Aufsätze, Reden, Gespräche
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Aufsätze, Reden, Gespräche vonElias Canetti
LESEPROBE
Drei Dinge sind es, die den menschlichen Geist heute vorallem beschäftigen. Das erste ist unser Erbe. Ein Mensch, der von nichts weißund die Augen öffnet, sieht eine Welt, die voll ist von gegebenen Gegenständenund Traditionen. Sie alle haben für eine Reihe von Menschen eine Bedeutung;ohne sie könnten diese Menschen nicht leben. Es gibt in dieser Welt alte Städteund Kathedralen, Landschaften und Familien, Pflanzen, die der Mensch seitEwigkeiten kultiviert, Tiere, die es gewohnt sind, mit ihm zusammenzuleben,Hochzeitsbräuche und Begräbnisse, uralte Werkzeuge und Trachten, Glaubenssätze,Namen, schöne Melodien und Geschichten. Dies alles als Ganzes zu erleben, imLaufe eines einzigen Lebens, darin ein zusammenhängendes Muster zu erkennen,das mit Bedeutung gefüllt ist statt mit verwirrenden Widersprüchen, ihm eineEinheit zu geben, nicht durch Verwerfung und Ausschluß, sondern indem manlernt, wie man es aufnehmen, wie man dafür Platz schaffen kann – das istwahrlich eine notwendige und dabei sehr schwierige Aufgabe. Um dies zuerreichen, kann es nicht genügen, sich bloß umzusehen und die Dinge auf dieübliche rationale Art kennenzulernen. Es gibt zuviel kennenzulernen und zusehen. Die spezialisierte, systematische Beschäftigung mit der Vergangenheit, dieWissenschaft der Geologie, der Archäologie, der Geschichte oder dasvergleichende Studium der Mythologien und Religionen – sie alle sind in sich zueng definiert. Sie nehmen einen einzelnen Gegenstand aus seiner komplexen,lebendigen Umgebung heraus, isolieren ihn, multiplizieren ihn, vergleichen ihnmit anderen. Sie machen zweifellos Entdeckungen und kommen zu wichtigenSchlüssen, niemand könnte es sich träumen lassen, ohne sie auszukommen, abersie haben keinen Weg gefunden, sich mit der Vergangenheit als Ganzem zubefassen. Was sie untersuchen, erscheint alles in einem gleich grellen Licht.Ein simples, auf Wiederholung gründendes numerisches System von Jahren sollvermitteln, was nicht gefühlt werden kann. Durch den Hang zur Objektivität wirdalles seines wesentlichsten Inhaltes beraubt. – Es ist die subjektiveErinnerung des einzelnen, die uns ein angemesseneres Verfahren zeigt. Lernealles kennen, was deine individuelle Erinnerung dir geben kann, laß sie sicherst anfüllen und dann erforsche sie und brauch sie auf; schaffe so etwas wieeine Wissenschaft deiner eigenen Erinnerung, und du wirst ein intellektuellerMeister der Vergangenheit werden. Dies ist, kurz gesagt, das, was Marcel Proustgetan hat.
Das zweite, was die Menschen beschäftigt, ist dieser Augenblick in unsermeigenen Leben, unsere eigene Zeit sozusagen – unsere eigene Zeit, losgelöst vonallen anderen Zeiten. Nichts kann Ihnen eine bessere Vorstellung davon geben,was hier gemeint ist, als ein Spaziergang durch die geschäftigen Straßen einermodernen Stadt. Dieses Chaos von widerstreitenden Tendenzen undBeschäftigungen, Zielen und Aktivitäten, Stimmen und Schweigen, Triumphen,Klagen, Niederlagen; die Farbigkeit und Doppeldeutigkeit des Ganzen; seineUnbekümmertheit gegenüber der Vergangenheit; der Eindruck, daß alles auf einmalgeschieht, eine Simultaneität, als ob nichts davor oder danach von Bedeutungwäre; wie klein und zerrissen die Dinge und Ereignisse wirken, während doch inallen so viel Energie steckt; wie alles sich seinen Weg bahnt, in die eine oderandere bestimmte Richtung, mit einem winzigen eigenen Willen und Widerstandgegen alles andere – das ist der tierische Aspekt unserer modernen Welt, einLeben, das in sich selbst besteht, ohne eine Vergangenheit und eine Zukunft, derschnelle und immer mehr anschwellende Fluß der Gegenwart. James Joyce hat eineMethode entwickelt, sich damit zu befassen. Er hat den Fluß der Gegenwart inder gegebenen Einheit einer Stadt, Dublin, und innerhalb eines bestimmtenTages, dem 16. Juni 1904, eingefangen.
Das dritte, was die Menschen beschäftigt, das Furchterregendste von den dreien,ist das, was kommen wird. Nichts ist hier gegeben, nichts bekannt. Es liegenkeine Gegenstände herum, von denen man mit Gewißheit sagen kann, sie würden dieZukunft bilden. Diese Kathedrale hier, mit ihren achthundert Jahren, kann heuteNacht zu Staub zerfallen, und der morgige Tag wird sie nicht mehr sehen. DieseStadt hier, die vor Leben überquillt, könnte in der nächsten Viertelstunde insich zusammenstürzen, und die kommende Nacht müßte ohne sie auskommen. AlleZerstörungen gehören der Zukunft an, so wie alle Überreste der Vergangenheitangehören. Es gibt keine Angst, die nicht wahr werden könnte; jede Äußerungkann in gewisser Hinsicht als prophetisch gelten. Hundert verschiedene Zukünftesind möglich, tausend, wer immer sich mit der Zukunft beschäftigt, hat sie alleim Kopf, eine schreckliche Last. Zweifel und Sorge um das Kommende sinduntrennbar miteinander verbunden. Angst ist der Vorbote der Zukunft. Von allenmodernen Schriftstellern ist Kafka der einzige, der die Zukunften, wenn man sosagen kann, in seinen zitternden Gliedern spürt. Er versucht nicht, sieloszuwerden. Er arbeitet sie geduldig aus, einmal auf diese Art, einmal auf dieandere. Sein Mut scheint gewaltig zu sein, und sein Mut bringt ihn um. Währenddie Völker Europas gehorsam ihren Ersten Weltkrieg führen, schlägt er standhaftseine scheinbar privaten Schlachten mit der Zukunft. Er merkt nicht einmal, wiemutig er ist. Da er es nicht versteht, sich seinen Weg durch die geschäftigenStraßen der Gegenwart zu bahnen, gelangt er zu einer ziemlich schlechtenMeinung von sich. Er kann nicht mit den Fäusten kämpfen, er ist kein Boxer; erkann nicht mit Worten schmeicheln, er ist kein geselliger Mensch. Als kleinerAngestellter bei einer Versicherung trug er die Last von jedermanns Zukunft.Kafkas Werke sind wie Pläne und Blaupausen, aber nicht von Häusern undFabriken, auch nicht von Schlachten, es sind die Pläne von individuellen undunbekannten Ereignissen.
© Hanser Verlag
- Autor: Elias Canetti
- 2005, 400 Seiten, Maße: 13,4 x 20,9 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446185208
- ISBN-13: 9783446185203
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Aufsätze, Reden, Gespräche".
Kommentar verfassen