrischen
Kinder liefern solche Werke des Grauens ab. Ein Grauen, das
sie sich nicht in ihren kleinen Köpfen ausgedacht haben
können, sondern das sie zu Papier bringen, weil sie es selbst
erlebt haben. Die Zeichnung sagt mehr aus als tausend Berichte
aus dem syrischen Krieg, die kaum mehr einer liest.
Wovor Abdallah mit seiner Familie geflohen ist, bedarf keiner
weiteren Erklärung mehr.
Auf der Flucht war auch die Syrerin Soha, als sie mit ihren
vier Töchtern und 160 anderen syrischen Flüchtlingen von
der ägyptischen Mittelmeerküste aus auf einem alten Kutter
ins Meer stach. Die Gruppe wollte nach Italien. Bereits
wenige Kilometer vor der Küste sank das Boot und über6
gab die Flüchtlinge dem Meer. Soha hatte als einzige eine
Schwimmweste an. Ihre vier Töchter im Alter zwischen
drei und elf Jahren klammerten sich panisch an die Mutter.
Die Gruppe drohte unterzugehen, weil die Schwimmweste
das Gewicht von fünf Menschen nicht über Wasser halten
konnte. Soha war in einer Lage, die sich keine Mutter der
Welt vorstellen will. Wenn sie nicht alle ertrinken sollten,
musste sie sich entscheiden, welches ihrer
... mehr
Kinder sie loslässt.
Doch Soha konnte und wollte sich nicht entscheiden,
strampelte, um über Wasser zu bleiben und wartete ab, was
als Nächstes geschehen würde. Als Erstes ließ die dreijährige
Haya los und tauchte für immer in den Fluten ab. Ihr
folgten Sama und dann Julia in die Tiefe des nächtlichen
Meeres. Sechs Stunden später wurde Soha mit ihrer ältesten
Tochter Sarah von der ägyptischen Küstenwache aus dem
Wasser geborgen. So kam es, dass sie diese Geschichte überhaupt
noch erzählen konnte.
Es gibt viele Sohas, von denen wir nie hören werden. Vielleicht
sind es solche Geschichten, bei denen man kurz innehalten
sollte, um sich Gedanken über die Gnade des
eigenen Geburtsortes zu machen und sich zu vergegenwärtigen,
dass es reiner Zufall ist, dass der Leser oder die Leserin
wahrscheinlich im friedlichen, relativ wohlhabenden
Europa
geboren wurde. Man hätte genauso gut in Aleppo,
Damaskus, Homs oder Mossul das Licht der Welt erblicken
können. Und vielleicht würde man dann heute auch eines
Nachts im Mittelmeer strampeln und sich dabei überlegen
müssen: Welches meiner Kinder lasse ich los? »Ich
habe nichts dazu beigetragen, in der Lotterie des Lebens
fern von täglichem Kriegshorror und Verfolgung geboren
worden zu sein.« Sich das klarzumachen, ist das beste Re-
zept gegen Überheblichkeit und Indifferenz in der gegenwärtigen
Flüchtlingsdebatte, in der es keine einfachen Antworten
gibt, die aber von einem Grundgefühl der Empathie
gegenüber jenen getragen sein sollte, die zur Flucht gezwungen
wurden und um deren Geschichten es in diesem
Buch geht.
In den ägyptischen sozialen Medien kursierte Anfang
Mai 2015 ein fiktiver Abschiedsbrief eines syrischen Flüchtlings,
geschrieben bevor er im Mittelmeer ertrunken ist.
Darin heißt es: »Danke liebes Meer, du bist der einzige, der
mich ohne Visum aufgenommen hat ... und danke liebe Fische,
dass ihr mich aufgefressen habt, ohne nach meiner
Religion
oder nach meinen politischen Verbindungen zu
fragen.« Unterschrieben: »Wenn ihr das lest, bin ich leider
ertrunken.«
Ich musste an diesen Brief denken, als ich im selben Monat
auf der Mittelmeerinsel Malta recherchierte und auf
dem großen Friedhof in Valletta einen Strauß Blumen auf
die Steinplatten eines namenlosen Grabes niederlegte, in
dem 24 Menschen ruhen. Die einzigen Leichen von über
700 Flüchtlingen, die zwei Wochen zuvor vor Malta ertrunken
waren. Die Sonne brannte auf die Steinplatten, auf denen
nur noch ein weiterer, schon vertrockneter Blumenstrauß
lag. Es war irgendwie ein passendes, schmuckloses
Mahnmal europäischer Flüchtlingspolitik.
Mein Kopf ist voll mit so vielen Flüchtlingen, die ich in den
letzten Jahren getroffen habe und deren Geschichten auch
der Inhalt dieses Buches sind. Amscha, die Jesidin, die ich in
einem kleinen Dorf in der Nähe des kurdischen Dohuk getroffen
habe, wohin sie sich vor ihren IS-Peinigern geflüchtet
hat, die sie zuvor wie Vieh verkauft und gekauft hatten.
Oder der kleine 13-jährige Ibrahim, dessen Mutter es zwei
Wochen zuvor zusammen mit ihm und 140 anderen Flüchtlingen
auf einem Kahn von der Küste östlich von Alexandria
aus nach Italien schaffen wollte, als die ägyptische Küstenwache
das Boot aufbrachte und Ibrahims Mutter direkt neben
ihm erschoss. Oder der junge Essam, den ich in einem
Hinterzimmer im libanesischen Tripoli getroffen habe, mit
mehreren Schusswunden aus dem Krieg in Syrien und einigen
Kugeln im Körper, der mir eine seiner Nieren zum Verkauf
anbot, um im Gegenzug endlich medizinisch versorgt
zu werden. Oft denke ich auch an Majada, das kleine, drei
Monate alte, unheimlich süße syrische Baby, das ebenfalls
in Tripoli in meinen Armen in einem vertrauten Moment
kurz weggenickt war, ohne Sorgen, weil das kleine Mädchen
noch keine Ahnung hatte, dass es weder syrische noch libanesische
Papiere besitzt und zumindest bürokratisch auf
dieser Welt gar nicht existiert.
Viele Geschichten der Verzweiflung habe ich im Kopf, eine
Verzweiflung, die so groß ist, dass die Menschen, die sie mit
sich tragen, sich von keiner noch so hohen unsichtbaren
Mauer im Mittelmeer werden aufhalten lassen.
Als Korrespondent für die arabische Welt habe ich gleich
dreifach mit Flucht zu tun. Da sind die arabischen Länder
wie Syrien und der Irak, deren unsagbar brutalen Konflikten
die Menschen zu entfliehen suchen. Es sind aber auch
arabische Länder, in die die meisten fliehen. Über 90 Prozent
der syrischen Flüchtlinge leben heute in den Nachbarländern,
also auch im Libanon und in Jordanien, die Flüchtlingszahlen
im Verhältnis zur Bevölkerung haben, die man
sich in Europa nicht einmal annähernd vorstellen kann.
Und es sind die Mittelmeerküsten der arabischen Welt, die
dem Rest als Ausgangspunkt für ihren Traum von einem
sichereren
und besseren Leben dienen. Es ist unmöglich, in
der arabischen Welt dem Thema Flucht zu entfliehen.
Aufgeschrieben habe ich hier Fluchtgeschichten aus den
letzten vier Jahren, seit Beginn des Syrienkonfliktes. Vieles
davon wirkt so aussichtslos und dramatisch, dass selbst ich
als erfahrener Nahostkorrespondent, der aus vielen Kriegen
und Krisen in den letzten zwanzig Jahren berichtet
hat, manchmal nachts aufwachte, weil mich manche dieser
Fluchtgeschichten bis in den Schlaf verfolgten. Insofern ist
dieses Buch auch ein Stück Therapie, denn indem man die
Geschichten weiterzählen kann, verarbeitet man sie auch
selbst. In ihnen steckt aber auch eine große Portion Ohnmacht,
darüber zwar berichten zu können, aber auf die einzelnen
Schicksale wenig Einfluss zu haben. »Vielen Dank für
das Gespräch, lieber Flüchtling«, und dann zieht jeder seines
Weges. Von den meisten, die ich getroffen habe, weiß ich
nicht, ob sie heute immer noch im selben Verschlag leben,
ob sie im Mittelmeer ertrunken sind oder ob sie inzwischen
irgendwo in Europa Schutz gefunden haben. Nur eines weiß
ich sicher: In den Orten, von denen die Menschen geflohen
sind, in den Hütten, Verschlägen und Lagern, in denen sie
nach ihrer Flucht hausten, ist die Lage in den meisten Fällen
in den letzten vier Jahren nicht besser, sondern oft sogar
noch schlechter geworden.
Vielleicht, weil das alles zu düster ist und auch weil in der
aktuellen Flüchtlingsdiskussion von manchen so zynische,
manchmal offen rassistische, oft auch einfach nur
von Angst getragene Töne angeschlagen werden, war es mir
wichtig, dieses gemeinsam mit meiner Kollegin Mathilde
Schwabeneder
geschriebene Buch mit einem Lichtblick zu
beenden. Schließlich sollen die Leser nicht an dieser Welt
verzweifeln. Es ist kein Ende in rosaroten Farben, sondern
erzählt die Geschichte eines Dorfes. Frei nach dem Anfangszitat
aller Asterix-Bände über die Gallier: »Wir befinden uns
im Jahr 2015 n. Chr. Ganz Österreich sieht die Flüchtlinge als
Bedrohung. Ganz Österreich? Nein! Ein von unbeugsamen
Oberösterreichern bevölkertes Dorf hört nicht auf, hilfsbereit
zu sein.« Es war etwas ganz Besonderes für mich, von
meiner üblichen Rolle als Auslandskorrespondent in die
für mich ungewöhnliche eines Lokalreporters zu schlüpfen
und einmal vollkommen abseits meines üblichen Berichtsgebietes
für ein paar Tage in das oberösterreichische
Biotop von Großraming einzutauchen. Die dortigen Gallier:
2700 Einwohner, 50 Flüchtlinge, ein engagierter Pfarrer und
ein ebensolcher Bürgermeister und eine Gruppe unbeugsam
menschlicher Ehrenamtlicher, alleingelassen von jeglicher
staatlichen Unterstützung und von der Politik. Die
modernen Römer hatten sich hier rund um das Dorf nicht
in befestigten Lagern hinter Palisaden, sondern eher in den
Amtsstuben der nächsten Asylämter verbarrikadiert, angeführt
von den Cäsaren visionsloser Politik.
Ich ziehe meinen Hut vor diesem Dorf, das anfangs den
Flüchtlingen mit den üblichen Ressentiments begegnete,
das aber dann über sich hinausgewachsen ist und »das Tal
im Kopf« hinter sich gelassen hat. Die Tage dort haben mir
Mut und Hoffnung gegeben, dass eine lange, traumatische
Flucht auch in offenen und Zuneigung spendenden Armen
enden kann. Die Wahrheit, nicht die bittere, sondern die
durchweg gute, ist: Es gibt in Deutschland und Österreich
inzwischen viele Großramings, viele gallische Dörfer, auch
wenn sich die Medien gerne auf die Negativbeispiele stürzen.
Täglich gelebte Hilfsbereitschaft ist eben leiser als die
Schreie der Demagogen. Das Zusammenleben mit Flüchtlingen
ist vielerorts inzwischen einfach zur gelebten Normalität
geworden, mit allen damit einhergehenden täglichen
Höhen und Tiefen für alle Seiten.
Als ich in einem meiner Facebook-Postings wieder einmal
die verzweifelte Lage der Flüchtlinge im Mittelmeer beschrieben
hatte, bekam ich darauf einen Kommentar, der
sich mir eingeprägt hat: »Irgendwann werden mich meine
Enkel fragen, was ich damals getan habe, als ich davon
wusste, wie viele Menschen täglich bei der Überquerung
des Meeres sterben, oder was ich unternommen habe gegen
das Unrecht, das Flüchtlingen widerfährt«, schreibt der
Facebook-Nutzer Mario Schwaiger und fährt fort: »Soll ich
dann sagen: Ich habe moralische Diskussionen mit Leuten
geführt, die meinten, das Boot sei voll? Ich fürchte mich
vor dem Tag, an dem ich mich rechtfertigen muss.« Dem ist
nichts hinzuzufügen.
18. Juni 2015
Die Schrecken von Krieg und Vertreibung
Mathilde Schwabeneder
Die junge Frau ist die Einzige, die mit mir reden will. Plötzlich
taucht sie zwischen den aus Plastikplanen und Jutesäcken
errichteten Notunterkünften auf. Sie habe keine
Angst mehr. Weder vor den Geheimdienstlern, die es hier
in der libanesischen Bekaa-Ebene zur syrischen Grenze in
Massen geben soll, noch vor Terroristen oder islamistischen
Extremisten. Nur eine Bitte hat sie: Sie will anonym bleiben.
Dann beginnt sie zu erzählen: von ihrer Flucht aus Homs; ihr
Mann am Steuer, ihr zehnjähriger Sohn Ali auf dem Rücksitz.
In den Armen hält er seinen einjährigen Bruder Ashraf. Es
scheint, als wären sie den Kämpfen gerade entkommen, als
sie einen Schuss und ein dumpfes Geräusch hört. Die junge
Mutter dreht sich um und blickt in Alis schreckgeweitete
Augen. Einen Augenblick ist es ganz still im Auto. Dann zerreißt
Alis gellender Schrei die gespenstische Stille. Ein Querschläger
hat den Kopf des kleinen Ashraf zerfetzt. Sein Kopf,
sagt die Mutter mit zitternder Stimme, sei regelrecht explodiert.
Zwei Jahre alt wäre er jetzt geworden. Bei unserem Gespräch
sitzt der zehnjährige Ali wie versteinert neben seiner
Mutter. Seit dem tödlichen Schuss spricht er kaum mehr.
An seiner Kinderhand sind die Wunden des Durchschusses
zu sehen.
Bei der Rückfahrt nach Beirut ist es auch in unserem Auto
still. Ich bin eigentlich wegen eines Papstbesuches hier,
doch meine Gedanken sind woanders. Sie sind bei den vielen
Menschen, denen ich im Laufe meiner journalistischen
Arbeit begegnet bin, bei den Opfern von Krieg und Vertreibung.
Meine Erinnerungen reichen weit zurück. Und weit
weg. Mitten in den Sudan.
Begonnen hat alles an einem Spätwintersonntag im Jahr
1997. Meine ältere ORF-Kollegin Dolores Bauer, eine seit
Jahrzehnten engagierte Radio-Journalistin und exzellente
Afrikakennerin, rief mich an. Sie wolle mir einen Vorschlag
machen, auf den man nicht sofort antworten könne, sagte
sie einleitend. »Ich habe eine ganz einzigartige Einladung
bekommen. Ich soll einen Hilfsgüterflug in die Nuba-Berge
begleiten, doch mein Arzt sagt zu so einer harten Expedition
nein.« Alles sei noch unklar, fügte sie hinzu. Nicht einmal,
ob der Flug angesichts des Bürgerkriegs im Sudan
überhaupt möglich sei, stehe fest. Aber: »Du interessierst
dich für Menschenrechte«, ermutigte sie mich. »Das ist eine
einmalige Chance, Einblick in eine völlig unbekannte Situation
zu erhalten.«
Ein paar Tage danach, in denen ich mich mit der blutgetränkten
Geschichte dieses größten afrikanischen Staates
vertraut gemacht hatte, sagte ich zu. Ich informierte
mich besser über den Genozid an den Nuba und stellte fest,
dass die schweren Menschenrechtsverletzungen von der
internationalen
Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden.
Hunderttausende Menschen starben, ohne dass die
Welt wirklich davon Notiz nahm.
Knapp vor Ostern stehe ich dann in Lokichokio, ein einst
winziges Grashüttendorf in einer der ärmsten und trockensten
Gegenden Kenias. Seit 1989 dient es der UNO als
Basis für die Operation Lifeline Sudan. Hier steht auch ein
Kriegskrankenhaus: riesige Zelte für Tausende Menschen;
jahrelang das größte War-Hospital der Welt.
Unser Flugzeug befindet sich am äußersten Rand des kleinen
Flughafens. Dort, wo das Gelände nahtlos in die karge
Savanne übergeht. Wie getarnt durch die dicke Staubschicht
steht es da, so als wüsste es um seine Funktion. Es ist eine
DC3 aus dem Jahr 1945 und unser Flug wird kein legaler sein.
Die Grenzen von Kenia in den Sudan sind geschlossen, die
Flugverbindungen in das bürgerkriegsgeschüttelte Nachbarland
verboten. Wer von hier Richtung Norden abhebt,
hat das Land offiziell nie verlassen.
Nervosität breitet sich während der Vorbereitungen zum
Abflug auf dem Flugplatz aus. Hitzige Debatten, deren Inhalt
mir erst später bekannt geworden ist. Keine Waffen, schärft
der Organisator, der Comboni-Missionar Renato Sesana, seinem
Mittelsmann von der SPLA, der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee,
ein. Es dürfen nur Saatgut und Medikamente
geladen werden. Erst als das Tauziehen ein Ende hat,
wird das Flugzeug bestuhlt. Nicht für alle ist ein Sitzplatz
vorhanden. Einer von uns acht wird für den Start an einen
der Saatgutsäcke geschnallt.
Es ist ein riskantes Unterfangen, das ist auch mir klar,
denn die Nuba-Berge sind schon jahrelang komplett von der
Außenwelt abgeschnitten.
Der Pilot kann nur auf Sicht fliegen, ohne jeglichen Funkkontakt,
da wir ja als fliegendes »U-Boot« auf rund 4000 Meter
Höhe unterwegs sind. Als sich die Wolken über den Nilmarschen
verdichten, tauchen plötzlich Zweifel auf, ob eine
Landung überhaupt möglich sein wird. »Wir wissen nicht
genau, wo sich der Airstrip befindet«, erklärt der Buschpilot.
»Die Pisten werden wegen der Kämpfe ständig verlegt. Ich
muss daher sehen können, wo ich landen kann.«
Die Landung erfolgt sechs Stunden später. Der Airstrip ist
kurz und steinig. Ein kleines Stück Land, auf dem Büsche
und Bäume gerodet wurden, mehr nicht. 45 Grad im Schatten,
sagt der Pilot, und schon muss alles ganz schnell gehen.
Dutzende Männer und Frauen tauchen auf und laufen auf
die Piste. Sie laden Kisten und Säcke aus, da startet das Flugzeug
bereits durch und hebt wieder ab. Landung und Start,
lerne ich, sind höchst gefährlich. In diesen wenigen Minuten
ist das Flugzeug ein perfektes Ziel für die Feinde, sprich:
die Regierungstruppen. Der Beweis - eine vor langer Zeit
ausgebrannte Maschine - steht in Sichtweite.
Zwei Wochen später sollen wir uns wieder an dieser Stelle
einfinden. Dann würde man uns abholen, vorausgesetzt, das
Wetter spielt mit.
Jetzt bin ich plötzlich in den mythenbehafteten Nuba-Bergen
im Zentralsudan, ein Gebiet so groß wie Österreich,
dessen eine Hälfte - in der wir sind - von der SPLA kontrolliert
wird. Wie eine Insel mitten im Feindesland. Rundherum
herrschen die islamistischen Regierungstruppen.
»Wir kennen seit Jahrzehnten nichts als Krieg«, erzählt mir
George,
ein beinahe zwei Meter großer junger Lehrer. Sein
strahlendes Lächeln ist fast zahnlos, sein Körper nur Haut
und Knochen. »Der Hunger trifft uns alle«, fügt er hinzu, so
als hätte er meine Gedanken erraten.
Ein stundenlanger Fußmarsch über Stock und Stein liegt
vor uns. Die ersten Kilometer müssen wir rennen. Es ist
wichtig, so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone der
Landepiste herauszukommen. Überall können Regierungsmilizen
lauern, schärft man mir ein.
George nimmt mir mein einziges Gepäckstück, einen kleinen
Rucksack, ab. »Nehmt nur das Allernotwendigste mit«,
hat uns Renato Sesana eingetrichtert. »Jedes Kilo weniger
bedeutet ein Kilo Medikamente mehr.« Worauf ich nicht verzichtet
hatte, war meine Wasserflasche. »Die musst du fest
an dich nehmen«, rät mir George, als wir loslaufen, »denn
Trinkwasser ist hier das Kostbarste überhaupt.«
Ein paar Kilometer später ist die Flasche leer. Ich habe alles
ausgetrunken und habe trotzdem Durst.
Rundherum ist die Landschaft von der unbarmherzigen
Sonne völlig versengt. Nicht nur die Bombardements haben
den als besonders tüchtig beschriebenen Bauern ihre
Lebensgrundlage entzogen, auch der Klimawandel setzt
ihnen zu. »Es regnet kaum mehr«, erklärt mein Begleiter
und erzählt, mit welcher Härte die Regierungstruppen die
rebellische Region in die Knie zwingen wollen. »Sie kommen
mit ihren Flugzeugen, den Antonovs, und sie kommen
im Sturzflug. Sie bombardieren die Menschen auf den Feldern,
in ihren Hütten und bei den Wasserstellen. Manchmal
treiben sie ihre Opfer vor sich her, erst dann werfen sie
die Bomben. Sie haben offenbar auch noch Spaß daran, uns
zu töten.« Die Überlebenden haben aus Angst vor den ständigen
Angriffen ihre Dörfer in den fruchtbaren Ebenen verlassen
und sind hinauf in die Berge geflüchtet. Als Flüchtlinge
im eigenen Land leben sie in Höhlen versteckt und
meist kilometerweit von einer Wasserstelle entfernt. Menschen,
die chancenlos sind, eine Flucht ins sichere Ausland
anzutreten.
Es ist schon fast Abend, als wir unser Ziel erreichen: Das
Headquarter des lokalen SPLA-Commanders, eine Ansammlung
kleiner Hütten. Der Schreck ist groß, als wir erfahren,
dass unsere kleine Kiste mit Lebensmitteln gestohlen worden
ist. Das Abendessen scheint gestrichen, doch die Nachricht
hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Und so wird uns
das gebracht, was die Menschen in diesem unzugänglichen
Flecken Erde noch haben: ein paar Jungzwiebeln, ein paar
Mangos, ein halbverhungertes Huhn.
Das Huhn stammt von der Frau des Kommandanten, oder
genauer seiner Nebenfrau. Am Morgen darauf kommt sie auf
mich zu. Sie lacht und tippt sich mit dem Zeigefinger auf die
Brust. »Hosna«, sagt sie mehrmals. Dann tippt sie mich an.
»Mathilde«, antworte ich, und die Buben und Mädchen, die
in Respektabstand alles beobachten, springen auf und rufen
lachend und klatschend: »Mathilde, Mathilde ...« Weder sie
noch die anderen jungen Frauen haben jemals eine »weiße
Frau« gesehen, sagt George. Da legt Hosna meine Hand auf
ihren vorgewölbten Bauch. Sie ist schwanger. Plötzlich umarmt
sie mich ganz fest. Es tut mir leid, dass ich gehen muss,
aber meine Reise hat erst begonnen. Lange Fußmärsche liegen
vor uns.
Die Zeit in den Nuba-Bergen bringt mich immer wieder
an den Rand der eigenen Grenzen. Ich lerne jeden Tropfen
Wasser zu schätzen, denn dafür gehen die meist jungen
Frauen oft stundenlang zum nächsten Wasserloch und riskieren
dabei, entführt und vergewaltigt zu werden. Ich bin
oft zu Tränen gerührt, mit welchem Stolz diese Menschen
das Beste aus dieser Hölle machen. Und manchmal schäme
ich mich für die Welt, aus der ich komme.
Eines Tages bricht Chaos in einem kleinen Dorf aus. Fluglärm
ist zu hören. Doch es ist keine der gefürchteten Antonovs,
es ist eines der seltenen Lifeline-Flugzeuge. Mit erhobenen
Armen stehen die Menschen auf der großen Lichtung.
Jubel brandet auf, als es plötzlich Säcke regnet. Doch die
Freude schlägt in Enttäuschung und Verwunderung um.
Einige
der aufgeplatzten Säcke enthalten dicke, kratzende
Militärdecken, andere Secondhand-Kleider. Ein kleines
Mädchen hat einen mit Strass und Lurex durchwirkten
Body einer Luxusmarke ergattert und wundert sich über
das »sonderbare Kleid«. Eine junge Frau blickt erstaunt auf
eine schon etwas vergilbte, bodenlange Samtrobe. Neben
ihr sammelt ein Junge die Getreidekörner auf, die sich beim
Aufprall überall verteilt haben. Er hat einen kleinen, kaputten
Metallbecher in Händen. Diesen füllt er fast ehrfurchtsvoll.
Dann tritt er seinen Heimweg an.
Als ich George frage, was er sich gewünscht hätte, sagt
er: Salz. »Wir haben seit vielen, vielen Jahren kein Salz. Ich
träume von gesalzenem Essen.«
Auch heute, während ich dieses Buch schreibe, nehme ich
oft wahr, dass Menschen, die ständig am Rand der Vernichtung
leben, dankbar für Kleinigkeiten sind. Und wie wichtig
es ist, die Hintergründe ihres Schicksals zu kennen, um ihre
Ausweglosigkeit zu begreifen. So wie in den Nuba-Bergen.
In diesem irrwitzigen Krieg, in dem ich mich 1997 wiederfinde,
geht es um die gewaltsame Umsetzung der Scharia,
um Erdöl und internationale Begehrlichkeiten. Die Opfer
sind meist unschuldige Zivilisten, Christen wie Muslime.
Als wir zwei Wochen später zu unserem SPLA-Headquarter
zurückkommen, sagt George, er solle mich zu Hosna in
die Frauenhütte bringen. Er bleibt draußen, denn hinein
darf er nicht. Ich muss mich bücken, um durch den Eingang
zu kommen. Meine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit
gewöhnen. Dann sehe ich sie auf einer Holzpritsche liegen.
Auf dem Boden sind dunkle Flecken. Es riecht nach Blut.
Auf Hosnas Stirne stehen Schweißperlen. Lächelnd hält sie
mir ihr soeben geborenes Baby hin. Sie tippt auf die Brust
des kleinen Mädchens und flüstert: »Mathilde«.
Ich bleibe lange bei ihr sitzen und wünsche ihr und der
Kleinen, in einer Sprache, die sie nicht versteht, Glück, Frieden
und viel Freude.
Bald darauf brechen wir wieder auf. Ein letzter langer Fußmarsch.
Spätestens am mittleren Vormittag sollen wir beim
Airstrip sein. Wenn das Flugzeug bis 12 Uhr nicht kommt,
dann verschiebt sich alles auf den nächsten Tag. Um 13 Uhr
ist die Moral unserer Gruppe schwer angeschlagen. Die Vorstellung,
hier auf unbestimmte Zeit bleiben zu müssen -
ohne Essen und Trinken - macht auch mir Angst. Eine halbe
Stunde später belebt sich plötzlich die Landschaft. Wie von
Geisterhand erheben sich unter den Büschen und Bäumen
Menschen und deuten alle in eine Richtung. Wir Europäer
sehen nichts. Wir hören auch nichts. Erst nach einiger Zeit
nehmen wir das Flugzeug wahr. Als es aufsetzt, rennen wir
alle gemeinsam los. George hebt mich in das Flugzeug, das
mit noch offener Tür wieder abhebt. Ich kann mich kaum
verabschieden. Der Pilot zieht hoch. Unter uns weit über
tausend Menschen, die uns winkend verabschieden.
Tränen rinnen mir über die Wangen. Ich bin so glücklich,
diesem Inferno zu entrinnen. Aber ich fühle mich auch wie
eine Verräterin, denn ich habe die Möglichkeit, ein anderes
Leben zu führen.
Hosna und Mathilde habe ich nie wiedergesehen. Sie haben
mir aber den Blick für andere geöffnet.
Die Schicksale Vertriebener begleiten seitdem meine Arbeit.
Ich bin Flüchtlingen in vielen Ländern - von Angola
bis Mosambik, von Ruanda bis Mazedonien - begegnet. Jetzt,
wo Karim El-Gawhary und ich dieses Buch schreiben, sind
weltweit 60 Millionen Menschen auf der Flucht.
22. Juni 2015
© KREMAYR & SCHERIAU
Doch Soha konnte und wollte sich nicht entscheiden,
strampelte, um über Wasser zu bleiben und wartete ab, was
als Nächstes geschehen würde. Als Erstes ließ die dreijährige
Haya los und tauchte für immer in den Fluten ab. Ihr
folgten Sama und dann Julia in die Tiefe des nächtlichen
Meeres. Sechs Stunden später wurde Soha mit ihrer ältesten
Tochter Sarah von der ägyptischen Küstenwache aus dem
Wasser geborgen. So kam es, dass sie diese Geschichte überhaupt
noch erzählen konnte.
Es gibt viele Sohas, von denen wir nie hören werden. Vielleicht
sind es solche Geschichten, bei denen man kurz innehalten
sollte, um sich Gedanken über die Gnade des
eigenen Geburtsortes zu machen und sich zu vergegenwärtigen,
dass es reiner Zufall ist, dass der Leser oder die Leserin
wahrscheinlich im friedlichen, relativ wohlhabenden
Europa
geboren wurde. Man hätte genauso gut in Aleppo,
Damaskus, Homs oder Mossul das Licht der Welt erblicken
können. Und vielleicht würde man dann heute auch eines
Nachts im Mittelmeer strampeln und sich dabei überlegen
müssen: Welches meiner Kinder lasse ich los? »Ich
habe nichts dazu beigetragen, in der Lotterie des Lebens
fern von täglichem Kriegshorror und Verfolgung geboren
worden zu sein.« Sich das klarzumachen, ist das beste Re-
zept gegen Überheblichkeit und Indifferenz in der gegenwärtigen
Flüchtlingsdebatte, in der es keine einfachen Antworten
gibt, die aber von einem Grundgefühl der Empathie
gegenüber jenen getragen sein sollte, die zur Flucht gezwungen
wurden und um deren Geschichten es in diesem
Buch geht.
In den ägyptischen sozialen Medien kursierte Anfang
Mai 2015 ein fiktiver Abschiedsbrief eines syrischen Flüchtlings,
geschrieben bevor er im Mittelmeer ertrunken ist.
Darin heißt es: »Danke liebes Meer, du bist der einzige, der
mich ohne Visum aufgenommen hat ... und danke liebe Fische,
dass ihr mich aufgefressen habt, ohne nach meiner
Religion
oder nach meinen politischen Verbindungen zu
fragen.« Unterschrieben: »Wenn ihr das lest, bin ich leider
ertrunken.«
Ich musste an diesen Brief denken, als ich im selben Monat
auf der Mittelmeerinsel Malta recherchierte und auf
dem großen Friedhof in Valletta einen Strauß Blumen auf
die Steinplatten eines namenlosen Grabes niederlegte, in
dem 24 Menschen ruhen. Die einzigen Leichen von über
700 Flüchtlingen, die zwei Wochen zuvor vor Malta ertrunken
waren. Die Sonne brannte auf die Steinplatten, auf denen
nur noch ein weiterer, schon vertrockneter Blumenstrauß
lag. Es war irgendwie ein passendes, schmuckloses
Mahnmal europäischer Flüchtlingspolitik.
Mein Kopf ist voll mit so vielen Flüchtlingen, die ich in den
letzten Jahren getroffen habe und deren Geschichten auch
der Inhalt dieses Buches sind. Amscha, die Jesidin, die ich in
einem kleinen Dorf in der Nähe des kurdischen Dohuk getroffen
habe, wohin sie sich vor ihren IS-Peinigern geflüchtet
hat, die sie zuvor wie Vieh verkauft und gekauft hatten.
Oder der kleine 13-jährige Ibrahim, dessen Mutter es zwei
Wochen zuvor zusammen mit ihm und 140 anderen Flüchtlingen
auf einem Kahn von der Küste östlich von Alexandria
aus nach Italien schaffen wollte, als die ägyptische Küstenwache
das Boot aufbrachte und Ibrahims Mutter direkt neben
ihm erschoss. Oder der junge Essam, den ich in einem
Hinterzimmer im libanesischen Tripoli getroffen habe, mit
mehreren Schusswunden aus dem Krieg in Syrien und einigen
Kugeln im Körper, der mir eine seiner Nieren zum Verkauf
anbot, um im Gegenzug endlich medizinisch versorgt
zu werden. Oft denke ich auch an Majada, das kleine, drei
Monate alte, unheimlich süße syrische Baby, das ebenfalls
in Tripoli in meinen Armen in einem vertrauten Moment
kurz weggenickt war, ohne Sorgen, weil das kleine Mädchen
noch keine Ahnung hatte, dass es weder syrische noch libanesische
Papiere besitzt und zumindest bürokratisch auf
dieser Welt gar nicht existiert.
Viele Geschichten der Verzweiflung habe ich im Kopf, eine
Verzweiflung, die so groß ist, dass die Menschen, die sie mit
sich tragen, sich von keiner noch so hohen unsichtbaren
Mauer im Mittelmeer werden aufhalten lassen.
Als Korrespondent für die arabische Welt habe ich gleich
dreifach mit Flucht zu tun. Da sind die arabischen Länder
wie Syrien und der Irak, deren unsagbar brutalen Konflikten
die Menschen zu entfliehen suchen. Es sind aber auch
arabische Länder, in die die meisten fliehen. Über 90 Prozent
der syrischen Flüchtlinge leben heute in den Nachbarländern,
also auch im Libanon und in Jordanien, die Flüchtlingszahlen
im Verhältnis zur Bevölkerung haben, die man
sich in Europa nicht einmal annähernd vorstellen kann.
Und es sind die Mittelmeerküsten der arabischen Welt, die
dem Rest als Ausgangspunkt für ihren Traum von einem
sichereren
und besseren Leben dienen. Es ist unmöglich, in
der arabischen Welt dem Thema Flucht zu entfliehen.
Aufgeschrieben habe ich hier Fluchtgeschichten aus den
letzten vier Jahren, seit Beginn des Syrienkonfliktes. Vieles
davon wirkt so aussichtslos und dramatisch, dass selbst ich
als erfahrener Nahostkorrespondent, der aus vielen Kriegen
und Krisen in den letzten zwanzig Jahren berichtet
hat, manchmal nachts aufwachte, weil mich manche dieser
Fluchtgeschichten bis in den Schlaf verfolgten. Insofern ist
dieses Buch auch ein Stück Therapie, denn indem man die
Geschichten weiterzählen kann, verarbeitet man sie auch
selbst. In ihnen steckt aber auch eine große Portion Ohnmacht,
darüber zwar berichten zu können, aber auf die einzelnen
Schicksale wenig Einfluss zu haben. »Vielen Dank für
das Gespräch, lieber Flüchtling«, und dann zieht jeder seines
Weges. Von den meisten, die ich getroffen habe, weiß ich
nicht, ob sie heute immer noch im selben Verschlag leben,
ob sie im Mittelmeer ertrunken sind oder ob sie inzwischen
irgendwo in Europa Schutz gefunden haben. Nur eines weiß
ich sicher: In den Orten, von denen die Menschen geflohen
sind, in den Hütten, Verschlägen und Lagern, in denen sie
nach ihrer Flucht hausten, ist die Lage in den meisten Fällen
in den letzten vier Jahren nicht besser, sondern oft sogar
noch schlechter geworden.
Vielleicht, weil das alles zu düster ist und auch weil in der
aktuellen Flüchtlingsdiskussion von manchen so zynische,
manchmal offen rassistische, oft auch einfach nur
von Angst getragene Töne angeschlagen werden, war es mir
wichtig, dieses gemeinsam mit meiner Kollegin Mathilde
Schwabeneder
geschriebene Buch mit einem Lichtblick zu
beenden. Schließlich sollen die Leser nicht an dieser Welt
verzweifeln. Es ist kein Ende in rosaroten Farben, sondern
erzählt die Geschichte eines Dorfes. Frei nach dem Anfangszitat
aller Asterix-Bände über die Gallier: »Wir befinden uns
im Jahr 2015 n. Chr. Ganz Österreich sieht die Flüchtlinge als
Bedrohung. Ganz Österreich? Nein! Ein von unbeugsamen
Oberösterreichern bevölkertes Dorf hört nicht auf, hilfsbereit
zu sein.« Es war etwas ganz Besonderes für mich, von
meiner üblichen Rolle als Auslandskorrespondent in die
für mich ungewöhnliche eines Lokalreporters zu schlüpfen
und einmal vollkommen abseits meines üblichen Berichtsgebietes
für ein paar Tage in das oberösterreichische
Biotop von Großraming einzutauchen. Die dortigen Gallier:
2700 Einwohner, 50 Flüchtlinge, ein engagierter Pfarrer und
ein ebensolcher Bürgermeister und eine Gruppe unbeugsam
menschlicher Ehrenamtlicher, alleingelassen von jeglicher
staatlichen Unterstützung und von der Politik. Die
modernen Römer hatten sich hier rund um das Dorf nicht
in befestigten Lagern hinter Palisaden, sondern eher in den
Amtsstuben der nächsten Asylämter verbarrikadiert, angeführt
von den Cäsaren visionsloser Politik.
Ich ziehe meinen Hut vor diesem Dorf, das anfangs den
Flüchtlingen mit den üblichen Ressentiments begegnete,
das aber dann über sich hinausgewachsen ist und »das Tal
im Kopf« hinter sich gelassen hat. Die Tage dort haben mir
Mut und Hoffnung gegeben, dass eine lange, traumatische
Flucht auch in offenen und Zuneigung spendenden Armen
enden kann. Die Wahrheit, nicht die bittere, sondern die
durchweg gute, ist: Es gibt in Deutschland und Österreich
inzwischen viele Großramings, viele gallische Dörfer, auch
wenn sich die Medien gerne auf die Negativbeispiele stürzen.
Täglich gelebte Hilfsbereitschaft ist eben leiser als die
Schreie der Demagogen. Das Zusammenleben mit Flüchtlingen
ist vielerorts inzwischen einfach zur gelebten Normalität
geworden, mit allen damit einhergehenden täglichen
Höhen und Tiefen für alle Seiten.
Als ich in einem meiner Facebook-Postings wieder einmal
die verzweifelte Lage der Flüchtlinge im Mittelmeer beschrieben
hatte, bekam ich darauf einen Kommentar, der
sich mir eingeprägt hat: »Irgendwann werden mich meine
Enkel fragen, was ich damals getan habe, als ich davon
wusste, wie viele Menschen täglich bei der Überquerung
des Meeres sterben, oder was ich unternommen habe gegen
das Unrecht, das Flüchtlingen widerfährt«, schreibt der
Facebook-Nutzer Mario Schwaiger und fährt fort: »Soll ich
dann sagen: Ich habe moralische Diskussionen mit Leuten
geführt, die meinten, das Boot sei voll? Ich fürchte mich
vor dem Tag, an dem ich mich rechtfertigen muss.« Dem ist
nichts hinzuzufügen.
18. Juni 2015
Die Schrecken von Krieg und Vertreibung
Mathilde Schwabeneder
Die junge Frau ist die Einzige, die mit mir reden will. Plötzlich
taucht sie zwischen den aus Plastikplanen und Jutesäcken
errichteten Notunterkünften auf. Sie habe keine
Angst mehr. Weder vor den Geheimdienstlern, die es hier
in der libanesischen Bekaa-Ebene zur syrischen Grenze in
Massen geben soll, noch vor Terroristen oder islamistischen
Extremisten. Nur eine Bitte hat sie: Sie will anonym bleiben.
Dann beginnt sie zu erzählen: von ihrer Flucht aus Homs; ihr
Mann am Steuer, ihr zehnjähriger Sohn Ali auf dem Rücksitz.
In den Armen hält er seinen einjährigen Bruder Ashraf. Es
scheint, als wären sie den Kämpfen gerade entkommen, als
sie einen Schuss und ein dumpfes Geräusch hört. Die junge
Mutter dreht sich um und blickt in Alis schreckgeweitete
Augen. Einen Augenblick ist es ganz still im Auto. Dann zerreißt
Alis gellender Schrei die gespenstische Stille. Ein Querschläger
hat den Kopf des kleinen Ashraf zerfetzt. Sein Kopf,
sagt die Mutter mit zitternder Stimme, sei regelrecht explodiert.
Zwei Jahre alt wäre er jetzt geworden. Bei unserem Gespräch
sitzt der zehnjährige Ali wie versteinert neben seiner
Mutter. Seit dem tödlichen Schuss spricht er kaum mehr.
An seiner Kinderhand sind die Wunden des Durchschusses
zu sehen.
Bei der Rückfahrt nach Beirut ist es auch in unserem Auto
still. Ich bin eigentlich wegen eines Papstbesuches hier,
doch meine Gedanken sind woanders. Sie sind bei den vielen
Menschen, denen ich im Laufe meiner journalistischen
Arbeit begegnet bin, bei den Opfern von Krieg und Vertreibung.
Meine Erinnerungen reichen weit zurück. Und weit
weg. Mitten in den Sudan.
Begonnen hat alles an einem Spätwintersonntag im Jahr
1997. Meine ältere ORF-Kollegin Dolores Bauer, eine seit
Jahrzehnten engagierte Radio-Journalistin und exzellente
Afrikakennerin, rief mich an. Sie wolle mir einen Vorschlag
machen, auf den man nicht sofort antworten könne, sagte
sie einleitend. »Ich habe eine ganz einzigartige Einladung
bekommen. Ich soll einen Hilfsgüterflug in die Nuba-Berge
begleiten, doch mein Arzt sagt zu so einer harten Expedition
nein.« Alles sei noch unklar, fügte sie hinzu. Nicht einmal,
ob der Flug angesichts des Bürgerkriegs im Sudan
überhaupt möglich sei, stehe fest. Aber: »Du interessierst
dich für Menschenrechte«, ermutigte sie mich. »Das ist eine
einmalige Chance, Einblick in eine völlig unbekannte Situation
zu erhalten.«
Ein paar Tage danach, in denen ich mich mit der blutgetränkten
Geschichte dieses größten afrikanischen Staates
vertraut gemacht hatte, sagte ich zu. Ich informierte
mich besser über den Genozid an den Nuba und stellte fest,
dass die schweren Menschenrechtsverletzungen von der
internationalen
Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden.
Hunderttausende Menschen starben, ohne dass die
Welt wirklich davon Notiz nahm.
Knapp vor Ostern stehe ich dann in Lokichokio, ein einst
winziges Grashüttendorf in einer der ärmsten und trockensten
Gegenden Kenias. Seit 1989 dient es der UNO als
Basis für die Operation Lifeline Sudan. Hier steht auch ein
Kriegskrankenhaus: riesige Zelte für Tausende Menschen;
jahrelang das größte War-Hospital der Welt.
Unser Flugzeug befindet sich am äußersten Rand des kleinen
Flughafens. Dort, wo das Gelände nahtlos in die karge
Savanne übergeht. Wie getarnt durch die dicke Staubschicht
steht es da, so als wüsste es um seine Funktion. Es ist eine
DC3 aus dem Jahr 1945 und unser Flug wird kein legaler sein.
Die Grenzen von Kenia in den Sudan sind geschlossen, die
Flugverbindungen in das bürgerkriegsgeschüttelte Nachbarland
verboten. Wer von hier Richtung Norden abhebt,
hat das Land offiziell nie verlassen.
Nervosität breitet sich während der Vorbereitungen zum
Abflug auf dem Flugplatz aus. Hitzige Debatten, deren Inhalt
mir erst später bekannt geworden ist. Keine Waffen, schärft
der Organisator, der Comboni-Missionar Renato Sesana, seinem
Mittelsmann von der SPLA, der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee,
ein. Es dürfen nur Saatgut und Medikamente
geladen werden. Erst als das Tauziehen ein Ende hat,
wird das Flugzeug bestuhlt. Nicht für alle ist ein Sitzplatz
vorhanden. Einer von uns acht wird für den Start an einen
der Saatgutsäcke geschnallt.
Es ist ein riskantes Unterfangen, das ist auch mir klar,
denn die Nuba-Berge sind schon jahrelang komplett von der
Außenwelt abgeschnitten.
Der Pilot kann nur auf Sicht fliegen, ohne jeglichen Funkkontakt,
da wir ja als fliegendes »U-Boot« auf rund 4000 Meter
Höhe unterwegs sind. Als sich die Wolken über den Nilmarschen
verdichten, tauchen plötzlich Zweifel auf, ob eine
Landung überhaupt möglich sein wird. »Wir wissen nicht
genau, wo sich der Airstrip befindet«, erklärt der Buschpilot.
»Die Pisten werden wegen der Kämpfe ständig verlegt. Ich
muss daher sehen können, wo ich landen kann.«
Die Landung erfolgt sechs Stunden später. Der Airstrip ist
kurz und steinig. Ein kleines Stück Land, auf dem Büsche
und Bäume gerodet wurden, mehr nicht. 45 Grad im Schatten,
sagt der Pilot, und schon muss alles ganz schnell gehen.
Dutzende Männer und Frauen tauchen auf und laufen auf
die Piste. Sie laden Kisten und Säcke aus, da startet das Flugzeug
bereits durch und hebt wieder ab. Landung und Start,
lerne ich, sind höchst gefährlich. In diesen wenigen Minuten
ist das Flugzeug ein perfektes Ziel für die Feinde, sprich:
die Regierungstruppen. Der Beweis - eine vor langer Zeit
ausgebrannte Maschine - steht in Sichtweite.
Zwei Wochen später sollen wir uns wieder an dieser Stelle
einfinden. Dann würde man uns abholen, vorausgesetzt, das
Wetter spielt mit.
Jetzt bin ich plötzlich in den mythenbehafteten Nuba-Bergen
im Zentralsudan, ein Gebiet so groß wie Österreich,
dessen eine Hälfte - in der wir sind - von der SPLA kontrolliert
wird. Wie eine Insel mitten im Feindesland. Rundherum
herrschen die islamistischen Regierungstruppen.
»Wir kennen seit Jahrzehnten nichts als Krieg«, erzählt mir
George,
ein beinahe zwei Meter großer junger Lehrer. Sein
strahlendes Lächeln ist fast zahnlos, sein Körper nur Haut
und Knochen. »Der Hunger trifft uns alle«, fügt er hinzu, so
als hätte er meine Gedanken erraten.
Ein stundenlanger Fußmarsch über Stock und Stein liegt
vor uns. Die ersten Kilometer müssen wir rennen. Es ist
wichtig, so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone der
Landepiste herauszukommen. Überall können Regierungsmilizen
lauern, schärft man mir ein.
George nimmt mir mein einziges Gepäckstück, einen kleinen
Rucksack, ab. »Nehmt nur das Allernotwendigste mit«,
hat uns Renato Sesana eingetrichtert. »Jedes Kilo weniger
bedeutet ein Kilo Medikamente mehr.« Worauf ich nicht verzichtet
hatte, war meine Wasserflasche. »Die musst du fest
an dich nehmen«, rät mir George, als wir loslaufen, »denn
Trinkwasser ist hier das Kostbarste überhaupt.«
Ein paar Kilometer später ist die Flasche leer. Ich habe alles
ausgetrunken und habe trotzdem Durst.
Rundherum ist die Landschaft von der unbarmherzigen
Sonne völlig versengt. Nicht nur die Bombardements haben
den als besonders tüchtig beschriebenen Bauern ihre
Lebensgrundlage entzogen, auch der Klimawandel setzt
ihnen zu. »Es regnet kaum mehr«, erklärt mein Begleiter
und erzählt, mit welcher Härte die Regierungstruppen die
rebellische Region in die Knie zwingen wollen. »Sie kommen
mit ihren Flugzeugen, den Antonovs, und sie kommen
im Sturzflug. Sie bombardieren die Menschen auf den Feldern,
in ihren Hütten und bei den Wasserstellen. Manchmal
treiben sie ihre Opfer vor sich her, erst dann werfen sie
die Bomben. Sie haben offenbar auch noch Spaß daran, uns
zu töten.« Die Überlebenden haben aus Angst vor den ständigen
Angriffen ihre Dörfer in den fruchtbaren Ebenen verlassen
und sind hinauf in die Berge geflüchtet. Als Flüchtlinge
im eigenen Land leben sie in Höhlen versteckt und
meist kilometerweit von einer Wasserstelle entfernt. Menschen,
die chancenlos sind, eine Flucht ins sichere Ausland
anzutreten.
Es ist schon fast Abend, als wir unser Ziel erreichen: Das
Headquarter des lokalen SPLA-Commanders, eine Ansammlung
kleiner Hütten. Der Schreck ist groß, als wir erfahren,
dass unsere kleine Kiste mit Lebensmitteln gestohlen worden
ist. Das Abendessen scheint gestrichen, doch die Nachricht
hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Und so wird uns
das gebracht, was die Menschen in diesem unzugänglichen
Flecken Erde noch haben: ein paar Jungzwiebeln, ein paar
Mangos, ein halbverhungertes Huhn.
Das Huhn stammt von der Frau des Kommandanten, oder
genauer seiner Nebenfrau. Am Morgen darauf kommt sie auf
mich zu. Sie lacht und tippt sich mit dem Zeigefinger auf die
Brust. »Hosna«, sagt sie mehrmals. Dann tippt sie mich an.
»Mathilde«, antworte ich, und die Buben und Mädchen, die
in Respektabstand alles beobachten, springen auf und rufen
lachend und klatschend: »Mathilde, Mathilde ...« Weder sie
noch die anderen jungen Frauen haben jemals eine »weiße
Frau« gesehen, sagt George. Da legt Hosna meine Hand auf
ihren vorgewölbten Bauch. Sie ist schwanger. Plötzlich umarmt
sie mich ganz fest. Es tut mir leid, dass ich gehen muss,
aber meine Reise hat erst begonnen. Lange Fußmärsche liegen
vor uns.
Die Zeit in den Nuba-Bergen bringt mich immer wieder
an den Rand der eigenen Grenzen. Ich lerne jeden Tropfen
Wasser zu schätzen, denn dafür gehen die meist jungen
Frauen oft stundenlang zum nächsten Wasserloch und riskieren
dabei, entführt und vergewaltigt zu werden. Ich bin
oft zu Tränen gerührt, mit welchem Stolz diese Menschen
das Beste aus dieser Hölle machen. Und manchmal schäme
ich mich für die Welt, aus der ich komme.
Eines Tages bricht Chaos in einem kleinen Dorf aus. Fluglärm
ist zu hören. Doch es ist keine der gefürchteten Antonovs,
es ist eines der seltenen Lifeline-Flugzeuge. Mit erhobenen
Armen stehen die Menschen auf der großen Lichtung.
Jubel brandet auf, als es plötzlich Säcke regnet. Doch die
Freude schlägt in Enttäuschung und Verwunderung um.
Einige
der aufgeplatzten Säcke enthalten dicke, kratzende
Militärdecken, andere Secondhand-Kleider. Ein kleines
Mädchen hat einen mit Strass und Lurex durchwirkten
Body einer Luxusmarke ergattert und wundert sich über
das »sonderbare Kleid«. Eine junge Frau blickt erstaunt auf
eine schon etwas vergilbte, bodenlange Samtrobe. Neben
ihr sammelt ein Junge die Getreidekörner auf, die sich beim
Aufprall überall verteilt haben. Er hat einen kleinen, kaputten
Metallbecher in Händen. Diesen füllt er fast ehrfurchtsvoll.
Dann tritt er seinen Heimweg an.
Als ich George frage, was er sich gewünscht hätte, sagt
er: Salz. »Wir haben seit vielen, vielen Jahren kein Salz. Ich
träume von gesalzenem Essen.«
Auch heute, während ich dieses Buch schreibe, nehme ich
oft wahr, dass Menschen, die ständig am Rand der Vernichtung
leben, dankbar für Kleinigkeiten sind. Und wie wichtig
es ist, die Hintergründe ihres Schicksals zu kennen, um ihre
Ausweglosigkeit zu begreifen. So wie in den Nuba-Bergen.
In diesem irrwitzigen Krieg, in dem ich mich 1997 wiederfinde,
geht es um die gewaltsame Umsetzung der Scharia,
um Erdöl und internationale Begehrlichkeiten. Die Opfer
sind meist unschuldige Zivilisten, Christen wie Muslime.
Als wir zwei Wochen später zu unserem SPLA-Headquarter
zurückkommen, sagt George, er solle mich zu Hosna in
die Frauenhütte bringen. Er bleibt draußen, denn hinein
darf er nicht. Ich muss mich bücken, um durch den Eingang
zu kommen. Meine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit
gewöhnen. Dann sehe ich sie auf einer Holzpritsche liegen.
Auf dem Boden sind dunkle Flecken. Es riecht nach Blut.
Auf Hosnas Stirne stehen Schweißperlen. Lächelnd hält sie
mir ihr soeben geborenes Baby hin. Sie tippt auf die Brust
des kleinen Mädchens und flüstert: »Mathilde«.
Ich bleibe lange bei ihr sitzen und wünsche ihr und der
Kleinen, in einer Sprache, die sie nicht versteht, Glück, Frieden
und viel Freude.
Bald darauf brechen wir wieder auf. Ein letzter langer Fußmarsch.
Spätestens am mittleren Vormittag sollen wir beim
Airstrip sein. Wenn das Flugzeug bis 12 Uhr nicht kommt,
dann verschiebt sich alles auf den nächsten Tag. Um 13 Uhr
ist die Moral unserer Gruppe schwer angeschlagen. Die Vorstellung,
hier auf unbestimmte Zeit bleiben zu müssen -
ohne Essen und Trinken - macht auch mir Angst. Eine halbe
Stunde später belebt sich plötzlich die Landschaft. Wie von
Geisterhand erheben sich unter den Büschen und Bäumen
Menschen und deuten alle in eine Richtung. Wir Europäer
sehen nichts. Wir hören auch nichts. Erst nach einiger Zeit
nehmen wir das Flugzeug wahr. Als es aufsetzt, rennen wir
alle gemeinsam los. George hebt mich in das Flugzeug, das
mit noch offener Tür wieder abhebt. Ich kann mich kaum
verabschieden. Der Pilot zieht hoch. Unter uns weit über
tausend Menschen, die uns winkend verabschieden.
Tränen rinnen mir über die Wangen. Ich bin so glücklich,
diesem Inferno zu entrinnen. Aber ich fühle mich auch wie
eine Verräterin, denn ich habe die Möglichkeit, ein anderes
Leben zu führen.
Hosna und Mathilde habe ich nie wiedergesehen. Sie haben
mir aber den Blick für andere geöffnet.
Die Schicksale Vertriebener begleiten seitdem meine Arbeit.
Ich bin Flüchtlingen in vielen Ländern - von Angola
bis Mosambik, von Ruanda bis Mazedonien - begegnet. Jetzt,
wo Karim El-Gawhary und ich dieses Buch schreiben, sind
weltweit 60 Millionen Menschen auf der Flucht.
22. Juni 2015
© KREMAYR & SCHERIAU
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Autoren-Porträt von Karim El- Gawhary, Mathilde Schwabeneder
El-Gawhary, KarimKARIM EL-GAWHARYseit 1991 Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Zeitungen, seit 2004 Leiter des ORF-Nahostbüros in Kairo. Zuvor fünf Jahre als Vertreter des ARD-Rundfunkstudios in Kairo tätig. 2011 erhielt er den "Concordia Presse-Preis", 2012 wurde er zum Auslandsjournalisten des Jahres gewählt und 2013 Journalist des Jahres in Österreich. Seine bisher erschienenen Bücher waren alle Bestseller. Schwabeneder, MathildeMATHILDE SCHWABENEDERseit 2007 ORF-Korrespondentin in Rom. Erstmals übersiedelte sie 1983 nach Rom, studierte dort Romanistik, promovierte und begann ihre journalistische Arbeit. 1995 Rückkehr nach Österreich und Beginn beim ORF. Zahlreiche Radio- und Fernseh-Reportagen aus Afrika, Südosteuropa und Lateinamerika. Rom ist für die mehrsprachige Journalistin eine zweite Heimat.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Karim El- Gawhary , Mathilde Schwabeneder
- 2015, 192 Seiten, 8 Abbildungen, Maße: 14,7 x 22,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Verlag Kremayr & Scheriau
- ISBN-10: 3218009898
- ISBN-13: 9783218009898
- Erscheinungsdatum: 15.09.2015
Kommentare zu "Auf der Flucht"
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