Bismarck
Magier der Macht
Magier der Macht ein neuer Blick auf den Mann, der Deutschland mit Weitblick und Glück einte. Prof. Steinberg untersucht die banale und doch aufschlussreiche Frage: Wie hat Bismarck das alles gemacht? Wie konnte
jemand, der nie Soldaten befehligte, Kriege...
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Produktinformationen zu „Bismarck “
Magier der Macht ein neuer Blick auf den Mann, der Deutschland mit Weitblick und Glück einte. Prof. Steinberg untersucht die banale und doch aufschlussreiche Frage: Wie hat Bismarck das alles gemacht? Wie konnte
jemand, der nie Soldaten befehligte, Kriege gewinnen? Ergiebiger Blick auf die Epoche!
jemand, der nie Soldaten befehligte, Kriege gewinnen? Ergiebiger Blick auf die Epoche!
Klappentext zu „Bismarck “
Mit außergewöhnlichem Weitblick und politischer Fortüne hat Otto von Bismarck die Geschicke Preußens, Deutschlands und Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich bestimmt. In seiner hochgelobten Biographie stellt der amerikanische Historiker Jonathan Steinberg die so einfache wie verblüffend ergiebige Frage: Wie hat er das gemacht? Das Ergebnis ist die beste Bismarck-Biographie seit langer Zeit, die dem großen Kanzler "mehr Leben einhaucht als jeder andere Biograph zuvor" (Wall Street Journal).Wie konnte jemand ohne jede Regierungserfahrung zum preußischen Ministerpräsidenten aufsteigen und dieses Amt ohne nennenswerte Gefolgschaft fast drei Jahrzehnte lang ausüben? Wie konnte jemand, der nie einen Soldaten befehligt hat, drei erfolgreiche Kriege führen, um sein Ziel, ein Deutsches Reich unter preußischer Führung, zu erreichen? Wie konnte jemand gegen den Widerstand von Krone und Machteliten die umfassendsten Sozialreformen der deutschen Geschichte durchsetzen? Steinberg findet die Antwort in Bismarcks einzigartiger Persönlichkeit, in seiner vielfach bezeugten geradezu magnetischen Anziehungskraft auf Freund und Feind, in der beispiellosen Souveränität, mit der er sich über alle Schranken hinwegsetzte und eigenen Gesetzen folgte. So vermag der Autor nicht nur das "politische Genie" Bismarcks zu erklären, sondern zugleich einen neuen Blick auf dessen Epoche zu werfen.
Lese-Probe zu „Bismarck “
Bismarck, Magier der Macht von Jonathan SteinbergEinführung
Bismarcks »souveränes Selbst«
Otto von Bismarck hat Deutschland geschaffen, war aber nie sein Herrscher. Er diente unter drei Monarchen, die ihn jederzeit hätten entlassen können, und im März 1890 tat einer von ihnen genau dies. Seinen Reden fehlte es an allem, was man für gewöhnlich als charismatisch bezeichnet. Im September 1878, auf dem Höhepunkt seiner Macht und seines Ruhms, beschrieb der Schwäbische Merkur einen seiner Reichstagsauftritte so:
»Doch wie erstaunen gemeiniglich diejenigen, die den Fürsten zum ersten Mal sprechen hören. Statt einer kräftigen, sonoren Stimme, statt des vermuteten Pathos, statt einer vom Feuer klassischer Beredtsamkeit durchglühten Philippika fließt das so leise und sacht, fast im Konversationstone hervor über die Lippen des großen Mannes und stockt zuweilen und windet sich, bis der rechte Ausdruck gefunden wird. Ja fast eine Art Verlegenheit ist anfänglich dem Redner anzuspüren. Sein Oberkörper ist in wiegender Bewegung, und alle Augenblicke holt der Kanzler sein Taschentuch aus der hinteren Rocktasche, wischt sich das Gesicht, steckt das Tuch in die Tasche und holt es wieder hervor.«
Bismarck sprach nie vor einer Massenversammlung, und große Menschenmengen zog er erst nach seinem Sturz an, als er bereits zur Legende geworden war.
Von September 1862 bis März 1890 regierte er in Preußen und Deutschland, aber lediglich als parlamentarischer Minister. Zwischen 1847 und seiner Entlassung im Jahr 1890 hielt er in verschiedenen Parlamenten Reden wie die eben beschriebene. Er konnte seine Zuhörer mit seiner persönlichen Ausstrahlung in den Bann ziehen, aber er stand nie an der Spitze einer Partei im modernen Sinn. Während seiner gesamten Laufbahn begegneten ihm Konservative,
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Nationalliberale und Anhänger des katholischen Zentrums, also der drei größten deutschen Parteien, mit Misstrauen und blieben auf Distanz zu ihm. Die bismarcksche Partei, die Freikonservativen, hatte einflussreiche Mitglieder, außerhalb der Kammern des Parlaments aber keine große Gefolgschaft. Einen großen Teil seiner Kraft und Zeit widmete Bismarck den Petitessen der Staatsverwaltung. Er beschäftigte sich mit allem, von internationalen Verträgen bis zu der Frage, ob auf Geldanweisungen eine Stempelsteuer erhoben werden sollte - die, so merkwürdig es klingt, zu einem seiner vielen Rücktrittsgesuche führte.
Er hatte keine militärischen Meriten vorzuweisen, sondern lediglich als junger Mann kurz und höchst widerstrebend in einer Reserveeinheit gedient (und sogar versucht, dem Wehrdienst ganz zu entgehen, ein Makel, der aus der offiziellen Ausgabe seiner Schriften und Papiere getilgt wurde). Deshalb war sein Anrecht auf die Uniformen, die er - zur Verlegenheit oder zum Verdruss »echter« Soldaten - ständig trug, höchst fragwürdig. Wie einer der sogenannten »Halbgötter« aus Moltkes Generalstab, der damalige Oberstleutnant Paul Bronsart von Schellendorf, 1870 schrieb, wurde der »Zivilbeamte im Kürassierrock ... immer dreister«.
Er trug ein »von« im Namen und stammte aus einer »guten« alten preußischen Familie, war aber, wie der Historiker Heinrich von Treitschke 1862 bemerkte, offenbar nicht mehr als ein »flacher Junker«.3 Er besaß den Stolz seiner Klasse, war sich jedoch bewusst, dass viele auf der sozialen Leiter über ihm standen. »Bei Tische«, erzählte einer seiner Mitarbeiter später, »bewegte sich die Unterhaltung meistens zwischen dem Kanzler und den Gästen ... Sodann sprach auch [Paul Graf von] Hatzfeldt[-Wildenburg] mit, der sozial die beste Stellung beim Kanzler hatte. Die übrigen Räte verhielten sich meistens schweigend.«
Die Güter, die er und sein Bruder erbten, brachten keine Reichtümer ein. Bismarck musste während des größten Teils seiner Laufbahn auf seine Ausgaben achten. In einer Gesellschaft, in der ein Hof und Höflinge im Mittelpunkt des politischen Lebens und seiner Intrigen standen, blieb er zu Hause, aß zu in vornehmen Kreisen unüblich früher Stunde zu Abend und verbrachte in späteren Jahren viel Zeit so weit wie möglich von Berlin entfernt auf dem Land.
Im Januar 1919, als Bismarcks Reich zusammenbrach, stellte Max Weber, einer der Begründer der modernen Soziologie, in einem berühmten Vortrag die Frage, warum man den staatlichen Autoritäten gehorsam ist. Er identifizierte drei Formen der Autorität oder, wie er es ausdrückte, »Legitimationsgründe« der Herrschaft. Der erste war »die Autorität des >ewig Gestrigen<: der durch unvordenkliche Geltung und gewohnheitsmäßige Einstellung auf ihre Innehaltung geheiligten Sitte: >traditionale< Herrschaft, wie sie der Patriarch und der Patromonialfürst alten Schlages übten«. Der dritte Grund war die »Herrschaft kraft >Legalität<, kraft des Glaubens an die Geltung legaler Satzung und der durch rational geschaffene Regeln begründeten sachlichen >Kompetenz<«. Webers größter Beitrag zu unserem Politikverständnis war jedoch der zweite Grund, die Legitimation durch das, was er als »Charisma« definierte:
»die Autorität der außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe (Charisma), die ganz persönliche Hingabe und das persönliche Vertrauen zu Offenbarungen, Heldentum und anderen Führereigenschaften eines einzelnen: >charismatische< Herrschaft, wie sie der Prophet oder - auf dem Gebiet des Politischen - der gekorene Kriegsfürst oder der plebiszitäre Herrscher, der große Demagoge und politische Parteiführer ausüben.«
Bismarcks Autorität erfüllte keine dieser Definitionen ganz. Als Diener eines Herrschers passte er in Webers erste Kategorie, denn seine Macht beruhte auf Tradition, auf der »Autorität des >ewig Gestrigen<«. Als Ministerpräsident von Preußen und Chef des Staatsapparats verhielt er sich indes zumeist wie eine Verkörperung der dritten Kategorie: Er herrschte »kraft >Legalität<, kraft ... der durch rational geschaffene Regeln begründeten sachlichen >Kompetenz<«. Charismatisch im üblichen Sinn war er nicht.
Gleichwohl übte Bismarck eine derartige Kontrolle über seine Zeitgenossen aus, dass in ihren Briefen und Memoiren immer wieder die Begriffe »Tyrann« und »Diktator« auftauchen. Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, vier Jahre jünger als Bismarck und nach dessen Entlassung einer seiner Nachfolger, notierte über einen Berlinbesuch einige Monate nach Bismarcks Sturz:
»Zwei Dinge sind mir in den drei Tagen, die ich jetzt hier zugebracht habe, aufgefallen: erstens, daß niemand Zeit hat und alle in größerer Hetze sind als früher, zweitens, daß die Individuen geschwollen sind. Jeder einzelne fühlt sich. Während früher unter dem vorwiegenden Einflüsse des Fürsten Bismarck die Individuen eingeschrumpft und gedrückt waren, sind sie jetzt alle aufgegangen wie Schwämme, die man ins Wasser gelegt hat.«
Mir wurde klar, dass ich einen neuen Begriff brauchte, um Bismarcks Lebensgeschichte zu erklären. Er zog die Menschen in seiner Umgebung durch die schiere Kraft seiner Persönlichkeit in Bann. Zwar besaß er nie souveräne Macht, aber er besaß eine Art »souveränes Selbst«. Kaiser Wilhelm I. bemerkte einmal, es sei »schwer, unter Bismarck Kaiser zu sein«.7 In ihm erkennt man Größe und Elend einer bis an ihre Grenzen getriebenen menschlichen Individualität. Nach der oben erwähnten Rede vom 17. September 1878 zum Beispiel ereiferte sich Bismarck über die einfachen Stenographen, welche die Reichstagsdebatten mitschrieben. Zweieinhalb Wochen später, am 4. Oktober, äußerte er gegenüber seinem Mitarbeiter Moritz Busch einen dunklen Verdacht:
»Die Stenographen nahmen bei der letzten Rede Partei gegen mich. Als ich noch populär war, da war es nicht so. Jetzt verunstalteten sie das, was ich gesagt hatte, daß gar kein Sinn drin war. Wo links oder im Zentrum gemurrt wurde, ließen sie das ›links‹ weg, und wo Beifall erfolgte, vergaßen sie es. Das ganze Büreau ist so. Ich habe mich aber beim Präsidenten beschwert. Davon wurde ich krank. Es war wie die Tabakskrankheit, Eingenommenheit des Kopfes, Taumel, Neigung zum Erbrechen u. s. w.«
Konnte jemand, der bei klarem Verstand war, ernsthaft glauben, dass sich in den Nebenkorridoren des Reichstags eine Verschwörung von Stenographen zusammengefunden hatte mit dem Ziel, die Stellung des größten Staatsmanns des 19. Jahrhunderts zu untergraben? Und konnte er annehmen, die Krankheit sei eine Folge dieser Verschwörung? Hypochondrie reicht als Begründung für diese Klage nicht aus. Bronsart von Schellendorf hatte jedenfalls keine Zweifel an der Ursache, wie er am 7. Dezember 1870 in seinem Tagebuch festhielt: »Graf Bismarck fängt wirklich an, für das Tollhaus reif zu werden.«9 Doch er kam nie in eines. Trotz aller Befürchtungen blieb er von seinen Vierzigern bis in die Siebziger hinein auf seine Art bei Verstand, körperlich gesund und mächtig - auch wenn er nach seinen Vorstellungen nie genug Macht hatte. Er blieb 28 Jahre im Amt und veränderte seine Welt tiefgreifender als jeder andere im Europa des 19. Jahrhunderts, mit Ausnahme von Napoleon, der Kaiser und General war. Bismarck erreichte dies, obwohl er weder das eine noch das andere war.
Deshalb ist das vorliegende Buch eine Lebensgeschichte Otto von Bismarcks, denn seine Macht beruhte nicht auf Institutionen, einer Massengesellschaft oder »Kräften und Faktoren«, sondern auf seiner Persönlichkeit. Sie beruhte auf der Souveränität eines außergewöhnlichen, gigantischen Selbst. Was darunter konkret zu verstehen ist, hat sich durch die Geschichte hinweg der genauen Definition entzogen. Ich meine hier jene Mischung aus physischer Präsenz, Sprechweise und Gesichtsausdruck, Denk- und Handlungsart, Tugenden und Lastern, Willenskraft und Ehrgeiz und darüber hinaus vielleicht einer Anzahl von charakteristischen Ängsten, Ausflüchten und psychologischen Verhaltensmustern, die uns als »Person« erkennbar macht, als jenes Selbst, das wir projizieren und verbergen, kurz: das, was anderen ermöglicht, uns zu erkennen. Bismarck besaß, aus welchem Grund auch immer, von allen Aspekten des Selbst mehr als jeder andere in seiner Umgebung, und alle, die ihn kannten, bestätigten - und zwar ausnahmslos -, dass von ihm eine Art magnetische Anziehungskraft ausging, der sich selbst diejenigen, die ihn hassten, nicht entziehen konnten. Seine Schriften haben einen Charme, eine Biegsamkeit und Verführungskraft, die etwas von der hypnotischen Wirkung vermitteln, die sein mächtiges Selbst auf diejenigen ausübte, die ihm persönlich begegnet sind.
Nur im Rahmen einer Biographie kann man den Versuch unternehmen, das Wesen dieser Macht zu ergründen. In der vorliegenden wird versucht, das Leben des Staatsmannes zu beschreiben und zu erklären, der Deutschland in drei Kriegen vereinte und zur Verkörperung alles dessen wurde, was an der preußischen Kultur brutal und rücksichtslos ist. Der wirkliche Bismarck war ein komplexer Charakter: ein Hypochonder mit der Konstitution eines Stiers, ein brutaler Tyrann, der leicht in Tränen ausbrach, ein Anhänger einer extremen Form des Protestantismus, der die Schulen säkularisierte und die Zivilscheidung einführte. Von einer bestimmten Stufe seiner Laufbahn an trug er, wie erwähnt, in der Öffentlichkeit stets eine Uniform, obwohl er einer der wenigen bedeutenden Preußen war, die nie in der regulären Armee des Königs gedient hatten. Seine Klassengenossen aus der Junkerschicht misstrauten ihm: Er war ihnen zu clever, zu unbeständig und zu unberechenbar, kein »richtiger Kerl«. Aber er war brillant, darin waren sich alle einig.
Odo Russell, der von 1871 bis 1884 britischer Botschafter in Deutschland war und Bismarck gut kannte, schrieb 1871 an seine Mutter: »Das Dämonische ist in ihm stärker als in jedem anderen Mann, den ich kenne.«10 Und Theodor Fontane, das deutsche Gegenstück zu Jane Austen in der Bismarck-Ära, bemerkte 1884 in einem Brief an seine Frau über den Eisernen Kanzler: »Wenn er niest oder Prosit sagt, finde ich es interessanter als die Redeweisheit von 6 Fortschrittlern.«11 1891 jedoch, nach Bismarcks Sturz, schrieb Fontane an Friedrich Witte, der Kanzler sei »nicht an seinen politischen Fehlern - die namentlich, solange die Dinge im Fluß sind, sehr schwer festzustellen sind - sondern an seinen Charakterfehlern gescheitert. Dieser Riese hat was Kleines im Gemüt, und daß dies erkannt wurde, das hat ihn gestürzt.«
Darüber hinaus war Bismarck eines jener seltenen »politischen Genies«, ein Manipulator der politischen Realitäten seiner Zeit. Seine mündlichen, häufig aus dem Stegreif angestellten Analysen erfreuten sogar einige seiner Gegner. Der von Bismarck entlassene General Albrecht von Stosch kannte beide Seiten. 1873 schrieb er an den Kronprinzen: »Es war wieder ein Charme, den Reichskanzler in voller geistiger Tätigkeit zu sehen; sein Gedankenflug konnte sich ganz geltend machen, da ihm die Aufgabe zufiel, das Reich gegen den preussischen Particularismus zu verteidigen .«13 Einige Jahre vorher hatte er einen völlig anderen Eindruck gewonnen:
»Nach einigen Tagen ließ mich Bismarck kommen. Er hatte bisher
in mir einen Mann gesehen, der offen seinem hohen Geiste und
seiner rastlosen Energie huldigte; und solange ich für ihn, in seinem Streben nach Einverständnis mit dem Kronprinzen, eine gewisse Bedeutung besaß, hatte ich mich seiner größten Höflichkeit stets zu rühmen. Jetzt war ich für ihn nur ein beliebiger Hilfsarbeiter, und das mußte ich spüren. Er ließ mich sitzen und nahm mit mir meine Arbeit durch, wie der Schullehrer das Opus eines dummen und widerspenstigen Zöglings ... Er liebte es stets, seinen Mitarbeitern Beweise seiner Gewalt zu geben. Ihre Verdienste waren immer die seinigen; passierte aber ein Malheur, so war der Untergebene der allein Schuldige, selbst wenn er nur auf bestimmten Befehl gehandelt hatte. Als später der sächsische Vertrag in der Oeffentlichkeit vielfach angegriffen wurde, sagte er, dieser Vertrag sei ihm erst nach der Vollziehung bekannt geworden.«
Auf den Gedanken, dass Bismarck ein politisches Genie sei, der nach der Vereinigung Deutschlands im Jahr 1871 von patriotischen Deutschen allgemein geteilt wurde und meiner Meinung nach zutrifft, wäre 1862, als er Ministerpräsident von Preußen wurde, niemand gekommen. Ein einflussreicher Zeitgenosse, ein Mitglied der königlichen Regierung, hatte ihn allerdings schon wesentlich früher gefasst. General Albrecht von Roon, von 1859 bis 1873 Kriegsminister, hatte Bismarck als Jugendlichen kennengelernt und von Anfang an erkannt, dass er das Zeug zur Größe hatte. Schon in seiner ersten Audienz beim Regenten und künftigen König von Preußen am 4. Dezember 1858 sprach er denn wohl auch die Möglichkeit an, Bismarck an die Spitze der Regierung zu berufen.
Und es war Roon, der Bismarck am 18. September 1862 jenes berühmte Telegramm schickte: »Periculum in mora. Dépêchez-vous ! « (Verzug bringt Gefahr. Eilen Sie!), um ihm zu signalisieren, dass seine Schicksalsstunde gekommen war.
Als Roons bester Freund, der Bonner Rechtsprofessor Clemens Theodor Perthes, ihm im April 1864 vorwarf, die Ernennung eines Mannes bewerkstelligt zu haben, »der so kalt rechnend, so schlau vorbereitend, so wenig wählerisch in den Mitteln zur Durchführung« sei, erwiderte er:
»Aber Bismarck] ist doch ein außerordentlicher Mann, dem ich
wohl helfen, den ich ergänzen und hier und da korrigieren, aber nicht ersetzen konnte; ja, er wäre nicht auf dem Platze, auf dem er steht, ohne mich, das ist ein historisches Faktum, aber bei alledem ist er Er selbst! ... Das Parallelogramm der Kräfte richtig zu konstruieren und zwar aus der Diagonale, d. h. aus dem Gewordenen, was man allein deutlich erkennt, Natur und Maß der wirkenden Kräfte und Personen zu abstrahieren, auch wo man diese Kräfte nicht genau kennt: das ist die Arbeit des historischen Genius, der sich im Kombinieren allein, nicht im Kompilieren dokumentiert ...«
Und genau dies tat Bismarck - »kombinieren«.
Doch mit Genie allein gewann man keine Macht. Kein vernünftiger Monarch - und der 65-jährige preußische König Wilhelm I. besaß sowohl Verstand als auch jahrelange Erfahrung - hätte Bismarck, der als unzuverlässig, auf vordergründige Weise clever und reaktionär galt, zum Regierungschef ernannt, es sei denn, er befand sich in einer verzweifelten Lage. Der Bruder des Königs und sein Vorgänger auf dem Thron, Friedrich Wilhelm IV., hatte 1848 über Bismarck geschrieben, er sei »[n]ur zu gebrauchen, wenn das Bajonett schrankenlos waltet«.
Doch im Sommer 1862 war das monarchische Establishment wegen einer Pattsituation, die zwischen preußischem Landtag und Krone in der Frage der Heeresreform eingetreten war, beunruhigt. Die Erinnerung an die Revolution von 1848, als der Mob die Straße beherrschte, machte König und Hof nervös. »Die Militärpartei lechzt nach Krawallen wie der Hirsch nach frischem Wasser«, bemerkte der Liberale Max Duncker.
Bismarck gewann und behielt die Macht durch die Kraft und Brillanz seiner Persönlichkeit, aber er hing stets vom Wohlwollen des Königs ab. Wenn Wilhelm I. ihn Ende September 1862, nach dem Fiasko seiner »Blut und Eisen«-Rede, die von allen Mitgliedern der königlichen Familie und den meisten gebildeten Deutschen verurteilt wurde, entlassen hätte, wäre er aus der Geschichte verschwunden, und die Vereinigung Deutschlands wäre höchstwahrscheinlich durch einen freiwilligen Bund souveräner Fürsten erfolgt. Hätte Wilhelm I. den Anstand besessen, 1867 im biblischen Alter - »unser Leben währet siebzig Jahre«, wie es in den Psalmen heißt - zu sterben, hätte der von Bismarck geschaffene Norddeutsche Bund vermutlich auch die süddeutschen Königreiche geschluckt, aber nicht als Ergebnis eines verheerenden Krieges. Möglicherweise wäre unter dem Kaiser und König Friedrich III. und seiner tatkräftigen, liberal gesinnten Frau, der königlichen Prinzessin Victoria von England, eine »liberale Ära« angebrochen. Es ist bekannt, welche Männer Friedrich 1888, als er bereits todkrank war, zu Ministern ernennen wollte. Es waren ausschließlich Liberale, was in Bismarcks Augen die Einführung des britischen Systems parlamentarischer Regierung und eingeschränkter königlicher Macht und das Ende seiner Dikta¬tur bedeutet hätte. Ob der neue Kaiser, selbst wenn er gesund gewe¬sen wäre, die Charakterstärke besessen hätte, Bismarck zu widerste¬hen, ist nicht gewiss, doch Prinzessin Victoria, die älteste Tochter von Königin Victoria von England, hatte genug davon für sie beide. Es wäre auf jeden Fall zum Zusammenstoß gekommen, und Bis¬marck wäre entlassen worden. Danach hätte Deutschland mögli¬cherweise das britische Modell der liberalen parlamentarischen Kontrolle übernommen. Man kann dies heute sagen, weil die Han¬delnden von damals es versprachen. Aber Wilhelm starb nicht mit siebzig, auch nicht mit achtzig, sondern 1888 im Alter von 91 Jahren, und diese Langlebigkeit verhalf Bismarck zu einer 26-jährigen Amts¬zeit unter seiner Herrschaft.
Propyläen Verlag
Er hatte keine militärischen Meriten vorzuweisen, sondern lediglich als junger Mann kurz und höchst widerstrebend in einer Reserveeinheit gedient (und sogar versucht, dem Wehrdienst ganz zu entgehen, ein Makel, der aus der offiziellen Ausgabe seiner Schriften und Papiere getilgt wurde). Deshalb war sein Anrecht auf die Uniformen, die er - zur Verlegenheit oder zum Verdruss »echter« Soldaten - ständig trug, höchst fragwürdig. Wie einer der sogenannten »Halbgötter« aus Moltkes Generalstab, der damalige Oberstleutnant Paul Bronsart von Schellendorf, 1870 schrieb, wurde der »Zivilbeamte im Kürassierrock ... immer dreister«.
Er trug ein »von« im Namen und stammte aus einer »guten« alten preußischen Familie, war aber, wie der Historiker Heinrich von Treitschke 1862 bemerkte, offenbar nicht mehr als ein »flacher Junker«.3 Er besaß den Stolz seiner Klasse, war sich jedoch bewusst, dass viele auf der sozialen Leiter über ihm standen. »Bei Tische«, erzählte einer seiner Mitarbeiter später, »bewegte sich die Unterhaltung meistens zwischen dem Kanzler und den Gästen ... Sodann sprach auch [Paul Graf von] Hatzfeldt[-Wildenburg] mit, der sozial die beste Stellung beim Kanzler hatte. Die übrigen Räte verhielten sich meistens schweigend.«
Die Güter, die er und sein Bruder erbten, brachten keine Reichtümer ein. Bismarck musste während des größten Teils seiner Laufbahn auf seine Ausgaben achten. In einer Gesellschaft, in der ein Hof und Höflinge im Mittelpunkt des politischen Lebens und seiner Intrigen standen, blieb er zu Hause, aß zu in vornehmen Kreisen unüblich früher Stunde zu Abend und verbrachte in späteren Jahren viel Zeit so weit wie möglich von Berlin entfernt auf dem Land.
Im Januar 1919, als Bismarcks Reich zusammenbrach, stellte Max Weber, einer der Begründer der modernen Soziologie, in einem berühmten Vortrag die Frage, warum man den staatlichen Autoritäten gehorsam ist. Er identifizierte drei Formen der Autorität oder, wie er es ausdrückte, »Legitimationsgründe« der Herrschaft. Der erste war »die Autorität des >ewig Gestrigen<: der durch unvordenkliche Geltung und gewohnheitsmäßige Einstellung auf ihre Innehaltung geheiligten Sitte: >traditionale< Herrschaft, wie sie der Patriarch und der Patromonialfürst alten Schlages übten«. Der dritte Grund war die »Herrschaft kraft >Legalität<, kraft des Glaubens an die Geltung legaler Satzung und der durch rational geschaffene Regeln begründeten sachlichen >Kompetenz<«. Webers größter Beitrag zu unserem Politikverständnis war jedoch der zweite Grund, die Legitimation durch das, was er als »Charisma« definierte:
»die Autorität der außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe (Charisma), die ganz persönliche Hingabe und das persönliche Vertrauen zu Offenbarungen, Heldentum und anderen Führereigenschaften eines einzelnen: >charismatische< Herrschaft, wie sie der Prophet oder - auf dem Gebiet des Politischen - der gekorene Kriegsfürst oder der plebiszitäre Herrscher, der große Demagoge und politische Parteiführer ausüben.«
Bismarcks Autorität erfüllte keine dieser Definitionen ganz. Als Diener eines Herrschers passte er in Webers erste Kategorie, denn seine Macht beruhte auf Tradition, auf der »Autorität des >ewig Gestrigen<«. Als Ministerpräsident von Preußen und Chef des Staatsapparats verhielt er sich indes zumeist wie eine Verkörperung der dritten Kategorie: Er herrschte »kraft >Legalität<, kraft ... der durch rational geschaffene Regeln begründeten sachlichen >Kompetenz<«. Charismatisch im üblichen Sinn war er nicht.
Gleichwohl übte Bismarck eine derartige Kontrolle über seine Zeitgenossen aus, dass in ihren Briefen und Memoiren immer wieder die Begriffe »Tyrann« und »Diktator« auftauchen. Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, vier Jahre jünger als Bismarck und nach dessen Entlassung einer seiner Nachfolger, notierte über einen Berlinbesuch einige Monate nach Bismarcks Sturz:
»Zwei Dinge sind mir in den drei Tagen, die ich jetzt hier zugebracht habe, aufgefallen: erstens, daß niemand Zeit hat und alle in größerer Hetze sind als früher, zweitens, daß die Individuen geschwollen sind. Jeder einzelne fühlt sich. Während früher unter dem vorwiegenden Einflüsse des Fürsten Bismarck die Individuen eingeschrumpft und gedrückt waren, sind sie jetzt alle aufgegangen wie Schwämme, die man ins Wasser gelegt hat.«
Mir wurde klar, dass ich einen neuen Begriff brauchte, um Bismarcks Lebensgeschichte zu erklären. Er zog die Menschen in seiner Umgebung durch die schiere Kraft seiner Persönlichkeit in Bann. Zwar besaß er nie souveräne Macht, aber er besaß eine Art »souveränes Selbst«. Kaiser Wilhelm I. bemerkte einmal, es sei »schwer, unter Bismarck Kaiser zu sein«.7 In ihm erkennt man Größe und Elend einer bis an ihre Grenzen getriebenen menschlichen Individualität. Nach der oben erwähnten Rede vom 17. September 1878 zum Beispiel ereiferte sich Bismarck über die einfachen Stenographen, welche die Reichstagsdebatten mitschrieben. Zweieinhalb Wochen später, am 4. Oktober, äußerte er gegenüber seinem Mitarbeiter Moritz Busch einen dunklen Verdacht:
»Die Stenographen nahmen bei der letzten Rede Partei gegen mich. Als ich noch populär war, da war es nicht so. Jetzt verunstalteten sie das, was ich gesagt hatte, daß gar kein Sinn drin war. Wo links oder im Zentrum gemurrt wurde, ließen sie das ›links‹ weg, und wo Beifall erfolgte, vergaßen sie es. Das ganze Büreau ist so. Ich habe mich aber beim Präsidenten beschwert. Davon wurde ich krank. Es war wie die Tabakskrankheit, Eingenommenheit des Kopfes, Taumel, Neigung zum Erbrechen u. s. w.«
Konnte jemand, der bei klarem Verstand war, ernsthaft glauben, dass sich in den Nebenkorridoren des Reichstags eine Verschwörung von Stenographen zusammengefunden hatte mit dem Ziel, die Stellung des größten Staatsmanns des 19. Jahrhunderts zu untergraben? Und konnte er annehmen, die Krankheit sei eine Folge dieser Verschwörung? Hypochondrie reicht als Begründung für diese Klage nicht aus. Bronsart von Schellendorf hatte jedenfalls keine Zweifel an der Ursache, wie er am 7. Dezember 1870 in seinem Tagebuch festhielt: »Graf Bismarck fängt wirklich an, für das Tollhaus reif zu werden.«9 Doch er kam nie in eines. Trotz aller Befürchtungen blieb er von seinen Vierzigern bis in die Siebziger hinein auf seine Art bei Verstand, körperlich gesund und mächtig - auch wenn er nach seinen Vorstellungen nie genug Macht hatte. Er blieb 28 Jahre im Amt und veränderte seine Welt tiefgreifender als jeder andere im Europa des 19. Jahrhunderts, mit Ausnahme von Napoleon, der Kaiser und General war. Bismarck erreichte dies, obwohl er weder das eine noch das andere war.
Deshalb ist das vorliegende Buch eine Lebensgeschichte Otto von Bismarcks, denn seine Macht beruhte nicht auf Institutionen, einer Massengesellschaft oder »Kräften und Faktoren«, sondern auf seiner Persönlichkeit. Sie beruhte auf der Souveränität eines außergewöhnlichen, gigantischen Selbst. Was darunter konkret zu verstehen ist, hat sich durch die Geschichte hinweg der genauen Definition entzogen. Ich meine hier jene Mischung aus physischer Präsenz, Sprechweise und Gesichtsausdruck, Denk- und Handlungsart, Tugenden und Lastern, Willenskraft und Ehrgeiz und darüber hinaus vielleicht einer Anzahl von charakteristischen Ängsten, Ausflüchten und psychologischen Verhaltensmustern, die uns als »Person« erkennbar macht, als jenes Selbst, das wir projizieren und verbergen, kurz: das, was anderen ermöglicht, uns zu erkennen. Bismarck besaß, aus welchem Grund auch immer, von allen Aspekten des Selbst mehr als jeder andere in seiner Umgebung, und alle, die ihn kannten, bestätigten - und zwar ausnahmslos -, dass von ihm eine Art magnetische Anziehungskraft ausging, der sich selbst diejenigen, die ihn hassten, nicht entziehen konnten. Seine Schriften haben einen Charme, eine Biegsamkeit und Verführungskraft, die etwas von der hypnotischen Wirkung vermitteln, die sein mächtiges Selbst auf diejenigen ausübte, die ihm persönlich begegnet sind.
Nur im Rahmen einer Biographie kann man den Versuch unternehmen, das Wesen dieser Macht zu ergründen. In der vorliegenden wird versucht, das Leben des Staatsmannes zu beschreiben und zu erklären, der Deutschland in drei Kriegen vereinte und zur Verkörperung alles dessen wurde, was an der preußischen Kultur brutal und rücksichtslos ist. Der wirkliche Bismarck war ein komplexer Charakter: ein Hypochonder mit der Konstitution eines Stiers, ein brutaler Tyrann, der leicht in Tränen ausbrach, ein Anhänger einer extremen Form des Protestantismus, der die Schulen säkularisierte und die Zivilscheidung einführte. Von einer bestimmten Stufe seiner Laufbahn an trug er, wie erwähnt, in der Öffentlichkeit stets eine Uniform, obwohl er einer der wenigen bedeutenden Preußen war, die nie in der regulären Armee des Königs gedient hatten. Seine Klassengenossen aus der Junkerschicht misstrauten ihm: Er war ihnen zu clever, zu unbeständig und zu unberechenbar, kein »richtiger Kerl«. Aber er war brillant, darin waren sich alle einig.
Odo Russell, der von 1871 bis 1884 britischer Botschafter in Deutschland war und Bismarck gut kannte, schrieb 1871 an seine Mutter: »Das Dämonische ist in ihm stärker als in jedem anderen Mann, den ich kenne.«10 Und Theodor Fontane, das deutsche Gegenstück zu Jane Austen in der Bismarck-Ära, bemerkte 1884 in einem Brief an seine Frau über den Eisernen Kanzler: »Wenn er niest oder Prosit sagt, finde ich es interessanter als die Redeweisheit von 6 Fortschrittlern.«11 1891 jedoch, nach Bismarcks Sturz, schrieb Fontane an Friedrich Witte, der Kanzler sei »nicht an seinen politischen Fehlern - die namentlich, solange die Dinge im Fluß sind, sehr schwer festzustellen sind - sondern an seinen Charakterfehlern gescheitert. Dieser Riese hat was Kleines im Gemüt, und daß dies erkannt wurde, das hat ihn gestürzt.«
Darüber hinaus war Bismarck eines jener seltenen »politischen Genies«, ein Manipulator der politischen Realitäten seiner Zeit. Seine mündlichen, häufig aus dem Stegreif angestellten Analysen erfreuten sogar einige seiner Gegner. Der von Bismarck entlassene General Albrecht von Stosch kannte beide Seiten. 1873 schrieb er an den Kronprinzen: »Es war wieder ein Charme, den Reichskanzler in voller geistiger Tätigkeit zu sehen; sein Gedankenflug konnte sich ganz geltend machen, da ihm die Aufgabe zufiel, das Reich gegen den preussischen Particularismus zu verteidigen .«13 Einige Jahre vorher hatte er einen völlig anderen Eindruck gewonnen:
»Nach einigen Tagen ließ mich Bismarck kommen. Er hatte bisher
in mir einen Mann gesehen, der offen seinem hohen Geiste und
seiner rastlosen Energie huldigte; und solange ich für ihn, in seinem Streben nach Einverständnis mit dem Kronprinzen, eine gewisse Bedeutung besaß, hatte ich mich seiner größten Höflichkeit stets zu rühmen. Jetzt war ich für ihn nur ein beliebiger Hilfsarbeiter, und das mußte ich spüren. Er ließ mich sitzen und nahm mit mir meine Arbeit durch, wie der Schullehrer das Opus eines dummen und widerspenstigen Zöglings ... Er liebte es stets, seinen Mitarbeitern Beweise seiner Gewalt zu geben. Ihre Verdienste waren immer die seinigen; passierte aber ein Malheur, so war der Untergebene der allein Schuldige, selbst wenn er nur auf bestimmten Befehl gehandelt hatte. Als später der sächsische Vertrag in der Oeffentlichkeit vielfach angegriffen wurde, sagte er, dieser Vertrag sei ihm erst nach der Vollziehung bekannt geworden.«
Auf den Gedanken, dass Bismarck ein politisches Genie sei, der nach der Vereinigung Deutschlands im Jahr 1871 von patriotischen Deutschen allgemein geteilt wurde und meiner Meinung nach zutrifft, wäre 1862, als er Ministerpräsident von Preußen wurde, niemand gekommen. Ein einflussreicher Zeitgenosse, ein Mitglied der königlichen Regierung, hatte ihn allerdings schon wesentlich früher gefasst. General Albrecht von Roon, von 1859 bis 1873 Kriegsminister, hatte Bismarck als Jugendlichen kennengelernt und von Anfang an erkannt, dass er das Zeug zur Größe hatte. Schon in seiner ersten Audienz beim Regenten und künftigen König von Preußen am 4. Dezember 1858 sprach er denn wohl auch die Möglichkeit an, Bismarck an die Spitze der Regierung zu berufen.
Und es war Roon, der Bismarck am 18. September 1862 jenes berühmte Telegramm schickte: »Periculum in mora. Dépêchez-vous ! « (Verzug bringt Gefahr. Eilen Sie!), um ihm zu signalisieren, dass seine Schicksalsstunde gekommen war.
Als Roons bester Freund, der Bonner Rechtsprofessor Clemens Theodor Perthes, ihm im April 1864 vorwarf, die Ernennung eines Mannes bewerkstelligt zu haben, »der so kalt rechnend, so schlau vorbereitend, so wenig wählerisch in den Mitteln zur Durchführung« sei, erwiderte er:
»Aber Bismarck] ist doch ein außerordentlicher Mann, dem ich
wohl helfen, den ich ergänzen und hier und da korrigieren, aber nicht ersetzen konnte; ja, er wäre nicht auf dem Platze, auf dem er steht, ohne mich, das ist ein historisches Faktum, aber bei alledem ist er Er selbst! ... Das Parallelogramm der Kräfte richtig zu konstruieren und zwar aus der Diagonale, d. h. aus dem Gewordenen, was man allein deutlich erkennt, Natur und Maß der wirkenden Kräfte und Personen zu abstrahieren, auch wo man diese Kräfte nicht genau kennt: das ist die Arbeit des historischen Genius, der sich im Kombinieren allein, nicht im Kompilieren dokumentiert ...«
Und genau dies tat Bismarck - »kombinieren«.
Doch mit Genie allein gewann man keine Macht. Kein vernünftiger Monarch - und der 65-jährige preußische König Wilhelm I. besaß sowohl Verstand als auch jahrelange Erfahrung - hätte Bismarck, der als unzuverlässig, auf vordergründige Weise clever und reaktionär galt, zum Regierungschef ernannt, es sei denn, er befand sich in einer verzweifelten Lage. Der Bruder des Königs und sein Vorgänger auf dem Thron, Friedrich Wilhelm IV., hatte 1848 über Bismarck geschrieben, er sei »[n]ur zu gebrauchen, wenn das Bajonett schrankenlos waltet«.
Doch im Sommer 1862 war das monarchische Establishment wegen einer Pattsituation, die zwischen preußischem Landtag und Krone in der Frage der Heeresreform eingetreten war, beunruhigt. Die Erinnerung an die Revolution von 1848, als der Mob die Straße beherrschte, machte König und Hof nervös. »Die Militärpartei lechzt nach Krawallen wie der Hirsch nach frischem Wasser«, bemerkte der Liberale Max Duncker.
Bismarck gewann und behielt die Macht durch die Kraft und Brillanz seiner Persönlichkeit, aber er hing stets vom Wohlwollen des Königs ab. Wenn Wilhelm I. ihn Ende September 1862, nach dem Fiasko seiner »Blut und Eisen«-Rede, die von allen Mitgliedern der königlichen Familie und den meisten gebildeten Deutschen verurteilt wurde, entlassen hätte, wäre er aus der Geschichte verschwunden, und die Vereinigung Deutschlands wäre höchstwahrscheinlich durch einen freiwilligen Bund souveräner Fürsten erfolgt. Hätte Wilhelm I. den Anstand besessen, 1867 im biblischen Alter - »unser Leben währet siebzig Jahre«, wie es in den Psalmen heißt - zu sterben, hätte der von Bismarck geschaffene Norddeutsche Bund vermutlich auch die süddeutschen Königreiche geschluckt, aber nicht als Ergebnis eines verheerenden Krieges. Möglicherweise wäre unter dem Kaiser und König Friedrich III. und seiner tatkräftigen, liberal gesinnten Frau, der königlichen Prinzessin Victoria von England, eine »liberale Ära« angebrochen. Es ist bekannt, welche Männer Friedrich 1888, als er bereits todkrank war, zu Ministern ernennen wollte. Es waren ausschließlich Liberale, was in Bismarcks Augen die Einführung des britischen Systems parlamentarischer Regierung und eingeschränkter königlicher Macht und das Ende seiner Dikta¬tur bedeutet hätte. Ob der neue Kaiser, selbst wenn er gesund gewe¬sen wäre, die Charakterstärke besessen hätte, Bismarck zu widerste¬hen, ist nicht gewiss, doch Prinzessin Victoria, die älteste Tochter von Königin Victoria von England, hatte genug davon für sie beide. Es wäre auf jeden Fall zum Zusammenstoß gekommen, und Bis¬marck wäre entlassen worden. Danach hätte Deutschland mögli¬cherweise das britische Modell der liberalen parlamentarischen Kontrolle übernommen. Man kann dies heute sagen, weil die Han¬delnden von damals es versprachen. Aber Wilhelm starb nicht mit siebzig, auch nicht mit achtzig, sondern 1888 im Alter von 91 Jahren, und diese Langlebigkeit verhalf Bismarck zu einer 26-jährigen Amts¬zeit unter seiner Herrschaft.
Propyläen Verlag
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Autoren-Porträt von Jonathan Steinberg
Steinberg, JonathanJonathan Steinberg, geboren 1934 in New York. Professor für Neuere Europäische Geschichte an der University of Pennsylvania, zuvor an der Cambridge University. Sein Forschungsschwerpunkt ist die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
Schmidt, Klaus-Dieter
Klaus-Dieter Schmidt wurde 1950 in Teltow geboren. Er studierte u.a. Mathematik und Germanistik und arbeitet heute als Übersetzer. Unter anderem übersetzte er Bücher von Ian Kershow, Kofi Annan und Niall Ferguson.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jonathan Steinberg
- 2012, 2, 752 Seiten, mit Abbildungen, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Klaus-Dieter
- Übersetzer: Klaus-Dieter Schmidt
- Verlag: Propyläen
- ISBN-10: 3549074166
- ISBN-13: 9783549074169
- Erscheinungsdatum: 05.10.2012
Rezension zu „Bismarck “
"Mutig, unkonventionell, höchst interessant. Gut geschrieben, klar in der Darstellung, immer wieder erkenntnisreich.", Frankfurter Allgemeine Zeitung, Michael Epkenhans, 06.10.2012
Kommentar zu "Bismarck"
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