Auf der Seite des Bösen
Meine spektakulärsten Fälle als Strafverteidiger
Mörder, Gewaltverbrecher, Sexualtäter: Fesselnd und detailliert berichtet Strafverteidiger Stephan Lucas von seinen spektakulärsten Fällen. Und davon, wie es ist, tagtäglich mit dem Bösen konfrontiert zu werden. Immer wieder...
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Produktinformationen zu „Auf der Seite des Bösen “
Mörder, Gewaltverbrecher, Sexualtäter: Fesselnd und detailliert berichtet Strafverteidiger Stephan Lucas von seinen spektakulärsten Fällen. Und davon, wie es ist, tagtäglich mit dem Bösen konfrontiert zu werden. Immer wieder stellt der Verteidiger sich die Frage, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren kann, Schwerverbrechern als Rechtsanwalt zur Seite zu stehen.
Klappentext zu „Auf der Seite des Bösen “
Stephan Lucas ist Strafverteidiger und vertritt Mörder undVergewaltiger vor Gericht. Er berichtet von seinen spektakulärsten Fällen und davon, wie es ist, tagtäglich mit dem
Bösen konfrontiert zu werden. Immer wieder stellt er sich
die Frage, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren kann,
Schwerverbrechern als Anwalt zur Seite zu stehen.
Die dramatischen Schicksale und erschütternden Taten des vermeintlich Bösen lassen niemanden kalt.
Lese-Probe zu „Auf der Seite des Bösen “
Auf der Seite des Bösen von Stephan LucasDie Hand des Mörders
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Kathleen wurde nur 16 Jahre alt. Sie war hübsch, hatte lange blonde Haare und ein bezauberndes Lächeln. Kathleen wollte viel erleben und war anderen gegenüber sehr aufgeschlossen. Und da war es auch völlig egal, ob sie es nun mit einem coolen Draufgänger oder einem schüchternen Außenseiter zu tun hatte. Interessant konnte jeder irgendwie sein.
Kathleen freundete sich mit Kai an. Kai war 17 und ging in dieselbe Klasse. Er war ein stiller und zurückhaltender Typ. Bei seinen Mitschülern war er nicht sonderlich beliebt, oder vielleicht schlimmer noch: Er war den meisten ganz einfach egal. Aber das spielte für Kathleen keine Rolle, denn mit Kai verband sie eine gemeinsame Leidenschaft: ihre Liebe zu Katzen. Und Kais Katze Lissy hatte gerade Junge bekommen. Sechs kleine Kätzchen tollten bei ihm zu Hause herum und stellten alles auf den Kopf. Das konnte Kathleen sich auf keinen Fall entgehen lassen.
An jenem 22. Juni 1994 hatte Kathleen sich mit Kai für 16 Uhr verabredet. Pünktlich stand sie bei ihm vor der Haustür. Er war an diesem Nachmittag allein zu Hause.
»Na, wo sind denn die kleinen Racker?«, fragte Kathleen lächelnd, als Kai ihr öffnete.
»Überall und nirgends«, sagte er grinsend. »Vom Vorhang bis zum Wäschekorb ist vor den kleinen Mäuschen nichts sicher.« Dass er die Katzenbabys Mäuschen nannte, fand Kathleen putzig. Sie folgte Kai erwartungsfroh ins Wohnzimmer, wo die Katzenjungen wild herumtobten und nicht zu bremsen waren. Kathleen und Kai hatten jede Menge Spaß, und die Zeit verging wie im Flug.
Wie kann es auf einmal schon halb sieben sein?, dachte Kathleen bei sich, als sie das erste Mal wieder auf die Uhr schaute. Sie hatte heute noch überhaupt nichts für die Schule getan, und für morgen standen noch Matheaufgaben an. Kurz entschlossen fragte sie Kai, ob er ihr nicht dabei helfen könne. In Mathematik war er sehr gut, das wusste sie.
Wenige Minuten später saßen beide in Kais Zimmer auf der Bettcouch, um sich herum die Mathebücher und -hefte ausgebreitet. Sinus, Cosinus, Tangens - Kai erklärte Kathleen alles mit viel Geduld. Er war richtig nett.
Plötzlich jedoch zuckte Kathleen erschrocken zurück. Aus heiterem Himmel hatte Kai nach ihrer Hand gegriffen und sie gestreichelt. Sie machte sich los und fuhr ihn entgeistert an: »Sag mal spinnst du jetzt total? Nimm sofort die Pfoten weg!« Da wurde Kai sehr ernst: »Sag mir gefälligst nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe!« Und mit ruhiger Stimme fuhr er fort: »Du hörst mir jetzt ganz genau zu. Ich will, dass du dich für mich ausziehst.«
Kathleen spürte, wie Panik in ihr aufkam. Was war bloß auf einmal in ihn gefahren? Kein Zweifel, Kai meinte es ernst. Sie versuchte aufzustehen, doch Kai ließ das nicht zu. Er packte Kathleen an beiden Handgelenken, warf sie zurück auf die Couch und kniete sich über sie. Dann schob er ihren Pulli hoch und versuchte, den BH zu öffnen. Das wollte nicht so recht gelingen, weil Kathleen die ganze Zeit wild um sich schlug. Dabei schrie sie immer lauter um Hilfe. Und das konnte Kai nicht lange ertragen.
Tausende Gedanken kreisten in seinem Kopf herum: Warum wehrte sich Kathleen bloß so? Hatte sie denn gar keine Lust auf ihn? Warum musste sie ihn nur so derartig demütigen? Kai hielt Kathleens Zurückweisung nicht mehr aus. Plötzlich empfand er ihr gegenüber nicht mehr Lust und Leidenschaft, sondern nichts anderes als puren Hass. Er griff mit beiden Händen an ihren Hals und drückte Kathleen so lange die Kehle zu, bis sie aufhörte zu atmen.
Noch im selben Jahr verurteilte die Jugendkammer des Landgerichts Stuttgart Kai wegen Mordes zu einer Jugendstrafe von neun Jahren.
Gut fünf Jahre später sollte ich Kai persönlich kennenlernen. Seit zwei Wochen durfte ich mich Rechtsanwalt nennen. Drei Tage war es her, dass ich meine Heimatstadt Frankfurt verlassen und in einer Heidelberger Strafrechtskanzlei meinen ersten Arbeitstag begonnen hatte.
Mein Kollege, der Kai damals in dem Mordverfahren verteidigt hatte, legte mir Kais Akte auf den Schreibtisch: »Lesen Sie sich das mal eben durch. Morgen besuchen Sie den Jungen im Jugendknast. Der will nun langsam mal raus.«
Nachdem der Kollege den Fall grob umrissen hatte, war ich auf die Akte gespannt. Und ich war gespannt auf meinen ersten Besuch als Verteidiger in einer Justizvollzugsanstalt. Endlich ging es los.
Ich lehnte mich zurück und fing an, Kais Akte zu lesen. Doch je mehr ich erfuhr, desto unwohler fühlte ich mich.
Schon ziemlich am Anfang der Verfahrensakte stieß ich auf Kais Beschuldigtenvernehmung. Kai war noch am Tattag festgenommen worden und hatte bei der Polizei ausgesagt. Man hatte ihn belehrt, dass er als Beschuldigter eines Mordes das Recht hatte zu schweigen; aber das hatte ihn nicht interessiert. Er hatte auch nicht nach einem Anwalt verlangt. Er gab sofort zu, Kathleen getötet zu haben.
Was dann jedoch folgte, war ein Rattenschwanz an Erklärungen, wieso, weshalb, warum es denn überhaupt zu der Tat hatte kommen können. In einer Tour folgten Rechtfertigungen über Rechtfertigungen. Die Polizei solle auch mal seine Seite verstehen. Das Ganze sei im Affekt passiert. Und so musste man beinahe den Eindruck bekommen, Kathleen trage an ihrem Schicksal eine nicht ganz unerhebliche Mitschuld. So jedenfalls klang es, wenn man Kais Worte für bare Münze nehmen wollte.
Auch Kathleens Eltern kamen in der Akte zu Wort. Sie berichteten bei der Polizei von der tiefen Trauer, die sie empfanden. Es muss schrecklich sein, wenn Eltern von ihrem Kind für immer Abschied nehmen müssen. Ich konnte ihre Verzweiflung und die Hilflosigkeit beim Lesen kaum ertragen. Sie waren so unendlich traurig. Sie beschrieben anschaulich, was für ein lebensfrohes und hilfsbereites Mädchen Kathleen gewesen war, wie interessiert und offen sie sich den Dingen zugewandt hatte. Kathleen habe ihnen an diesem Nachmittag gesagt, dass sie ihren Mitschüler Kai besuchen werde. Sie hätten sich nichts dabei gedacht, obwohl sie Kai gar nicht gekannt hatten. Aber ihre Tochter Kathleen habe immer so nett von ihm gesprochen. Und sie habe sich so sehr auf die kleinen Katzen gefreut.
Einige Seiten weiter stieß ich in der Akte auf ein Passbild von Kathleen, das sie als strahlende 15-Jährige zeigte. Ich blätterte weiter. Was folgte, waren Fotos von Kathleens Leiche, eine ganze Fotostrecke mit Aufnahmen des toten Mädchens am Tatort und vielen Bildern von der anschließenden Obduktion.
Ich hatte irgendwann nur noch einen einzigen Gedanken im Kopf: »Wenn ich morgen auf Kai treffe, dann werde ich ihm zur Begrüßung wohl die Hand schütteln müssen. Die Hand, mit der er Kathleen erwürgt hat.« Ich stellte mir abwechselnd vor, wie Kai mir seine Hand gibt, und dann wieder, wie Kai mit derselben Hand Kathleen die Kehle zudrückte.
Am nächsten Tag düste ich in meiner alten Studentenkarre über die Autobahn in Richtung JVA Hohenasperg. Das alte Auto, ein bordeauxroter Kleinwagen mit großem Stoffschiebedach, hatte mir in meiner Studentenzeit viele Jahre treue Dienste geleistet. Ich hatte es immer liebevoll als »Cabrio für Einsteiger« bezeichnet. Und so fühlte ich mich auf meiner Fahrt zum Knast eigentlich nicht anders als zu Studentenzeiten. Auch mein Anzug vermochte an diesem Gefühl nichts zu ändern, denn der stammte ebenfalls noch aus meiner Zeit an der Uni. In ihm hatte ich meine mündliche Examensprüfung bestanden.
Und doch war irgendetwas anders. Studentenauto hin, Examensanzug her, ich war nicht mehr Student. Ich war jetzt Anwalt - Strafverteidiger. Ich arbeitete von nun an nicht mehr für einen Ausbilder. Ich arbeitete in Eigenregie, und das ausschließlich für den Mandanten.
»Rechtsanwalt Lucas. Ich hätte gerne meinen Mandanten gesprochen.« Das war das »Sesam, öffne dich!«, um auf die andere Seite der Gefängnismauern zu gelangen. In einem kahlen Besucherraum ohne Fenster durfte ich warten, bis Kai aus der Zelle vorgeführt wurde. Und dann stand er vor mir. Er sah sehr freundlich aus, ein sympathischer Typ. Er lächelte mich an, sagte »Guten Tag« und - gab mir seine Hand.
Noch morgens beim Frühstück hatte ich mir nicht vorstellen können, dass mir das Gespräch mit Kai so leichtfallen würde und dass mir auch sein späterer Auftrag so wenig Sorge bereiten sollte. Kai wollte raus, und das so schnell wie möglich. Und ohne mit der Wimper zu zucken, versprach ich ihm, dem Mörder von Kathleen, dass ich alles in meiner Macht Stehende dafür tun würde.
Wahrscheinlich hatte ich da bereits kapiert: Es ging nicht darum, Kais abscheuliche Straftat auch nur annähernd gutzuheißen oder irgendwie zu verharmlosen. Sondern es ging einzig und alleine darum, ihn in seiner Strafsache optimal zu verteidigen. Und als Verteidiger habe ich schlicht und ergreifend die Verpflichtung, für die Wahrung der Rechte des Mandanten zu sorgen und mich für diese Rechte entschieden und nachhaltig einzusetzen. Das gilt selbstverständlich auch für einen Mandanten wie Kai, der einen widerlichen, grausamen Mord begangen hatte. Denn auch ein Mörder hat Rechte, und zwar die gleichen wie ein Dieb, ein Betrüger oder ein Steuerhinterzieher.
Kai durfte ernsthaft darauf hoffen, bald freizukommen, obwohl er von der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe von neun Jahren demnächst erst zwei Drittel verbüßt hatte.
Weil Kai, als er die Tat beging, erst 17 Jahre alt gewesen war, galt für ihn das Jugendstrafrecht. Er hatte deshalb von vornherein eine Jugendstrafe von höchstens zehn Jahren zu erwarten gehabt. Wäre er bei der Tat bereits erwachsen gewesen, hätte er selbstverständlich mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe rechnen müssen.
Auch wenn sich in der Bevölkerung hartnäckig der Irrglaube hält, dass mit »lebenslänglich« eine Haftstrafe von 15 Jahren gemeint ist: »Lebenslang« heißt - wie das Wort schon sagt - tatsächlich nichts anderes als lebenslang. Da das Strafgesetzbuch aber bei allen anderen zeitigen Freiheitsstrafen die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung auf Bewährung vorsieht, meist nach zwei Dritteln der Haft, musste der Gesetzgeber beim Mord ein wenig tricksen. Denn schließlich kann niemand voraussehen, wann ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter zwei Drittel seines Lebens hinter sich hat. Deshalb hat der Gesetzgeber bei Erwachsenen festgelegt, dass bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe eine Haftentlassung immer frühestens nach verbüßten 15 Jahren in Betracht kommen kann - aber eben nicht muss.
Da Kai mit seinen damals 17 Jahren also nicht zu einer lebenslangen, sondern »nur« zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden war, bestand jetzt, nach bald sechs Jahren Haft, für ihn die realistische Möglichkeit, in die Freiheit entlassen zu werden. Denn Kai saß das erste Mal im Gefängnis und war damit - wie es so schön heißt - besonders haftempfindlich. Die Karten standen also gut für Kai.
»Wie kannst du wollen, dass ein Mörder früher rauskommt? Das ist skrupellos und unverantwortlich.« Ich weiß gar nicht, wie oft ich mir diesen Vorwurf von Bekannten schon habe anhören müssen. Aber mittlerweile verweise ich die empörten Fragesteller auf unsere Gesetze, an die ich mich ja streng halte. Die Gesetze haben unsere Politiker beschlossen. Und die Politiker wiederum haben wir zuvor gewählt.
Als Kai mich damals beauftragte, ihn vorzeitig aus der Haft zu holen, war sein Wunsch also nicht nur menschlich allzu gut nachvollziehbar, er war vor allem auch sein gutes Recht. Eine vorzeitige Entlassung, wie sie sich Kai wünschte, ist aber nun keine Selbstverständlichkeit, in deren Genuss ein Verurteilter einfach so kommt. Der Häftling muss auf die Freiheit gut vorbereitet sein. In der Haft und auch bei den zunächst beaufsichtigten Ausgängen muss er sich einwandfrei benehmen und sich streng an die Regeln halten. Und vor allem muss er sich schuldeinsichtig zeigen und seine Straftat engagiert aufarbeiten: Wer hartnäckig daran festhält, es sei doch alles halb so schlimm gewesen und eigentlich sei er doch unschuldig, hat schlechte Chancen. Wichtig ist auch, dass draußen geordnete Verhältnisse auf ihn warten: Familie und Freunde, Wohnung, möglichst auch eine Arbeitsstelle.
Bei der Entscheidung über die Entlassung haben viele ein Wörtchen mitzureden, zunächst natürlich die Haftanstalt, die genau darüber Auskunft geben kann, wie sich der Gefangene geführt hat. Wer zum Beispiel im Gefängnis keine rechte Lust zum Arbeiten oder ständig Stunk mit seinen Zellennachbarn hatte, bekommt dafür nun die Quittung. Auch die Staatsanwaltschaft wird angehört. Und am Ende entscheidet ein Gericht, ob eine Entlassung wirklich verantwortet werden kann. Bei allen Hürden, die ein Gefangener auf dem Weg in die Freiheit nehmen muss, hat er es stets mit ausgebildeten Juristen zu tun - mal in Gestalt eines Richters, mal in Gestalt eines Staatsanwalts und mal in Gestalt eines Inspektors in der Justizvollzugsanstalt. Und deshalb ist es das gute Recht eines jeden Häftlings, sich selbst besseres Gehör zu verschaffen, indem er sich ebenfalls eines Volljuristen bedient, nämlich eines Verteidigers.
Natürlich wusste ich das in der Theorie längst. Alle diese Fragen hatte ich mir schließlich während meines Studiums immer wieder gestellt. Und doch war es in der Praxis noch einmal etwas anderes. Es half mir, dass ich mir all das noch einmal vorbetete: Das, was ich da für Kai tat, war völlig in Ordnung. An dem Einsatz für den Mandanten, an der Wahrung seiner Rechte ist nichts Ehrenrühriges oder Unmoralisches, mag es einem als Anwalt auch immer wieder mal vorgeworfen werden.
Aber das alles war leider noch keine Antwort auf eine ganz andere wesentliche Frage: Wollte ich persönlich denn wirklich verteidigen? Anders gefragt: Wollte ich mich für jemanden starkmachen, der möglicherweise eine Straftat, vielleicht sogar ein Kapitalverbrechen begangen hat?
Was ich ursprünglich als Berufsziel einmal im Sinn gehabt hatte, war PR-Arbeit - Public Relations - , am liebsten eine Lobbytätigkeit. Welches Studienfach mich darauf am besten vorbereiten würde, war mir nicht ganz klar. So ließ ich mich von Ossi, einem alten Freund meiner Eltern, beraten, der sich mit Öffentlichkeitsarbeit auskannte.
Ossi empfahl mir, BWL zu studieren. Dies würde mich perfekt auf eine Tätigkeit in einem Unternehmen vorbereiten. Um PR zu machen, müsste ich mich dann nur noch entsprechend spezialisieren. Das war im Grunde genommen kein schlechter Rat, nur: Mit meinen kläglichen Mathekenntnissen würde ich spätestens beim Makro-Mikro-Schein mit Pauken und Trompeten untergehen. Also kamen wir auf Jura - die Allzweckwaffe!
Wer hätte denn ahnen können, dass ich bereits nach dem ersten Semester die PR-Idee verwerfen würde, weil sich für mich alles nur noch um meine neue Leidenschaft, das Strafrecht, drehen sollte? Vorlesungen, freiwillige Seminare, Tutorentätigkeiten an verschiedenen Strafrechtslehrstühlen. Ich war schnell beim Strafrecht angekommen. Zivilrecht, öffentliches Recht - das alles war lästiges Beiwerk.
So viele Fragen beschäftigten mich auf einmal im Studium, und sie beschäftigen mich heute noch genauso: Warum straft der Staat? Welchen Zweck verfolgt er mit den Strafen? - Sühne? Abschreckung? Wiedereingliederung? Wieso wird jemand überhaupt zum Straftäter? Und immer wieder auch die Diskussion: Todesstrafe, ja oder nein?
Mit solchen und vielen anderen Themen habe ich mich das ganze Studium und Referendariat über voller Leidenschaft beschäftigt. Und es gibt sie im Strafrecht einfach nicht: Die »richtige« Antwort auf alle diese Fragen. Natürlich, manchmal würde man es sich wünschen, dass die Entscheidung einfach und glasklar auf der Hand liegt: »Ja, so ist es genau richtig, so ist die Sache für alle Beteiligten zufriedenstellend erledigt.« Aber so ist das Recht nicht, denn es ist von und für Menschen gemacht. Und Menschen und ihre Taten sind nun einmal verschieden. Nachdem ich das begriffen und akzeptiert hatte, war ich sogar froh darüber, dass es keine vorgefertigten Antworten gab. Genau das ist die Stärke unseres Gesetzes.
Aber natürlich muss man erst einmal auch lernen, damit umzugehen, dass es im Strafrecht letztlich keine vollends befriedigenden Lösungen gibt. Die kann es gar nicht geben, denn immerhin geht es hier um Straftaten, und am besten wäre es wohl, die jeweilige Straftat wäre erst gar nicht begangen worden. Trotzdem: Mein Anliegen ist es, meinen Mandanten zu ihrem Recht zu verhelfen. Und immer wieder nach der besten Lösung zu suchen. Genau darin liegt für mich der besondere Reiz meines Berufs.
So verwundert es eigentlich nicht, dass ich weder Richter noch Staatsanwalt geworden bin, sondern Rechtsanwalt - und dass ich in dieser Rolle vom ersten Tag an ausschließlich Strafverteidigungen übernommen habe. Heute glaube ich, dass man entweder Strafverteidiger ist - oder man ist es eben nicht. Das wurde mir allerdings erst nach einem einschneidenden Erlebnis bewusst.
Im Rahmen meines zweijährigen Referendariats wurde ich auch drei Monate lang bei der Staatsanwaltschaft ausgebildet. Irgendwann stand für mich endlich der erste Tag als Sitzungsvertreter für die Staatsanwaltschaft an. Um nämlich die ganze Theorie endlich einmal in der Praxis erleben zu können, dürfen die Referendare an einigen Tagen in die Rolle des Staatsanwalts schlüpfen. In einer übergeworfenen Leih-Robe sollte ich als Staatsanwalt vor Gericht die Anklage gegen zwei junge Männer vertreten, die in einer Videothek mit dem Besitzer in Streit geraten waren. Dazu gehörte auch, dass ich am Ende in meinem Plädoyer beantragen sollte, ob und wie die beiden zu verurteilen waren.
Die Geschichte an sich war eher banal: Die beiden Angeklagten hatten diverse entliehene Pornofilmchen nicht wieder zurückgegeben. Darüber waren sie mit dem Besitzer der Videothek so sehr in Streit geraten, dass das Ganze in einer handfesten Schlägerei endete.
Meine Ausbilderin hatte noch am Vortag zu mir gesagt: »Herr Lucas, tun Sie in der Sitzung nur Dinge, die Sie persönlich vertreten können.« Ein folgenschwerer Fehler, wie sich im Nachhinein erwies.
Denn genau das tat ich dann auch. Wie ferngesteuert suchte ich bei meiner Vorbereitung auf den Sitzungstag die Akte von vorne bis hinten nur nach Unstimmigkeiten und Fehlern ab, die dem sachbearbeitenden Staatsanwalt unterlaufen sein könnten. Richtig wäre es natürlich gewesen, hier nicht einseitig nach entlastenden Punkten für die Angeklagten zu suchen, sondern in alle Richtungen offen an die Sache heranzugehen. Voller Überzeugung beantragte ich als Vertreter der Staatsanwaltschaft in meinem Schlussplädoyer am nächsten Tag einen Freispruch für die beiden Angeklagten!
Der Schuss musste nach hinten losgehen. Mein Plädoyer war geradezu ein Angriff auf den sachbearbeitenden Staatsanwalt, der die Details des Falles untersucht und herausgearbeitet hatte. Der Richter sah hierin jedenfalls einen Affront und schimpfte in der Urteilsbegründung sehr über mich. Und meine Ausbilderin war auch nicht sonderlich beglückt über mein angeklagtenfreundliches Verhalten vor Gericht, bei dem ich eher wie ein Verteidiger aufgetreten war.
Ich fand die Schelte nicht ganz in Ordnung: Irgendwie wurde mir dabei ein bisschen zu sehr außer Acht gelassen, dass der eine der beiden Angeklagten am Ende tatsächlich freigesprochen wurde - so wie ich es beantragt hatte. Mein Antrag hatte also der tatsächlichen Beweislage entsprochen und war damit »richtig« gewesen. Trotzdem hätten andere Staatsanwälte in meiner Situation, nicht zuletzt der Verfasser der Anklageschrift selbst, in der Verhandlung vor Gericht bis zum Schluss alles darangesetzt, eine Verurteilung beider Angeklagten zu erreichen. Diese Vorstellung fand ich sehr beklemmend. Auch was die Schöffen, also die beiden beteiligten Laienrichter, in der Sitzungspause untereinander tuschelten, desillusionierte mich: »Na ja, wer solche perversen Filmchen ausleiht, dem ist doch alles zuzutrauen.«
Ich spürte während meiner Zeit bei der Staatsanwaltschaft, dass ich die Rolle des Anklägers nicht übernehmen wollte, schon gar nicht auf Geheiß eines Vorgesetzten. Ich möchte auch nicht ausgeschimpft werden, wenn ich von der Schuld eines Angeklagten nicht überzeugt bin, wenn mir die Beweise nicht ausreichen und ich deshalb auf Freispruch plädiere. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass ich generell nicht im Glashaus sitzen und mit Steinen werfen möchte.
Die anschließende viermonatige Referendariatsstation bei dem leider früh verstorbenen Vollblut-Strafverteidiger Alfred Schumacher in Frankfurt ließ den Knoten dann endgültig platzen. Bald schon wusste ich es: »Ich möchte verteidigen - ich BIN Verteidiger.«
Das war auch im Fall von Kai so.
Ich hatte Kai die Hand gegeben. Ich hatte akzeptiert, dass er Rechte hat. Es war mir auch erstaunlich leichtgefallen, seinen Auftrag anzunehmen. Ich fragte mich nur: War ich denn auch persönlich bereit dazu?
...
© 2012 Knaur Taschenbuch
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Kathleen wurde nur 16 Jahre alt. Sie war hübsch, hatte lange blonde Haare und ein bezauberndes Lächeln. Kathleen wollte viel erleben und war anderen gegenüber sehr aufgeschlossen. Und da war es auch völlig egal, ob sie es nun mit einem coolen Draufgänger oder einem schüchternen Außenseiter zu tun hatte. Interessant konnte jeder irgendwie sein.
Kathleen freundete sich mit Kai an. Kai war 17 und ging in dieselbe Klasse. Er war ein stiller und zurückhaltender Typ. Bei seinen Mitschülern war er nicht sonderlich beliebt, oder vielleicht schlimmer noch: Er war den meisten ganz einfach egal. Aber das spielte für Kathleen keine Rolle, denn mit Kai verband sie eine gemeinsame Leidenschaft: ihre Liebe zu Katzen. Und Kais Katze Lissy hatte gerade Junge bekommen. Sechs kleine Kätzchen tollten bei ihm zu Hause herum und stellten alles auf den Kopf. Das konnte Kathleen sich auf keinen Fall entgehen lassen.
An jenem 22. Juni 1994 hatte Kathleen sich mit Kai für 16 Uhr verabredet. Pünktlich stand sie bei ihm vor der Haustür. Er war an diesem Nachmittag allein zu Hause.
»Na, wo sind denn die kleinen Racker?«, fragte Kathleen lächelnd, als Kai ihr öffnete.
»Überall und nirgends«, sagte er grinsend. »Vom Vorhang bis zum Wäschekorb ist vor den kleinen Mäuschen nichts sicher.« Dass er die Katzenbabys Mäuschen nannte, fand Kathleen putzig. Sie folgte Kai erwartungsfroh ins Wohnzimmer, wo die Katzenjungen wild herumtobten und nicht zu bremsen waren. Kathleen und Kai hatten jede Menge Spaß, und die Zeit verging wie im Flug.
Wie kann es auf einmal schon halb sieben sein?, dachte Kathleen bei sich, als sie das erste Mal wieder auf die Uhr schaute. Sie hatte heute noch überhaupt nichts für die Schule getan, und für morgen standen noch Matheaufgaben an. Kurz entschlossen fragte sie Kai, ob er ihr nicht dabei helfen könne. In Mathematik war er sehr gut, das wusste sie.
Wenige Minuten später saßen beide in Kais Zimmer auf der Bettcouch, um sich herum die Mathebücher und -hefte ausgebreitet. Sinus, Cosinus, Tangens - Kai erklärte Kathleen alles mit viel Geduld. Er war richtig nett.
Plötzlich jedoch zuckte Kathleen erschrocken zurück. Aus heiterem Himmel hatte Kai nach ihrer Hand gegriffen und sie gestreichelt. Sie machte sich los und fuhr ihn entgeistert an: »Sag mal spinnst du jetzt total? Nimm sofort die Pfoten weg!« Da wurde Kai sehr ernst: »Sag mir gefälligst nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe!« Und mit ruhiger Stimme fuhr er fort: »Du hörst mir jetzt ganz genau zu. Ich will, dass du dich für mich ausziehst.«
Kathleen spürte, wie Panik in ihr aufkam. Was war bloß auf einmal in ihn gefahren? Kein Zweifel, Kai meinte es ernst. Sie versuchte aufzustehen, doch Kai ließ das nicht zu. Er packte Kathleen an beiden Handgelenken, warf sie zurück auf die Couch und kniete sich über sie. Dann schob er ihren Pulli hoch und versuchte, den BH zu öffnen. Das wollte nicht so recht gelingen, weil Kathleen die ganze Zeit wild um sich schlug. Dabei schrie sie immer lauter um Hilfe. Und das konnte Kai nicht lange ertragen.
Tausende Gedanken kreisten in seinem Kopf herum: Warum wehrte sich Kathleen bloß so? Hatte sie denn gar keine Lust auf ihn? Warum musste sie ihn nur so derartig demütigen? Kai hielt Kathleens Zurückweisung nicht mehr aus. Plötzlich empfand er ihr gegenüber nicht mehr Lust und Leidenschaft, sondern nichts anderes als puren Hass. Er griff mit beiden Händen an ihren Hals und drückte Kathleen so lange die Kehle zu, bis sie aufhörte zu atmen.
Noch im selben Jahr verurteilte die Jugendkammer des Landgerichts Stuttgart Kai wegen Mordes zu einer Jugendstrafe von neun Jahren.
Gut fünf Jahre später sollte ich Kai persönlich kennenlernen. Seit zwei Wochen durfte ich mich Rechtsanwalt nennen. Drei Tage war es her, dass ich meine Heimatstadt Frankfurt verlassen und in einer Heidelberger Strafrechtskanzlei meinen ersten Arbeitstag begonnen hatte.
Mein Kollege, der Kai damals in dem Mordverfahren verteidigt hatte, legte mir Kais Akte auf den Schreibtisch: »Lesen Sie sich das mal eben durch. Morgen besuchen Sie den Jungen im Jugendknast. Der will nun langsam mal raus.«
Nachdem der Kollege den Fall grob umrissen hatte, war ich auf die Akte gespannt. Und ich war gespannt auf meinen ersten Besuch als Verteidiger in einer Justizvollzugsanstalt. Endlich ging es los.
Ich lehnte mich zurück und fing an, Kais Akte zu lesen. Doch je mehr ich erfuhr, desto unwohler fühlte ich mich.
Schon ziemlich am Anfang der Verfahrensakte stieß ich auf Kais Beschuldigtenvernehmung. Kai war noch am Tattag festgenommen worden und hatte bei der Polizei ausgesagt. Man hatte ihn belehrt, dass er als Beschuldigter eines Mordes das Recht hatte zu schweigen; aber das hatte ihn nicht interessiert. Er hatte auch nicht nach einem Anwalt verlangt. Er gab sofort zu, Kathleen getötet zu haben.
Was dann jedoch folgte, war ein Rattenschwanz an Erklärungen, wieso, weshalb, warum es denn überhaupt zu der Tat hatte kommen können. In einer Tour folgten Rechtfertigungen über Rechtfertigungen. Die Polizei solle auch mal seine Seite verstehen. Das Ganze sei im Affekt passiert. Und so musste man beinahe den Eindruck bekommen, Kathleen trage an ihrem Schicksal eine nicht ganz unerhebliche Mitschuld. So jedenfalls klang es, wenn man Kais Worte für bare Münze nehmen wollte.
Auch Kathleens Eltern kamen in der Akte zu Wort. Sie berichteten bei der Polizei von der tiefen Trauer, die sie empfanden. Es muss schrecklich sein, wenn Eltern von ihrem Kind für immer Abschied nehmen müssen. Ich konnte ihre Verzweiflung und die Hilflosigkeit beim Lesen kaum ertragen. Sie waren so unendlich traurig. Sie beschrieben anschaulich, was für ein lebensfrohes und hilfsbereites Mädchen Kathleen gewesen war, wie interessiert und offen sie sich den Dingen zugewandt hatte. Kathleen habe ihnen an diesem Nachmittag gesagt, dass sie ihren Mitschüler Kai besuchen werde. Sie hätten sich nichts dabei gedacht, obwohl sie Kai gar nicht gekannt hatten. Aber ihre Tochter Kathleen habe immer so nett von ihm gesprochen. Und sie habe sich so sehr auf die kleinen Katzen gefreut.
Einige Seiten weiter stieß ich in der Akte auf ein Passbild von Kathleen, das sie als strahlende 15-Jährige zeigte. Ich blätterte weiter. Was folgte, waren Fotos von Kathleens Leiche, eine ganze Fotostrecke mit Aufnahmen des toten Mädchens am Tatort und vielen Bildern von der anschließenden Obduktion.
Ich hatte irgendwann nur noch einen einzigen Gedanken im Kopf: »Wenn ich morgen auf Kai treffe, dann werde ich ihm zur Begrüßung wohl die Hand schütteln müssen. Die Hand, mit der er Kathleen erwürgt hat.« Ich stellte mir abwechselnd vor, wie Kai mir seine Hand gibt, und dann wieder, wie Kai mit derselben Hand Kathleen die Kehle zudrückte.
Am nächsten Tag düste ich in meiner alten Studentenkarre über die Autobahn in Richtung JVA Hohenasperg. Das alte Auto, ein bordeauxroter Kleinwagen mit großem Stoffschiebedach, hatte mir in meiner Studentenzeit viele Jahre treue Dienste geleistet. Ich hatte es immer liebevoll als »Cabrio für Einsteiger« bezeichnet. Und so fühlte ich mich auf meiner Fahrt zum Knast eigentlich nicht anders als zu Studentenzeiten. Auch mein Anzug vermochte an diesem Gefühl nichts zu ändern, denn der stammte ebenfalls noch aus meiner Zeit an der Uni. In ihm hatte ich meine mündliche Examensprüfung bestanden.
Und doch war irgendetwas anders. Studentenauto hin, Examensanzug her, ich war nicht mehr Student. Ich war jetzt Anwalt - Strafverteidiger. Ich arbeitete von nun an nicht mehr für einen Ausbilder. Ich arbeitete in Eigenregie, und das ausschließlich für den Mandanten.
»Rechtsanwalt Lucas. Ich hätte gerne meinen Mandanten gesprochen.« Das war das »Sesam, öffne dich!«, um auf die andere Seite der Gefängnismauern zu gelangen. In einem kahlen Besucherraum ohne Fenster durfte ich warten, bis Kai aus der Zelle vorgeführt wurde. Und dann stand er vor mir. Er sah sehr freundlich aus, ein sympathischer Typ. Er lächelte mich an, sagte »Guten Tag« und - gab mir seine Hand.
Noch morgens beim Frühstück hatte ich mir nicht vorstellen können, dass mir das Gespräch mit Kai so leichtfallen würde und dass mir auch sein späterer Auftrag so wenig Sorge bereiten sollte. Kai wollte raus, und das so schnell wie möglich. Und ohne mit der Wimper zu zucken, versprach ich ihm, dem Mörder von Kathleen, dass ich alles in meiner Macht Stehende dafür tun würde.
Wahrscheinlich hatte ich da bereits kapiert: Es ging nicht darum, Kais abscheuliche Straftat auch nur annähernd gutzuheißen oder irgendwie zu verharmlosen. Sondern es ging einzig und alleine darum, ihn in seiner Strafsache optimal zu verteidigen. Und als Verteidiger habe ich schlicht und ergreifend die Verpflichtung, für die Wahrung der Rechte des Mandanten zu sorgen und mich für diese Rechte entschieden und nachhaltig einzusetzen. Das gilt selbstverständlich auch für einen Mandanten wie Kai, der einen widerlichen, grausamen Mord begangen hatte. Denn auch ein Mörder hat Rechte, und zwar die gleichen wie ein Dieb, ein Betrüger oder ein Steuerhinterzieher.
Kai durfte ernsthaft darauf hoffen, bald freizukommen, obwohl er von der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe von neun Jahren demnächst erst zwei Drittel verbüßt hatte.
Weil Kai, als er die Tat beging, erst 17 Jahre alt gewesen war, galt für ihn das Jugendstrafrecht. Er hatte deshalb von vornherein eine Jugendstrafe von höchstens zehn Jahren zu erwarten gehabt. Wäre er bei der Tat bereits erwachsen gewesen, hätte er selbstverständlich mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe rechnen müssen.
Auch wenn sich in der Bevölkerung hartnäckig der Irrglaube hält, dass mit »lebenslänglich« eine Haftstrafe von 15 Jahren gemeint ist: »Lebenslang« heißt - wie das Wort schon sagt - tatsächlich nichts anderes als lebenslang. Da das Strafgesetzbuch aber bei allen anderen zeitigen Freiheitsstrafen die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung auf Bewährung vorsieht, meist nach zwei Dritteln der Haft, musste der Gesetzgeber beim Mord ein wenig tricksen. Denn schließlich kann niemand voraussehen, wann ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter zwei Drittel seines Lebens hinter sich hat. Deshalb hat der Gesetzgeber bei Erwachsenen festgelegt, dass bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe eine Haftentlassung immer frühestens nach verbüßten 15 Jahren in Betracht kommen kann - aber eben nicht muss.
Da Kai mit seinen damals 17 Jahren also nicht zu einer lebenslangen, sondern »nur« zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden war, bestand jetzt, nach bald sechs Jahren Haft, für ihn die realistische Möglichkeit, in die Freiheit entlassen zu werden. Denn Kai saß das erste Mal im Gefängnis und war damit - wie es so schön heißt - besonders haftempfindlich. Die Karten standen also gut für Kai.
»Wie kannst du wollen, dass ein Mörder früher rauskommt? Das ist skrupellos und unverantwortlich.« Ich weiß gar nicht, wie oft ich mir diesen Vorwurf von Bekannten schon habe anhören müssen. Aber mittlerweile verweise ich die empörten Fragesteller auf unsere Gesetze, an die ich mich ja streng halte. Die Gesetze haben unsere Politiker beschlossen. Und die Politiker wiederum haben wir zuvor gewählt.
Als Kai mich damals beauftragte, ihn vorzeitig aus der Haft zu holen, war sein Wunsch also nicht nur menschlich allzu gut nachvollziehbar, er war vor allem auch sein gutes Recht. Eine vorzeitige Entlassung, wie sie sich Kai wünschte, ist aber nun keine Selbstverständlichkeit, in deren Genuss ein Verurteilter einfach so kommt. Der Häftling muss auf die Freiheit gut vorbereitet sein. In der Haft und auch bei den zunächst beaufsichtigten Ausgängen muss er sich einwandfrei benehmen und sich streng an die Regeln halten. Und vor allem muss er sich schuldeinsichtig zeigen und seine Straftat engagiert aufarbeiten: Wer hartnäckig daran festhält, es sei doch alles halb so schlimm gewesen und eigentlich sei er doch unschuldig, hat schlechte Chancen. Wichtig ist auch, dass draußen geordnete Verhältnisse auf ihn warten: Familie und Freunde, Wohnung, möglichst auch eine Arbeitsstelle.
Bei der Entscheidung über die Entlassung haben viele ein Wörtchen mitzureden, zunächst natürlich die Haftanstalt, die genau darüber Auskunft geben kann, wie sich der Gefangene geführt hat. Wer zum Beispiel im Gefängnis keine rechte Lust zum Arbeiten oder ständig Stunk mit seinen Zellennachbarn hatte, bekommt dafür nun die Quittung. Auch die Staatsanwaltschaft wird angehört. Und am Ende entscheidet ein Gericht, ob eine Entlassung wirklich verantwortet werden kann. Bei allen Hürden, die ein Gefangener auf dem Weg in die Freiheit nehmen muss, hat er es stets mit ausgebildeten Juristen zu tun - mal in Gestalt eines Richters, mal in Gestalt eines Staatsanwalts und mal in Gestalt eines Inspektors in der Justizvollzugsanstalt. Und deshalb ist es das gute Recht eines jeden Häftlings, sich selbst besseres Gehör zu verschaffen, indem er sich ebenfalls eines Volljuristen bedient, nämlich eines Verteidigers.
Natürlich wusste ich das in der Theorie längst. Alle diese Fragen hatte ich mir schließlich während meines Studiums immer wieder gestellt. Und doch war es in der Praxis noch einmal etwas anderes. Es half mir, dass ich mir all das noch einmal vorbetete: Das, was ich da für Kai tat, war völlig in Ordnung. An dem Einsatz für den Mandanten, an der Wahrung seiner Rechte ist nichts Ehrenrühriges oder Unmoralisches, mag es einem als Anwalt auch immer wieder mal vorgeworfen werden.
Aber das alles war leider noch keine Antwort auf eine ganz andere wesentliche Frage: Wollte ich persönlich denn wirklich verteidigen? Anders gefragt: Wollte ich mich für jemanden starkmachen, der möglicherweise eine Straftat, vielleicht sogar ein Kapitalverbrechen begangen hat?
Was ich ursprünglich als Berufsziel einmal im Sinn gehabt hatte, war PR-Arbeit - Public Relations - , am liebsten eine Lobbytätigkeit. Welches Studienfach mich darauf am besten vorbereiten würde, war mir nicht ganz klar. So ließ ich mich von Ossi, einem alten Freund meiner Eltern, beraten, der sich mit Öffentlichkeitsarbeit auskannte.
Ossi empfahl mir, BWL zu studieren. Dies würde mich perfekt auf eine Tätigkeit in einem Unternehmen vorbereiten. Um PR zu machen, müsste ich mich dann nur noch entsprechend spezialisieren. Das war im Grunde genommen kein schlechter Rat, nur: Mit meinen kläglichen Mathekenntnissen würde ich spätestens beim Makro-Mikro-Schein mit Pauken und Trompeten untergehen. Also kamen wir auf Jura - die Allzweckwaffe!
Wer hätte denn ahnen können, dass ich bereits nach dem ersten Semester die PR-Idee verwerfen würde, weil sich für mich alles nur noch um meine neue Leidenschaft, das Strafrecht, drehen sollte? Vorlesungen, freiwillige Seminare, Tutorentätigkeiten an verschiedenen Strafrechtslehrstühlen. Ich war schnell beim Strafrecht angekommen. Zivilrecht, öffentliches Recht - das alles war lästiges Beiwerk.
So viele Fragen beschäftigten mich auf einmal im Studium, und sie beschäftigen mich heute noch genauso: Warum straft der Staat? Welchen Zweck verfolgt er mit den Strafen? - Sühne? Abschreckung? Wiedereingliederung? Wieso wird jemand überhaupt zum Straftäter? Und immer wieder auch die Diskussion: Todesstrafe, ja oder nein?
Mit solchen und vielen anderen Themen habe ich mich das ganze Studium und Referendariat über voller Leidenschaft beschäftigt. Und es gibt sie im Strafrecht einfach nicht: Die »richtige« Antwort auf alle diese Fragen. Natürlich, manchmal würde man es sich wünschen, dass die Entscheidung einfach und glasklar auf der Hand liegt: »Ja, so ist es genau richtig, so ist die Sache für alle Beteiligten zufriedenstellend erledigt.« Aber so ist das Recht nicht, denn es ist von und für Menschen gemacht. Und Menschen und ihre Taten sind nun einmal verschieden. Nachdem ich das begriffen und akzeptiert hatte, war ich sogar froh darüber, dass es keine vorgefertigten Antworten gab. Genau das ist die Stärke unseres Gesetzes.
Aber natürlich muss man erst einmal auch lernen, damit umzugehen, dass es im Strafrecht letztlich keine vollends befriedigenden Lösungen gibt. Die kann es gar nicht geben, denn immerhin geht es hier um Straftaten, und am besten wäre es wohl, die jeweilige Straftat wäre erst gar nicht begangen worden. Trotzdem: Mein Anliegen ist es, meinen Mandanten zu ihrem Recht zu verhelfen. Und immer wieder nach der besten Lösung zu suchen. Genau darin liegt für mich der besondere Reiz meines Berufs.
So verwundert es eigentlich nicht, dass ich weder Richter noch Staatsanwalt geworden bin, sondern Rechtsanwalt - und dass ich in dieser Rolle vom ersten Tag an ausschließlich Strafverteidigungen übernommen habe. Heute glaube ich, dass man entweder Strafverteidiger ist - oder man ist es eben nicht. Das wurde mir allerdings erst nach einem einschneidenden Erlebnis bewusst.
Im Rahmen meines zweijährigen Referendariats wurde ich auch drei Monate lang bei der Staatsanwaltschaft ausgebildet. Irgendwann stand für mich endlich der erste Tag als Sitzungsvertreter für die Staatsanwaltschaft an. Um nämlich die ganze Theorie endlich einmal in der Praxis erleben zu können, dürfen die Referendare an einigen Tagen in die Rolle des Staatsanwalts schlüpfen. In einer übergeworfenen Leih-Robe sollte ich als Staatsanwalt vor Gericht die Anklage gegen zwei junge Männer vertreten, die in einer Videothek mit dem Besitzer in Streit geraten waren. Dazu gehörte auch, dass ich am Ende in meinem Plädoyer beantragen sollte, ob und wie die beiden zu verurteilen waren.
Die Geschichte an sich war eher banal: Die beiden Angeklagten hatten diverse entliehene Pornofilmchen nicht wieder zurückgegeben. Darüber waren sie mit dem Besitzer der Videothek so sehr in Streit geraten, dass das Ganze in einer handfesten Schlägerei endete.
Meine Ausbilderin hatte noch am Vortag zu mir gesagt: »Herr Lucas, tun Sie in der Sitzung nur Dinge, die Sie persönlich vertreten können.« Ein folgenschwerer Fehler, wie sich im Nachhinein erwies.
Denn genau das tat ich dann auch. Wie ferngesteuert suchte ich bei meiner Vorbereitung auf den Sitzungstag die Akte von vorne bis hinten nur nach Unstimmigkeiten und Fehlern ab, die dem sachbearbeitenden Staatsanwalt unterlaufen sein könnten. Richtig wäre es natürlich gewesen, hier nicht einseitig nach entlastenden Punkten für die Angeklagten zu suchen, sondern in alle Richtungen offen an die Sache heranzugehen. Voller Überzeugung beantragte ich als Vertreter der Staatsanwaltschaft in meinem Schlussplädoyer am nächsten Tag einen Freispruch für die beiden Angeklagten!
Der Schuss musste nach hinten losgehen. Mein Plädoyer war geradezu ein Angriff auf den sachbearbeitenden Staatsanwalt, der die Details des Falles untersucht und herausgearbeitet hatte. Der Richter sah hierin jedenfalls einen Affront und schimpfte in der Urteilsbegründung sehr über mich. Und meine Ausbilderin war auch nicht sonderlich beglückt über mein angeklagtenfreundliches Verhalten vor Gericht, bei dem ich eher wie ein Verteidiger aufgetreten war.
Ich fand die Schelte nicht ganz in Ordnung: Irgendwie wurde mir dabei ein bisschen zu sehr außer Acht gelassen, dass der eine der beiden Angeklagten am Ende tatsächlich freigesprochen wurde - so wie ich es beantragt hatte. Mein Antrag hatte also der tatsächlichen Beweislage entsprochen und war damit »richtig« gewesen. Trotzdem hätten andere Staatsanwälte in meiner Situation, nicht zuletzt der Verfasser der Anklageschrift selbst, in der Verhandlung vor Gericht bis zum Schluss alles darangesetzt, eine Verurteilung beider Angeklagten zu erreichen. Diese Vorstellung fand ich sehr beklemmend. Auch was die Schöffen, also die beiden beteiligten Laienrichter, in der Sitzungspause untereinander tuschelten, desillusionierte mich: »Na ja, wer solche perversen Filmchen ausleiht, dem ist doch alles zuzutrauen.«
Ich spürte während meiner Zeit bei der Staatsanwaltschaft, dass ich die Rolle des Anklägers nicht übernehmen wollte, schon gar nicht auf Geheiß eines Vorgesetzten. Ich möchte auch nicht ausgeschimpft werden, wenn ich von der Schuld eines Angeklagten nicht überzeugt bin, wenn mir die Beweise nicht ausreichen und ich deshalb auf Freispruch plädiere. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass ich generell nicht im Glashaus sitzen und mit Steinen werfen möchte.
Die anschließende viermonatige Referendariatsstation bei dem leider früh verstorbenen Vollblut-Strafverteidiger Alfred Schumacher in Frankfurt ließ den Knoten dann endgültig platzen. Bald schon wusste ich es: »Ich möchte verteidigen - ich BIN Verteidiger.«
Das war auch im Fall von Kai so.
Ich hatte Kai die Hand gegeben. Ich hatte akzeptiert, dass er Rechte hat. Es war mir auch erstaunlich leichtgefallen, seinen Auftrag anzunehmen. Ich fragte mich nur: War ich denn auch persönlich bereit dazu?
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Autoren-Porträt von Stephan Lucas
Lucas, StephanStephan Lucas, geboren 1972 in Frankfurt am Main, verhilft seit vielen Jahren als Fachanwalt für Strafrecht Menschen, die schwere Verbrechen begangen haben sollen, zu ihrem Recht. 2006 gründete er seine eigene Kanzlei in München. Seither wirkte er in zahlreichen medienpräsenten Strafprozessen mit. Das Fernsehpublikum kennt ihn als strengen "Staatsanwalt" aus der TV-Show "Richter Alexander Hold". Auch meldet sich Stephan Lucas regelmäßig als Rechtsexperte zu Wort (u.a. "Maischberger", "Phoenix-Runde"). 2012 veröffentlichte der Knaur-Verlag sein erstes Buch "Auf der Seite des Bösen". 2017 erschien - ebenfalls bei Knaur - sein Bestseller "Garantiert nicht strafbar". So lautet auch der Titel seines Bühnenprogramms, mit dem Stephan Lucas ab Januar 2018 als Kabarettist auf Deutschlandtour ging.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephan Lucas
- 2012, 4. Aufl., 265 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426785420
- ISBN-13: 9783426785423
- Erscheinungsdatum: 31.05.2012
Rezension zu „Auf der Seite des Bösen “
"Seine Fälle, die er in dem Buch beschriebt, fesseln den Leser." Per Hinrichs Die Welt 20121113
Pressezitat
"Seine Fälle, die er in dem Buch beschriebt, fesseln den Leser." Per Hinrichs Die Welt 20121113
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