Beichtgeheimnis / Baltasar Senner Bd.1
Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald. Originalausgabe
Pfarrer Baltasar Senner liebt Beerdigungen (wegen des Leichenschmauses), Rockmusik und Weihrauchduft! Doch der Friede im Bayerwald wird jäh gestört: der örtliche Sparkassendirektor lebt allzu unerwartet ab! Kurz zuvor hatte eine Unbekannte...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Beichtgeheimnis / Baltasar Senner Bd.1 “
Pfarrer Baltasar Senner liebt Beerdigungen (wegen des Leichenschmauses), Rockmusik und Weihrauchduft! Doch der Friede im Bayerwald wird jäh gestört: der örtliche Sparkassendirektor lebt allzu unerwartet ab! Kurz zuvor hatte eine Unbekannte ihre Mordgelüste gegen ihn bei Pfarrer Senner gebeichtet.
Klappentext zu „Beichtgeheimnis / Baltasar Senner Bd.1 “
Kruzifix! In einer kleinen, aber frommen Gemeinde im Niederbayerischen geht ein Racheengel umPfarrer Baltasar Senner ist irdischen Genüssen nicht abgeneigt: Er liebt Bestattungen (samt Leichenschmaus), Rockmusik und den Duft von Weihrauch - und legt das Wort Gottes vor seiner kleinen, aber frommen Gemeinde im Bayerischen Wald oft ein wenig eigenwillig aus. Doch dann wird der Gemeindefrieden plötzlich empfindlich gestört durch das offensichtlich nicht ganz freiwillige Ableben des Sparkassendirektors. Zuvor hatte eine unbekannte Dame dem Pfarrer ihre Mordgelüste gebeichtet. Hochwürden ist tief besorgt und ermittelt auf eigene Faust ...
Lese-Probe zu „Beichtgeheimnis / Baltasar Senner Bd.1 “
Beichtgeheimnis von Wolf Schreiner1
... mehr
Baltasar Senner liebte Beerdigungen. Nichts übertraf die Zeremonien, die sich um den Tod rankten. Akte des Abschieds. Beschwörungen des Lebens. Die Gesänge in der Kirche, das Gebet am Grab, Blumengestecke. Der dumpfe Ton, wenn die Erde auf das Holz des Sarges prasselte. Es war jedes Mal wieder faszinierend, das Nebeneinander von Trauer und Scheinheiligkeit zu beobachten, den berechnenden Blick der Erben, die Scheu vor dem Sarg und dem Toten, als fürchte man dessen plötzliche Auferstehung. Und nicht zu vergessen der Leichenschmaus! Höhepunkt jedes Begräbnisses. Ob Victoria Stowasser, die Wirtin, heute wieder ihre unvergleichlichen Maultaschen in gebräunter Mandelbutter servierte? Vielleicht spendierte die Witwe Plankl sogar einen italienischen Brunello-Rotwein? Ja, kein Zweifel, der Tod ging durch den Magen. Essen und Trinken linderte den Schmerz der Seele, eine spirituelle Erfahrung, zu der man sich Zeit nehmen musste. Auch wenn die Trauergäste sich für gewöhnlich einfach nur den Bauch vollschlugen, weil es etwas umsonst gab.
Der Ministrant schwenkte den Weihrauchkessel. Der Duft traf Baltasars Nase. Er nahm einen tiefen Zug, darauf achtend, dass es den Versammelten nicht auffiel, und beglückwünschte sich im Stillen zu seiner Wahl. Hatte er doch die Weihrauchlieferung erst vor zwei Tagen erhalten, aus Oman, eine seltene Sorte von der Ebene bei Hadramaut.
Dafür hatte er die Witwe Plankl um eine Extra-Spende bitten müssen, die Einnahmen in die Kirchenkasse flossen derzeit etwas spärlich. Aber die Sorte war das Geld wert, und seine Idee, der Herr möge ihm verzeihen, noch etwas zerstoßenen Rosmarin beizumischen, das Aroma - einfach himmlisch!
Doch niemand schien seine Begeisterung für den Weihrauchduft zu teilen. Keiner verzog genussvoll das Gesicht. Ein wenig enttäuscht blickte Baltasar in die Runde. Die Witwe Plankl saß in der ersten Reihe, ein Taschentuch ins Gesicht gedrückt, der Hut mit der Zierfeder war verrutscht. Die Witwe schluchzte, jede Bewegung ließ die Feder vibrieren. Baltasar ertappte sich dabei, wie er auf die Hutfeder starrte, als erwarte er von dort die Ankunft des Heiligen Geistes. Die arme Frau, den Mann so überraschend zu verlieren. Alois Plankl war offiziell Landwirt gewesen, in Wirklichkeit aber ein erfolgreicher Immobilienhändler, bekannt, besser berüchtigt, für seine hemdsärmeligen Methoden. Das Erbe solle beträchtlich sein, erzählten sich die Leute, es gab Millionen zu verteilen. Wer übernahm jetzt das Geschäft? Vielleicht die Tochter, Isabella, die neben der Witwe saß und nervös mit dem Bein wippte. Sie hatte die Figur der Mutter, eine attraktive Erscheinung. Der Freund saß zwei Reihen weiter hinten, sein Blick klebte an ihrem Nacken wie Honig. Isabella schien es zu bemerken, sie drehte sich um, ihre Lippen zuckten. Die Plankl-Tochter arbeitete im Nachbarort als Sekretärin. Eigentlich hätte sie nach dem Willen der Eltern auf die Universität gehen sollen. Vor einem Jahr war sie von zu Hause ausgezogen, die Leute erzählten, es habe Streit mit dem Vater gegeben. Der Freund, Ende zwanzig, Aussehen wie ein Sportstudent, sei der Anlass gewesen sein. Hieß es.
Baltasar hatte das Lied »Gott tilge mein Vergehen« ausgewählt. Er intonierte die ersten Takte, sogleich fielen die Trauergäste ein. Die Stimmen hallten in der Kirche wider, verbanden sich zu einem Geflecht von Tönen, schraubten sich in die Höhe, schienen sich zu verwirbeln und zu einem Körper zu formen, der in der Luft schwebte. Baltasar war wie immer von der Magie dieses Moments ergriffen, er spürte die tiefere Wahrheit des Gesangs, Gefühle, die hinter den Tönen hervorschimmerten wie blank geputztes Silber.
...Wasche mich rein von Schuld, nimm meine Sünden von mir!
Die Bänke waren bis auf den letzten Platz besetzt: Auswärtige, die Frau mit dem Gehstock aus dem Altenheim, die keine einzige Beerdigung versäumte, seitdem ihr Fernseher den Geist aufgegeben hatte. Die Honoratioren der Stadt waren gekommen, der Bürgermeister, der Sparkassendirektor, der Leiter des lokalen Parteibüros, die Vorsitzende des Tierschutzvereins. Routinetermin, wenn ein Prominenter verstarb. Aus den Augenwinkeln beobachtete Baltasar, wie manche auf den Bänken hin und her rutschten, nach der Uhr schauten oder mit geschlossenen Augen lauschten, Hingabe vortäuschend, in Wirklichkeit aber ein Nickerchen haltend, bis der Kopf zur Seite fiel und sie hochschreckten und sich verstohlen umsahen.
Mir steht meine Schuld vor Augen, ich bekenne, dass ich Böses getan ...
Das Ableben hatte auch sein Gutes, dachte Baltasar. Denn dann strömten die Menschen in die Kirche, zahlreicher noch als bei Hochzeiten. Eine morbide Mischung aus Drama, Neugierde und dem angenehmen Gefühl, nicht selbst betroffen zu sein, zog Massen von Besuchern an, machte sie zu Zaungästen des Ewigen. Hier erfuhren sie von der Unerbittlichkeit des Lebens, von der Endlichkeit des Daseins, egal, wie man sich dagegen sträubte. Das war die Botschaft des Herrn an alle Irdischen: Das Sterben gehört zum Leben wie der Schatten zur Sonne. Da solche Meldungen die Menschen aufschreckten, versprach der liebe Gott gewissermaßen Freibier für alle: Der Tod war nicht das Ende, danach kam das Paradies, ein Ort ohne Not und Sorgen, Anreise, Unterkunft, Verpflegung: all-inclusive. Auch wenn Baltasar glaubte, dass den Trauergästen diese Art von Erholung gestohlen bleiben konnte und sie lieber ihr Bier zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung tranken. Er wusste ja selbst nicht, wie er sich das sogenannte Paradies genau ausmalen sollte, und spürte insgeheim wenig Lust, diese Erfahrung bald zu machen.
... ein zerknirschtes Herz verschmähst du nicht, du nimmst es an als Opfer.
Die Orgel hatte aufgehört zu spielen. Baltasar schoss hoch. Die Menschen starrten ihn an. Hatte er seinen Einsatz verpasst? Er straffte seinen Talar und ging drei Schritte auf die Gemeinde zu, postierte sich direkt neben dem Altar. Er wusste, was die Menschen von einem Pfarrer erwarteten, der Gottesdienst, zumal ein katholischer, versprach Spektakel, auch wenn Baltasar es hasste, das Wort Event dafür zu gebrauchen, wie es einem heutzutage so schnell über die Lippen hüpfte. Seinen Auftritt hatte er hundertfach wiederholt, die jahrelange Routine eines Priesters, und doch den Ablauf immer wieder variiert. Die Menschen hier im Bayerischen Wald verlangten die große Geste, deshalb tat er ihnen den Gefallen und breitete die Hände aus wie ein Vater, der seine Kinder nach langer Abwesenheit begrüßte, leitete mit einer ausladenden Bewegung der Arme den Segen ein, hielt einen Moment inne, ein besonders theatralischer Effekt, der seine Wirkung nie verfehlte, und machte das Kreuzzeichen. Die Orgelmusik hob wieder an, die Menschen strömten zum Ausgang, die Bänke leerten sich.
Baltasar ging zur Sakristei, um sich für das Begräbnis auf dem Friedhof vorzubereiten. Es sah nach Regen aus, sollte er einen wetterfesten Umhang anlegen? Ein Ministrant kam herein.
»Was ist?« Baltasar drehte sich herum.
»Is jemand in der Kirch', Herr Pfarrer.« Es klang, als ob die Worte Mühe hatten, die Zahnspange des Buben zu überwinden. »A Frau.«
»Ja und? Ein Trauergast, der zum Beten geblieben ist.« »Die Frau sitzt im Beichtstuhl. Hat mich nach Ihnen gschickt, Herr Pfarrer.«
»Im Beichtstuhl?« Er konnte seine Überraschung nicht verbergen. Wer wollte denn jetzt beichten? Wo doch in einer halben Stunde die Leichenzug auf dem Friedhof begann. Er spürte leichten Ärger aufwallen, die Zeit drängte, warum hatte die Frau nicht zu einem anderen Termin kommen können? Um alles in der Welt wollte er vermeiden, dass das Essen bei Frau Stowasser mit Verspätung beginnen musste. Schließlich schmeckten die Maultaschen am besten, wenn sie auf die Minute genau serviert wurden und nicht unnötig im Wasser schwammen.
»Wer ist die Frau, hast du sie erkannt?«
»Ich weiß es nicht, sie saß schon im Beichtstuhl und rief mir zu, als ich vorbeiging.«
Baltasar seufzte. Sein Magen knurrte. Manchmal verlangte der Priesterberuf einem wirklich Opfer ab. Aber wenn ein Gemeindemitglied das Bedürfnis hatte, sich die Sorgen von der Seele zu reden ...
»Na gut.« Er wandte sich zu dem Ministranten. »Geh mit den anderen voraus, und bereite alles vor. Ich komme gleich nach.«
Der Andachtsraum lag verlassen da. Ein Weihrauchrest hing in der Luft. Baltasar schnupperte. Würzig. Intensiv. Er durfte nicht vergessen, sich später Notizen zu machen. Vielleicht sollte er ein zweites Paket bestellen. Für diese Ware fanden sich sicher Abnehmer, und der Klingelbeutel konnte eine Geldspritze gut gebrauchen. Er betrat den Beichtstuhl, rückte das Kissen zurecht, setzte sich. Für einen Moment versuchte er an nichts zu denken, bevor er die Holzklappe beiseiteschob.
»Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit.« Er sprach die Worte schneller als sonst.
»Amen«, tönte es von der anderen Seite. Die Stimme der Frau war kaum zu verstehen.
Baltasar forderte sie auf, ihre Sünden zu bekennen, und machte es sich auf seinem Kissen so bequem wie möglich. Sein Fuß ertastete die Mulde in der Bodenleiste, die seine Vorgänger im Laufe der Jahrhunderte hinterlassen hatten, er lehnte den Kopf an das Holz des Beichtstuhls und schloss die Augen. Die Frau berichtete davon, wie sie in den letzten Wochen mehrmals gelogen hatte. Sie flüsterte, die Worte perlten Tropfen gleich durch das Eisenfenster, das die einzige Verbindung zwischen beiden Sektionen des Beichtstuhls bildete. Baltasar achtete kaum darauf. Er kannte diese immer gleichen Bekenntnisse, die immer gleichen Verfehlungen und Vergehen, klein und unscheinbar wie Blätter auf der Straße, kaum der Rede wert, mit einem Wort: sterbenslangweilig. Hoffentlich würde Frau Stowasser daran denken, die eingelegten Birnen auf den Tisch zu bringen, als Abschluss der Feier, mit einem Obstler als Finale.
Die Frau erzählte von einem sündigen Gedanken, den sie bei einem fremden Mann hatte. Er hörte nur mit halbem Ohr hin, bestärkte sie mit einem »Hmm«. Manchmal kamen Mädchen und junge Frauen in die Beichte und schilderten ihre Erlebnisse. Wobei es weniger um Liebe und mehr um körperliche Dinge ging, in allen saftigen Details. Als ob er, Baltasar Senner, sechsundvierzig Jahre alt, ledig, Geistlicher von Beruf, in solchen Dingen Nachhilfe brauchte. Als ob er ein Fossil wäre, ein Lebewesen aus einer anderen Zeit, geschlechtslos, unfähig zu Gefühlen und Sinnlichkeit. Wenn er an seine eigene Vergangenheit dachte ... Der Papst hatte seine Diener zum Zölibat verpflichtet. Aber Gott hatte Mann und Frau geschaffen, und die Heilige Schrift forderte keine Ehelosigkeit. Zumindest interpretierte Baltasar Senner das so. Er pflegte die Bibel auf seine ganz spezielle Weise auszulegen.
Die Frau hatte sich einem neuen Thema zugewandt, Streitereien mit Verwandten. Baltasar entspannte sich wieder. Der Tag war anstrengend gewesen. Er hatte sich in der Frühe seinen Kaffee selbst aufgebrüht und die Küche aufgeräumt, zum Putzen war er nicht gekommen, weiß Gott, er konnte eine Hilfe brauchen. Dann der Ärger mit dem Blumenschmuck für die Kirche, die Witwe Plankl bestand auf einem Bouquet weißer Nelken direkt vor dem Altar, dabei hasste er Nelken, diese Symbole der Trostlosigkeit, sie lösten bei ihm Niesreiz aus. Am Ende hatte er nachgegeben. Und dann die Stichworte, die sie ihm für die Predigt aufgeschrieben hatte. Für einen Moment hatte er geglaubt, sich angesichts der Elogen auf den Verblichenen übergeben zu müssen. Als würde Alois Plankl demnächst heiliggesprochen. Dabei waren die Gerüchte über die windigen Geschäfte des Verstorbenen allen bekannt. Doch die Hoffnung auf eine weitere Spende der Witwe für sein Herzensprojekt hatte Baltasars Protest im Keim erstickt. Im Gegenzug hatte er die Predigt mit einigen zweideutigen Formulierungen gespickt, aber von den Trauergästen schienen die Spitzfindigkeiten niemandem aufgefallen zu sein. Die waren in Gedanken schon längst beim Mittagessen.
Er streckte sich, versuchte sich in der Enge des Beichtstuhls zu orientieren. Sein Fuß war aus der Mulde gerutscht. Irgendetwas hatte seine Gedanken unterbrochen. Etwas ... Es war ein Begriff gewesen. Ein Wort. Ein schlimmes Wort.
Mord.
Baltasar war verwirrt. Das konnte nicht sein, nicht hier in der Kirche, an einem heiligen Ort. Hatte er sich verhört? Geträumt? Warum hatte er nicht besser aufgepasst? Er räusperte sich. »Entschuldigung, was haben Sie gerade gesagt?«
»Manchmal denke ich an Mord«, sagte die Schattenperson hinter dem Gitter.
»Sie machen Witze. Wir alle haben mal einen schlechten Tag und reden so daher. Daran ist nichts Schlimmes.«
»Ich meine es ernst. Ich werd ihn umbringen, diesen Haderlumpn. Ich halt's nicht mehr aus. Nicht mehr lange. Ich muss es tun. Ich muss.« Die Stimme der Frau blieb ob des ungeheuren Vorhabens seltsam unberührt. Vielleicht lag es daran, dass sie immer noch flüsterte. Baltasar brachte sein Gesicht in die Nähe des Gitters und versuchte, einen Blick auf die Besucherin zu erhaschen. In der Dunkelheit des Beichtstuhls konnte er nur die Umrisse ihres Gesichts erkennen. Sie trug einen Schleier und, seltsamer noch, eine Sonnenbrille. Ihr Mantelkragen verdeckte den Hals. Er mühte sich, eine Brise ihres Parfums zu erschnüffeln, aber das Einzige, was er roch, war Weihrauch vermischt mit Rosmarin.
»Beruhigen Sie sich.« Baltasar sprach durch das Gitter.
In diesem hartnäckigen Fall von Widerspenstigkeit war Basisarbeit notwendig, wie beim Katechismusunterricht für Kinder. Er versuchte es mit einem Pädagogentonfall: »Das fünfte Gebot zu missachten zählt zu den Todsünden. Das ist ein schweres Vergehen in der katholischen Kirche. Und nicht nur dort.« Dabei musste er daran denken, dass seine Kirche den Ehebruch als Todsünde gleichwertig neben »Du sollst nicht töten« stellte, ein Unding, wurden doch viel mehr Menschen untreu als zum Mörder. Die Versuchung, dem Reiz der Frauen nachzugeben, beherrschte die Menschen seit Adam und Eva, diese Sünde war den Lebewesen auf der Erde eingegeben, ein Naturgesetz quasi. Besonders in Niederbayern. Baltasar gab es einen Stich ins Herz. Wer wüsste das besser als er! Wenn er an diese Frau dachte, deren Namen er längst aus seinem Gedächtnis verbannt hatte ...
»Es ist schlicht eine Frage der Gerechtigkeit, verstehen Sie, Hochwürden. Wenn die Menschen nicht für Gerechtigkeit sorgen, wer dann? Gott?« Die Frau atmete hörbar aus. »Wie oft habe ich darum gebetet. Lieber Gott, habe ich gesagt, sorg dafür, dass das Unrecht vergolten wird. Bestraf die Deifi auf Erden, lieber Gott. Auge um Auge, Zahn um Zahn, wie die Bibel sagt. Aber er hat meine Gebete nicht erhört. Deshalb muss ich selbst handeln.«
»Gottes Gerechtigkeit ist größer, als Sie denken. Er wird das Schicksal in die richtigen Bahnen lenken. Vertrauen Sie ihm.« Doch schon als er es ausgesprochen hatte, ärgerte er sich über sein Wortgeblubber. Ausgestanzte Sätze, die er benutzte, um das Gerede der Übereifrigen ins Leere laufen zu lassen. Jeder gute Pfarrer hatte einen solchen Korb professionell klingender Standardantworten parat, aus dem er sich bediente, um allzu lästige Schäfchen abzuschütteln. Andererseits hatte sich Baltasar vorgenommen, sich als Seelsorger ernsthaft der Nöte anderer anzunehmen. Natürlich waren die Wege des Herrn für die meisten undurchschaubar. Auch für ihn. Die Menschen mussten ihre Entscheidungen allein treffen und dafür beten, das Richtige zu tun. Gott war für den himmlischen Frieden zuständig. Die Menschen für die irdische Gerechtigkeit. »Wer ist es denn, den Sie auf den Tod nicht ausstehen können?«
»Dieser Kerl ... Diese Wuidsau ... Herr Veit.« Die Worte der Frau waren kaum zu verstehen.
»Korbinian Veit, der Sparkassendirektor?«
Ein Zischen war die Antwort. Senner schluckte. Er hatte mit Veit erst vor wenigen Tagen zu Mittag gegessen, um mit ihm die Einzelheiten für den Mietvertrag des Hauses zu besprechen, für das geplante Jugendprojekt der Gemeinde. Seine Herzensangelegenheit. Der Bankchef hatte sich sehr entgegenkommend gezeigt, würde der Gemeinde das Anwesen zu einem Spottpreis vermieten, eine noble Geste. Quasi eine Spende für die Kirche. Ein guter Mensch, dieser Veit. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Direktor ein Gauner ist. Er ist in unserer Gemeinde aktiv und sehr hilfsbereit. Hat eine liebe Gattin. Sie müssen sich täuschen.«
»Glauben Sie mir: Ich weiß mehr über diesen Herrn als Sie, Hochwürden. Viel mehr. Ein sauberer Direktor ist das, dieser Veit. Dass er überhaupt noch hinter seinem Direktorenschreibtisch sitzen darf, dieser sogenannte Herr. Ins Gefängnis gehört er, jawohl!« Die Frau war für einen Augenblick laut geworden. Senner rätselte, ob er die Stimme kannte. »Er ist ein Schwein. Ein erbarmungsloses Schwein. Er hat es nicht anders verdient. Der Deifi soll ihn holen!«
»Nun beruhigen Sie sich doch! Kein Mensch ist perfekt. Vielleicht hat sich Herr Veit in der Vergangenheit einige Fehler geleistet. Aber Gott verzeiht reuigen Sündern.«
Es raschelte. Die Frau holte ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. »Ich will nicht über die Einzelheiten reden. Meine Gedanken sind dunkel, ich weiß. Trotzdem ... Dieser Mensch ... Jemand muss etwas tun. So wahr mir Gott helfe!«
»Wir können nichts an unseren Gedanken ändern. Sie fließen uns zu, sind ein Teil von uns. Aber Sie sollten nicht zulassen, dass diese Gedanken Sie beherrschen. Nehmen Sie es so, wie es ist - eine Phantasie. Nichts weiter.«
»Erteilen Sie mir die Absolution?«
»Denken Sie über meine Worte nach. Lesen Sie nochmals die Zehn Gebote. Und beten Sie fünf Ave Maria und fünf Mal das Glaubensbekenntnis.« Baltasar machte das Kreuzzeichen. »So spreche ich dich los von deinen Sünden, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
»Amen.«
»Dankt dem Herrn, denn er ist gütig.«
»Sein Erbarmen währt ewig.«
»Der Herr hat dir die Sünden vergeben. Geh hin in Frieden.« Er lehnte sich zurück. Auf welche Gedanken die Leute kamen. Korbinian Veit! Wenigstens blieb genug Zeit, um in Ruhe zum Friedhof zu gehen.
»Wollen wir noch gemeinsam ein Dankgebet sprechen?« Nichts rührte sich in dem Nebenabteil.
»Hallo?«
Stille. Er wartete einige Sekunden, dann verließ er den Beichtstuhl. Kein Ton war zu hören. Die Kirche schien verlassen. Der Priester zögerte einen Augenblick, klopfte an die Nebentür. Das Einzige, was er hörte, war sein Atem. Er wusste, es entsprach nicht der Regel, aber es drängte ihn nachzuschauen.
Er zählte still bis zehn, bis er es wagte, die Tür zu öffnen.
...
Copyright © 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Baltasar Senner liebte Beerdigungen. Nichts übertraf die Zeremonien, die sich um den Tod rankten. Akte des Abschieds. Beschwörungen des Lebens. Die Gesänge in der Kirche, das Gebet am Grab, Blumengestecke. Der dumpfe Ton, wenn die Erde auf das Holz des Sarges prasselte. Es war jedes Mal wieder faszinierend, das Nebeneinander von Trauer und Scheinheiligkeit zu beobachten, den berechnenden Blick der Erben, die Scheu vor dem Sarg und dem Toten, als fürchte man dessen plötzliche Auferstehung. Und nicht zu vergessen der Leichenschmaus! Höhepunkt jedes Begräbnisses. Ob Victoria Stowasser, die Wirtin, heute wieder ihre unvergleichlichen Maultaschen in gebräunter Mandelbutter servierte? Vielleicht spendierte die Witwe Plankl sogar einen italienischen Brunello-Rotwein? Ja, kein Zweifel, der Tod ging durch den Magen. Essen und Trinken linderte den Schmerz der Seele, eine spirituelle Erfahrung, zu der man sich Zeit nehmen musste. Auch wenn die Trauergäste sich für gewöhnlich einfach nur den Bauch vollschlugen, weil es etwas umsonst gab.
Der Ministrant schwenkte den Weihrauchkessel. Der Duft traf Baltasars Nase. Er nahm einen tiefen Zug, darauf achtend, dass es den Versammelten nicht auffiel, und beglückwünschte sich im Stillen zu seiner Wahl. Hatte er doch die Weihrauchlieferung erst vor zwei Tagen erhalten, aus Oman, eine seltene Sorte von der Ebene bei Hadramaut.
Dafür hatte er die Witwe Plankl um eine Extra-Spende bitten müssen, die Einnahmen in die Kirchenkasse flossen derzeit etwas spärlich. Aber die Sorte war das Geld wert, und seine Idee, der Herr möge ihm verzeihen, noch etwas zerstoßenen Rosmarin beizumischen, das Aroma - einfach himmlisch!
Doch niemand schien seine Begeisterung für den Weihrauchduft zu teilen. Keiner verzog genussvoll das Gesicht. Ein wenig enttäuscht blickte Baltasar in die Runde. Die Witwe Plankl saß in der ersten Reihe, ein Taschentuch ins Gesicht gedrückt, der Hut mit der Zierfeder war verrutscht. Die Witwe schluchzte, jede Bewegung ließ die Feder vibrieren. Baltasar ertappte sich dabei, wie er auf die Hutfeder starrte, als erwarte er von dort die Ankunft des Heiligen Geistes. Die arme Frau, den Mann so überraschend zu verlieren. Alois Plankl war offiziell Landwirt gewesen, in Wirklichkeit aber ein erfolgreicher Immobilienhändler, bekannt, besser berüchtigt, für seine hemdsärmeligen Methoden. Das Erbe solle beträchtlich sein, erzählten sich die Leute, es gab Millionen zu verteilen. Wer übernahm jetzt das Geschäft? Vielleicht die Tochter, Isabella, die neben der Witwe saß und nervös mit dem Bein wippte. Sie hatte die Figur der Mutter, eine attraktive Erscheinung. Der Freund saß zwei Reihen weiter hinten, sein Blick klebte an ihrem Nacken wie Honig. Isabella schien es zu bemerken, sie drehte sich um, ihre Lippen zuckten. Die Plankl-Tochter arbeitete im Nachbarort als Sekretärin. Eigentlich hätte sie nach dem Willen der Eltern auf die Universität gehen sollen. Vor einem Jahr war sie von zu Hause ausgezogen, die Leute erzählten, es habe Streit mit dem Vater gegeben. Der Freund, Ende zwanzig, Aussehen wie ein Sportstudent, sei der Anlass gewesen sein. Hieß es.
Baltasar hatte das Lied »Gott tilge mein Vergehen« ausgewählt. Er intonierte die ersten Takte, sogleich fielen die Trauergäste ein. Die Stimmen hallten in der Kirche wider, verbanden sich zu einem Geflecht von Tönen, schraubten sich in die Höhe, schienen sich zu verwirbeln und zu einem Körper zu formen, der in der Luft schwebte. Baltasar war wie immer von der Magie dieses Moments ergriffen, er spürte die tiefere Wahrheit des Gesangs, Gefühle, die hinter den Tönen hervorschimmerten wie blank geputztes Silber.
...Wasche mich rein von Schuld, nimm meine Sünden von mir!
Die Bänke waren bis auf den letzten Platz besetzt: Auswärtige, die Frau mit dem Gehstock aus dem Altenheim, die keine einzige Beerdigung versäumte, seitdem ihr Fernseher den Geist aufgegeben hatte. Die Honoratioren der Stadt waren gekommen, der Bürgermeister, der Sparkassendirektor, der Leiter des lokalen Parteibüros, die Vorsitzende des Tierschutzvereins. Routinetermin, wenn ein Prominenter verstarb. Aus den Augenwinkeln beobachtete Baltasar, wie manche auf den Bänken hin und her rutschten, nach der Uhr schauten oder mit geschlossenen Augen lauschten, Hingabe vortäuschend, in Wirklichkeit aber ein Nickerchen haltend, bis der Kopf zur Seite fiel und sie hochschreckten und sich verstohlen umsahen.
Mir steht meine Schuld vor Augen, ich bekenne, dass ich Böses getan ...
Das Ableben hatte auch sein Gutes, dachte Baltasar. Denn dann strömten die Menschen in die Kirche, zahlreicher noch als bei Hochzeiten. Eine morbide Mischung aus Drama, Neugierde und dem angenehmen Gefühl, nicht selbst betroffen zu sein, zog Massen von Besuchern an, machte sie zu Zaungästen des Ewigen. Hier erfuhren sie von der Unerbittlichkeit des Lebens, von der Endlichkeit des Daseins, egal, wie man sich dagegen sträubte. Das war die Botschaft des Herrn an alle Irdischen: Das Sterben gehört zum Leben wie der Schatten zur Sonne. Da solche Meldungen die Menschen aufschreckten, versprach der liebe Gott gewissermaßen Freibier für alle: Der Tod war nicht das Ende, danach kam das Paradies, ein Ort ohne Not und Sorgen, Anreise, Unterkunft, Verpflegung: all-inclusive. Auch wenn Baltasar glaubte, dass den Trauergästen diese Art von Erholung gestohlen bleiben konnte und sie lieber ihr Bier zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung tranken. Er wusste ja selbst nicht, wie er sich das sogenannte Paradies genau ausmalen sollte, und spürte insgeheim wenig Lust, diese Erfahrung bald zu machen.
... ein zerknirschtes Herz verschmähst du nicht, du nimmst es an als Opfer.
Die Orgel hatte aufgehört zu spielen. Baltasar schoss hoch. Die Menschen starrten ihn an. Hatte er seinen Einsatz verpasst? Er straffte seinen Talar und ging drei Schritte auf die Gemeinde zu, postierte sich direkt neben dem Altar. Er wusste, was die Menschen von einem Pfarrer erwarteten, der Gottesdienst, zumal ein katholischer, versprach Spektakel, auch wenn Baltasar es hasste, das Wort Event dafür zu gebrauchen, wie es einem heutzutage so schnell über die Lippen hüpfte. Seinen Auftritt hatte er hundertfach wiederholt, die jahrelange Routine eines Priesters, und doch den Ablauf immer wieder variiert. Die Menschen hier im Bayerischen Wald verlangten die große Geste, deshalb tat er ihnen den Gefallen und breitete die Hände aus wie ein Vater, der seine Kinder nach langer Abwesenheit begrüßte, leitete mit einer ausladenden Bewegung der Arme den Segen ein, hielt einen Moment inne, ein besonders theatralischer Effekt, der seine Wirkung nie verfehlte, und machte das Kreuzzeichen. Die Orgelmusik hob wieder an, die Menschen strömten zum Ausgang, die Bänke leerten sich.
Baltasar ging zur Sakristei, um sich für das Begräbnis auf dem Friedhof vorzubereiten. Es sah nach Regen aus, sollte er einen wetterfesten Umhang anlegen? Ein Ministrant kam herein.
»Was ist?« Baltasar drehte sich herum.
»Is jemand in der Kirch', Herr Pfarrer.« Es klang, als ob die Worte Mühe hatten, die Zahnspange des Buben zu überwinden. »A Frau.«
»Ja und? Ein Trauergast, der zum Beten geblieben ist.« »Die Frau sitzt im Beichtstuhl. Hat mich nach Ihnen gschickt, Herr Pfarrer.«
»Im Beichtstuhl?« Er konnte seine Überraschung nicht verbergen. Wer wollte denn jetzt beichten? Wo doch in einer halben Stunde die Leichenzug auf dem Friedhof begann. Er spürte leichten Ärger aufwallen, die Zeit drängte, warum hatte die Frau nicht zu einem anderen Termin kommen können? Um alles in der Welt wollte er vermeiden, dass das Essen bei Frau Stowasser mit Verspätung beginnen musste. Schließlich schmeckten die Maultaschen am besten, wenn sie auf die Minute genau serviert wurden und nicht unnötig im Wasser schwammen.
»Wer ist die Frau, hast du sie erkannt?«
»Ich weiß es nicht, sie saß schon im Beichtstuhl und rief mir zu, als ich vorbeiging.«
Baltasar seufzte. Sein Magen knurrte. Manchmal verlangte der Priesterberuf einem wirklich Opfer ab. Aber wenn ein Gemeindemitglied das Bedürfnis hatte, sich die Sorgen von der Seele zu reden ...
»Na gut.« Er wandte sich zu dem Ministranten. »Geh mit den anderen voraus, und bereite alles vor. Ich komme gleich nach.«
Der Andachtsraum lag verlassen da. Ein Weihrauchrest hing in der Luft. Baltasar schnupperte. Würzig. Intensiv. Er durfte nicht vergessen, sich später Notizen zu machen. Vielleicht sollte er ein zweites Paket bestellen. Für diese Ware fanden sich sicher Abnehmer, und der Klingelbeutel konnte eine Geldspritze gut gebrauchen. Er betrat den Beichtstuhl, rückte das Kissen zurecht, setzte sich. Für einen Moment versuchte er an nichts zu denken, bevor er die Holzklappe beiseiteschob.
»Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit.« Er sprach die Worte schneller als sonst.
»Amen«, tönte es von der anderen Seite. Die Stimme der Frau war kaum zu verstehen.
Baltasar forderte sie auf, ihre Sünden zu bekennen, und machte es sich auf seinem Kissen so bequem wie möglich. Sein Fuß ertastete die Mulde in der Bodenleiste, die seine Vorgänger im Laufe der Jahrhunderte hinterlassen hatten, er lehnte den Kopf an das Holz des Beichtstuhls und schloss die Augen. Die Frau berichtete davon, wie sie in den letzten Wochen mehrmals gelogen hatte. Sie flüsterte, die Worte perlten Tropfen gleich durch das Eisenfenster, das die einzige Verbindung zwischen beiden Sektionen des Beichtstuhls bildete. Baltasar achtete kaum darauf. Er kannte diese immer gleichen Bekenntnisse, die immer gleichen Verfehlungen und Vergehen, klein und unscheinbar wie Blätter auf der Straße, kaum der Rede wert, mit einem Wort: sterbenslangweilig. Hoffentlich würde Frau Stowasser daran denken, die eingelegten Birnen auf den Tisch zu bringen, als Abschluss der Feier, mit einem Obstler als Finale.
Die Frau erzählte von einem sündigen Gedanken, den sie bei einem fremden Mann hatte. Er hörte nur mit halbem Ohr hin, bestärkte sie mit einem »Hmm«. Manchmal kamen Mädchen und junge Frauen in die Beichte und schilderten ihre Erlebnisse. Wobei es weniger um Liebe und mehr um körperliche Dinge ging, in allen saftigen Details. Als ob er, Baltasar Senner, sechsundvierzig Jahre alt, ledig, Geistlicher von Beruf, in solchen Dingen Nachhilfe brauchte. Als ob er ein Fossil wäre, ein Lebewesen aus einer anderen Zeit, geschlechtslos, unfähig zu Gefühlen und Sinnlichkeit. Wenn er an seine eigene Vergangenheit dachte ... Der Papst hatte seine Diener zum Zölibat verpflichtet. Aber Gott hatte Mann und Frau geschaffen, und die Heilige Schrift forderte keine Ehelosigkeit. Zumindest interpretierte Baltasar Senner das so. Er pflegte die Bibel auf seine ganz spezielle Weise auszulegen.
Die Frau hatte sich einem neuen Thema zugewandt, Streitereien mit Verwandten. Baltasar entspannte sich wieder. Der Tag war anstrengend gewesen. Er hatte sich in der Frühe seinen Kaffee selbst aufgebrüht und die Küche aufgeräumt, zum Putzen war er nicht gekommen, weiß Gott, er konnte eine Hilfe brauchen. Dann der Ärger mit dem Blumenschmuck für die Kirche, die Witwe Plankl bestand auf einem Bouquet weißer Nelken direkt vor dem Altar, dabei hasste er Nelken, diese Symbole der Trostlosigkeit, sie lösten bei ihm Niesreiz aus. Am Ende hatte er nachgegeben. Und dann die Stichworte, die sie ihm für die Predigt aufgeschrieben hatte. Für einen Moment hatte er geglaubt, sich angesichts der Elogen auf den Verblichenen übergeben zu müssen. Als würde Alois Plankl demnächst heiliggesprochen. Dabei waren die Gerüchte über die windigen Geschäfte des Verstorbenen allen bekannt. Doch die Hoffnung auf eine weitere Spende der Witwe für sein Herzensprojekt hatte Baltasars Protest im Keim erstickt. Im Gegenzug hatte er die Predigt mit einigen zweideutigen Formulierungen gespickt, aber von den Trauergästen schienen die Spitzfindigkeiten niemandem aufgefallen zu sein. Die waren in Gedanken schon längst beim Mittagessen.
Er streckte sich, versuchte sich in der Enge des Beichtstuhls zu orientieren. Sein Fuß war aus der Mulde gerutscht. Irgendetwas hatte seine Gedanken unterbrochen. Etwas ... Es war ein Begriff gewesen. Ein Wort. Ein schlimmes Wort.
Mord.
Baltasar war verwirrt. Das konnte nicht sein, nicht hier in der Kirche, an einem heiligen Ort. Hatte er sich verhört? Geträumt? Warum hatte er nicht besser aufgepasst? Er räusperte sich. »Entschuldigung, was haben Sie gerade gesagt?«
»Manchmal denke ich an Mord«, sagte die Schattenperson hinter dem Gitter.
»Sie machen Witze. Wir alle haben mal einen schlechten Tag und reden so daher. Daran ist nichts Schlimmes.«
»Ich meine es ernst. Ich werd ihn umbringen, diesen Haderlumpn. Ich halt's nicht mehr aus. Nicht mehr lange. Ich muss es tun. Ich muss.« Die Stimme der Frau blieb ob des ungeheuren Vorhabens seltsam unberührt. Vielleicht lag es daran, dass sie immer noch flüsterte. Baltasar brachte sein Gesicht in die Nähe des Gitters und versuchte, einen Blick auf die Besucherin zu erhaschen. In der Dunkelheit des Beichtstuhls konnte er nur die Umrisse ihres Gesichts erkennen. Sie trug einen Schleier und, seltsamer noch, eine Sonnenbrille. Ihr Mantelkragen verdeckte den Hals. Er mühte sich, eine Brise ihres Parfums zu erschnüffeln, aber das Einzige, was er roch, war Weihrauch vermischt mit Rosmarin.
»Beruhigen Sie sich.« Baltasar sprach durch das Gitter.
In diesem hartnäckigen Fall von Widerspenstigkeit war Basisarbeit notwendig, wie beim Katechismusunterricht für Kinder. Er versuchte es mit einem Pädagogentonfall: »Das fünfte Gebot zu missachten zählt zu den Todsünden. Das ist ein schweres Vergehen in der katholischen Kirche. Und nicht nur dort.« Dabei musste er daran denken, dass seine Kirche den Ehebruch als Todsünde gleichwertig neben »Du sollst nicht töten« stellte, ein Unding, wurden doch viel mehr Menschen untreu als zum Mörder. Die Versuchung, dem Reiz der Frauen nachzugeben, beherrschte die Menschen seit Adam und Eva, diese Sünde war den Lebewesen auf der Erde eingegeben, ein Naturgesetz quasi. Besonders in Niederbayern. Baltasar gab es einen Stich ins Herz. Wer wüsste das besser als er! Wenn er an diese Frau dachte, deren Namen er längst aus seinem Gedächtnis verbannt hatte ...
»Es ist schlicht eine Frage der Gerechtigkeit, verstehen Sie, Hochwürden. Wenn die Menschen nicht für Gerechtigkeit sorgen, wer dann? Gott?« Die Frau atmete hörbar aus. »Wie oft habe ich darum gebetet. Lieber Gott, habe ich gesagt, sorg dafür, dass das Unrecht vergolten wird. Bestraf die Deifi auf Erden, lieber Gott. Auge um Auge, Zahn um Zahn, wie die Bibel sagt. Aber er hat meine Gebete nicht erhört. Deshalb muss ich selbst handeln.«
»Gottes Gerechtigkeit ist größer, als Sie denken. Er wird das Schicksal in die richtigen Bahnen lenken. Vertrauen Sie ihm.« Doch schon als er es ausgesprochen hatte, ärgerte er sich über sein Wortgeblubber. Ausgestanzte Sätze, die er benutzte, um das Gerede der Übereifrigen ins Leere laufen zu lassen. Jeder gute Pfarrer hatte einen solchen Korb professionell klingender Standardantworten parat, aus dem er sich bediente, um allzu lästige Schäfchen abzuschütteln. Andererseits hatte sich Baltasar vorgenommen, sich als Seelsorger ernsthaft der Nöte anderer anzunehmen. Natürlich waren die Wege des Herrn für die meisten undurchschaubar. Auch für ihn. Die Menschen mussten ihre Entscheidungen allein treffen und dafür beten, das Richtige zu tun. Gott war für den himmlischen Frieden zuständig. Die Menschen für die irdische Gerechtigkeit. »Wer ist es denn, den Sie auf den Tod nicht ausstehen können?«
»Dieser Kerl ... Diese Wuidsau ... Herr Veit.« Die Worte der Frau waren kaum zu verstehen.
»Korbinian Veit, der Sparkassendirektor?«
Ein Zischen war die Antwort. Senner schluckte. Er hatte mit Veit erst vor wenigen Tagen zu Mittag gegessen, um mit ihm die Einzelheiten für den Mietvertrag des Hauses zu besprechen, für das geplante Jugendprojekt der Gemeinde. Seine Herzensangelegenheit. Der Bankchef hatte sich sehr entgegenkommend gezeigt, würde der Gemeinde das Anwesen zu einem Spottpreis vermieten, eine noble Geste. Quasi eine Spende für die Kirche. Ein guter Mensch, dieser Veit. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Direktor ein Gauner ist. Er ist in unserer Gemeinde aktiv und sehr hilfsbereit. Hat eine liebe Gattin. Sie müssen sich täuschen.«
»Glauben Sie mir: Ich weiß mehr über diesen Herrn als Sie, Hochwürden. Viel mehr. Ein sauberer Direktor ist das, dieser Veit. Dass er überhaupt noch hinter seinem Direktorenschreibtisch sitzen darf, dieser sogenannte Herr. Ins Gefängnis gehört er, jawohl!« Die Frau war für einen Augenblick laut geworden. Senner rätselte, ob er die Stimme kannte. »Er ist ein Schwein. Ein erbarmungsloses Schwein. Er hat es nicht anders verdient. Der Deifi soll ihn holen!«
»Nun beruhigen Sie sich doch! Kein Mensch ist perfekt. Vielleicht hat sich Herr Veit in der Vergangenheit einige Fehler geleistet. Aber Gott verzeiht reuigen Sündern.«
Es raschelte. Die Frau holte ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. »Ich will nicht über die Einzelheiten reden. Meine Gedanken sind dunkel, ich weiß. Trotzdem ... Dieser Mensch ... Jemand muss etwas tun. So wahr mir Gott helfe!«
»Wir können nichts an unseren Gedanken ändern. Sie fließen uns zu, sind ein Teil von uns. Aber Sie sollten nicht zulassen, dass diese Gedanken Sie beherrschen. Nehmen Sie es so, wie es ist - eine Phantasie. Nichts weiter.«
»Erteilen Sie mir die Absolution?«
»Denken Sie über meine Worte nach. Lesen Sie nochmals die Zehn Gebote. Und beten Sie fünf Ave Maria und fünf Mal das Glaubensbekenntnis.« Baltasar machte das Kreuzzeichen. »So spreche ich dich los von deinen Sünden, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
»Amen.«
»Dankt dem Herrn, denn er ist gütig.«
»Sein Erbarmen währt ewig.«
»Der Herr hat dir die Sünden vergeben. Geh hin in Frieden.« Er lehnte sich zurück. Auf welche Gedanken die Leute kamen. Korbinian Veit! Wenigstens blieb genug Zeit, um in Ruhe zum Friedhof zu gehen.
»Wollen wir noch gemeinsam ein Dankgebet sprechen?« Nichts rührte sich in dem Nebenabteil.
»Hallo?«
Stille. Er wartete einige Sekunden, dann verließ er den Beichtstuhl. Kein Ton war zu hören. Die Kirche schien verlassen. Der Priester zögerte einen Augenblick, klopfte an die Nebentür. Das Einzige, was er hörte, war sein Atem. Er wusste, es entsprach nicht der Regel, aber es drängte ihn nachzuschauen.
Er zählte still bis zehn, bis er es wagte, die Tür zu öffnen.
...
Copyright © 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Wolf Schreiner
Wolf Schreiner wurde 1958 in Nürnberg geboren. Er wuchs in Oberbayern in der Nachbarschaft zum katholischen Wallfahrtsort Altötting auf und studierte in München Politik, Volkswirtschaft und Kommunikationswissenschaft. Wolf Schreiner arbeitete als Journalist für Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen, bevor er seine Leidenschaft für Krimis entdeckte. Er lebt heute in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wolf Schreiner
- 2012, Originalausgabe, 350 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442475694
- ISBN-13: 9783442475698
- Erscheinungsdatum: 11.01.2012
Kommentare zu "Beichtgeheimnis / Baltasar Senner Bd.1"
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 7Schreiben Sie einen Kommentar zu "Beichtgeheimnis / Baltasar Senner Bd.1".
Kommentar verfassen