Aufzeichnungen eines Toten
Mit beißender Ironie und bitterem Sarkasmus beschreibt "Aufzeichnungen eines Toten" (1936/37) Bulgakows Einstieg in die groteske Literatur-...
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Mit beißender Ironie und bitterem Sarkasmus beschreibt "Aufzeichnungen eines Toten" (1936/37) Bulgakows Einstieg in die groteske Literatur- und Theaterwelt im Moskau der zwanziger Jahre.
Mit beißender Ironie und bitterem Sarkasmus beschreiben die "Aufzeichnungen eines Toten" (1936/37) Bulgakows Einstieg in die groteske Literatur- und Theaterwelt im Moskau der zwanziger Jahre. Dabei parodiert er das charakterlose Erfolgsstreben seiner Schriftstellerkollegen ebenso wie ihre hündische Unterwürfigkeit gegenüber der allmächtigen Zensur. Eine wunderbare Satire und scharfe Polemik gegen die Kulturpolitik des Russland der 30er Jahre.
Aufzeichnungen eines Toten von Michail Bulgakow
LESEPROBE
Die Abenteuer beginnen
Ein Gewittergußhatte Moskau am 29. April saubergespült,
die Luft war erquickend, man fühltesich beschwingt und bekam
Appetit auf das Leben.
In meinem neuen grauen Anzug undeinem recht anständigen
Mantel ging ich durch eine Straße imZentrum der
Hauptstadt zu einem Haus, in dem ichnoch nie gewesen
war. Der Anlaßwar ein Brief in meiner Tasche, den ich überraschend
erhalten hatte. Hier ist er:
»Hochverehrter Sergej Leontjewitsch!
Ich möchte Sie schrecklich gern kennenlernen und ebensogern
über eine geheimnisvolle Sache mitIhnen sprechen,
die Sie vielleicht ganzaußerordentlich interessieren wird.
Wenn Sie Zeit haben, würde ich michglücklich schätzen,
Sie am Mittwoch um vier Uhr im Haus derStudiobühne des
Unabhängigen Theaters begrüßen zukönnen.
Mit Gruß X. Iltschin.«
Der Brief war mit Bleistift auf einBlatt Papier geschrieben,
dessen linke obere Ecke diegedruckte Aufschrift trug:
»Xaveri Borissowitsch Iltschin
Regisseur der Studiobühne
des Unabhängigen Theaters«
Ich las den Namen Iltschin zum erstenmal und hattenicht
gewußt, daß eseine Studiobühne gab. Vom Unabhängigen
Theater hatte ich schon gehört und wußte, ohne je dort gewesen
zu sein, daßes ein hervorragendes Theater war.
Der Brief interessierte michaußerordentlich, zumal ich
damals überhaupt keine Briefe bekam. Es sei erwähnt, daß
ich ein kleiner Angestellter derZeitung »Dampfschiffahrt«
bin. Ich wohne in einem ziemlichmiesen, aber separaten
Zimmer im achten Stock, Bezirk RotesTor, nahe der Chomutowski-
Gasse.
Ich ging also, atmete die erfrischteLuft und dachte daran,
daß das Gewitter noch einmal zuschlagenwürde, außerdem
grübelte ich, woher Xaveri Iltschin von meinerExistenz wissen,
wie er mich gefunden haben und waser von mir wollen
mochte. Aber wie ich mir auch denKopf zerbrach, das letztere
blieb mir ein Rätsel, und endlichkam ich auf den Gedanken,
daß er vielleicht mit mir das Zimmertauschen wollte.
Natürlich hätte ich Iltschin schreiben sollen, er möge zu
mir kommen, da er ja etwas von mirwollte, aber ich muß erwähnen,
daß ich mich meines Zimmers, derEinrichtung
und der Nachbarn schämte. Ich binüberhaupt ein Sonderling
und ein bißchenmenschenscheu. Man stelle sich vor,
Iltschin kommt herein und sieht das Sofa mitdem geplatzten
Bezug und der herausragendenSprungfeder, der Lampenschirm
überm Tisch ist aus einer Zeitunggemacht, eine
Katze läuft rum, und aus der Küchetönt das Gezeter von Annuschka.
Ich durchschritt das Gittertor underblickte eine Bude, in
der ein grauhaariger Mann Abzeichenund Brillengestelle
feilbot. Ich sprang über einenversiegenden trüben Regenbach
und stand vor dem gelben Gebäude.Mir kam der Gedanke,
dieses Haus müsse vor langer, langerZeit gebaut worden
sein, als Iltschinund ich noch gar nicht lebten.
Eine schwarze Tafel mitGoldbuchstaben verkündete, daß
hier die Studiobühne sei. Ich tratein, und sofort versperrte
mir ein kleiner Mann mit Bärtchenden Weg; er trug eine
Jacke mit grünen Kragenspiegeln.
»Zu wem wollen Sie, Bürger?« fragte er argwöhnisch und
spreizte die Finger, als wolle erein Huhn fangen.
»Ich mußden Regisseur Iltschin sprechen«, sagte ich, bemüht,
meiner Stimme einen hochmütigen Tonzu geben.
Vor meinen Augen veränderte sich derMann ganz außerordentlich.
Er legte die Hände an die Hosennahtund lächelte
ein falsches Lächeln.
»Xaveri Borissowitsch? Sofort bitte. Darf ich Ihnen den
Mantel abnehmen? Galoschen haben Sienicht?«
Der Mann nahm meinen Mantel sosorgsam entgegen, als
sei er ein kostbares Meßgewand.
Ich stieg eine Eisentreppe hinaufund erblickte ein Basrelief,
behelmte Krieger im Profil unddrohende Schwerter
darunter, sowie altertümlicheKachelöfen mit Warmluftklappen,
goldblank geputzt.
Das Gebäude schwieg, kein Menschließ sich blicken, nur
der Mann mit den grünenKragenspiegeln trottete hinter
mir her, und wenn ich mich umdrehte,sah ich an ihm stumme
Zeichen von Aufmerksamkeit,Ergebenheit, Achtung,
Liebe und Freude darüber, daß ich gekommen war und daß
er, obwohl er hinter mir ging, michführte und dorthin geleitete,
wo einsam der geheimnisvolle Xaveri Borissowitsch
Iltschin wartete.
Plötzlich wurde es dunkel, die Öfenverloren ihren fetten
weißen Glanz, Finsternis brachherein - draußen ging das
zweite Gewitter nieder. Ich klopftean die Tür, trat ein und
erblickte endlich im Dämmerlicht Xaveri Borissowitsch.
»Maksudow«,sagte ich würdevoll.
In diesem Moment spaltete weitaußerhalb von Moskau
ein Blitz den Himmel und hüllte Iltschin für einen Moment
in phosphoreszierendes Licht.
»Ja, Sie sinds, liebenswürdigerSergej Leontjewitsch!« sagte
Iltschin und lächelte listig.
Er faßtemich um die Taille und zog mich zu einem Sofa,
das meinem aufs Haar glich, sogardie Sprungfeder ragte an
derselben Stelle heraus wie bei mir,genau in der Mitte.
Bis auf den heutigen Tag kenne ichnicht die Bestimmung
dieses Zimmers, in dem dieverhängnisvolle Begegnung
stattfand. Wozu das Sofa? Was warendas für zerfledderte Noten,
die in der Ecke auf dem Fußbodenlagen? Warum stand
auf dem Fensterbrett eine Waage mitzwei Schalen? Warum
hatte mich Iltschinin diesem Zimmer erwartet und nicht
zum Beispiel in dem Saal nebenan, indessen hinterer Ecke
sich im Gewitterdämmer undeutlichein Konzertflügel abzeichnete?
Unterm Gebrummel des Gewitters sagteXaveri Borissowitsch
unheilschwer:
»Ich habe Ihren Roman gelesen.«
Ich zuckte zusammen.
Die Sache war die
2 Ein Anfall von Neurasthenie
Die Sache war die, daß ich meine bescheidene Tätigkeit als
Lektor bei der »Dampfschiffahrt«haßte und nachts, manchmal
bis zum Morgengrauen, in meinerMansarde an einem
Roman schrieb.
Geboren wurde er eines Nachts, alsich nach einem melancholischen
Traum erwachte. Ich hatte im Traummeine Heimatstadt
gesehen, Schnee, Winter, denBürgerkrieg Vor
mir war ein lautloser Schneesturm vorübergezogen, dann
hatte ich einen uraltenKonzertflügel gesehen und daneben
Leute, die gar nicht mehr lebten.Meine Einsamkeit hatte
mich im Traum bedrückt, ich hattemir selber leid getan. Tränenüberströmt
war ich aufgewacht. Ich knipste diestaubige
Glühbirne über dem Tisch an. Siebeleuchtete meine Armut
- das billige Tintenfaß,die wenigen Bücher, den Stoß alter
Zeitungen. Meine linke Seiteschmerzte von der Sprungfeder,
mein Herz war von Angst abgeschnürt.Ich hatte das Gefühl,
jetzt hier am Tisch sterben zumüssen, und meine jämmerliche
Todesangst demütigte mich dermaßen, daß ich
mich angstvoll stöhnend umsah undSchutz und Rettung vor
dem Tod suchte. Und ich fand Hilfe.Leise miaute die Katze,
die ich einmal im Torweg aufgelesenhatte. Das Tier war auf-
geregt. Mit einem Satz sprang es aufdie Zeitungen, sah mich
mit runden Augen an und fragte: Wasist passiert?
Dem mageren rauchgrauen Tier lagdaran, daß nichts
passierte. Wirklich, wer würde diesealte Katze noch ernähren
wollen?
»Das ist ein Anfall vonNeurasthenie«, erklärte ich der Katze.
»Sie steckt schon in mir, wird sichentwickeln und mich
auffressen. Aber noch lebe ich.«
Das Haus schlief. Ich blickte zumFenster hinaus. Keine
der fünf Etagen war erleuchtet, undich begriff, daß dies
kein Haus war, sondern ein Schiffmit vielen Decks, das unterm
unbewegten schwarzen Himmeldahinflog. Der Gedanke
an diese Bewegung heiterte mich auf.Ich beruhigte
mich, auch die Katze beruhigte sichund schloß die Augen.
So fing ich an, den Roman zuschreiben. Ich beschrieb
den geträumten Schneesturm. Ich gabmir Mühe zu schildern,
wie der Flügel unter der beschirmtenLampe blinkte.
Es gelang mir nicht. Aber ich warhartnäckig geworden.
Tagsüber ließ ich mir nur einesangelegen sein - für meine
subalterne Arbeit möglichst wenig Kräfte zu verbrauchen.
Ich verrichtete sie mechanisch, so, daß der Kopf unbeteiligt
blieb. Jede nur halbwegs schicklicheGelegenheit benutzte
ich, um unter dem Vorwand einerKrankheit dem
Dienst fernzubleiben. Man glaubtemir natürlich nicht, und
mein Leben wurde schwierig. Aber ichertrug alles und gewöhnte
mich sogar allmählich daran. Wie einungeduldiger
Jüngling die Stunde des Rendezvouserwartet, so erwartete
ich die Nacht. Dann kam dieverfluchte Wohnung zur Ruhe.
Ich setzte mich an den Tisch DieKatze sprang auf die Zeitungen,
doch der Roman interessierte sie sosehr, daß sie von
den Zeitungen auf die beschriebenenBlätter überzuwechseln
versuchte. Ich nahm sie beim Genickund beförderte sie
wieder auf ihren Platz.
Eines Nachts hob ich den Kopf undwunderte mich. Mein
Schiff flog nirgendwohin, das Hausstand auf seinem Platz,
und es war ganz hell. Die Birnebeleuchtete nichts, sie war
ekelhaft und aufdringlich. Ichmachte sie aus, und im Mor-
gengrauen sah ich das scheußliche Zimmer vormir. Auf dem
asphaltierten Hofschlichen mit lautlosem Diebesgang gescheckte
Kater umher. Jeder Buchstabe auf demPapier war
auch ohne Lampe deutlich zuerkennen.
»O Gott! Es ist April!« rief ich erschrocken und schrieb
mit großen Buchstaben das Wort»Ende« hin.
Ende des Winters, Ende derSchneestürme, Ende der Kälte.
Den Winter über hatte ich meinewenigen Bekannten aus
den Augen verloren, war abgerissen,hatte mir Rheuma geholt
und war ein bißchenverwildert. Aber rasiert hatte ich
mich täglich.
Während ich über all das nachdachte,ließ ich die Katze
hinaus in den Hof, dann kehrte ichins Zimmer zurück,
schlief ein und hatte wohl zum erstenmal seit dem Winter
keine Träume.
Ein Roman bedarf langwierigerKorrekturen. Viele Stellen
müssen umgeschrieben, Hunderte vonWörtern durch
andere ersetzt werden. Eine große,aber notwendige Arbeit!
Allein die Versuchung war zu stark,und kaum hatte ich die
ersten sechs Seiten redigiert, gingich wieder unter Menschen.
Ich lud mir Gäste ein. Unter ihnenwaren zwei Journalisten
aus der »Dampfschiffahrt«,Arbeitstiere wie ich,
ihre Frauen und zwei Schriftsteller.Der eine war jung und
verblüffte mich durch denunerreichbaren Schmiß, mit
dem er Erzählungen schrieb, derandere war ein älterer ausgekochter
Mann, der sich bei nähererBekanntschaft als
fürchterlicher Schweinehundentpuppte.
Eines Abends las ich ihnen etwa einViertel meines Romans
vor.
Die Frauen waren von meinem Vortragso erschöpft, daß
mich Gewissensbisse plagten. DieJournalisten und Schriftsteller
waren ausdauernder. Ihr Urteil warbrüderlich aufrichtig,
ziemlich streng und, wie ich heuteweiß, gerecht.
»Die Sprache!«rief der eine Schriftsteller (der sich hinterher
als Schweinehund entpuppte), »dieSprache ist das wichtigste!
Deine Sprache taugt nichts.«
Er leerte ein großes Glas Wodka undverschlang eine Sar-
dine. Ich goß ihm nach. Er trank wieder aus und aß ein
Stück Wurst.
»Metaphern!«schrie er kauend.
»Ja«, bestätigte der jungeSchriftsteller höflich, »die Sprache
ist ein bißchenarm.«
Die Journalisten sagten nichts, abersie nickten zustimmend
und tranken. Die Damen nickten nichtund sprachen
nicht, sie lehnten den eigens fürsie gekauften Portwein ab
und tranken Wodka.
»Sie mußja arm sein«, schrie der ältere Schriftsteller,
»eine Metapher ist doch kein Hund,ich bitte das zu bemerken!
Ohne sie ist das Leben nackt! Nackt!Nackt! Merken Sie
sich das, alter Freund!«
Die Anrede »alter Freund« waroffenbar auf mich gemünzt.
Mir wurde kalt.
Beim Abschied wurde vereinbart, daß sie wiederkommen
sollten. In der Woche danach kamensie auch. Ich las ihnen
die zweite Portion vor. Der Abendgipfelte darin, daß der ältere
Schriftsteller völlig überraschendund gegen meinen
Willen mit mir Brüderschaft trankund mich mit Leontjitsch
anredete. ()
© Verlagsgruppe RandomHouse
Übersetzung: Thomas Reschke
- Autor: Michail Bulgakow
- 2005, 192 Seiten, Maße: 11,8 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Thomas Reschke
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630620973
- ISBN-13: 9783630620978
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