Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam
Roman
Im abgeschiedenen Alpendorf St. Peter am Anger strebt Johannes A. Irrwein nach Bildung. Doch als
er durch die Matura fällt, beginnt er, sich mit seinem Dorf auseinanderzusetzen. Er verfasst die Chroniken von St. Peter und verursacht so das...
er durch die Matura fällt, beginnt er, sich mit seinem Dorf auseinanderzusetzen. Er verfasst die Chroniken von St. Peter und verursacht so das...
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Produktinformationen zu „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam “
Im abgeschiedenen Alpendorf St. Peter am Anger strebt Johannes A. Irrwein nach Bildung. Doch als
er durch die Matura fällt, beginnt er, sich mit seinem Dorf auseinanderzusetzen. Er verfasst die Chroniken von St. Peter und verursacht so das größte Ereignis in der Dorfgeschichte.
er durch die Matura fällt, beginnt er, sich mit seinem Dorf auseinanderzusetzen. Er verfasst die Chroniken von St. Peter und verursacht so das größte Ereignis in der Dorfgeschichte.
Klappentext zu „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam “
Ein großer Roman über ein kleines Dorf - Vea Kaisers furioses DebütIn ihrem Debütroman entfaltet Vea Kaiser mit großer Verve und unwiderstehlichem Witz die Welt des abgeschiedenen alpenländischen Bergdorfes St. Peter am Anger und erzählt die Geschichte einer Familie, die über drei Generationen hinweg auf kuriose Weise der Wissenschaft verfallen ist.Gegen die Engstirnigkeit und den unreflektierten Traditionssinn der St. Petrianer hegt Johannes A. Irrwein - geschult an seinem Großvater, dem Bandwurmforscher Johannes Gerlitzen - seit frühester Kindheit eine starke Abneigung. Bildungshungrig und aufgeweckt wie er ist, sehnt er sich nach jener aufgeklärten Welt, die er hinter den Alpenmassiven vermutet. Als der Musterschüler jedoch unerwartet durch die Matura fällt, beginnt er, sich mit seinem Dorf auseinanderzusetzen. Seinem Lieblingsautor Herodot, dem Vater der Geschichtsschreibung, nacheifernd, macht er sich daran, die Chroniken seines Dorfes zu verfassen - und verursacht dabei ungewollt das größte Ereignis in der Geschichte St. Peters, das das Bergdorf auf immer verändern wird.Ein 14,8 Meter langer Fischbandwurm, eine Seifenkiste mit Kurs auf den Mond, ein ungeahnt attraktiver Mönch im Jaguar, eine schwangere Dorfprinzessin, eine altphilologische Geheimgesellschaft, eine nordicwalkende Mütterrunde, ein Jungfußballer mit dem Herz am rechten Fleck, eine sinistre Verschwörung der Dorfältesten sowie jede Menge poppige Blasmusik gehören zum einzigartigen Mikrokosmos dieses Romans, der durch seine Liebe für leuchtende Details und skurrile Begebenheiten, durch seinen erzählerischen Furor und seine Vielstimmigkeit besticht. Vea Kaiser gelingt mit dreiundzwanzig Jahren ein wagemutiges, herausragendes Debüt. Dieser Roman wird Sie verzaubern.
»Eines der schwindelerregendsten Debüts dieser Saison« (Denis Scheck)
Lese-Probe zu „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam “
Blasmusikpop von Vea Kaiser Der Wurm und das Schneehuhn
Alle Holzfäller schworen, sie hätten jenen Stammrutsch, der Johannes Gerlitzen zu Sommerbeginn 1959 die Schulter ausrenkte und den rechten Arm brach, nicht kommen sehen. Zu Johannes' Glück waren es nur fünf gefällte Fichten - Äste und Zweige waren bereits abgeschlagen -, die so schwer auf dem feuchten Waldweg lasteten, dass dieser abrutschte. Es war später Vormittag, die Holzfäller tranken ihr zweites Bier, aßen Äpfel und reichten die Schnapsflasche im Kreis. Eine Stunde wollten sie noch arbeiten, bevor die Mittagshitze in den Fichtenwald am Nordhang des Sporzer Alpenhauptkamms kroch. Johannes hatte sich abgesondert, er kletterte etwas weiter südlich durch das Unterholz, suchte nach dem richtigen Material, um eine Marienstatue zu schnitzen, die bei ihm bestellt worden war. Erst als die Vögel aufflogen und die Erschütterung Hasen aus ihren Sassen schreckte, bemerkten die Männer das Unglück. Einen Wimpernschlag später polterten die Stämme mit markerschütterndem Donnern abwärts, rissen Jungbäume um wie Kartenhäuser und kamen mit ungebremster Wucht auf Johannes zu. Dieser reagierte schnell, versuchte zu flüchten, doch als der letzte Stamm direkt auf ihn zuhielt, konnte er nur noch zur Seite springen - und sprang nicht weit genug. Die anderen Holzfäller dachten, jetzt sei er hin, und ihre Herzen machten vor Erleichterung einen Satz, als Johannes Gerlitzen aus dem Unterholz auftauchte und in einem Atemzug Teufel und Dreifaltigkeit verfluchte.
... mehr
Elisabeth Gerlitzen fluchte gleichermaßen, als Franz Patscherkofel und Leopold Kaunergrat ihren Ehemann in die Küche brachten, der ein Taschentuch zwischen den Zähnen stecken hatte und auf zwanzig Meter nach Schnaps stank - drei Viertel der Flasche hatten ihm die Holzfäller zur Schmerzbetäubung eingeflößt.
»Kruzifixn sacra, es depperten Mannsbülder könnts a nia aufpassn, und immer de Sauferei! Hiazn schleichts enk owi ins Tal und holts ma den Doktor auffi!«, polterte sie, doch Johannes spuckte das Taschentuch aus und keuchte unter Schmerzen:
»Wegn so aner Klanigkeit brauchts do net den Hochg'schissenen holn, bluatet jo net amoi, hol liaba nu a Flaschn Schnaps.«
In St. Peter am Anger gab es oft Verletzte, wenn die Männer in den Wald gingen. 1959 konnte jeder mit einer Axt umgehen, aber niemand war professioneller Holzfäller. Alle fällten, was sie an Holz brauchten, Franz Patscherkofel hatte Stützbalken benötigt, Leopold Kaunergrat Brennholz für den Winter, und Johannes Gerlitzen war als Berufsschnitzer immer auf der Suche nach gutem Holz. Unfälle waren sie gewohnt, und den Doktor aus dem Tal konnte niemand leiden, da er sich für den Geschmack der Dorfbewohner viel zu unverständlich ausdrückte und unangemessen herablassend verhielt. Nur wenn es sich um lebensbedrohliche Notfälle handelte, wurde der Doktor gerufen, aber da der Weg ins Tal weit und beschwerlich war, kam er im Ernstfall meist zu spät. Dass Johannes' Schulter ausgekugelt war, konnten sogar die Holzfäller diagnostizieren, und so hielt Franz Patscherkofel Johannes fest, damit sich dieser nicht bewegen konnte, während Leopold Kaunergrat ihm die Schulter einrenkte. Kurz darauf war die Schnapsflasche leer. Schließlich riefen die Männer noch Johannes' Nachbarn herbei, den Tischler Karl Ötsch, um den gebrochenen Arm mit einer Holzmanschette ruhig zu stellen.
»G'hupft wia g'hatscht, ob da Ötsch oder da Doktor«, sagte
Johannes und biss auf Elisabeths zusammengefaltetes Kopftuch, während der Nachbar den oberen Teil der Schiene mit Kurznägeln zusammenklopfte.
»G'hupft wia g'sprunga hoaßt des«, antwortete dieser und grinste, dass man seine halbverfaulten Zähne sah, auf denen der Raucherbelag wie Schimmel wucherte. Daraufhin brachen sie in Streit über diese Redewendung aus, und kaum dass die Schiene fixiert war, riss Johannes mit seiner gesunden Hand an den verfilzten Haaren des Nachbarn, während dieser versuchte, Johannes' Ohr abzudrehen. Erst als Elisabeth einen Kübel Brunnenwasser über ihnen ausgoss, ließen sie voneinander ab. Seit sie Kinder waren, ging das so, und Elisabeth hatte, da sie unmittelbar neben den Ötschs wohnten, immer einen Kübel kaltes Wasser parat. Am Gartenzaun standen fünf davon.
Das ganze Dorf hatte Schlimmes befürchtet, als Johannes und Elisabeth ein Haus neben Karl Ötsch bauten, aber Johannes hatte diesen Grund von seinem Großvater vererbt bekommen, und sich zu prügeln war 1959 nichts Verbotenes. Soweit sich die älteren Frauen des Dorfes erinnern konnten, hatten sich Johannes Gerlitzen und Karl Ötsch bereits das Holzspielzeug über die Köpfe gezogen, als sie noch in Windeln steckten. Die meisten Dorfbewohner glaubten, der Grund ihrer ständigen Auseinandersetzungen sei, dass sie so verschieden waren. Johannes war ein ruhiger und nachdenklicher Mensch, der lieber zuerst überlegte, bevor er vorschnell etwas sagte, während Karl Ötsch seine Meinung herausposaunte, ohne dass ihn jemand gefragt hätte - gern so laut, dass er bis ins Angertal gehört wurde. Neben dem hellhäutigen, groß gewachsenen Johannes sah Karl Ötsch aus wie ein Gegenentwurf, klein, rundlich, pausbäckig und mit dunkler Haut und rabenschwarzem Haar. Egal worum es ging, Karl und Johannes waren sich uneinig, und keiner von beiden war je bereit, dem anderen ohne Schmerzen recht zu geben.
Anfangs störten sich weder Johannes noch Elisabeth daran, dass er wegen der Verletzung seinem Beruf als Schnitzer nicht nachgehen konnte, und auch Johannes' Kunden hatten Verständnis, dass sich ihre bestellten Statuen, Ornamente oder Weihnachtskrippen etwas verzögern würden. Johannes und Elisabeth hatten erst im April geheiratet, alle 420 Bewohner hatten drei Tage lang gefeiert. Die Blasmusik hatte gespielt, im alten Feuerwehrwagen hatte man das Brautpaar von der Kirche ins Wirtshaus gebracht, ein Aufmarsch wie bei den Prozessionen zu Hochfesten. Dreizehn Jahre hatten die Dorfbewohner auf diese Hochzeit gewartet, da die beiden seit der Volksschule so gut wie verlobt waren. Schon lange bevor Johannes bei Elisabeth fensterln gewesen war, hatten die alten Frauen auf der Kirchenstiege überlegt, wie schön die Kinder der beiden sein würden. Johannes war etwas größer als die meisten Männer im Dorf und athletisch gebaut. Man konnte ahnen, dass er niemals den St.-Petri-Bierbauch ansetzen würde, der ab dreißig bei fast allen über der Hose hing. Er war feingliedrig, hatte starke Wangenknochen, doch das Beeindruckendste an ihm waren die Haare, die so blond waren, dass sie in der Dunkelheit leuchteten. Elisabeths Haare wiederum leuchteten im Sonnenlicht. Auch sie war blond, aber mit einem rötlichen Einschlag, der ihren locker gebundenen Zopf zum Funkeln brachte. Sie hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, und was Johannes am meisten an ihr liebte, war, wie schnell sich ihre Wangen tiefrot färbten, wenn sie lachte. Elisabeth war das manchmal unangenehm, da sie meinte, wie ein Schulmädchen auszusehen. Johannes küsste dann eilig ihre Nasenspitze oder ihr Ohrläppchen, woraufhin sie noch roter wurde und verschmitzt kicherte.
In den 50ern waren Flitterwochen in St. Peter am Anger noch nicht erfunden, aber dank Johannes' Verletzung kam das junge Liebespaar nun zum Feiern seiner Ehe. Die beiden genossen mehrmals täglich die Freiheit, sich nicht wie in ihrer Jugend in Heustadeln, Holzschupfen und Selchkammern verrenken zu müssen. Bis ihnen übel wurde. Mit Johannes fing es an, er hatte ständig Bauchschmerzen, die zu schweren Verdauungsbeschwerden führten. Bald darauf hustete Elisabeth morgens alle Mahlzeiten des Vortages ins Plumpsklo hinterm Haus. Auf der Kirchenstiege meinten die einen, Elisabeth würde schlecht kochen, während die anderen am Springbrunnen erzählten, Johannes würde Elisabeth und sich zu viel Schnaps genehmigen. Erst als der ziegengesichtige Doktor aus Lenk im Tal seine zweimonatliche Sprechstunde im Versammlungssaal des Gemeinderats abhielt, wurde das Rätsel gelöst. Beiden Eheleuten lag etwas im Bauch: Elisabeth war schwanger, Johannes hatte einen Bandwurm.
Elisabeths Freude war grenzenlos. Zwei Stunden später hatte sie sich bereits den alten Schaukelstuhl vom Dachboden holen lassen, wippte selig darin und strickte Babysocken. Johannes hingegen war mulmig zumute. Er konnte sich kaum freuen, bald Vater zu werden, denn ständig grübelte er, was der Wurm wohl trieb. Schlief er, oder schwamm er herum? Hatte der Wurm überhaupt Augen, und vor allem: Wie war der Wurm in seinen Bauch gekommen? Der Doktor hatte auf Johannes' Fragen in einem Latein geantwortet, das nicht einmal der Pfarrer verstanden hätte. Der Doktor war nämlich beleidigt, dass Johannes seinen gebrochenen Arm lieber vom Dorftischler hatte behandeln lassen als von einem Spezialisten, und in seinem Ärger hatte er Johannes angekündigt, dass es mindestens ein halbes Jahr dauern würde, bis er ihm ein AntiWurm- Medikament aus der Hauptstadt besorgen könne.
Da ihm auch die Volksschullehrerin nichts über im Menschen lebende Würmer erzählen konnte, schlich Johannes, verunsichert von den kuriosen Ideen der Leute im Wirtshaus, drei Tage lang um das Gemeindeamt. Er war sich sicher, dass die Theorien der St. Petrianer Blödsinn waren - das hätte er ja gemerkt, wenn sich so ein großer Wurm von hinten an geschlichen hätte. Am dritten Tag wagte er schließlich, die Gemeindeamtstür zu öffnen. Er ging durch das Eingangszimmer am Postamt und am Aufenthaltsraum der Gendarmen vorbei bis in die Dorfbibliothek. Seit ihn der Pfarrer zu Schulzeiten zur Strafe fürs Stanniolkugelwerfen hierhergeschickt hatte, um sich einen Katechismus auszuborgen und der Klasse daraus zu referieren, war er nicht mehr hier gewesen. Die Bibliothek war von den Benediktinermönchen aus Lenk angelegt worden, viele Jahre lang hatten sie die Bücher auf Generationen von Mauleseln auf den Angerberg transportiert. Nachdem sich das Dorf jedoch vom Kloster losgesagt und die Mönche, die von ihnen Steuern verlangten, mit Mistgabeln die Talstraße hinuntergejagt hatte, war die Bibliothek von niemandem mehr gepflegt worden, bis vor einigen Jahren gescheckte Nagekäfer eingezogen waren, woraufhin man zwei Drittel aller Bücher verbrannt hatte. In St. Peter am Anger hielt sich hartnäckig der Volksglaube, das Klopfen der Nagekäfer würde Tod und Verderben ankündigen. Dabei rief das Männchen nicht den Teufel, sondern das Weibchen zum Liebesspiel.
Die Gemeindesekretärin, die neben ihrer Hauptbeschäftigung auch das Amt des Postfräuleins, der Gendarmerieaushilfe und der Bibliothekarin bestritt, half Johannes bei der Suche. Bis sie in den verbliebenen, ungeordneten Beständen etwas Brauchbares fanden, dauerte es eine Weile. Oftmals tauchten hinter den Büchern mumifizierte Nagekäfer oder kinderfaustgroße Spinnen auf, und Johannes zuckte bei jedem Kreischer seiner Helferin zusammen, doch kurz bevor er einen Hörsturz bekam, wischte sie den Staub von einem Buch, für das er ihr jahrzehntelang dankbar sein würde. Karl Franz Anton von Schreiber: Nachricht von einer beträchtlichen Sammlung thierischer Eingeweidewürmer und Einladung zu einer literarischen Verbindung. Es war 1811 verfasst worden, aber für den Schnitzer Johannes Gerlitzen genau die richtige Lektüre. Es handelte sich nicht um ein komplexes naturwissenschaftliches Werk, sondern um eine Chronik, einen Bericht über die Entdeckungen der Wurmforscher im k. k. Hof-Naturalienkabinett in der Hauptstadt. Als diese Männer sich an die Arbeit gemacht hatten, war kaum etwas über Würmer bekannt gewesen. Und somit begannen die Aufzeichnungen Schreibers günstigerweise auf der Höhe von Johannes' Wissensstand. Der Schnitzer verbrachte den Tag in der Bibliothek und wanderte am wackeligen Lesetischchen dem einfallenden Sonnenlicht hinterher. Auf dem Nachhauseweg fühlte er sich bereits ein bisschen weniger abstoßend: In der Hauptstadt hatte vor 150 Jahren fast jeder einen Wurm gehabt, der Kaiser Franz hatte aus Sorge um seine Untertanen sogar befohlen, dass alle Naturforscher, welche an jenem Gegenstand Interesse nehmen, mit dem k. k. Naturaliencabinet in Verbindung treten und durch Mittheilung ihrer schon gemachten und künftigen Beobachtungen und Entdeckungen zur Vervollkommnung und kräftigeren Wirkungsfähigkeit der hiesigen Anstalt, zur Vervollständigung unserer Sammlung und auf diese Weise zur Bereicherung und Vervollkommnung der k. k. Erforschung der im Menschen lebenden Parasiten - zum Wohle aller Völker - beyzutragen.
Sogar Wettstreite um die richtige Behandlung der wurmbefallenen Patienten hatte es unter den Ärzten gegeben. Johannes musste zugeben, dass es ihn bei manchen Schilderungen Schreibers ziemlich geschaudert hatte. Als der Kranke mit einer Art Heroismus die Medikamente zu sich nahm, sprang er plötzlich aus dem Bette, um sich auf den Leibstuhl zu setzen. Er erblaßte, zitterte und bebte, ein kalter Todesschweiß bedeckte den ganzen Körper. Beinahe hätte Doktor Bremser triumphiert, allein seine langsame Behandlungsweise strafte seine Freude durch einen etwa in acht Tagen erfolgten Abortus bei der von ihm behandelten Frau, bei welcher er nichts weniger als eine Schwangerschaft vermutet hätte.
1959 wurde der Herbst von einer wochenlangen Schlechtwetterfront eingeleitet. Der Wind blies ein Tiefdruckgebiet in das Angertal, das sich an den Sporzer Alpen anstaute wie ein zusammengedrückter Wattebausch, bis die Wolken am Großen Sporzer zu kleben schienen. Johannes ging nun öfter in die Bibliothek. Die universelle Gemeindeamtsbedienstete hatte ihm zwar empfohlen, die Bücher auszuleihen, aber täglich von 8:30 bis 18:00 Uhr an seinem Platz zu sitzen und sich durch die Erforschung der Helminthen zu lesen, so als wäre man selbst am Sezieren, Analysieren, Klassifizieren und Präparieren beteiligt, fühlte sich für ihn wie Arbeit an. Schnitzen war mit dem lädierten Arm noch nicht möglich, und überhaupt hatte Johannes den Eindruck, alles, was er zurzeit Nützliches tun könne, sei lesen. Der Nachbar Ötsch von links hatte währenddessen im Lästern über Johannes' Leselust eine neue Leidenschaft gefunden, doch Johannes hatte Elisabeth versprochen, sich bis zur Geburt des Kindes auf keine Prügelei mehr einzulassen. Nachdem der Regen eingesetzt hatte, machten sich jedoch auch Johannes' Wirtshausfreunde über seine Präsenz in der Bibliothek lustig.
»Lasst di dei Frau nimmer zuwi und wüllst hiazn a Pfaff werdn?«, grölten der vorlaute Großbauer Anton Rettenstein, der dicke Bürgermeistersohn Friedrich Ebersberger, der Lebensmittelgreißler Wilhelm Hochschwab und der sonst so freundliche Briefträger Gerhard Rossbrand, obwohl der St.-Petri-Pfarrer gar nichts für Bücher übrighatte. Er nutzte Lektüre lediglich als Strafe für Sünder und widmete sich außerhalb der Messzeiten der Renovierung des Kirchturmes. Johannes beachtete all die Häme nicht. Wegen des starken Regens hatten die Männer nichts anderes zu tun, als vom Bett ins Wirtshaus zu stolpern. Sogar die Gendarmen tranken mittags ihr erstes Bier, da zur Regenzeit ohnehin nie etwas passierte, und wenn, dann im Wirtshaus.
St. Peter am Anger war ein kleines Dorf, das vor allem von einer Einnahmequelle lebte - den weltweit einzigartigen Adlitzbeerenbaumbeständen. Nirgendwo auf der Welt gab es derart viele und hohe Adlitzbeerenbäume, deren Ertrag genug einbrachte, um ein ganzes Dorf zu erhalten. Die St. Petrianer hatten gar keine Verwendung für all ihre Beeren, doch im Rest der Welt waren sie ein gefragtes, teures Gut zur Herstellung spezieller Medikamente. Obwohl jeder Bewohner neben der Adlitzbeerenwirtschaft noch einen anderen Beruf ausübte, halfen zur Erntezeit alle zusammen. Und wenn die Ernte wie jetzt wegen Regens unterbrochen war, wurde im Wirtshaus auf besseres Wetter gewartet. Denn es war ein heiliges Gesetz, dass während der Adlitzbeerenernte niemand einer anderen Beschäftigung nachging.
Johannes jedoch hatte eine Aufgabe, die ihm weder sein gebrochener Arm noch der Regen nehmen konnten - er las sich durch die Welt der Würmer. Bald war er von den Wesen fasziniert. Er fand es außerordentlich, wie so ein kleines Staubkorn im Wasser von einem Krebs gefressen wurde, den dann ein Fisch verspeiste, der wiederum von einem Fuchs, einem Hund oder einem Menschen gegessen wurde, bis sich das Staubkorn im Darm des letzten Gliedes zu einem richtigen Lebewesen entwickeln konnte. Er staunte über den Überlebenswillen, den solch ein Tier haben musste, wenn es all diese Stadien in Kauf nahm, genau wissend, dass es nur mit viel Glück dort hinkommen würde, wo es hingehörte.
Elisabeth fand diese Überlegungen ekelerregend. Wenn Johannes zu erzählen ansetzte, drohte sie, sich zu übergeben, und das wollte er dem Kind nicht antun. Zu gern hätte er ihr, seiner Frau und besten Freundin, mehr von seinem neuen Wissen erzählt. Etwas Besonderes zu können, war in St. Peter normal, aber etwas Außergewöhnliches zu wissen, unterschied ihn vom Rest des Dorfes. Tagtäglich - nicht nur, wenn er ihr von Würmern erzählen wollte - wunderte sich Johannes, wie anders Elisabeth seit ihrer Schwangerschaft geworden war. Häufig klagte sie, wie anstrengend es sei, schwanger zu sein, dass sie so leiden müsse, dass ihr alles wehtue. Johannes verstand sie nicht. Was war nur mit der Elisabeth passiert, die sich beim Aufstauen des Mitternfeldbaches einen Nagel durch die Sohle getreten hatte und vollkommen unbeeindruckt durch den Ostwald und über zwei Äcker nach Hause marschiert war? Johannes wühlte daraufhin wieder in der Bibliothek. Er las, dass eine Schwangerschaft das größte Glück für eine Frau sei, der schönste Zustand in ihrem Leben, woraufhin er sich schwertat, Elisabeth weiterhin ernst zu nehmen, und vor ihren Klagen immer häufiger flüchtete. Was Elisabeth niemals zugegeben hätte: Sie war eifersüchtig auf Johannes, dessen Bauch mit Wurm mehr Aufmerksamkeit erregte als der ihrige mit Kind. Sonntags umzingelten sie die Dorfkinder, sobald sie aus der Kirche kamen, wollten jedoch niemals die Tritte des Babys fühlen, sondern immer nur mit dem Ohr auf Johannes' Bauch hören, was der Wurm machte. Ständig brachten irgendwelche Tanten der Handelskollegen von Heiligenstatuen und Großmütter von Cousins aus der Blasmusikkapelle diverse Kräutersude oder Wurmöle. Keines davon vermochte den Wurm zu beseitigen, vielmehr bescherten sie Johannes Würgeanfälle und schnellen Gang. Nur Elisabeth wurden keine Hausmittel gebracht.
Als sich die Sturmfront ausgeregnet hatte und ein pittoresker Altweibersommer die Waldhänge golden färbte, kamen Bergsteiger ins Dorf. In den letzten Jahren waren sie ausgeblieben, und die St. Petrianer hatten schon befürchtet, dass sie irgendwann zurückkommen würden, doch hätten sie niemals gedacht, es gäbe Bergsteiger, die verrückt genug seien, im Herbst zu kommen - Altweibersommer hin oder her. Wie immer, wenn die Wahnsinnigen heranrückten, klappten die Fensterläden zu, wurden die Wäscheberge ins Haus geholt und die Kinder heimgerufen, noch bevor der Tross das Ortsschild passiert hatte.
»Wos sand des bloß für Männer, wann de si net amoi rasiern könna«, flüsterten sich die letzten St. Petrianer am Dorfbrunnen zu, bevor sie davonstoben. Einige Anrainer lugten zwischen den Vorhängen hervor, aber bis auf den Wirt, der ihnen dreifache Preise berechnete, ging man den Bergsteigern aus dem Weg. Die Männer verkrochen sich in Wäldern und Werkstätten, der Pfarrer sperrte die Kirche zu. Seit Jahrzehnten fragten sich die St. Petrianer, welche Kopfverletzungen diese Fremden erlitten hatten, dass sie auf Teufel komm raus über die Nordwand, die man im Volksmund auch Mord- wand nannte, auf den Großen Sporzer gelangen wollten. Die Dorfbewohner mochten es gar nicht, wenn Fremde aus dem Flachland in ihrer Nähe waren, und so fühlte sich niemand bemüßigt, ihnen Ratschläge oder gar Hilfe für die Besteigung anzubieten. Wenn einer den Weg nicht kannte, hatte er dort, wo er hinwollte, nichts verloren. Die Bergsteiger ließen jedoch nicht locker und versuchten, den Großen Sporzer zu erklimmen. Sechs Tage später aber mussten sie aufgrund des Wintereinbruches aufgeben, und einer der Bergsteiger kam ohne linken Daumen zurück. Er war zwar nicht abgefroren, sondern bei einem Unfall mit Sicherungsseil und Eispickel abgetrennt worden, doch in seiner Trauer um den zehnten Finger gab der Bergsteiger den unhilfsbereiten St. Petrianern die Schuld und stürmte die Volksschule. Damals wurden alle Kinder des Dorfes in einer Klasse unterrichtet, und er stellte sich trotz kreischender Proteste der Volksschullehrerin hinter das Pult, um den Kindern zu erklären, dass es keinen Gott gebe. Und erst recht kein Christkind. Er sprach wirr und schnell, keines der Kinder konnte danach wiedergeben, was er gesagt hatte, aber der Daumenstummel hatte seine Wirkung getan - die Kinder zweifelten. Die Abendmesse war daraufhin voll, die Frauen beteten und klagten, die Männer überlegten beim anschließenden Wirtshausbesuch, welche Knochen sie dem Bergsteiger zuerst brechen sollten, bevor sie ihn am Fahnenmast pfählen würden, denn er hatte den Kindern nicht nur die Chance, in den Himmel zu kommen, genommen, sondern die Eltern der wichtigsten prügelfreien Erziehungsmethode beraubt: Wennst net brav bist, kummts' C'hristkinderl net. Johannes Gerlitzen schüttelte den Kopf. Es ging ihm auf die Nerven, dass alle suderten, klagten, fluchten, aber keiner etwas unternahm, also holte er das Hochzeitskleid seiner verstorbenen Mutter vom Dachboden, borgte sich die Perücke des ehemaligen Schullehrers und huschte zur Schlafengehzeit durch die Vor- und Hintergärten der Familien mit schulpflichtigen Kindern. Am nächsten Tag beteten die Kinder das Vaterunser vor Schulbeginn mit der größten Inbrunst in der Geschichte von St. Peter. Sogar der Pfarrer konnte sich bereits in der Morgenmesse über zwei Handvoll Ministranten freuen. Nur der älteste Sohn des Nachbarn von links, Karli Ötsch, war skeptisch geblieben. Da er letztes Jahr schlimm gewesen war, war das Christkind nicht zu ihm gekommen, und er verstand nicht, warum es, ausgerechnet einen Tag nachdem er den Pferdeschwanz seiner kleinen Schwester Irmi angezündet hatte, nun doch kam. Als Johannes also durch den Garten der Ötschs lief, eilte Karli mit Zahnpasta vor dem Mund und Spielzeuggewehr im Anschlag aus dem Haus und schrie:
»I mach des Monster tot!«, woraufhin Johannes das Hochzeitskleid raffte, schneller lief und sich in seiner Meinung bestätigt sah, dass der kleine Karli seinem Vater nachgeriet.
Abgesehen davon avancierte Johannes innerhalb einer Nacht zum Helden des Dorfes. Elisabeth wusste gar nicht, wohin mit all dem Speck, den Marmeladen, gedörrten Früchten, der Butter, der Milch, dem Käse mit und ohne Löcher, die sie an den folgenden Tagen auf der Schwelle fand. Schlagartig verzieh das Dorf Johannes sein komisches Verhalten. Obwohl die Stammtischrunde rund um Gerhard Rossbrand, Friedrich Ebersberger, Wilhelm Hochschwab und Anton Rettenstein Tausende Bemerkungen über Johannes im Brautkleid auf der Zunge hatte, schluckten sie eine jede hinunter. Johannes hatte Großes für die Dorfgemeinschaft geleistet, und unter diesem Umstand sah man ihm gerne nach, dass er sich zuvor verschlossen gezeigt und den anderen den Rücken gekehrt hatte, indem er allein in der Bibliothek herumgesessen war, anstatt sich für das Dorf nützlich zu machen. Und auch Elisabeth wurde nach der Christkindlsache wieder anschmiegsam. Vor allem, als der Doktor bei seinem letzten Besuch vor Weihnachten ankündigte, es würde bald so weit sein. Elisabeth musste sich auf die Geburt vorbereiten, und Johannes würde im neuen Jahr seine Wurmtabletten bekommen. Dieses Mal beschwerte er sich nicht, dass es so lange dauerte, bis er sein Medikament erhielt, denn er dachte nur noch daran, wie es sein würde, endlich sein Kind in den Armen zu halten. Außerdem hatte er schon so viel Zeit mit seinem Wurm verbracht, dass es auf die paar Wochen mehr auch nicht ankam.
Das Weihnachtsfest verbrachten die Gerlitzens zu Hause, hörten sich auf dem Balkon die Turmbläser an, und Johannes spielte das Weihnachtsevangelium mit selbst geschnitzten Krippenfiguren nach - Maria und Josef hatte er die Züge von Elisabeth und sich verpasst. Elisabeth war bereits zu schwanger, um zur Mitternachtsmette bergauf bis in die Kirche zu gehen. Noch vor dem Dreikönigstag war es schließlich so weit. Die Hebamme Trogkofel, deren Wurmtinktur Johannes solch ein Erbrechen beschert hatte, dass er befürchtet hatte, der Wurm käme vorne raus, verbannte ihn nach draußen, ehe er den Wunsch äußern konnte, bei seiner Frau zu bleiben. Vierzehn Stunden lang saß er auf der Holzbank vor dem Haus und spülte sich mit einer Dopplerflasche Adlitzbeerenschnaps die Schreie seiner Frau aus den Ohren. Als seine Haare gefroren waren und seine Haut so von der Kälte ausgetrocknet, dass sie wie von einem weißen Netz überzogen schien, tat das Kind seinen ersten Schrei. Johannes stürzte ins Haus, rannte die Holztreppen empor, klopfte nicht, wartete nicht und hebelte beim stürmischen Öffnen der Tür selbige beinahe aus. Im Türrahmen jedoch erstarrte er. Das kleine Mädchen lag nackt in den Armen der Hebamme, war noch über und über von den Spuren der Geburt bedeckt und hatte dennoch einen unübersehbar schwarzen fülligen Lockenkopf, wie er weder in der Familie der rotblonden Elisabeth noch bei den weißblonden Gerlitzens jemals vorgekommen war. Solch schwarzes wuscheliges Haar hatte nur der Nachbar Ötsch von links.
Johannes Gerlitzen gewöhnte sich schnell daran, in der Bibliothek zu schlafen. Mit einer Matratze im Südeck, wo es am wenigsten feucht wurde, war es sogar einigermaßen gemütlich. Seit ihm die Gemeindesekretärin eine Schreibtischlampe dazugestellt hatte, konnte er bis tief in die Nacht lesen. Das Lesen war hilfreich, um jene Gedanken zu vertreiben, die ihn nachts derart belasteten, als säße ein gewichtiger Alb auf seiner Brust, der ihn zu erdrücken versuchte.
Kaum hatte das Gerücht von der Geburt die Kirchenstiege erreicht, empfanden die Dorfbewohner Mitleid, meinten, man müsse ihm seine Ruh' lassen, doch als Johannes Gerlitzen der Sonntagsmesse zweimal hintereinander ferngeblieben war, wurden die St. Petrianer unruhig. All jene, die von ihren Häusern Ausblick auf das Gemeindeamt hatten, beobachteten den Bibliotheksraum, um den Nachbarn in den Hangsiedlungen am nächsten Tag zu erzählen, wann Johannes das Licht ausgemacht hatte und zu welchen unchristlichen Zeiten es wieder angegangen war.
»Hiazn is a verruckt wordn«, murmelte die Stammtischrun- de, wenn sie zur Sperrstunde vom Wirt nach Hause geschickt wurde und nebenan im Gemeindeamt der Gerlitzen unverändert seine Nase in ein Buch steckte, aber keiner von ihnen ging hinein, um mit Johannes zu sprechen. Anton, Friedrich, Wilhelm, Gerhard, Johannes und Karl waren seit der Volksschule eine Burschengruppe gewesen und hatten viele Abende zusammen im Wirtshaus verbracht, seit sie alt genug dafür waren - auch wenn Johannes Gerlitzen und Karl Ötsch meist prügelnd unter dem Tisch geendet waren. Nun durfte Karl das Haus nur noch unter Aufsicht seiner Frau verlassen, und Johannes verließ das Gemeindeamt überhaupt nicht mehr. In St. Peter am Anger sprachen Männer nicht über Gefühle, Enttäuschung ertrug man stoisch, also ließen sie Johannes, wo er war, und tranken abends zu viert.
Als sich Johannes Gerlitzen jedoch am Aschermittwoch nicht einmal das Aschenkreuz abholte, redeten die Dorfbewohner so lange auf den Altbürgermeister ein, bis dieser seine Hosenträger stramm zog, den Ältestenrat zusammentrommelte und ins Gemeindeamt marschierte. In St. Peter am Anger gab es kein gewichtigeres Wort als das der Versammlung der vier bis sechs mächtigsten Pensionisten. Wenn diese etwas befahlen, gehorchte man - nur Johannes Gerlitzen ignorierte ihre Autorität. Die fünf Ältesten fanden ihn in der Teeküche des Gemeindeamts, wo sich Johannes Butter auf ein halbes Weckerl schmierte, der Käse war bereits aufgeschnitten.
»Geh Hannes, woaßt eh, wia des so is«, sagte der Altbürgermeister, der als guter Freund von Johannes' verstorbenem Vater die Rede führte. Er rieb sich währenddessen die Hände gegen den Innenstoff seines Festtagsjankers, als müsste er sie säubern.
»De anen ham s'Glück im Leben, de andern ziehn d'Oarschkartn. Owa da herin wirst jo nu deppert.«
Der Bürgermeister ging im schmalen Raum auf und ab, war sich mit seinem Wanst selbst im Weg, seine vier Begleiter blieben im Halbkreis vor dem Eingang stehen und warfen dem Schnitzer zornige Blicke zu. Johannes beachtete sie nicht. Er belegte sein Brot und schnitt einen Paradeiser auf.
»Jessasmaria, Hannes, i versteh scho, dass'd grad g'nug hast vo da Wölt, owa woaßt eh, an Guckguck gibt's in de bestn Gärtn. Denk do a bisserl anan Friedn im Dorf! Du lebst jo net allanig da!«
Johannes zeigte keine Reaktion und salzte seine Jause. Die fünf Alten sahen einander ratlos an, bis der Altbauer Rettenstein seinen Kopf schüttelte und damit bedeutete, dass es wohl sinnlos sei, die wertvolle Zeit des Ältestenrates an Johannes Gerlitzen zu verschwenden. Daraufhin stampfte der Bürgermeister auf den Fußboden und schrie:
»Jessasmariaundjosefna, du bist owa a a sturer Hund, du depperter!«, bevor sie geschlossen hinauspolterten und die Tür hinter sich ins Schloss knallten.
Während sich Elisabeth von der Geburt erholte, erwartete sie jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete, Johannes würde zurückkommen - aber es waren stets nur ihre Freundinnen oder ältere Frauen aus dem Dorf, die ihr Essen und Hausmittel brachten. Alle standen ihr bei, doch auf Johannes wartete sie vergeblich. Nach einigen Wochen bat Elisabeth schließlich die Hebamme Trogkofel, ein paar Stunden auf ihr kleines Mädchen zu schauen. Sie zog sich ihr Sonntagskleid an, holte das Amulett ihrer Großmutter aus der Kommode, kämmte ihr langes Haar mit etwas Wachs, bis es glänzte, und ging bei Einbruch der Dämmerung Richtung Dorfplatz. Vor dem Gemeindeamt blieb sie stehen und blickte durch das Fenster in die erleuchtete Bibliothek. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es ihr solch einen Stich versetzen würde, Johannes zu sehen. Kurz blieb ihr die Luft weg, und sie musste sich abstützen. Elisabeth schaute zu Boden, schloss die Augen, dachte daran, wie sehr sie Johannes liebte, und richtete ihren Blick schließlich wieder auf den Mann, der hinter dem Fenster im Licht einer Schreibtischlampe saß und las. In St. Peter am Anger gab es zur damaligen Zeit vier Straßenlaternen, und unter einer stand Elisabeth. Sie wartete, dass Johannes seinen Kopf hob und sie vor dem Fenster stehen sah. Doch wie lange sie auch wartete, ihr Mann schaute nicht aus seinem Buch auf. Schließlich war Elisabeth so durchgefroren, dass sie es nicht mehr aushielt und nach Hause ging. Auf dem Weg weinte sie, bis die Hunde in den Höfen entlang der Straße zu jaulen begannen.
Die kleine Ilse schlummerte fest, als die Hebamme sie in die Arme ihrer Mutter legte, um sich den Mantel anzuziehen. Bevor die Hebamme das Haus verließ, sagte sie zu Elisabeth:
»I find, de Klane hat de hochn Wangenknochn vom Johannes.«
Daraufhin sah Elisabeth ihrer Tochter ins Gesicht und nickte eifrig.
Der Tag, an dem der Doktor die lang erwarteten Medikamente brachte, begann damit, dass Johannes auf seinem Morgenspaziergang ein Schneehuhn entdeckte, dessen weißes Kleid mit braunen Federn durchsetzt war. Am Kopf hatte die Verfärbung begonnen, und zum ersten Mal seit Langem lächelte Johannes: Der Frühling stand bevor. Wenn Johannes früher Schneehühner entdeckt hatte, hatte er versucht, sie zu fangen, denn Schneehuhnfleisch galt in St. Peter am Anger als besondere Delikatesse. Doch in diesem Moment war Johannes nicht nach Jagen zumute, obwohl das Schneehuhn nur einen halben Meter vor ihm stand und durch die Futtersuche abgelenkt war. Und plötzlich wurde Johannes klar, dass ihm nicht nur die Schneehuhnjagd egal war, sondern sein ganzes bisheriges Leben. Er wollte nicht länger in St. Peter bleiben, Bäume fällen, Statuen schnitzen, im Wirtshaus sitzen oder Schneehühner braten, er wollte erforschen, ob Schneehühner Würmer hatten.
Kurz vor Einsetzen der Schneeschmelze kamen die Krämpfe. Sechzehn Stunden lang wand sich sein Darm, zwei Stunden länger als Elisabeth in den Wehen gelegen hat, dachte Johannes und schämte sich noch im selben Moment für diesen Gedanken. Als tags darauf der gewaschene Bandwurm vor ihm lag, ganze 14,8 Meter lang und in etwa so breit wie Elisabeths Ringfinger, glühte Johannes vor Stolz, als hätte er die Erstbesteigung des Großen Sporzer vollbracht.
Mit weit offenen Mündern beobachtete die Stammtisch- runde - Anton Rettenstein verkutzte sich an seinem Bier -, als Johannes Gerlitzen im Wirtshaus erschien, um den Wirt um ein leeres Marmeladenglas und etwas Spiritus zu bitten. Sobald die Schneeschmelze die Wege ins Tal befreit hatte, suchte Johannes drei Paar frische Unterwäsche zusammen und schlug Schreibers Berichte sowie den präparierten Bandwurm in jeweils eines seiner Hemden ein.
An einem Dienstagmorgen bog Johannes Gerlitzen auf die Angertalstraße und machte sich auf den vierstündigen Fußweg hinaus in die Welt. Als Erster kam ihm der Briefträger Gerhard Rossbrand entgegen, danach die Volksschullehrerin, schließlich einige Bauern, und alle fragten sie ihn, wohin er so zielstrebig ginge. Ohne stehenzubleiben, antwortete er jedes Mal:
»I geh in d' Hauptstadt und werd Doktor.«
Dem Briefträger fielen ein paar Briefe zu Boden, die Volksschullehrerin lachte lauthals auf, die Bauern schüttelten die Köpfe und waren sich einig, dass er nun endgültig verrückt geworden war. Noch nie war jemand aus St. Peter am Anger weggegangen, schon gar nicht in die Hauptstadt, schon gar nicht, um Doktor zu werden. Sogar die Murmeltierfamilie, die sich am Schutthang kurz nach der Dorfgrenze angesiedelt hatte, stellte sich mit emporragenden Schwänzen auf die Hinterläufe und blickte ihm nach, bis er außer Sichtweite war.
Elisabeth erfuhr von seinem Abschied durch einen Brief, den er auf der Schwelle des gemeinsam gebauten Hauses zurückgelassen hatte:
Elisabeth, ich geh fort. Vielleicht komm ich zurück, wenn ich ein Doktor bin. Erzähl dem Kind, daß ich der Vater bin. Du weißt eh, der Nachbar is ein Sautrottel. Und bleib im Haus wohnen, ich brauchs nimmer, und falls ich zurückkomm, weiß ich wenigstens, wo ich dich finden kann. Machs gut, ich bin dir nicht bös. Mal schaun, was sich der Herrgott für uns überlegt hat. Johannes Gerlitzen (nach der Schneeschmelze 1960)
© 2012, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Elisabeth Gerlitzen fluchte gleichermaßen, als Franz Patscherkofel und Leopold Kaunergrat ihren Ehemann in die Küche brachten, der ein Taschentuch zwischen den Zähnen stecken hatte und auf zwanzig Meter nach Schnaps stank - drei Viertel der Flasche hatten ihm die Holzfäller zur Schmerzbetäubung eingeflößt.
»Kruzifixn sacra, es depperten Mannsbülder könnts a nia aufpassn, und immer de Sauferei! Hiazn schleichts enk owi ins Tal und holts ma den Doktor auffi!«, polterte sie, doch Johannes spuckte das Taschentuch aus und keuchte unter Schmerzen:
»Wegn so aner Klanigkeit brauchts do net den Hochg'schissenen holn, bluatet jo net amoi, hol liaba nu a Flaschn Schnaps.«
In St. Peter am Anger gab es oft Verletzte, wenn die Männer in den Wald gingen. 1959 konnte jeder mit einer Axt umgehen, aber niemand war professioneller Holzfäller. Alle fällten, was sie an Holz brauchten, Franz Patscherkofel hatte Stützbalken benötigt, Leopold Kaunergrat Brennholz für den Winter, und Johannes Gerlitzen war als Berufsschnitzer immer auf der Suche nach gutem Holz. Unfälle waren sie gewohnt, und den Doktor aus dem Tal konnte niemand leiden, da er sich für den Geschmack der Dorfbewohner viel zu unverständlich ausdrückte und unangemessen herablassend verhielt. Nur wenn es sich um lebensbedrohliche Notfälle handelte, wurde der Doktor gerufen, aber da der Weg ins Tal weit und beschwerlich war, kam er im Ernstfall meist zu spät. Dass Johannes' Schulter ausgekugelt war, konnten sogar die Holzfäller diagnostizieren, und so hielt Franz Patscherkofel Johannes fest, damit sich dieser nicht bewegen konnte, während Leopold Kaunergrat ihm die Schulter einrenkte. Kurz darauf war die Schnapsflasche leer. Schließlich riefen die Männer noch Johannes' Nachbarn herbei, den Tischler Karl Ötsch, um den gebrochenen Arm mit einer Holzmanschette ruhig zu stellen.
»G'hupft wia g'hatscht, ob da Ötsch oder da Doktor«, sagte
Johannes und biss auf Elisabeths zusammengefaltetes Kopftuch, während der Nachbar den oberen Teil der Schiene mit Kurznägeln zusammenklopfte.
»G'hupft wia g'sprunga hoaßt des«, antwortete dieser und grinste, dass man seine halbverfaulten Zähne sah, auf denen der Raucherbelag wie Schimmel wucherte. Daraufhin brachen sie in Streit über diese Redewendung aus, und kaum dass die Schiene fixiert war, riss Johannes mit seiner gesunden Hand an den verfilzten Haaren des Nachbarn, während dieser versuchte, Johannes' Ohr abzudrehen. Erst als Elisabeth einen Kübel Brunnenwasser über ihnen ausgoss, ließen sie voneinander ab. Seit sie Kinder waren, ging das so, und Elisabeth hatte, da sie unmittelbar neben den Ötschs wohnten, immer einen Kübel kaltes Wasser parat. Am Gartenzaun standen fünf davon.
Das ganze Dorf hatte Schlimmes befürchtet, als Johannes und Elisabeth ein Haus neben Karl Ötsch bauten, aber Johannes hatte diesen Grund von seinem Großvater vererbt bekommen, und sich zu prügeln war 1959 nichts Verbotenes. Soweit sich die älteren Frauen des Dorfes erinnern konnten, hatten sich Johannes Gerlitzen und Karl Ötsch bereits das Holzspielzeug über die Köpfe gezogen, als sie noch in Windeln steckten. Die meisten Dorfbewohner glaubten, der Grund ihrer ständigen Auseinandersetzungen sei, dass sie so verschieden waren. Johannes war ein ruhiger und nachdenklicher Mensch, der lieber zuerst überlegte, bevor er vorschnell etwas sagte, während Karl Ötsch seine Meinung herausposaunte, ohne dass ihn jemand gefragt hätte - gern so laut, dass er bis ins Angertal gehört wurde. Neben dem hellhäutigen, groß gewachsenen Johannes sah Karl Ötsch aus wie ein Gegenentwurf, klein, rundlich, pausbäckig und mit dunkler Haut und rabenschwarzem Haar. Egal worum es ging, Karl und Johannes waren sich uneinig, und keiner von beiden war je bereit, dem anderen ohne Schmerzen recht zu geben.
Anfangs störten sich weder Johannes noch Elisabeth daran, dass er wegen der Verletzung seinem Beruf als Schnitzer nicht nachgehen konnte, und auch Johannes' Kunden hatten Verständnis, dass sich ihre bestellten Statuen, Ornamente oder Weihnachtskrippen etwas verzögern würden. Johannes und Elisabeth hatten erst im April geheiratet, alle 420 Bewohner hatten drei Tage lang gefeiert. Die Blasmusik hatte gespielt, im alten Feuerwehrwagen hatte man das Brautpaar von der Kirche ins Wirtshaus gebracht, ein Aufmarsch wie bei den Prozessionen zu Hochfesten. Dreizehn Jahre hatten die Dorfbewohner auf diese Hochzeit gewartet, da die beiden seit der Volksschule so gut wie verlobt waren. Schon lange bevor Johannes bei Elisabeth fensterln gewesen war, hatten die alten Frauen auf der Kirchenstiege überlegt, wie schön die Kinder der beiden sein würden. Johannes war etwas größer als die meisten Männer im Dorf und athletisch gebaut. Man konnte ahnen, dass er niemals den St.-Petri-Bierbauch ansetzen würde, der ab dreißig bei fast allen über der Hose hing. Er war feingliedrig, hatte starke Wangenknochen, doch das Beeindruckendste an ihm waren die Haare, die so blond waren, dass sie in der Dunkelheit leuchteten. Elisabeths Haare wiederum leuchteten im Sonnenlicht. Auch sie war blond, aber mit einem rötlichen Einschlag, der ihren locker gebundenen Zopf zum Funkeln brachte. Sie hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, und was Johannes am meisten an ihr liebte, war, wie schnell sich ihre Wangen tiefrot färbten, wenn sie lachte. Elisabeth war das manchmal unangenehm, da sie meinte, wie ein Schulmädchen auszusehen. Johannes küsste dann eilig ihre Nasenspitze oder ihr Ohrläppchen, woraufhin sie noch roter wurde und verschmitzt kicherte.
In den 50ern waren Flitterwochen in St. Peter am Anger noch nicht erfunden, aber dank Johannes' Verletzung kam das junge Liebespaar nun zum Feiern seiner Ehe. Die beiden genossen mehrmals täglich die Freiheit, sich nicht wie in ihrer Jugend in Heustadeln, Holzschupfen und Selchkammern verrenken zu müssen. Bis ihnen übel wurde. Mit Johannes fing es an, er hatte ständig Bauchschmerzen, die zu schweren Verdauungsbeschwerden führten. Bald darauf hustete Elisabeth morgens alle Mahlzeiten des Vortages ins Plumpsklo hinterm Haus. Auf der Kirchenstiege meinten die einen, Elisabeth würde schlecht kochen, während die anderen am Springbrunnen erzählten, Johannes würde Elisabeth und sich zu viel Schnaps genehmigen. Erst als der ziegengesichtige Doktor aus Lenk im Tal seine zweimonatliche Sprechstunde im Versammlungssaal des Gemeinderats abhielt, wurde das Rätsel gelöst. Beiden Eheleuten lag etwas im Bauch: Elisabeth war schwanger, Johannes hatte einen Bandwurm.
Elisabeths Freude war grenzenlos. Zwei Stunden später hatte sie sich bereits den alten Schaukelstuhl vom Dachboden holen lassen, wippte selig darin und strickte Babysocken. Johannes hingegen war mulmig zumute. Er konnte sich kaum freuen, bald Vater zu werden, denn ständig grübelte er, was der Wurm wohl trieb. Schlief er, oder schwamm er herum? Hatte der Wurm überhaupt Augen, und vor allem: Wie war der Wurm in seinen Bauch gekommen? Der Doktor hatte auf Johannes' Fragen in einem Latein geantwortet, das nicht einmal der Pfarrer verstanden hätte. Der Doktor war nämlich beleidigt, dass Johannes seinen gebrochenen Arm lieber vom Dorftischler hatte behandeln lassen als von einem Spezialisten, und in seinem Ärger hatte er Johannes angekündigt, dass es mindestens ein halbes Jahr dauern würde, bis er ihm ein AntiWurm- Medikament aus der Hauptstadt besorgen könne.
Da ihm auch die Volksschullehrerin nichts über im Menschen lebende Würmer erzählen konnte, schlich Johannes, verunsichert von den kuriosen Ideen der Leute im Wirtshaus, drei Tage lang um das Gemeindeamt. Er war sich sicher, dass die Theorien der St. Petrianer Blödsinn waren - das hätte er ja gemerkt, wenn sich so ein großer Wurm von hinten an geschlichen hätte. Am dritten Tag wagte er schließlich, die Gemeindeamtstür zu öffnen. Er ging durch das Eingangszimmer am Postamt und am Aufenthaltsraum der Gendarmen vorbei bis in die Dorfbibliothek. Seit ihn der Pfarrer zu Schulzeiten zur Strafe fürs Stanniolkugelwerfen hierhergeschickt hatte, um sich einen Katechismus auszuborgen und der Klasse daraus zu referieren, war er nicht mehr hier gewesen. Die Bibliothek war von den Benediktinermönchen aus Lenk angelegt worden, viele Jahre lang hatten sie die Bücher auf Generationen von Mauleseln auf den Angerberg transportiert. Nachdem sich das Dorf jedoch vom Kloster losgesagt und die Mönche, die von ihnen Steuern verlangten, mit Mistgabeln die Talstraße hinuntergejagt hatte, war die Bibliothek von niemandem mehr gepflegt worden, bis vor einigen Jahren gescheckte Nagekäfer eingezogen waren, woraufhin man zwei Drittel aller Bücher verbrannt hatte. In St. Peter am Anger hielt sich hartnäckig der Volksglaube, das Klopfen der Nagekäfer würde Tod und Verderben ankündigen. Dabei rief das Männchen nicht den Teufel, sondern das Weibchen zum Liebesspiel.
Die Gemeindesekretärin, die neben ihrer Hauptbeschäftigung auch das Amt des Postfräuleins, der Gendarmerieaushilfe und der Bibliothekarin bestritt, half Johannes bei der Suche. Bis sie in den verbliebenen, ungeordneten Beständen etwas Brauchbares fanden, dauerte es eine Weile. Oftmals tauchten hinter den Büchern mumifizierte Nagekäfer oder kinderfaustgroße Spinnen auf, und Johannes zuckte bei jedem Kreischer seiner Helferin zusammen, doch kurz bevor er einen Hörsturz bekam, wischte sie den Staub von einem Buch, für das er ihr jahrzehntelang dankbar sein würde. Karl Franz Anton von Schreiber: Nachricht von einer beträchtlichen Sammlung thierischer Eingeweidewürmer und Einladung zu einer literarischen Verbindung. Es war 1811 verfasst worden, aber für den Schnitzer Johannes Gerlitzen genau die richtige Lektüre. Es handelte sich nicht um ein komplexes naturwissenschaftliches Werk, sondern um eine Chronik, einen Bericht über die Entdeckungen der Wurmforscher im k. k. Hof-Naturalienkabinett in der Hauptstadt. Als diese Männer sich an die Arbeit gemacht hatten, war kaum etwas über Würmer bekannt gewesen. Und somit begannen die Aufzeichnungen Schreibers günstigerweise auf der Höhe von Johannes' Wissensstand. Der Schnitzer verbrachte den Tag in der Bibliothek und wanderte am wackeligen Lesetischchen dem einfallenden Sonnenlicht hinterher. Auf dem Nachhauseweg fühlte er sich bereits ein bisschen weniger abstoßend: In der Hauptstadt hatte vor 150 Jahren fast jeder einen Wurm gehabt, der Kaiser Franz hatte aus Sorge um seine Untertanen sogar befohlen, dass alle Naturforscher, welche an jenem Gegenstand Interesse nehmen, mit dem k. k. Naturaliencabinet in Verbindung treten und durch Mittheilung ihrer schon gemachten und künftigen Beobachtungen und Entdeckungen zur Vervollkommnung und kräftigeren Wirkungsfähigkeit der hiesigen Anstalt, zur Vervollständigung unserer Sammlung und auf diese Weise zur Bereicherung und Vervollkommnung der k. k. Erforschung der im Menschen lebenden Parasiten - zum Wohle aller Völker - beyzutragen.
Sogar Wettstreite um die richtige Behandlung der wurmbefallenen Patienten hatte es unter den Ärzten gegeben. Johannes musste zugeben, dass es ihn bei manchen Schilderungen Schreibers ziemlich geschaudert hatte. Als der Kranke mit einer Art Heroismus die Medikamente zu sich nahm, sprang er plötzlich aus dem Bette, um sich auf den Leibstuhl zu setzen. Er erblaßte, zitterte und bebte, ein kalter Todesschweiß bedeckte den ganzen Körper. Beinahe hätte Doktor Bremser triumphiert, allein seine langsame Behandlungsweise strafte seine Freude durch einen etwa in acht Tagen erfolgten Abortus bei der von ihm behandelten Frau, bei welcher er nichts weniger als eine Schwangerschaft vermutet hätte.
1959 wurde der Herbst von einer wochenlangen Schlechtwetterfront eingeleitet. Der Wind blies ein Tiefdruckgebiet in das Angertal, das sich an den Sporzer Alpen anstaute wie ein zusammengedrückter Wattebausch, bis die Wolken am Großen Sporzer zu kleben schienen. Johannes ging nun öfter in die Bibliothek. Die universelle Gemeindeamtsbedienstete hatte ihm zwar empfohlen, die Bücher auszuleihen, aber täglich von 8:30 bis 18:00 Uhr an seinem Platz zu sitzen und sich durch die Erforschung der Helminthen zu lesen, so als wäre man selbst am Sezieren, Analysieren, Klassifizieren und Präparieren beteiligt, fühlte sich für ihn wie Arbeit an. Schnitzen war mit dem lädierten Arm noch nicht möglich, und überhaupt hatte Johannes den Eindruck, alles, was er zurzeit Nützliches tun könne, sei lesen. Der Nachbar Ötsch von links hatte währenddessen im Lästern über Johannes' Leselust eine neue Leidenschaft gefunden, doch Johannes hatte Elisabeth versprochen, sich bis zur Geburt des Kindes auf keine Prügelei mehr einzulassen. Nachdem der Regen eingesetzt hatte, machten sich jedoch auch Johannes' Wirtshausfreunde über seine Präsenz in der Bibliothek lustig.
»Lasst di dei Frau nimmer zuwi und wüllst hiazn a Pfaff werdn?«, grölten der vorlaute Großbauer Anton Rettenstein, der dicke Bürgermeistersohn Friedrich Ebersberger, der Lebensmittelgreißler Wilhelm Hochschwab und der sonst so freundliche Briefträger Gerhard Rossbrand, obwohl der St.-Petri-Pfarrer gar nichts für Bücher übrighatte. Er nutzte Lektüre lediglich als Strafe für Sünder und widmete sich außerhalb der Messzeiten der Renovierung des Kirchturmes. Johannes beachtete all die Häme nicht. Wegen des starken Regens hatten die Männer nichts anderes zu tun, als vom Bett ins Wirtshaus zu stolpern. Sogar die Gendarmen tranken mittags ihr erstes Bier, da zur Regenzeit ohnehin nie etwas passierte, und wenn, dann im Wirtshaus.
St. Peter am Anger war ein kleines Dorf, das vor allem von einer Einnahmequelle lebte - den weltweit einzigartigen Adlitzbeerenbaumbeständen. Nirgendwo auf der Welt gab es derart viele und hohe Adlitzbeerenbäume, deren Ertrag genug einbrachte, um ein ganzes Dorf zu erhalten. Die St. Petrianer hatten gar keine Verwendung für all ihre Beeren, doch im Rest der Welt waren sie ein gefragtes, teures Gut zur Herstellung spezieller Medikamente. Obwohl jeder Bewohner neben der Adlitzbeerenwirtschaft noch einen anderen Beruf ausübte, halfen zur Erntezeit alle zusammen. Und wenn die Ernte wie jetzt wegen Regens unterbrochen war, wurde im Wirtshaus auf besseres Wetter gewartet. Denn es war ein heiliges Gesetz, dass während der Adlitzbeerenernte niemand einer anderen Beschäftigung nachging.
Johannes jedoch hatte eine Aufgabe, die ihm weder sein gebrochener Arm noch der Regen nehmen konnten - er las sich durch die Welt der Würmer. Bald war er von den Wesen fasziniert. Er fand es außerordentlich, wie so ein kleines Staubkorn im Wasser von einem Krebs gefressen wurde, den dann ein Fisch verspeiste, der wiederum von einem Fuchs, einem Hund oder einem Menschen gegessen wurde, bis sich das Staubkorn im Darm des letzten Gliedes zu einem richtigen Lebewesen entwickeln konnte. Er staunte über den Überlebenswillen, den solch ein Tier haben musste, wenn es all diese Stadien in Kauf nahm, genau wissend, dass es nur mit viel Glück dort hinkommen würde, wo es hingehörte.
Elisabeth fand diese Überlegungen ekelerregend. Wenn Johannes zu erzählen ansetzte, drohte sie, sich zu übergeben, und das wollte er dem Kind nicht antun. Zu gern hätte er ihr, seiner Frau und besten Freundin, mehr von seinem neuen Wissen erzählt. Etwas Besonderes zu können, war in St. Peter normal, aber etwas Außergewöhnliches zu wissen, unterschied ihn vom Rest des Dorfes. Tagtäglich - nicht nur, wenn er ihr von Würmern erzählen wollte - wunderte sich Johannes, wie anders Elisabeth seit ihrer Schwangerschaft geworden war. Häufig klagte sie, wie anstrengend es sei, schwanger zu sein, dass sie so leiden müsse, dass ihr alles wehtue. Johannes verstand sie nicht. Was war nur mit der Elisabeth passiert, die sich beim Aufstauen des Mitternfeldbaches einen Nagel durch die Sohle getreten hatte und vollkommen unbeeindruckt durch den Ostwald und über zwei Äcker nach Hause marschiert war? Johannes wühlte daraufhin wieder in der Bibliothek. Er las, dass eine Schwangerschaft das größte Glück für eine Frau sei, der schönste Zustand in ihrem Leben, woraufhin er sich schwertat, Elisabeth weiterhin ernst zu nehmen, und vor ihren Klagen immer häufiger flüchtete. Was Elisabeth niemals zugegeben hätte: Sie war eifersüchtig auf Johannes, dessen Bauch mit Wurm mehr Aufmerksamkeit erregte als der ihrige mit Kind. Sonntags umzingelten sie die Dorfkinder, sobald sie aus der Kirche kamen, wollten jedoch niemals die Tritte des Babys fühlen, sondern immer nur mit dem Ohr auf Johannes' Bauch hören, was der Wurm machte. Ständig brachten irgendwelche Tanten der Handelskollegen von Heiligenstatuen und Großmütter von Cousins aus der Blasmusikkapelle diverse Kräutersude oder Wurmöle. Keines davon vermochte den Wurm zu beseitigen, vielmehr bescherten sie Johannes Würgeanfälle und schnellen Gang. Nur Elisabeth wurden keine Hausmittel gebracht.
Als sich die Sturmfront ausgeregnet hatte und ein pittoresker Altweibersommer die Waldhänge golden färbte, kamen Bergsteiger ins Dorf. In den letzten Jahren waren sie ausgeblieben, und die St. Petrianer hatten schon befürchtet, dass sie irgendwann zurückkommen würden, doch hätten sie niemals gedacht, es gäbe Bergsteiger, die verrückt genug seien, im Herbst zu kommen - Altweibersommer hin oder her. Wie immer, wenn die Wahnsinnigen heranrückten, klappten die Fensterläden zu, wurden die Wäscheberge ins Haus geholt und die Kinder heimgerufen, noch bevor der Tross das Ortsschild passiert hatte.
»Wos sand des bloß für Männer, wann de si net amoi rasiern könna«, flüsterten sich die letzten St. Petrianer am Dorfbrunnen zu, bevor sie davonstoben. Einige Anrainer lugten zwischen den Vorhängen hervor, aber bis auf den Wirt, der ihnen dreifache Preise berechnete, ging man den Bergsteigern aus dem Weg. Die Männer verkrochen sich in Wäldern und Werkstätten, der Pfarrer sperrte die Kirche zu. Seit Jahrzehnten fragten sich die St. Petrianer, welche Kopfverletzungen diese Fremden erlitten hatten, dass sie auf Teufel komm raus über die Nordwand, die man im Volksmund auch Mord- wand nannte, auf den Großen Sporzer gelangen wollten. Die Dorfbewohner mochten es gar nicht, wenn Fremde aus dem Flachland in ihrer Nähe waren, und so fühlte sich niemand bemüßigt, ihnen Ratschläge oder gar Hilfe für die Besteigung anzubieten. Wenn einer den Weg nicht kannte, hatte er dort, wo er hinwollte, nichts verloren. Die Bergsteiger ließen jedoch nicht locker und versuchten, den Großen Sporzer zu erklimmen. Sechs Tage später aber mussten sie aufgrund des Wintereinbruches aufgeben, und einer der Bergsteiger kam ohne linken Daumen zurück. Er war zwar nicht abgefroren, sondern bei einem Unfall mit Sicherungsseil und Eispickel abgetrennt worden, doch in seiner Trauer um den zehnten Finger gab der Bergsteiger den unhilfsbereiten St. Petrianern die Schuld und stürmte die Volksschule. Damals wurden alle Kinder des Dorfes in einer Klasse unterrichtet, und er stellte sich trotz kreischender Proteste der Volksschullehrerin hinter das Pult, um den Kindern zu erklären, dass es keinen Gott gebe. Und erst recht kein Christkind. Er sprach wirr und schnell, keines der Kinder konnte danach wiedergeben, was er gesagt hatte, aber der Daumenstummel hatte seine Wirkung getan - die Kinder zweifelten. Die Abendmesse war daraufhin voll, die Frauen beteten und klagten, die Männer überlegten beim anschließenden Wirtshausbesuch, welche Knochen sie dem Bergsteiger zuerst brechen sollten, bevor sie ihn am Fahnenmast pfählen würden, denn er hatte den Kindern nicht nur die Chance, in den Himmel zu kommen, genommen, sondern die Eltern der wichtigsten prügelfreien Erziehungsmethode beraubt: Wennst net brav bist, kummts' C'hristkinderl net. Johannes Gerlitzen schüttelte den Kopf. Es ging ihm auf die Nerven, dass alle suderten, klagten, fluchten, aber keiner etwas unternahm, also holte er das Hochzeitskleid seiner verstorbenen Mutter vom Dachboden, borgte sich die Perücke des ehemaligen Schullehrers und huschte zur Schlafengehzeit durch die Vor- und Hintergärten der Familien mit schulpflichtigen Kindern. Am nächsten Tag beteten die Kinder das Vaterunser vor Schulbeginn mit der größten Inbrunst in der Geschichte von St. Peter. Sogar der Pfarrer konnte sich bereits in der Morgenmesse über zwei Handvoll Ministranten freuen. Nur der älteste Sohn des Nachbarn von links, Karli Ötsch, war skeptisch geblieben. Da er letztes Jahr schlimm gewesen war, war das Christkind nicht zu ihm gekommen, und er verstand nicht, warum es, ausgerechnet einen Tag nachdem er den Pferdeschwanz seiner kleinen Schwester Irmi angezündet hatte, nun doch kam. Als Johannes also durch den Garten der Ötschs lief, eilte Karli mit Zahnpasta vor dem Mund und Spielzeuggewehr im Anschlag aus dem Haus und schrie:
»I mach des Monster tot!«, woraufhin Johannes das Hochzeitskleid raffte, schneller lief und sich in seiner Meinung bestätigt sah, dass der kleine Karli seinem Vater nachgeriet.
Abgesehen davon avancierte Johannes innerhalb einer Nacht zum Helden des Dorfes. Elisabeth wusste gar nicht, wohin mit all dem Speck, den Marmeladen, gedörrten Früchten, der Butter, der Milch, dem Käse mit und ohne Löcher, die sie an den folgenden Tagen auf der Schwelle fand. Schlagartig verzieh das Dorf Johannes sein komisches Verhalten. Obwohl die Stammtischrunde rund um Gerhard Rossbrand, Friedrich Ebersberger, Wilhelm Hochschwab und Anton Rettenstein Tausende Bemerkungen über Johannes im Brautkleid auf der Zunge hatte, schluckten sie eine jede hinunter. Johannes hatte Großes für die Dorfgemeinschaft geleistet, und unter diesem Umstand sah man ihm gerne nach, dass er sich zuvor verschlossen gezeigt und den anderen den Rücken gekehrt hatte, indem er allein in der Bibliothek herumgesessen war, anstatt sich für das Dorf nützlich zu machen. Und auch Elisabeth wurde nach der Christkindlsache wieder anschmiegsam. Vor allem, als der Doktor bei seinem letzten Besuch vor Weihnachten ankündigte, es würde bald so weit sein. Elisabeth musste sich auf die Geburt vorbereiten, und Johannes würde im neuen Jahr seine Wurmtabletten bekommen. Dieses Mal beschwerte er sich nicht, dass es so lange dauerte, bis er sein Medikament erhielt, denn er dachte nur noch daran, wie es sein würde, endlich sein Kind in den Armen zu halten. Außerdem hatte er schon so viel Zeit mit seinem Wurm verbracht, dass es auf die paar Wochen mehr auch nicht ankam.
Das Weihnachtsfest verbrachten die Gerlitzens zu Hause, hörten sich auf dem Balkon die Turmbläser an, und Johannes spielte das Weihnachtsevangelium mit selbst geschnitzten Krippenfiguren nach - Maria und Josef hatte er die Züge von Elisabeth und sich verpasst. Elisabeth war bereits zu schwanger, um zur Mitternachtsmette bergauf bis in die Kirche zu gehen. Noch vor dem Dreikönigstag war es schließlich so weit. Die Hebamme Trogkofel, deren Wurmtinktur Johannes solch ein Erbrechen beschert hatte, dass er befürchtet hatte, der Wurm käme vorne raus, verbannte ihn nach draußen, ehe er den Wunsch äußern konnte, bei seiner Frau zu bleiben. Vierzehn Stunden lang saß er auf der Holzbank vor dem Haus und spülte sich mit einer Dopplerflasche Adlitzbeerenschnaps die Schreie seiner Frau aus den Ohren. Als seine Haare gefroren waren und seine Haut so von der Kälte ausgetrocknet, dass sie wie von einem weißen Netz überzogen schien, tat das Kind seinen ersten Schrei. Johannes stürzte ins Haus, rannte die Holztreppen empor, klopfte nicht, wartete nicht und hebelte beim stürmischen Öffnen der Tür selbige beinahe aus. Im Türrahmen jedoch erstarrte er. Das kleine Mädchen lag nackt in den Armen der Hebamme, war noch über und über von den Spuren der Geburt bedeckt und hatte dennoch einen unübersehbar schwarzen fülligen Lockenkopf, wie er weder in der Familie der rotblonden Elisabeth noch bei den weißblonden Gerlitzens jemals vorgekommen war. Solch schwarzes wuscheliges Haar hatte nur der Nachbar Ötsch von links.
Johannes Gerlitzen gewöhnte sich schnell daran, in der Bibliothek zu schlafen. Mit einer Matratze im Südeck, wo es am wenigsten feucht wurde, war es sogar einigermaßen gemütlich. Seit ihm die Gemeindesekretärin eine Schreibtischlampe dazugestellt hatte, konnte er bis tief in die Nacht lesen. Das Lesen war hilfreich, um jene Gedanken zu vertreiben, die ihn nachts derart belasteten, als säße ein gewichtiger Alb auf seiner Brust, der ihn zu erdrücken versuchte.
Kaum hatte das Gerücht von der Geburt die Kirchenstiege erreicht, empfanden die Dorfbewohner Mitleid, meinten, man müsse ihm seine Ruh' lassen, doch als Johannes Gerlitzen der Sonntagsmesse zweimal hintereinander ferngeblieben war, wurden die St. Petrianer unruhig. All jene, die von ihren Häusern Ausblick auf das Gemeindeamt hatten, beobachteten den Bibliotheksraum, um den Nachbarn in den Hangsiedlungen am nächsten Tag zu erzählen, wann Johannes das Licht ausgemacht hatte und zu welchen unchristlichen Zeiten es wieder angegangen war.
»Hiazn is a verruckt wordn«, murmelte die Stammtischrun- de, wenn sie zur Sperrstunde vom Wirt nach Hause geschickt wurde und nebenan im Gemeindeamt der Gerlitzen unverändert seine Nase in ein Buch steckte, aber keiner von ihnen ging hinein, um mit Johannes zu sprechen. Anton, Friedrich, Wilhelm, Gerhard, Johannes und Karl waren seit der Volksschule eine Burschengruppe gewesen und hatten viele Abende zusammen im Wirtshaus verbracht, seit sie alt genug dafür waren - auch wenn Johannes Gerlitzen und Karl Ötsch meist prügelnd unter dem Tisch geendet waren. Nun durfte Karl das Haus nur noch unter Aufsicht seiner Frau verlassen, und Johannes verließ das Gemeindeamt überhaupt nicht mehr. In St. Peter am Anger sprachen Männer nicht über Gefühle, Enttäuschung ertrug man stoisch, also ließen sie Johannes, wo er war, und tranken abends zu viert.
Als sich Johannes Gerlitzen jedoch am Aschermittwoch nicht einmal das Aschenkreuz abholte, redeten die Dorfbewohner so lange auf den Altbürgermeister ein, bis dieser seine Hosenträger stramm zog, den Ältestenrat zusammentrommelte und ins Gemeindeamt marschierte. In St. Peter am Anger gab es kein gewichtigeres Wort als das der Versammlung der vier bis sechs mächtigsten Pensionisten. Wenn diese etwas befahlen, gehorchte man - nur Johannes Gerlitzen ignorierte ihre Autorität. Die fünf Ältesten fanden ihn in der Teeküche des Gemeindeamts, wo sich Johannes Butter auf ein halbes Weckerl schmierte, der Käse war bereits aufgeschnitten.
»Geh Hannes, woaßt eh, wia des so is«, sagte der Altbürgermeister, der als guter Freund von Johannes' verstorbenem Vater die Rede führte. Er rieb sich währenddessen die Hände gegen den Innenstoff seines Festtagsjankers, als müsste er sie säubern.
»De anen ham s'Glück im Leben, de andern ziehn d'Oarschkartn. Owa da herin wirst jo nu deppert.«
Der Bürgermeister ging im schmalen Raum auf und ab, war sich mit seinem Wanst selbst im Weg, seine vier Begleiter blieben im Halbkreis vor dem Eingang stehen und warfen dem Schnitzer zornige Blicke zu. Johannes beachtete sie nicht. Er belegte sein Brot und schnitt einen Paradeiser auf.
»Jessasmaria, Hannes, i versteh scho, dass'd grad g'nug hast vo da Wölt, owa woaßt eh, an Guckguck gibt's in de bestn Gärtn. Denk do a bisserl anan Friedn im Dorf! Du lebst jo net allanig da!«
Johannes zeigte keine Reaktion und salzte seine Jause. Die fünf Alten sahen einander ratlos an, bis der Altbauer Rettenstein seinen Kopf schüttelte und damit bedeutete, dass es wohl sinnlos sei, die wertvolle Zeit des Ältestenrates an Johannes Gerlitzen zu verschwenden. Daraufhin stampfte der Bürgermeister auf den Fußboden und schrie:
»Jessasmariaundjosefna, du bist owa a a sturer Hund, du depperter!«, bevor sie geschlossen hinauspolterten und die Tür hinter sich ins Schloss knallten.
Während sich Elisabeth von der Geburt erholte, erwartete sie jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete, Johannes würde zurückkommen - aber es waren stets nur ihre Freundinnen oder ältere Frauen aus dem Dorf, die ihr Essen und Hausmittel brachten. Alle standen ihr bei, doch auf Johannes wartete sie vergeblich. Nach einigen Wochen bat Elisabeth schließlich die Hebamme Trogkofel, ein paar Stunden auf ihr kleines Mädchen zu schauen. Sie zog sich ihr Sonntagskleid an, holte das Amulett ihrer Großmutter aus der Kommode, kämmte ihr langes Haar mit etwas Wachs, bis es glänzte, und ging bei Einbruch der Dämmerung Richtung Dorfplatz. Vor dem Gemeindeamt blieb sie stehen und blickte durch das Fenster in die erleuchtete Bibliothek. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es ihr solch einen Stich versetzen würde, Johannes zu sehen. Kurz blieb ihr die Luft weg, und sie musste sich abstützen. Elisabeth schaute zu Boden, schloss die Augen, dachte daran, wie sehr sie Johannes liebte, und richtete ihren Blick schließlich wieder auf den Mann, der hinter dem Fenster im Licht einer Schreibtischlampe saß und las. In St. Peter am Anger gab es zur damaligen Zeit vier Straßenlaternen, und unter einer stand Elisabeth. Sie wartete, dass Johannes seinen Kopf hob und sie vor dem Fenster stehen sah. Doch wie lange sie auch wartete, ihr Mann schaute nicht aus seinem Buch auf. Schließlich war Elisabeth so durchgefroren, dass sie es nicht mehr aushielt und nach Hause ging. Auf dem Weg weinte sie, bis die Hunde in den Höfen entlang der Straße zu jaulen begannen.
Die kleine Ilse schlummerte fest, als die Hebamme sie in die Arme ihrer Mutter legte, um sich den Mantel anzuziehen. Bevor die Hebamme das Haus verließ, sagte sie zu Elisabeth:
»I find, de Klane hat de hochn Wangenknochn vom Johannes.«
Daraufhin sah Elisabeth ihrer Tochter ins Gesicht und nickte eifrig.
Der Tag, an dem der Doktor die lang erwarteten Medikamente brachte, begann damit, dass Johannes auf seinem Morgenspaziergang ein Schneehuhn entdeckte, dessen weißes Kleid mit braunen Federn durchsetzt war. Am Kopf hatte die Verfärbung begonnen, und zum ersten Mal seit Langem lächelte Johannes: Der Frühling stand bevor. Wenn Johannes früher Schneehühner entdeckt hatte, hatte er versucht, sie zu fangen, denn Schneehuhnfleisch galt in St. Peter am Anger als besondere Delikatesse. Doch in diesem Moment war Johannes nicht nach Jagen zumute, obwohl das Schneehuhn nur einen halben Meter vor ihm stand und durch die Futtersuche abgelenkt war. Und plötzlich wurde Johannes klar, dass ihm nicht nur die Schneehuhnjagd egal war, sondern sein ganzes bisheriges Leben. Er wollte nicht länger in St. Peter bleiben, Bäume fällen, Statuen schnitzen, im Wirtshaus sitzen oder Schneehühner braten, er wollte erforschen, ob Schneehühner Würmer hatten.
Kurz vor Einsetzen der Schneeschmelze kamen die Krämpfe. Sechzehn Stunden lang wand sich sein Darm, zwei Stunden länger als Elisabeth in den Wehen gelegen hat, dachte Johannes und schämte sich noch im selben Moment für diesen Gedanken. Als tags darauf der gewaschene Bandwurm vor ihm lag, ganze 14,8 Meter lang und in etwa so breit wie Elisabeths Ringfinger, glühte Johannes vor Stolz, als hätte er die Erstbesteigung des Großen Sporzer vollbracht.
Mit weit offenen Mündern beobachtete die Stammtisch- runde - Anton Rettenstein verkutzte sich an seinem Bier -, als Johannes Gerlitzen im Wirtshaus erschien, um den Wirt um ein leeres Marmeladenglas und etwas Spiritus zu bitten. Sobald die Schneeschmelze die Wege ins Tal befreit hatte, suchte Johannes drei Paar frische Unterwäsche zusammen und schlug Schreibers Berichte sowie den präparierten Bandwurm in jeweils eines seiner Hemden ein.
An einem Dienstagmorgen bog Johannes Gerlitzen auf die Angertalstraße und machte sich auf den vierstündigen Fußweg hinaus in die Welt. Als Erster kam ihm der Briefträger Gerhard Rossbrand entgegen, danach die Volksschullehrerin, schließlich einige Bauern, und alle fragten sie ihn, wohin er so zielstrebig ginge. Ohne stehenzubleiben, antwortete er jedes Mal:
»I geh in d' Hauptstadt und werd Doktor.«
Dem Briefträger fielen ein paar Briefe zu Boden, die Volksschullehrerin lachte lauthals auf, die Bauern schüttelten die Köpfe und waren sich einig, dass er nun endgültig verrückt geworden war. Noch nie war jemand aus St. Peter am Anger weggegangen, schon gar nicht in die Hauptstadt, schon gar nicht, um Doktor zu werden. Sogar die Murmeltierfamilie, die sich am Schutthang kurz nach der Dorfgrenze angesiedelt hatte, stellte sich mit emporragenden Schwänzen auf die Hinterläufe und blickte ihm nach, bis er außer Sichtweite war.
Elisabeth erfuhr von seinem Abschied durch einen Brief, den er auf der Schwelle des gemeinsam gebauten Hauses zurückgelassen hatte:
Elisabeth, ich geh fort. Vielleicht komm ich zurück, wenn ich ein Doktor bin. Erzähl dem Kind, daß ich der Vater bin. Du weißt eh, der Nachbar is ein Sautrottel. Und bleib im Haus wohnen, ich brauchs nimmer, und falls ich zurückkomm, weiß ich wenigstens, wo ich dich finden kann. Machs gut, ich bin dir nicht bös. Mal schaun, was sich der Herrgott für uns überlegt hat. Johannes Gerlitzen (nach der Schneeschmelze 1960)
© 2012, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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Autoren-Porträt von Vea Kaiser
Vea Kaiser wurde 1988 geboren und lebt in Wien, wo sie Altgriechisch, Latein und Germanistik studierte. Mit 23 Jahren veröffentlichte sie ihren Debütroman »Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam«, der ebenso wie ihr Zweitling »Makarionissi oder Die Insel der Seligen« zum Bestseller avancierte und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. »Rückwärtswalzer« ist ihr dritter Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Vea Kaiser
- 2012, 11. Aufl., 496 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462044648
- ISBN-13: 9783462044645
- Erscheinungsdatum: 27.07.2012
Rezension zu „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam “
»[Blasmusikpop] ist so fröhlich und komisch, so frisch und witzig. [...] ein Kaleidoskop, das in den schönsten Farben leuchtet.« Christine Westermann WDR 2 20120819
Pressezitat
»[Blasmusikpop] ist so fröhlich und komisch, so frisch und witzig. [...] ein Kaleidoskop, das in den schönsten Farben leuchtet.« Christine Westermann WDR 2 20120819
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