Bestie Mensch
Dr. Thomas Müller ist Deutschlands führender Kriminalpsychologe und er entlarvt sie: die wahren Experten der Tarnung, der Lüge und des Betrugs. Seine Geschichten sind...
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Dr. Thomas Müller ist Deutschlands führender Kriminalpsychologe und er entlarvt sie: die wahren Experten der Tarnung, der Lüge und des Betrugs. Seine Geschichten sind spannender und unbehaglicher als jeder Thriller - sie sind die Realität!
Bestie Mensch von Thomas Müller
LESEPROBE
Füralle 518 Männer, Frauen, Kinder und Neugeborenen, die ich im Laufe meiner beruflichenTätigkeit kennen gelernt habe, ohne mit ihnen jemals gesprochen zu haben - dieOpfer von Tötungsdelikten.
1.Kapitel / 17.10. 2003, 9.05 Uhr:
DieTaube erhob sich mit diesem typischen klatschenden Geräusch auf den halbrundenAbschluss der wuchtigen Backsteinmauer. Vier Meter hoch - man sah der Mauer an,dass Frost, Sonne und Wind über Jahrzehnte hinweg den Zerfall eingeleitethatten, aber eben nur eingeleitet. Die Taube hüpfte noch eine Weile auf derMauer weiter und lies durch die Bewegung erahnen, dass ihr ein Fuß fehlte oderverkrüppelt war. Bei jedem Sprung schien es, als ob der Kopf das Gleichgewichthalten würde, indem er sich zurückbewegte, wenn der Körper vorwärts sprang.Gurrend blickte sie kurz in meine Richtung, bevor sie in einem Mauerlochverschwand, welches Teil jenes Gebäudes war, wo ich eigentlich hinwollte. DerInnenhof war an zwei Seiten von jener Backsteinmauer umgrenzt, die in ihrerAusstrahlung an alte Umfriedungen englischer Schlösser erinnerte. Ich wargeneigt, mir die rote Mauer ihrer beständigen Schönheit wegen auf demTiteleinband eines esoterischen Kleinformatbüchleins vorzustellen. Daruntersteht der Satz: "Liebe lässt sich nicht aufhalten." Er soll dem Leser, der Ratin solchen Büchern sucht, optisch assoziieren, dass positive Lebenseinstellungauch durch den größten Widerstand nicht aufzuhalten ist. Die beiden anderenSeiten des Innenhofes endeten in wuchtigen, mehrgeschossigen Trakten, ebenfallsganz aus Backstein.
Dastiefe Blau des Himmels strahlte eine Kälte aus, die nur an jenen letztenOktobertagen zu spüren ist, wo die morgendliche Entscheidung für dieangemessene Oberbekleidung zur Qual wird. Der Mantel, der in der Früh noch zurWohltat gereicht, wird zu Mittag, spätestens jedoch am Nachmittag, zum Garantfür klebrige Hemden und Blusen.
Geraderkonnte der Strich nicht sein, den das Flugzeug in den Himmel zeichnete unddabei den durch die Backsteinmauern eng begrenzten Ausschnitt des Blaus in zweinahezu gleich große Hälften teilte. Die Beständigkeit des kleinen weißenBalkens unterstrich die scheinbare Kälte und erinnerte an die übliche Ansagedes Piloten, dass die Flughöhe jetzt erreicht sei und eine Außentemperatur vonminus 50 Grad Celsius herrscht. Die hüpfende Taube, die Ausstrahlung derBacksteinmauer, der Jet in seinem luftigen Kaltbad ließen an Reisefreiheit,Venedig oder Wanderungen durch den Garten einer schottischen Grafschafterinnern: der krasse Gegensatz zur Realität. Ich war hier, um imHochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Fuhlsbüttelein besonderes Gespräch zu führen. Ich war auf dem Weg zu Lutz Reinstrom, demdie Medien Anfang der 90er-Jahre den Namen "Säuremörder" gaben, weil er zweiFrauen in große Plastiktonnen gestopft und sie anschließend in Salzsäureaufgelöst hatte.
DieFormalitäten am Eingang des Gefängnisses waren schnell erledigt, ich warangemeldet. Abgabe meines Dienstpasses, Handys, jeglicher Metallgegenstände,kurze Einweisung in den Sicherheitsstatus, der Lutz Reinstrom zugedacht war,und prägnante Wegbeschreibung über den Innenhof, der zu jenem Teil desKomplexes führte, auf den ich zusteuerte. Dieser Teil strahlte übrigens genaudas aus, was der Name kurz und bündig vermittelte: Hochsicherheitstrakt.
Derverantwortliche Offizier begrüßte mich beim Eingang, wies mich nochmals in dieSicherheitsvorschriften ein und brachte mich in jenen Besucherraum, in dem ichmein Gespräch mit Lutz Reinstrom führen wollte. Ein länglicher Raum, spärlicheEinrichtung, ein Holztisch, zwei Stühle, vergittertes Fenster. Was auffiel, wardie extreme Höhe des Raumes, sodass der metallene Lampenschirm unerreichbar aneinem fast zwei Meter langen Kabel hoch oben in der Luft zu schweben schien.Ein kurzer Blick aus dem Fenster gab mir den Blick auf einen kleineren Innenhoffrei, der offensichtlich Teil jener Anlage war, in dem nach festgesetztenRegeln die Insassen der Anstalt alleine oder in Gruppen ihren täglichen Ausganghatten. Ich weis nicht mehr, das wievielte Gespräch es war, das ich inHochsicherheitsgefängnissen geführt hatte, irgendwann hatte ich aufgehört zuzählen: 80, 90 Es ist jener Teil meiner Arbeit, der mir immer wieder aminteressantesten erscheint. Direkte Gespräche mit Leuten zu führen, welche inErfahrungswelten leben, die wir nicht betreten können. Was wissen wir denn wirklichvon jenen, welche aus dem Bedürfnis der Machtausübung heraus andere quälen undtöten? Können wir denn nur annähernd nachvollziehen, was es bedeutet, ein Glückdarin zu empfinden, wenn sich andere Menschen vor Schmerzen winden? EinGespräch mit Lutz Reinstrom ist notwendig, um, zumindest ansatzweise, zuverstehen, dass wir in der Bearbeitung und auch in der Beurteilung vonaußergewöhnlich strafbaren Handlungen immer wieder Irrtümern unterliegen, weilwir glauben erkennen zu können, wie das "Böse" auszusehen hat. Lutz Reinstromwurde wegen Mordes in zwei Fällen, wegen versuchten schweren Raubs inTateinheit mit Freiheitsberaubung sowie wegen erpresserischen Menschenraubes zueiner lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Es wurde nach deutschem Strafrechtdie Schwere der Schuld festgestellt und die Sicherheitsverwahrung angeordnet:ein irdisches Urteil. Ist Lutz Reinstrom deshalb böse? Aus Sicht derKriminalpsychologie ist er es nicht. Denn diese Beurteilung hilft weder dabei,sein Verhalten zu verstehen noch mit ihm ein vernünftiges
Gesprächzu führen bzw. von ihm zu lernen, wie wir eine dramatische Entwicklung, die erim Laufe seines Lebens eingeschlagen hat, irgendwann verhindern können. DerMann ist für den Rest seines Lebens eingesperrt, war und ist aber einbrillanter Kürschner. In meiner beruflichen Tätigkeit verurteile ich nicht, ichbeurteile und ich nehme mir die Freiheit heraus, mit jedem Menschen zusprechen, mit dem ich sprechen möchte. Ich zwinge mich auch dazu, mit jenen zusprechen, mit denen ich nicht sprechen möchte, weil ich nur dann anInformationen herankomme, die für meine Tätigkeit wichtig sind. (...)
© Ecowin Verlag der TopAkademie GmbH,2005
- Autor: Thomas Müller
- 2004, Nachdruck, 256 Seiten, Maße: 15,2 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ecoWing
- ISBN-10: 3902404051
- ISBN-13: 9783902404053
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