Blutiger Engel / Alice Quentin Bd.2
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Brutale Hitze in London. Ein Todesengel schwebt über der Stadt. Seine Signatur: das Bild eines Engels und blutige Federn. Die Londoner Polizei sucht einen Serienmörder. Und nur eine weiß, wie man ihn stoppen kann: Alice Quentin, Psychologin mit besonderem...
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Produktinformationen zu „Blutiger Engel / Alice Quentin Bd.2 “
Klappentext zu „Blutiger Engel / Alice Quentin Bd.2 “
Brutale Hitze in London. Ein Todesengel schwebt über der Stadt. Seine Signatur: das Bild eines Engels und blutige Federn. Die Londoner Polizei sucht einen Serienmörder. Und nur eine weiß, wie man ihn stoppen kann: Alice Quentin, Psychologin mit besonderem Gespür für Verbrecher. Als die Polizei einen Mann festnimmt, ahnt Alice, dass es der Falsche ist. Die Lösung ist zu einfach. Alice ist auf sich allein gestellt. Und begeht einen Fehler, der sie das Leben kosten kann.Lese-Probe zu „Blutiger Engel / Alice Quentin Bd.2 “
Blutiger Engel von Kate Rhodes1
Es herrschte reges Treiben in der Eingangshalle, als ich durch die Tür des Krankenhauses trat. Eine Gruppe neuer Praktikanten wurde dort herumgeführt, und automatisch bedauerte ich sie. Sie begannen ihre Ausbildung während der schlimmsten Hitzewelle der vergangenen fünfzig Jahre, mit Sechzehn-Stunden-Tagen, pausenloser Angst vor falschen Diagnosen und vor allem mit Assistenzärzten, die sie nach Kräften schikanieren würden. Ihnen stand ein grauenhaftes Jahr bevor.
Ich zwang mich, den Lift zu rufen. Obwohl ich ihn jeden Tag benutzte, wogte in dem engen Kasten weiterhin die alte Panik in mir auf, und ich joggte immer noch erheblich lieber durch das Treppenhaus bis in den zwölften Stock hinauf.
Als ich den Knopf drückte, berührte jemand meine Schulter, ich drehte mich um und bemerkte einen jungen Mann, der auf mich herabsah. Er stand mir viel zu nahe, hatte ein gerötetes Gesicht und kurzrasiertes Haar. Ich öffnete den Mund, um ihn zu grüßen, aber leider fiel mir sein Name nicht sofort ein.
»Sie wissen nicht mal, wer ich bin.« Sein Atem roch nach Zigaretten und dem Bier, das er am Vorabend getrunken hatte. »Ich bin für Sie einfach eine Nummer, stimmt's?«
»Natürlich weiß ich, wer Sie sind, Darren.« Seine Bewährungshelferin hatte ihn zum Antiaggressionstraining zu mir geschickt, und ganz allmählich hatte er sich in die Gruppe eingefügt und nahm inzwischen sogar aktiv an Gesprächen teil.
»Sie haben den Kurs einfach abgesagt.« Direkt vor meiner Nase klatschte Darren in die Hände, als klappe er den Deckel eines Buches zu. »Mir hat noch nicht mal irgendwer Bescheid gesagt.«
»Tut mir leid, Sie hätten einen Brief bekommen sollen. «
... mehr
»Wer braucht schon einen Brief? Vor allem, wenn er nicht mal eine verdammte Anschrift hat?«
Seine Stirn war schweißbedeckt, und er starrte mich so böse an, als wäre ich für alles Schlechte, was ihm jemals widerfahren war, verantwortlich. Und dann machte ich einen Fehler. In der Hoffnung, dass er sich etwas beruhigen würde, trat ich einen Schritt zurück.
»Ja genau«, fuhr er mich an. »Lass mich einfach stehen, du arrogantes Miststück.«
Dann ging alles wie in Zeitlupe. Er holte aus und ließ die Faust in Richtung meiner Nase fliegen, doch ich wandte mich so eilig ab, dass der Schlag nur meine Schulter traf. Dann landete die Faust auf meinem Brustkorb, und noch während ich zu Boden ging, packten zwei der Praktikanten seine Arme und zogen ihn einen Schritt zurück. Doch sein Kampfgeist war bereits erloschen. Er war schreckensbleich und wirkte wie ein Kind, das darauf wartete, dass ihn die Strafe für ein Fehlverhalten traf.
»Rufen Sie die Polizei«, rief einer der Praktikanten der Rezeptionistin zu.
»Das ist nicht erforderlich. Es war nur ein Missverständnis, richtig, Darren?«, fragte ich und rappelte mich mühsam wieder auf.
»Was habe ich getan? Was habe ich getan?« Er wiederholte diesen Satz, als wäre er sein neues Mantra, und kniff unglücklich die Augen zu.
»Sie können ihn loslassen«, erklärte ich den Praktikanten. »Denn Sie werden sich jetzt benehmen, stimmt's, Darren?«
Als er elend nickte, drückte ich ihn sanft auf einen harten Plastikstuhl neben der Tür. Die Dame am Empfang blätterte in einer Zeitschrift. Angriffe auf Angestellte kamen offenbar so häufig vor, dass sie nicht mal mit der Wimper zuckte, wenn es wieder einmal so weit war. Darren stützte seine Ellbogen auf den Knien ab und starrte auf den Boden.
»Ich bin bisher noch nie auf Frauen losgegangen.« Er fuhr sich mit dem Ärmel durchs Gesicht. »Sie hätten mich verhaften lassen sollen.«
»Das würde auch nichts nützen, oder? Aber Sie müssen damit aufhören. So etwas darf nicht noch mal passieren. «
Seine Tränen tropften auf den Fliesenboden, und ich berührte ihn zwischen den Schulterblättern, während ich weitersprach.
»Schon gut, ich weiß, Sie haben es nicht so gemeint. «
»Es hat alles keinen Sinn mehr«, stieß Darren mit rauer Flüsterstimme aus.
Mein Brustkorb pochte noch, aber ich verspürte keine Panik. Denn verglichen mit zahlreichen anderen Ereignissen in meinem Leben, waren diese Schläge nicht der Rede wert.
»Wir werden Ihnen helfen«, sagte ich. »Wir werden dafür sorgen, dass es besser wird.«
Er schüttelte vehement den Kopf. »Sie haben mich gefeuert. Und ich kriege sicher nie mehr einen anderen Job.«
»Was haben Sie denn gearbeitet?«
»Ich habe geputzt, in einer Bank. Ich hatte Riesen- glück, dass sie mich dort genommen haben. Ex-Knackis gibt schließlich niemand einen Job.«
»Irgendwer bestimmt. Sie müssen sich nur weiter darum bemühen.«
Nach ein paar Minuten hatte er sich offenbar etwas beruhigt und wartete schweigend ab, während ich ihm kurzfristig einen Termin bei meinem Vorgesetzten machte. Hari hatte nämlich das Talent, selbst der schlimmsten Aggression die Spitze zu nehmen und dafür zu sorgen, dass das Leben des Betroffenen in ruhigeres Fahrwasser geriet. Darren umklammerte den Zettel mit der Uhrzeit, doch sein Blick war trüb geworden, so, als könnte er mich nicht mehr deutlich sehen. Als ich in den Fahrstuhl stieg und über meine Schulter blickte, starrte er mich weiter reglos an.
Am liebsten hätte ich mein Hemd gelüftet, um mir meinen lädierten Brustkorb anzusehen, aber eine Gruppe Krankenschwestern, die sich fröhlich miteinander unterhielten, war mir in den Lift gefolgt. Meine Rippen taten mir am meisten weh. Sobald ich Luft holte, durchzuckte mich ein glühend heißer Schmerz, doch nach Hause gehen konnte ich auf keinen Fall. Ich hatte bis zum Abend im Dreiviertel-Stunden-Takt Patienten, die fast ausnahmslos seit Monaten auf den Termin gewartet hatten, deshalb saß ich hier erst mal fest.
Die abgestandene Luft in meinem Beratungszimmer roch nach Putzmittel und Staub. Die Klimaanlage versagte schon seit Tagen ihren Dienst, doch der Wartungstrupp war immer noch im Streik. Ich öffnete das Fenster und versuchte möglichst ruhig zu atmen. Sechzig Meter unter mir glitzerte die Stadt. Die Themse wirkt wie ein dunkelbraunes Band, das Süd und Nord verband. Es war kaum zu glauben, dass die City, deren rundherum verspiegelte Gebäude trotz des Hitzeschleiers, der über den Straßen hing, das Sonnenlicht in meine Richtung warfen, praktisch pleite war. Ich blickte mich in meinem Zimmer um. Beinahe das gesamte Mobiliar hätte schon vor Jahren auf den Sperrmüll wandern sollen, und mein Computer hatte es sich angewöhnt, mir Informationen nur zu geben, wenn ihm danach war. Ich dachte, dass ein anderer Mensch wahrscheinlich längst in Tränen ausgebrochen wäre, weil sich so der Schock über den Angriff schnellstmöglich entlud, und empfand einen gewissen Neid. Meine Emotionen waren immer noch so unberechenbar wie mein Computer. Die kaputten Anschlüsse und Unterbrechungen im Schaltkreis waren immer noch nicht repariert. Zähneknirschend rief ich den ersten Patienten auf.
Gegen elf trat Hari durch die Tür. Mit seinem ordentlich gestutzten Bart und seinem makellosen safrangelben Turban verströmte er wie stets die Aura völliger Gelassenheit, bedachte mich jedoch mit einem sorgenvollen Blick.
»Warum bist du hier? Du solltest nach Hause gehen.«
»Ich bin in Ordnung, wirklich.«
»Niemand ist unzerstörbar, Alice.«
Mir war klar, er dachte daran, wie es mir im Crossbones- Fall ergangen war. Am liebsten hätte ich zu ihm gesagt, er sollte endlich aufhören, ein solches Aufheben darum zu machen, aber gegen seine Freundlichkeit kam ich einfach nicht an.
»Kann ich dir etwas bringen?«, fragte er.
»Geld für meine Therapiegruppen. Wenn es in Zukunft nicht zu noch viel mehr Verletzten kommen soll.«
Hari sah verlegen aus. »Der Verwaltungsrat hört nicht auf mich. Deshalb habe ich der BPS auch schon einen Beschwerdebrief geschickt.«
Ich lächelte ironisch. Weil die British Psychological Society, der landesweite Psychologenbund, schließlich nicht über die Ausgaben entschied. Hari tätschelte mir aufmunternd die Hand und flüchtete dann wieder in sein eigenes Büro.
Bis meine letzte Patientin kam, hatten mich die Schmerzmittel und der fehlende Sauerstoff in eine Art Rauschzustand versetzt. Trotzdem brauchte ich nicht lange, um zu sehen, dass ihre Sozialphobie bereits weit fortgeschritten war. Sie hatte Angst vor allem und vor jedem - Partys, Fremden, Menschenmengen jeder Art. Am liebsten hätte sie sich bis ans Lebensende irgendwo in einem leeren Zimmer eingesperrt, wo sie für alle anderen Menschen unerreichbar war. Trotzdem machte mir die Sitzung wieder einmal deutlich, dass ich wirklich gerne Psychologin war. Denn die Ängste der Patientin ließen bereits nach, während sie laut darüber sprach, und am Ende der Sitzung sah sie regelrecht erleichtert aus. Mir war klar, sie würde gut auf eine rational emotive Therapie ansprechen, denn sie wollte Techniken erlernen, um mit ihrem Leiden umzugehen. Ich erklärte ihr, sie würde zwischen zehn und zwölf Sitzungen brauchen, und empfahl ihr zusätzlich Yoga oder Tai-Chi. Trotzdem wirkte sie noch ängstlich, als sie sich zum Gehen wandte. Denn vor meiner Tür erwartete sie eine Welt voll Lärm und fremder Menschen, die an ihr vorübereilten, während sie, ängstlich an Hauswände gepresst, zurück nach Hause schlich.
Inzwischen stand das Thermometer an der Wand auf zweiunddreißig Grad, und mein Brustkorb tat so weh, als dresche irgendwer mit einem unsichtbaren Hammer darauf ein. Doch als ich meine Aktentasche packte, klopfte jemand an die Tür.
»Herein.«
Mein Besucher war ein großer, grobschlächtiger Mann. Er wirkte wie ein Rugbyspieler, der ein wenig aus der Form geraten war. Sein Anzug hing von seinen breiten Schultern, als hätte er ihn sich von einem stattlicheren Mann geliehen. Trotzdem hatte ich den Menschen irgendwo schon mal gesehen. Seine Augen verrieten mir, wer er war. Er hatte einen wachen, durchdringenden Blick, als sei er fest entschlossen, dass ihm niemals irgendwas verborgen blieb.
»Hier drinnen ist es wie in einem Ofen, Alice.«
Mir klappte die Kinnlade herunter. Sein Gesicht war plötzlich nicht mehr kugelrund, sondern oval. »Sind Sie unter die Sportler gegangen, DCI Burns?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte er zurück und zupfte an dem viel zu weiten Ärmel seines schlabbrigen Jacketts. »Das ist schon mein dritter neuer Anzug.«
Es war über ein Jahr her, seit ich als Beraterin der Polizei mit ihm zusammen hinter einem Serienkiller, der Frauen in Southwark aufgelauert hatte, her gewesen war. Seitdem war der fettleibige Kerl, über den die Kinder auf der Straße Witze gemacht hatten, zu einem nur noch leicht übergewichtigen Mann geschrumpft, der statt einer grauenhaften Brille mit fast fingerdicken Glasbausteinen eine hochmoderne Nickelbrille trug. Selbst sein Lächeln sah verändert aus. Allerdings war meine Musterung ihm offenkundig peinlich, denn er raufte sich die dunklen Haare und sah mich mit einem schiefen Grinsen an
»Wie viel haben Sie abgenommen, Don?«
Er zuckte verlegen mit den Schultern. »Um die dreißig Kilo.«
Ich atmete vernehmlich aus, doch die plötzliche Bewegung nahmen meine Rippen krumm. Ohne auf den Schmerz zu achten, überlegte ich, was noch an ihm verändert war - irgendwie kam er mir ungewöhnlich schüchtern vor.
»Was haben Sie in letzter Zeit getrieben?«, fragte er.
»Ich habe hauptsächlich geforscht.« Ich zeigte auf mein neues Buch, und er nahm es aus dem Regal.
»Behandlungsmöglichkeiten bei dissozialen Persönlichkeitsstörungen von Dr. Alice Quentin. Klingt nach der perfekten Bettlektüre.«
Burns' Akzent war praktisch unverändert. Immer noch schwankte er wie eine kaputte Kompassnadel zwischen Bermondsey und dem schottischen Tiefland hin und her.
»Aber Sie sind bestimmt nicht hier, um sich ein Buch zu leihen, nicht wahr?«
Er wandte sich mir wieder zu. »Ich brauche Ihre Hilfe. Sie sind die einzige Seelenklempnerin, mit der ich arbeiten kann, aber ich weiß, das letzte Mal war ziemlich hart für Sie.«
Was noch deutlich untertrieben war. Schließlich hatte ich am Schluss zwei Wochen mit einer Schädelfraktur im Krankenhaus verbracht. Abgesehen von einer Handvoll psychologischer Begutachtungen auf verschiedenen Revieren sowie einer Reihe von Besuchen im Gefängnis, um die Selbstmordrisiken bei irgendwelchen Insassen zu überprüfen, hatte ich seither Distanz zur Polizei gewahrt.
»Was ist es diesmal, Don?«
»Freitag ist ein Kerl am U-Bahnhof King's Cross unter einen Zug gekommen. Leo Gresham, einer der Investmentgurus aus der City. Könnten Sie sich vielleicht mal die Aufnahmen der Überwachungskameras ansehen? «
Er steckte einen USB-Stick in meinen Computer, und auf meinem Bildschirm tauchten grobkörnige Aufnahmen von einem Bahnsteig auf. Ich sah aus der Vogelperspektive, wie sich unzählige Pendler auf den Bahnsteig quetschten und nach vorne drängten, als der Zug einfuhr. Dann stürzte mit einem Mal ein Mann mit wild rudernden Armen kopfüber auf die Gleise, und die hellen Sohlen seiner Schuhe waren das Letzte, was ich von ihm sah.
»Mein Gott.« Ich schlug erschüttert eine Hand vor meinen Mund.
Es war unmöglich zu sagen, wer den Mann gestoßen hatte, aber direkt hinter Gresham hatte sich ein Kerl mit einer dunklen Jacke und tief ins Gesicht gezogener Kapuze aufgebaut, der sofort nach dem Sturz verschwunden war.
»Vor allem der Fahrer tut mir leid.« Burns sah mich aus seinen wachen Augen an. »Ich möchte seine Alpträume nicht haben.«
Gegen meinen Willen fühlte ich mich in die Sache involviert. Denn man konnte schwerlich zusehen, wie ein Mensch auf diese Weise starb, ohne gleichzeitig den Wunsch zu haben, ihn zu packen und zurück in Sicherheit zu ziehen.
»Gresham hat die ganze Zeit geschrien, dass er gestoßen worden ist«, erklärte Burns. »Der Zug hatte ihm einen Arm und beide Beine abgetrennt, aber trotzdem hat er noch ein paar Stunden gelebt.«
»Ich weiß immer noch nicht, was genau Sie von mir wollen.«
»Ich will, dass Sie mit mir zusammenarbeiten. Sämtliche Beweise gehen an die landesweite Datenbank zu Kapitalverbrechen für den Fall, dass dieser Kerl noch mal zuschlägt.«
»Finden Sie das nicht ein bisschen übertrieben? Könnte schließlich auch einfach ein Racheakt wegen irgendeines fehlgeschlagenen Deals gewesen sein.«
»Ich will einfach auf Nummer sicher gehen. Gresham hat für eine Bank mit Namen Angel Group gearbeitet. Das hier haben wir in seiner Jackentasche entdeckt.«
Burns hielt mir einen durchsichtigen Plastikbeutel hin. In ihm steckte eine Postkarte, auf der ein Engel abgebildet war. Abgesehen von einem Blutfleck auf der Stirn waren seine Züge makellos. Der Engel sah mich ruhig aus seinen hellen Augen an, als wüsste er, dass es für mich noch eine Chance auf Rettung gab. Nachdenklich drehte ich die Karte um. Engel in Grün mit Fidel, Schüler von Leonardo, National Gallery.
Meine Neugier war geweckt. Der Killer gäbe eine interessante Fallstudie ab. Ich stellte ihn mir vor, wie er im Museumsshop nach der schönsten Karte suchte.
Trotzdem gab ich Burns die Postkarte zurück. »Eine einzige Visitenkarte macht ihn nicht zu einem Serienkiller. «
»Außerdem haben wir weiße Federn in der Jackentasche von dem Mann entdeckt und ins Labor geschickt.«
Burns' durchdringender Blick brachte mich aus dem Gleichgewicht. Unweigerlich dachte ich daran, wie häufig er zu mir ins Krankenhaus gekommen war. Immer, wenn ich panisch aus dem Schlaf gefahren war, hatte ich den Mann im Halbdunkel des Zimmers sitzen sehen. Geduldig wie ein Wachhund hatte er oft stundenlang am Fenster meines Zimmers ausgeharrt und sich nicht vom Fleck gerührt. Ich hatte keine Ahnung, wie es ihm seither ergangen war. Doch seine Miene war so angespannt, als klammere er sich höchstens noch mit einer Fingerkuppe an den selbstbewussten Draufgänger, der er einmal gewesen war.
»Sagen Sie mir, warum Sie wirklich hier sind«, bat ich ihn.
Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. »Nach dem Crossbones-Fall hat man mich degradiert - sie haben behauptet, ich wäre die Ermittlungen falsch angegangen. Vor zwei Monaten hat man mich nach King's Cross versetzt. Die Kollegen dort vertrauen mir nicht, und die Chefin passt wie ein Schießhund auf mich auf.« Er beugte sich ein wenig vor und faltete die Hände wie zu einem Gebet. »Ich brauche Sie, Alice. Allein kriege ich das nicht hin.«
Man musste nicht Gedanken lesen können, um zu wissen, dass der Mann am Ende war, wenn er zu dieser Taktik griff. Seine Nerven waren eindeutig zum Zerreißen angespannt.
»Hätte ich Zugang zu sämtlichen Akten?«
Er nickte nachdrücklich. Dieser Mann war das genaue Gegenteil des alten Burns, der zwar eifrig, doch zugleich so desorganisiert gewesen war, dass er anderen oft wichtige Informationen vorenthalten hatte. Er war offenbar verzweifelt darauf aus, ein neues Leben zu beginnen, und der Blick, mit dem er mich bedachte, fühlte sich allmählich fast so aufdringlich wie der von Darren an, bevor der auf mich losgegangen war.
»Ich werde mich morgen bei Ihnen melden, Don.« Ich sah auf die Papiere, die auf meinem Schreibtisch lagen. »Vorher muss ich noch mit meinem Vorgesetzten sprechen.«
Burns verschwand im Flur, und plötzlich fühlte sich die Hitze in dem Zimmer unerträglich an. Obwohl die Tür sperrangelweit geöffnet war, bekam ich nur noch mühsam Luft.
Am nächsten Morgen trat ich vor den Flurspiegel und inspizierte meinen Bluterguss. Er hatte einen Durchmesser von fünfzehn Zentimetern, leuchtete in einem grellen Violett und tat, sobald ich mich bewegte, höllisch weh. Ich tastete vorsichtig daran herum. Wenigstens die Rippen waren intakt - nicht gebrochen, sondern höchstens angeknackst - die Schmerzen ließen sicher innerhalb von ein paar Tagen wieder nach. Und das Hämatom an meiner Schulter sah mit seinem dunklen Blau fast harmlos aus.
Ich füllte ein paar Eiswürfel in einen Gefrierbeutel und legte mich auf meine Couch. Sofort wurde der Schmerz durch die Kälte betäubt, und ich sinnierte darüber, wie glimpflich dieser Angriff abgelaufen war. Darren hätte mich zu Brei geschlagen, hätte er es wirklich ernst gemeint. Doch mit ein bisschen Glück und einer Handvoll Schmerztabletten würde ich den Tag schon überstehen.
Während ich noch meine Prellungen kühlte, erreichte mich eine SMS von Hari, der mir riet, zu Hause zu bleiben. Doch ich löschte seine Nachricht und setzte mich mühsam wieder auf. Hari kannte mich seit Jahren, doch er hatte offenbar noch immer nicht verstanden, dass es für mich eine Strafe wäre, krankzufeiern. Dass ich lieber barfuß über glühend heiße Kohlen laufen würde, als faul auf der Couch zu liegen und gemütlich fernzusehen. Ich ging in die Küche und ließ den Gefrierbeutel dort in die Spüle fallen. Durch die Wand des Nachbarzimmers hörte ich, dass auch mein Bruder bereits aufgestanden war. Auch das war eindeutig ein Grund, arbeiten zu gehen. Weil ich das grüblerische Schweigen, mit dem er wahrscheinlich wieder einmal aus dem Fenster starrte, einfach nicht ertrug. Obwohl er es mir niemals vorgehalten hatte, war ich schuld an den Verletzungen, die er davongetragen hatte, als er aus zehn Metern Höhe auf den Bürgersteig gefallen war. Seine Beine waren dabei zerschmettert worden, und es war eigentlich kaum überraschend, dass er wegen des erlittenen Traumas noch mehr Drogen nahm.
In der Klinik wartete eine kleine Gruppe von Patienten vor der Tür meines Beratungszimmers. Ein paar von ihnen hatte die Bewährungshilfe mir geschickt, andere waren von ihrem Hausarzt überwiesen, doch sie alle saßen aus demselben Grund vor meiner Tür. Sie kämpften ausnahmslos verzweifelt gegen ihre Aggressionen an. Als ich ihnen offenbarte, dass es keine Sitzungen mehr gäbe, reagierten einige entrüstet, andere resigniert. Doch so schwer es mir auch fiel, diesen Menschen einfach Lebewohl zu sagen, hatte ich doch wenigstens noch die Gelegenheit dazu gehabt. Anders als bei meinen anderen Gruppen. Deren Sitzungen hatte die Klinik einfach schriftlich abgesagt.
Ich ging wieder aus dem Haus, denn wenn ich selber Aggressionen hegte, tat mir Bewegung normalerweise gut. Vielleicht bekäme ich ja wieder einen klaren Kopf, wenn ich etwas spazieren ginge, doch die Hitze machte einem sogar morgens schon das Atmen schwer. Offenkundig hielten sich die Gärtner unseres Krankenhauses an das offizielle Sprengverbot, denn die Rosen ließen ihre Köpfe hängen, und der dürre braune Rasen hatte eindeutig bereits seit Wochen keinen Tropfen Wasser mehr gesehen.
Bei meiner Rückkehr fragte ich eine der Frauen am Empfang, ob Darren zu seinem Termin erschienen war.
»Ich fürchte, nein«, erklärte sie entschuldigend, als hätte sie persönlich ihn daran gehindert, zu Hari hinaufzugehen.
Kochend vor Zorn und mit schmerzenden Rippen stapfte ich durchs Treppenhaus zurück in mein Büro. Nachdem Darren nicht erschienen war, tat mir meine Reaktion auf seinen Angriff plötzlich leid. Ich hätte ihn verhaften lassen sollen. Mühsam zwang ich mich zur Ruhe und rief den ersten Patienten auf.
Bis zum Abend herrschte eine fast tropische Hitze in meinem Beratungszimmer, und das köstliche Fensterblatt auf meinem Schreibtisch welkte vor sich hin. Auch der bis zum Anschlag aufgedrehte Ventilator nützte nichts, da er die abgestandene Luft nur von einer Seite auf die andere schob. Normalerweise wäre ich in meine Laufschuhe gestiegen und über die Hintertreppe aus dem Haus gesprintet, aber heute war das Beste, was ich mir erhoffen konnte, ein gemächlicher Spaziergang durch die brütend heiße Stadt. Langsam ging ich durch die Eingangshalle, in der abgesehen von ein paar Besuchern, die mit Zeitschriften und Blumen kamen, und den letzten Schwestern, die nach Ende ihrer Tagschicht Richtung U-Bahn liefen, niemand war.
Pendler strömten aus der U-Bahn-Station London Bridge und zogen im Gehen Jacketts, Krawatten, Strickjacken und alles andere, was sie nicht mehr brauchten, aus. Mir blieb nichts anderes übrig, als allen hinterherzuhinken, denn bei jedem Schritt zuckte ein stechender Schmerz durch meine Brust. Am Ufer der Themse ließ ich mich ermattet auf eine Bank sinken, denn ein Trupp Touristen hatte sich über den gesamten Bürgersteig verteilt. Aber schließlich bot sich auch die Tower Bridge als Hintergrund für Urlaubsfotos an.
Für den letzten halben Kilometer brauchte ich eine gefühlte Ewigkeit. Ich schleppte mich über den Uferweg an der New Concordia Wharf, und als ich endlich den Providence Square erreicht hatte, wollte ich nur noch ins Bett.
Allerdings begrüßte mich in meinem Flur eine bekannte, laute Stimme, die sich seit der Schulzeit nicht verändert hatte. Immer noch klang sie so aufgeregt und rau, als hätte ihre Besitzerin den ganzen Nachmittag mit einer Whiskeyflasche in der Hand verbracht.
»Al!« Lola schlang mir ihre Arme um den Hals, sah mich dann aber erschrocken an. »Mein Gott, du siehst entsetzlich aus! Bist du okay?«
Ich küsste sie und setzte zu einer Erklärung an, doch wie gewöhnlich hatte Lola viel zu viel zu tun, um wirklich zuzuhören. Einen Klumpen Käsesauce in den langen rötlich braunen Locken, fegte sie durch meine Küche, aber wieder einmal hatte der ihr eigene Zauber seine Wirkung auf Will nicht verfehlt. Zur Abwechslung trug er ein frisches, blaues Leinenhemd, die neue Jeans, die ich ihm aufgezwungen hatte, und selbst seine Haare sahen frisch gewaschen aus. Ich betrachtete ihn aus dem Augenwinkel. Er sah meine Freundin lächelnd an und hatte sogar seinen Stock gegen die Wand gelehnt. Allein dafür hatte Lola einen dicken Blumenstrauß verdient. Außerdem brachte sie immer irgendetwas mit, um Will zu unterhalten: Die Reise des jungen Che auf DVD, Zutaten für eine Pizza und einmal sogar ein ramponiertes, uraltes Monopoly, auf das sie in einem Oxfamshop gestoßen war. Ich überließ die zwei sich selbst, ließ mir Badewasser ein, glitt mit einem Seufzer der Erleichterung ins warme Wasser und wusch die vergangenen Tage von mir ab.
Zwanzig Minuten später hatte sich das Bild von Darren, wie er auf mich losgegangen war, fast vollständig in meinem Schaumbad aufgelöst. Ich verteilte Arnikasalbe auf meinen Prellungen und kehrte zu den beiden anderen zurück.
Lola wischte sich die Sauce mit einem Papiertuch aus dem Haar. »Scheiße, Will. Wir haben das Knoblauchbrot vergessen. Schmeiß es einfach in die Mikrowelle, alter Freund.«
In der Küche sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Der ganze Fußboden war mit geriebenem Käse übersät, doch ich konnte Lola deswegen unmöglich böse sein. Gegen ihre Lebensfreude kam ich nicht einmal mit meiner schlimmsten Laune an.
»Voilà!« Triumphierend zog sie die Lasagne aus dem Ofen, und ich konnte deutlich sehen, dass mein Bruder jeden Augenblick ihres Zusammenseins genoss. Für gewöhnlich schmollte er in seinem Zimmer und verweigerte die Aufnahme von allem außer Sandwiches, aber heute war er fast der alte Will. Das machte es mir leicht, mich daran zu erinnern, dass er früher, ohne die zerstörerischen Drogen, ein erfolgreicher und lebensfroher junger Mann gewesen war. Während Lola meinem Bruder Nudeln auf den Teller häufte, beugte er sich zu ihr vor.
»Und, wie läuft es mit der Show?«
Lola riss die grünen Augen auf. »Die Highkicks bringen mich fast um, aber schließlich bin ich auch die Älteste in unserer Tanzgruppe.« Sie starrte erbost auf ihre kilometerlangen Beine, als hätten sie sie irgendwie enttäuscht.
»Hast du einen Notfallplan, falls es mit der Revue langfristig nicht klappt?«, erkundigte ich mich.
»Ich arbeite nebenher mit behinderten Kindern in Hammersmith. Wir richten dort einen Talentwettbewerb aus. Komm doch Samstag mal vorbei. Du wärst bestimmt total begeistert, Al.« Lola beugte sich über den Tisch, stibitzte ein Stück Brot vom Teller meines Bruders und blickte ihn fragend an. »Na, was hast du in letzter Zeit getrieben, Will?«
»Nichts weiter. Außer dass ich dem Club der Wolken- freunde beigetreten bin. Das ist diese Webseite, auf der es um verschiedene Wolkenarten geht.« Seine hellen Augen fingen an zu blitzen. »Denn die Sache ist die ... Wir sollten die Wolken wegen der Botschaften, die sie uns schicken, eingehend studieren.«
Lola blickte ihn verwundert an. »Wegen welcher Botschaften? «
»Jede Wolke schickt uns eine Botschaft. Wenn man sie lange genug betrachtet, kann man sie entschlüsseln.« Seine Miene war so ernst wie die eines Wissenschaftlers, der von einem wichtigen Durchbruch bei seinen Forschungen berichtete.
»Das muss ich unbedingt mal ausprobieren!« Lola strahlte meinen Bruder an und nahm sich den Rest von seinem Knoblauchbrot.
Nach dem Essen legte Will sich wieder auf die Couch und überließ den Abwasch uns.
»Himmel«, flüsterte mir Lola zu. »Er hat immer noch ein paar echt seltsame Ideen, findest du nicht auch?«
»Es ist schon deutlich besser als vor ein paar Monaten. Wenigstens bringt er inzwischen wieder ganze Sätze raus.«
»Da hast du wahrscheinlich recht.« Sie starrte auf die Schüssel, die sie in den Händen hielt.
»Du hast deine Sache wunderbar gemacht. Er ist immer total froh, wenn er dich sieht. Das eben war das erste richtige Gespräch seit Wochen.«
»Und wie geht es dir?« Sie sah mich forschend an. »Arbeitest du immer noch zu hart, und bist du immer noch ein tragischer Single, der in seiner Freizeit durch die Gegend rennt?«
»Das ist ja wohl nicht das Schlechteste. Wenn ich so weitermache, habe ich wahrscheinlich bald Beine wie du.«
»Was ist mit den Kerlen? Irgendwelche heißen Dates?«
»Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich von Männern erst einmal nichts wissen will. Ich lasse bis auf weiteres ganz sicher niemanden an mich heran.«
Sie klatschte in die Hände. »Meine Güte, es ist Sommer. Da soll frau sich amüsieren.«
Wir hatten auf den Crossbones-Fall vollkommen unterschiedlich reagiert. Lola war genauso schwer verletzt gewesen wie ich, hatte aber nicht mal eine Spur von Selbstmitleid gezeigt, sondern einfach meine Hand umklammert, als ich sie um Verzeihung bat, und mir erklärt, ich sollte mich ganz auf die Zukunft konzentrieren. Sobald wir aus dem Krankenhaus entlassen worden waren, hatte sie den Spaß, der ihr in der Genesungszeit entgangen war, mit Feuereifer nachgeholt. Sie ging mit möglichst vielen Männern aus und hielt, obwohl ihr Herz schon häufiger gebrochen worden war, an ihrer Überzeugung fest, dass wahre Liebe alle Hindernisse überwand. Manchmal machte ich mir Sorgen, dass sie unter Umständen in eine Depression verfallen würde, ließe sie in ihrem Eifer, sich zu amüsieren, jemals nach. Sie nahm hundert Partyeinladungen an, während ich zu Hause blieb und Bücher schrieb. Doch es hatte keinen Sinn, ihr zu erklären, dass ich erst mal nur mein Gleichgewicht zurückerlangen wollte und sonst nichts. Tatsächlich wurde ich inzwischen nur noch ab und zu von Alpträumen geplagt, aber der Gedanke, noch mal einem Menschen zu vertrauen, schreckte mich noch ganz genauso wie am ersten Tag.
»Du hast das Thema doch nur angesprochen, weil du selber jemanden getroffen hast, nicht wahr?«
Lola blickte mich mit einem breiten Grinsen an. »Vielleicht ...«
Während der nächsten Viertelstunde lag mir meine Freundin damit in den Ohren, dass ich endlich auch wieder nach meinem Traummann Ausschau halten sollte, doch ich war ihr so dankbar dafür, dass sie mir mit meinem Bruder half, dass ich ihr nicht widersprach, sondern einfach hin und wieder nickte, bis sie sich zu Will aufs Sofa legte und laut kichernd eine Wiederholung von Ein Pastor startet durch im Fernsehen sah.
Erst als ich schlafen ging, bemerkte ich das Blinken meines Telefons. Die erste Nachricht war von meiner Mutter. Ihre Stimme klang so kühl, als hätte sie Trockeneis inhaliert. Ich drückte abermals den Knopf und hörte Burns, der mich in eindringlichem Ton an den Besuch der Polizeiwache im Pancras Way erinnerte, obwohl am Nachmittag schon eine E-Mail mit der Wegbeschreibung bei mir eingegangen war. Danach folgte eine lange Pause, als erwarte er, ich käme an den Apparat und sagte ihm womöglich doch noch ab. Es nützte nichts, dass ich beide Nachrichten umgehend löschte. Ich legte mich ins Bett und starrte endlos meine Zimmerdecke an, bevor ich endlich schlief.
Eine junge Polizeibeamtin holte mich am nächsten Morgen am Empfang der Wache ab und bat mich, im Flur zu warten, bis man mich in das Besprechungszimmer rief, denn soweit sie wusste, käme der Fall Leo Gresham erst als Letztes dran. Mir fiel auf, dass sie erleichtert wirkte, weil sie selbst das Zimmer nicht betreten musste, und nachdem man mir die Tür geöffnet hatte, konnte ich sie gut verstehen. Die Atmosphäre in dem Raum war zum Zerreißen angespannt.
Am Kopfende des Tischs saß eine Frau von Mitte fünfzig. Tiefe Falten hatten sich in ihre Stirn gegraben, und ihr ungeschminktes regloses Gesicht wurde von wirren, schulterlangen grauen Locken eingerahmt. Selbst als ich den Raum betrat, behielt sie ihre ausdruckslose Miene bei.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Dr. Quentin. Ich bin DSI Lorraine Brotherton«, stellte sie sich mir mit monotoner Stimme vor, als hätte sie beschlossen, nichts zu sagen, was sich in Erinnerung behalten ließ.
Erst nach einer ganzen Weile hatten sich mir auch die anderen vorgestellt, denn es saßen mindestens ein Dutzend Leute um den Tisch. Das Stirnrunzeln des Chefs der Kriminaltechnik, Pete Hancock, wurde durch die dicken schwarzen Brauen, die sich in der Mitte trafen, noch verstärkt. Ein Opferschutzbeamter blickte mich mit einem kurzen Lächeln an, und der Mann links neben Burns stellte sich als sein Stellvertreter vor. Mit dem breiten, einnehmenden Grinsen und der sportlichen Figur, obwohl auch seine besten Tage offenbar vorüber waren, sah er nicht nach einem Polizisten, sondern eher nach einem Sportreporter aus. Er war tief gebräunt, hatte sich, um seine Stirnglatze zu tarnen, alle Haare abrasiert, und hing an den Lippen seiner Vorgesetzten, als verkünde sie sein ganz privates Evangelium.
»DI Burns geht davon aus, dass der Tote in King's Cross nur der Erste einer ganzen Reihe war. Ich halte nicht besonders viel davon, wenn man sich in unserem Job auf seinen Instinkt verlässt, aber wenn er diese Sache ernst nimmt, ist das natürlich sein gutes Recht. Außerdem leitet er schließlich die Ermittlungen zu diesem Fall.« Brothertons Lippen zuckten leicht, als müsse sie ein Lachen unterdrücken, und sie wandte sich an Burns. »Erzählen Sie uns bitte, was Sie bisher rausgefunden haben, Don.«
Allmählich konnte ich verstehen, weshalb Burns mich hinzugezogen hatte. Die Körpersprache seines Stellvertreters - sein verhangener Blick und seine vor der Brust verschränkten Arme - sprach Bände. Er nutzte offenkundig jede Möglichkeit, um deutlich zu machen, dass die Meinung seines neuen Vorgesetzten ihn nicht im Geringsten interessierte, und die anderen Kollegen ahmten seine Haltung nach.
»Die erste Stunde nach der Tat hat uns nicht viel gebracht«, erklärte Burns. »Der Bahnhof wurde fünf Minuten nachdem Gresham auf das Gleis gestoßen wurde abgeriegelt, aber da war es bereits zu spät. Weil unser Täter zu dem Zeitpunkt schon wieder auf der Straße war. Es gibt Videoaufnahmen, wie er mit einem Bus nach Putney fährt. Das waren die letzten Bilder von dem Kerl, bevor er von unserem Radar verschwunden ist.«
Die verschwommenen Aufnahmen, die Burns den anderen reichte, zeigten einen Mann von mittlerer Statur, der mit hängenden Schultern einen Bus verließ. Er hatte die Kapuze seiner Jacke so tief ins Gesicht gezogen, dass sie einen schwarzen Schatten darauf warf, als stelle er den Sensenmann in einer Pantomime dar. Ich starrte auf die Fotos, während Burns die Polizeiarbeit im Anschluss an die Tat beschrieb. Sie hatten Dutzende von Zeugen aus dem U-Bahnhof befragt, Greshams Kleidung im Labor analysiert und seine Familie informiert.
Einer der Kollegen stellte ein graues Plastiktablett auf den Tisch. Irgendjemand hatte Greshams Tascheninhalt kunstvoll darauf arrangiert: zwei weiße Federn, die Postkarte mit dem Engel, eine elegante Lederbrieftasche sowie ein Bündel blutbespritzter Scheine, auf denen die Flecken allerdings nicht leuchtend rot, sondern in einem dunklen Braunton angetrocknet waren. Seine Rolex hatte das Geschehen ohne einen Kratzer überstanden und zeigte uns immer noch genau die Zeit an.
Mein Verdacht, dass Burns sich im vergangenen Jahr in jemand anderen verwandelt hatte, wurde durch seine Art zu sprechen noch verstärkt. Früher hätte er ein paar Notizen auf die Rückseite von irgendeinem Briefumschlag gekritzelt und darauf vertraut, dass einer seiner Untergebenen die ausführlichen Berichte schrieb. Dieses Mal hingegen war er systematisch vorgegangen und hatte darauf geachtet, dass es noch zum winzigsten Beweisstück einen ordentlichen Eintrag gab.
Jetzt hielt er die Karte so, dass alle das Gesicht des Engels sahen.
»Die Fingerabdrücke auf der Karte haben keinen Treffer in der Kiste ergeben.«
Ich durchforstete mein Hirn, bis mir einfiel, dass man bei der Polizei von der nationalen Datenbank meist nur als »Kiste« sprach. Diese Datenbank enthielt Details zu jedem, der jemals auf irgendeine Weise straffällig geworden war.
»Noch Fragen?«, fragte Burns.
»Ich kapiere immer noch nicht ganz, weshalb Sie glauben, dass der Kerl noch mal zuschlagen wird.« Taylors Stimme war ein dumpfes Leiern. »Schließlich sind Banker momentan nicht unbedingt beliebt. Vielleicht hat ja dieser Gresham das Vermögen irgendeines Kerls verspekuliert. Mir erscheint diese Geschichte wie ein Auftragsmord.«
Das Nicken vieler Köpfe zeigte klar, wem die Loyalität der meisten Leute galt.
»Vielleicht haben Sie recht«, erklärte Burns neutral. »Ich will nur möglichst sichergehen, dass wir allen Spuren nachgegangen sind.«
Ähnlich einer Lehrerin, die einen Streit zwischen den Schülern unterbrach, hob Brotherton die Hand und wandte sich an mich. »Wie sehen Sie die Sache, Dr. Quentin?«
Ich blickte von meinen Notizen auf. »Ich bin immer noch sicher, dass der Angriff diesem Mann persönlich galt. Aber wenn es so gewesen ist, brauche ich mehr Informationen über Greshams Welt, um zu verstehen, weshalb er ins Visier genommen worden ist.« Ich geriet ins Stottern, als ich all die ausdruckslosen Mienen sah. »In Fällen wie diesem stellt der Täter sich oft vor, sich selbst vor einen Zug zu werfen, bevor er sein Opfer stößt. Es könnte durchaus sein, dass er schon mal wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung war, deshalb wäre es gut, die Akten der Krankenhäuser einzusehen. Die sorgfältige Planung dieser Tat macht es durchaus wahrscheinlich, dass er es noch mal versuchen wird. Außerdem hat er aus einem ganz bestimmten Grund einen gutgekleideten Mann mittleren Alters als erstes Opfer ausgesucht. Vielleicht weil er ein Problem mit seinem Vater oder generell mit Autoritätspersonen hat.«
Als hätte ich einen besonders lahmen Witz gemacht, fing Taylor hämisch an zu grinsen, und die anderen sahen mich ohne eine Miene zu verziehen an. Die aggressive Atmosphäre überraschte mich. Normalerweise wurde ich bei meiner Arbeit für die Polizei immer freundlich und zuvorkommend behandelt und bekam genügend Zeit, um interne Kürzel oder Witze zu verstehen. Dieses Team jedoch ging völlig anders mit mir um - als läge ihm die Feindschaft gegenüber Außenstehenden im Blut.
Ich atmete erleichtert auf, als das Gespräch vorüber war. Während alle anderen den Raum verließen, blieb Steve Taylor noch kurz stehen und raunte mir mit einem knappen Kopfnicken in Richtung seiner Chefin zu: »Jetzt ist Ihnen sicher klar, weshalb sie bei uns die Unsichtbare heißt.«
Damit trat er in den Flur und ließ nur noch den Gestank seines Rasierwassers zurück, doch ich verstand, was er sagen wollte. Die Aufmachung der DSI war so dezent, dass sie schon beinahe langweilig zu nennen war, und ihr Händedruck war so schwach, dass ich das Gefühl hatte, ich hätte meine Hand nach einem Nebelschwaden ausgestreckt. Ich fragte mich, wie sie auf der Karriereleiter derart hoch gekommen war. Vielleicht war ihre Unauffälligkeit ja einfach aufgesetzt. Denn Frauen in Führungspositionen bei der Polizei waren entweder brillant oder vollkommen skrupellos.
»Sie hatten mit dem Crossbones-Fall zu tun, nicht wahr?« Sie zog ihre grauen Augenbrauen einen Millimeter hoch.
»Aber ich lebe noch.«
»Dabei war, nach allem, was man mir erzählt hat, jede Menge Glück im Spiel.« Sie schob ihren grauen Pony zur Seite, um mir forschend ins Gesicht zu sehen. »Wie oft haben Sie der Polizei schon bei Ermittlungen geholfen?«
»In drei großen Fällen, und außerdem erstelle ich bereits seit Jahren Gutachten in Gefängnissen.«
»Und wie wird Ihre Arbeit hier bei uns aussehen?«
»Burns hat mich gebeten, mit ihm zusammenzuarbeiten, und erst mal werde ich mit ihm zu Greshams Familie und anderen Kontaktpersonen gehen.«
Brotherton verzog verärgert das Gesicht. Offenbar empfand sie mein Erscheinen als unnötige Ablenkung.
Bitte überlassen Sie mir noch eine Kopie von Ihrer Zulassung, bevor Sie gehen.«
Nachdem sie wieder mit den grauen Flurwänden verschmolzen war, erkannte ich, weshalb die Teambesprechung so angespannt verlaufen war. Brotherton war sicher stolz auf ihre Unergründlichkeit. Niemand ahnte auch nur, was sie dachte, und so wusste keiner ihrer Leute, wer eventuell auf ihrer Abschussliste stand.
Vielleicht war sie der Grund für Burns' beachtlichen Gewichtsverlust. Als Untergebenem einer derart zugeknöpften Frau verging sicher jedem irgendwann der Appetit.
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»Wer braucht schon einen Brief? Vor allem, wenn er nicht mal eine verdammte Anschrift hat?«
Seine Stirn war schweißbedeckt, und er starrte mich so böse an, als wäre ich für alles Schlechte, was ihm jemals widerfahren war, verantwortlich. Und dann machte ich einen Fehler. In der Hoffnung, dass er sich etwas beruhigen würde, trat ich einen Schritt zurück.
»Ja genau«, fuhr er mich an. »Lass mich einfach stehen, du arrogantes Miststück.«
Dann ging alles wie in Zeitlupe. Er holte aus und ließ die Faust in Richtung meiner Nase fliegen, doch ich wandte mich so eilig ab, dass der Schlag nur meine Schulter traf. Dann landete die Faust auf meinem Brustkorb, und noch während ich zu Boden ging, packten zwei der Praktikanten seine Arme und zogen ihn einen Schritt zurück. Doch sein Kampfgeist war bereits erloschen. Er war schreckensbleich und wirkte wie ein Kind, das darauf wartete, dass ihn die Strafe für ein Fehlverhalten traf.
»Rufen Sie die Polizei«, rief einer der Praktikanten der Rezeptionistin zu.
»Das ist nicht erforderlich. Es war nur ein Missverständnis, richtig, Darren?«, fragte ich und rappelte mich mühsam wieder auf.
»Was habe ich getan? Was habe ich getan?« Er wiederholte diesen Satz, als wäre er sein neues Mantra, und kniff unglücklich die Augen zu.
»Sie können ihn loslassen«, erklärte ich den Praktikanten. »Denn Sie werden sich jetzt benehmen, stimmt's, Darren?«
Als er elend nickte, drückte ich ihn sanft auf einen harten Plastikstuhl neben der Tür. Die Dame am Empfang blätterte in einer Zeitschrift. Angriffe auf Angestellte kamen offenbar so häufig vor, dass sie nicht mal mit der Wimper zuckte, wenn es wieder einmal so weit war. Darren stützte seine Ellbogen auf den Knien ab und starrte auf den Boden.
»Ich bin bisher noch nie auf Frauen losgegangen.« Er fuhr sich mit dem Ärmel durchs Gesicht. »Sie hätten mich verhaften lassen sollen.«
»Das würde auch nichts nützen, oder? Aber Sie müssen damit aufhören. So etwas darf nicht noch mal passieren. «
Seine Tränen tropften auf den Fliesenboden, und ich berührte ihn zwischen den Schulterblättern, während ich weitersprach.
»Schon gut, ich weiß, Sie haben es nicht so gemeint. «
»Es hat alles keinen Sinn mehr«, stieß Darren mit rauer Flüsterstimme aus.
Mein Brustkorb pochte noch, aber ich verspürte keine Panik. Denn verglichen mit zahlreichen anderen Ereignissen in meinem Leben, waren diese Schläge nicht der Rede wert.
»Wir werden Ihnen helfen«, sagte ich. »Wir werden dafür sorgen, dass es besser wird.«
Er schüttelte vehement den Kopf. »Sie haben mich gefeuert. Und ich kriege sicher nie mehr einen anderen Job.«
»Was haben Sie denn gearbeitet?«
»Ich habe geputzt, in einer Bank. Ich hatte Riesen- glück, dass sie mich dort genommen haben. Ex-Knackis gibt schließlich niemand einen Job.«
»Irgendwer bestimmt. Sie müssen sich nur weiter darum bemühen.«
Nach ein paar Minuten hatte er sich offenbar etwas beruhigt und wartete schweigend ab, während ich ihm kurzfristig einen Termin bei meinem Vorgesetzten machte. Hari hatte nämlich das Talent, selbst der schlimmsten Aggression die Spitze zu nehmen und dafür zu sorgen, dass das Leben des Betroffenen in ruhigeres Fahrwasser geriet. Darren umklammerte den Zettel mit der Uhrzeit, doch sein Blick war trüb geworden, so, als könnte er mich nicht mehr deutlich sehen. Als ich in den Fahrstuhl stieg und über meine Schulter blickte, starrte er mich weiter reglos an.
Am liebsten hätte ich mein Hemd gelüftet, um mir meinen lädierten Brustkorb anzusehen, aber eine Gruppe Krankenschwestern, die sich fröhlich miteinander unterhielten, war mir in den Lift gefolgt. Meine Rippen taten mir am meisten weh. Sobald ich Luft holte, durchzuckte mich ein glühend heißer Schmerz, doch nach Hause gehen konnte ich auf keinen Fall. Ich hatte bis zum Abend im Dreiviertel-Stunden-Takt Patienten, die fast ausnahmslos seit Monaten auf den Termin gewartet hatten, deshalb saß ich hier erst mal fest.
Die abgestandene Luft in meinem Beratungszimmer roch nach Putzmittel und Staub. Die Klimaanlage versagte schon seit Tagen ihren Dienst, doch der Wartungstrupp war immer noch im Streik. Ich öffnete das Fenster und versuchte möglichst ruhig zu atmen. Sechzig Meter unter mir glitzerte die Stadt. Die Themse wirkt wie ein dunkelbraunes Band, das Süd und Nord verband. Es war kaum zu glauben, dass die City, deren rundherum verspiegelte Gebäude trotz des Hitzeschleiers, der über den Straßen hing, das Sonnenlicht in meine Richtung warfen, praktisch pleite war. Ich blickte mich in meinem Zimmer um. Beinahe das gesamte Mobiliar hätte schon vor Jahren auf den Sperrmüll wandern sollen, und mein Computer hatte es sich angewöhnt, mir Informationen nur zu geben, wenn ihm danach war. Ich dachte, dass ein anderer Mensch wahrscheinlich längst in Tränen ausgebrochen wäre, weil sich so der Schock über den Angriff schnellstmöglich entlud, und empfand einen gewissen Neid. Meine Emotionen waren immer noch so unberechenbar wie mein Computer. Die kaputten Anschlüsse und Unterbrechungen im Schaltkreis waren immer noch nicht repariert. Zähneknirschend rief ich den ersten Patienten auf.
Gegen elf trat Hari durch die Tür. Mit seinem ordentlich gestutzten Bart und seinem makellosen safrangelben Turban verströmte er wie stets die Aura völliger Gelassenheit, bedachte mich jedoch mit einem sorgenvollen Blick.
»Warum bist du hier? Du solltest nach Hause gehen.«
»Ich bin in Ordnung, wirklich.«
»Niemand ist unzerstörbar, Alice.«
Mir war klar, er dachte daran, wie es mir im Crossbones- Fall ergangen war. Am liebsten hätte ich zu ihm gesagt, er sollte endlich aufhören, ein solches Aufheben darum zu machen, aber gegen seine Freundlichkeit kam ich einfach nicht an.
»Kann ich dir etwas bringen?«, fragte er.
»Geld für meine Therapiegruppen. Wenn es in Zukunft nicht zu noch viel mehr Verletzten kommen soll.«
Hari sah verlegen aus. »Der Verwaltungsrat hört nicht auf mich. Deshalb habe ich der BPS auch schon einen Beschwerdebrief geschickt.«
Ich lächelte ironisch. Weil die British Psychological Society, der landesweite Psychologenbund, schließlich nicht über die Ausgaben entschied. Hari tätschelte mir aufmunternd die Hand und flüchtete dann wieder in sein eigenes Büro.
Bis meine letzte Patientin kam, hatten mich die Schmerzmittel und der fehlende Sauerstoff in eine Art Rauschzustand versetzt. Trotzdem brauchte ich nicht lange, um zu sehen, dass ihre Sozialphobie bereits weit fortgeschritten war. Sie hatte Angst vor allem und vor jedem - Partys, Fremden, Menschenmengen jeder Art. Am liebsten hätte sie sich bis ans Lebensende irgendwo in einem leeren Zimmer eingesperrt, wo sie für alle anderen Menschen unerreichbar war. Trotzdem machte mir die Sitzung wieder einmal deutlich, dass ich wirklich gerne Psychologin war. Denn die Ängste der Patientin ließen bereits nach, während sie laut darüber sprach, und am Ende der Sitzung sah sie regelrecht erleichtert aus. Mir war klar, sie würde gut auf eine rational emotive Therapie ansprechen, denn sie wollte Techniken erlernen, um mit ihrem Leiden umzugehen. Ich erklärte ihr, sie würde zwischen zehn und zwölf Sitzungen brauchen, und empfahl ihr zusätzlich Yoga oder Tai-Chi. Trotzdem wirkte sie noch ängstlich, als sie sich zum Gehen wandte. Denn vor meiner Tür erwartete sie eine Welt voll Lärm und fremder Menschen, die an ihr vorübereilten, während sie, ängstlich an Hauswände gepresst, zurück nach Hause schlich.
Inzwischen stand das Thermometer an der Wand auf zweiunddreißig Grad, und mein Brustkorb tat so weh, als dresche irgendwer mit einem unsichtbaren Hammer darauf ein. Doch als ich meine Aktentasche packte, klopfte jemand an die Tür.
»Herein.«
Mein Besucher war ein großer, grobschlächtiger Mann. Er wirkte wie ein Rugbyspieler, der ein wenig aus der Form geraten war. Sein Anzug hing von seinen breiten Schultern, als hätte er ihn sich von einem stattlicheren Mann geliehen. Trotzdem hatte ich den Menschen irgendwo schon mal gesehen. Seine Augen verrieten mir, wer er war. Er hatte einen wachen, durchdringenden Blick, als sei er fest entschlossen, dass ihm niemals irgendwas verborgen blieb.
»Hier drinnen ist es wie in einem Ofen, Alice.«
Mir klappte die Kinnlade herunter. Sein Gesicht war plötzlich nicht mehr kugelrund, sondern oval. »Sind Sie unter die Sportler gegangen, DCI Burns?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte er zurück und zupfte an dem viel zu weiten Ärmel seines schlabbrigen Jacketts. »Das ist schon mein dritter neuer Anzug.«
Es war über ein Jahr her, seit ich als Beraterin der Polizei mit ihm zusammen hinter einem Serienkiller, der Frauen in Southwark aufgelauert hatte, her gewesen war. Seitdem war der fettleibige Kerl, über den die Kinder auf der Straße Witze gemacht hatten, zu einem nur noch leicht übergewichtigen Mann geschrumpft, der statt einer grauenhaften Brille mit fast fingerdicken Glasbausteinen eine hochmoderne Nickelbrille trug. Selbst sein Lächeln sah verändert aus. Allerdings war meine Musterung ihm offenkundig peinlich, denn er raufte sich die dunklen Haare und sah mich mit einem schiefen Grinsen an
»Wie viel haben Sie abgenommen, Don?«
Er zuckte verlegen mit den Schultern. »Um die dreißig Kilo.«
Ich atmete vernehmlich aus, doch die plötzliche Bewegung nahmen meine Rippen krumm. Ohne auf den Schmerz zu achten, überlegte ich, was noch an ihm verändert war - irgendwie kam er mir ungewöhnlich schüchtern vor.
»Was haben Sie in letzter Zeit getrieben?«, fragte er.
»Ich habe hauptsächlich geforscht.« Ich zeigte auf mein neues Buch, und er nahm es aus dem Regal.
»Behandlungsmöglichkeiten bei dissozialen Persönlichkeitsstörungen von Dr. Alice Quentin. Klingt nach der perfekten Bettlektüre.«
Burns' Akzent war praktisch unverändert. Immer noch schwankte er wie eine kaputte Kompassnadel zwischen Bermondsey und dem schottischen Tiefland hin und her.
»Aber Sie sind bestimmt nicht hier, um sich ein Buch zu leihen, nicht wahr?«
Er wandte sich mir wieder zu. »Ich brauche Ihre Hilfe. Sie sind die einzige Seelenklempnerin, mit der ich arbeiten kann, aber ich weiß, das letzte Mal war ziemlich hart für Sie.«
Was noch deutlich untertrieben war. Schließlich hatte ich am Schluss zwei Wochen mit einer Schädelfraktur im Krankenhaus verbracht. Abgesehen von einer Handvoll psychologischer Begutachtungen auf verschiedenen Revieren sowie einer Reihe von Besuchen im Gefängnis, um die Selbstmordrisiken bei irgendwelchen Insassen zu überprüfen, hatte ich seither Distanz zur Polizei gewahrt.
»Was ist es diesmal, Don?«
»Freitag ist ein Kerl am U-Bahnhof King's Cross unter einen Zug gekommen. Leo Gresham, einer der Investmentgurus aus der City. Könnten Sie sich vielleicht mal die Aufnahmen der Überwachungskameras ansehen? «
Er steckte einen USB-Stick in meinen Computer, und auf meinem Bildschirm tauchten grobkörnige Aufnahmen von einem Bahnsteig auf. Ich sah aus der Vogelperspektive, wie sich unzählige Pendler auf den Bahnsteig quetschten und nach vorne drängten, als der Zug einfuhr. Dann stürzte mit einem Mal ein Mann mit wild rudernden Armen kopfüber auf die Gleise, und die hellen Sohlen seiner Schuhe waren das Letzte, was ich von ihm sah.
»Mein Gott.« Ich schlug erschüttert eine Hand vor meinen Mund.
Es war unmöglich zu sagen, wer den Mann gestoßen hatte, aber direkt hinter Gresham hatte sich ein Kerl mit einer dunklen Jacke und tief ins Gesicht gezogener Kapuze aufgebaut, der sofort nach dem Sturz verschwunden war.
»Vor allem der Fahrer tut mir leid.« Burns sah mich aus seinen wachen Augen an. »Ich möchte seine Alpträume nicht haben.«
Gegen meinen Willen fühlte ich mich in die Sache involviert. Denn man konnte schwerlich zusehen, wie ein Mensch auf diese Weise starb, ohne gleichzeitig den Wunsch zu haben, ihn zu packen und zurück in Sicherheit zu ziehen.
»Gresham hat die ganze Zeit geschrien, dass er gestoßen worden ist«, erklärte Burns. »Der Zug hatte ihm einen Arm und beide Beine abgetrennt, aber trotzdem hat er noch ein paar Stunden gelebt.«
»Ich weiß immer noch nicht, was genau Sie von mir wollen.«
»Ich will, dass Sie mit mir zusammenarbeiten. Sämtliche Beweise gehen an die landesweite Datenbank zu Kapitalverbrechen für den Fall, dass dieser Kerl noch mal zuschlägt.«
»Finden Sie das nicht ein bisschen übertrieben? Könnte schließlich auch einfach ein Racheakt wegen irgendeines fehlgeschlagenen Deals gewesen sein.«
»Ich will einfach auf Nummer sicher gehen. Gresham hat für eine Bank mit Namen Angel Group gearbeitet. Das hier haben wir in seiner Jackentasche entdeckt.«
Burns hielt mir einen durchsichtigen Plastikbeutel hin. In ihm steckte eine Postkarte, auf der ein Engel abgebildet war. Abgesehen von einem Blutfleck auf der Stirn waren seine Züge makellos. Der Engel sah mich ruhig aus seinen hellen Augen an, als wüsste er, dass es für mich noch eine Chance auf Rettung gab. Nachdenklich drehte ich die Karte um. Engel in Grün mit Fidel, Schüler von Leonardo, National Gallery.
Meine Neugier war geweckt. Der Killer gäbe eine interessante Fallstudie ab. Ich stellte ihn mir vor, wie er im Museumsshop nach der schönsten Karte suchte.
Trotzdem gab ich Burns die Postkarte zurück. »Eine einzige Visitenkarte macht ihn nicht zu einem Serienkiller. «
»Außerdem haben wir weiße Federn in der Jackentasche von dem Mann entdeckt und ins Labor geschickt.«
Burns' durchdringender Blick brachte mich aus dem Gleichgewicht. Unweigerlich dachte ich daran, wie häufig er zu mir ins Krankenhaus gekommen war. Immer, wenn ich panisch aus dem Schlaf gefahren war, hatte ich den Mann im Halbdunkel des Zimmers sitzen sehen. Geduldig wie ein Wachhund hatte er oft stundenlang am Fenster meines Zimmers ausgeharrt und sich nicht vom Fleck gerührt. Ich hatte keine Ahnung, wie es ihm seither ergangen war. Doch seine Miene war so angespannt, als klammere er sich höchstens noch mit einer Fingerkuppe an den selbstbewussten Draufgänger, der er einmal gewesen war.
»Sagen Sie mir, warum Sie wirklich hier sind«, bat ich ihn.
Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. »Nach dem Crossbones-Fall hat man mich degradiert - sie haben behauptet, ich wäre die Ermittlungen falsch angegangen. Vor zwei Monaten hat man mich nach King's Cross versetzt. Die Kollegen dort vertrauen mir nicht, und die Chefin passt wie ein Schießhund auf mich auf.« Er beugte sich ein wenig vor und faltete die Hände wie zu einem Gebet. »Ich brauche Sie, Alice. Allein kriege ich das nicht hin.«
Man musste nicht Gedanken lesen können, um zu wissen, dass der Mann am Ende war, wenn er zu dieser Taktik griff. Seine Nerven waren eindeutig zum Zerreißen angespannt.
»Hätte ich Zugang zu sämtlichen Akten?«
Er nickte nachdrücklich. Dieser Mann war das genaue Gegenteil des alten Burns, der zwar eifrig, doch zugleich so desorganisiert gewesen war, dass er anderen oft wichtige Informationen vorenthalten hatte. Er war offenbar verzweifelt darauf aus, ein neues Leben zu beginnen, und der Blick, mit dem er mich bedachte, fühlte sich allmählich fast so aufdringlich wie der von Darren an, bevor der auf mich losgegangen war.
»Ich werde mich morgen bei Ihnen melden, Don.« Ich sah auf die Papiere, die auf meinem Schreibtisch lagen. »Vorher muss ich noch mit meinem Vorgesetzten sprechen.«
Burns verschwand im Flur, und plötzlich fühlte sich die Hitze in dem Zimmer unerträglich an. Obwohl die Tür sperrangelweit geöffnet war, bekam ich nur noch mühsam Luft.
Am nächsten Morgen trat ich vor den Flurspiegel und inspizierte meinen Bluterguss. Er hatte einen Durchmesser von fünfzehn Zentimetern, leuchtete in einem grellen Violett und tat, sobald ich mich bewegte, höllisch weh. Ich tastete vorsichtig daran herum. Wenigstens die Rippen waren intakt - nicht gebrochen, sondern höchstens angeknackst - die Schmerzen ließen sicher innerhalb von ein paar Tagen wieder nach. Und das Hämatom an meiner Schulter sah mit seinem dunklen Blau fast harmlos aus.
Ich füllte ein paar Eiswürfel in einen Gefrierbeutel und legte mich auf meine Couch. Sofort wurde der Schmerz durch die Kälte betäubt, und ich sinnierte darüber, wie glimpflich dieser Angriff abgelaufen war. Darren hätte mich zu Brei geschlagen, hätte er es wirklich ernst gemeint. Doch mit ein bisschen Glück und einer Handvoll Schmerztabletten würde ich den Tag schon überstehen.
Während ich noch meine Prellungen kühlte, erreichte mich eine SMS von Hari, der mir riet, zu Hause zu bleiben. Doch ich löschte seine Nachricht und setzte mich mühsam wieder auf. Hari kannte mich seit Jahren, doch er hatte offenbar noch immer nicht verstanden, dass es für mich eine Strafe wäre, krankzufeiern. Dass ich lieber barfuß über glühend heiße Kohlen laufen würde, als faul auf der Couch zu liegen und gemütlich fernzusehen. Ich ging in die Küche und ließ den Gefrierbeutel dort in die Spüle fallen. Durch die Wand des Nachbarzimmers hörte ich, dass auch mein Bruder bereits aufgestanden war. Auch das war eindeutig ein Grund, arbeiten zu gehen. Weil ich das grüblerische Schweigen, mit dem er wahrscheinlich wieder einmal aus dem Fenster starrte, einfach nicht ertrug. Obwohl er es mir niemals vorgehalten hatte, war ich schuld an den Verletzungen, die er davongetragen hatte, als er aus zehn Metern Höhe auf den Bürgersteig gefallen war. Seine Beine waren dabei zerschmettert worden, und es war eigentlich kaum überraschend, dass er wegen des erlittenen Traumas noch mehr Drogen nahm.
In der Klinik wartete eine kleine Gruppe von Patienten vor der Tür meines Beratungszimmers. Ein paar von ihnen hatte die Bewährungshilfe mir geschickt, andere waren von ihrem Hausarzt überwiesen, doch sie alle saßen aus demselben Grund vor meiner Tür. Sie kämpften ausnahmslos verzweifelt gegen ihre Aggressionen an. Als ich ihnen offenbarte, dass es keine Sitzungen mehr gäbe, reagierten einige entrüstet, andere resigniert. Doch so schwer es mir auch fiel, diesen Menschen einfach Lebewohl zu sagen, hatte ich doch wenigstens noch die Gelegenheit dazu gehabt. Anders als bei meinen anderen Gruppen. Deren Sitzungen hatte die Klinik einfach schriftlich abgesagt.
Ich ging wieder aus dem Haus, denn wenn ich selber Aggressionen hegte, tat mir Bewegung normalerweise gut. Vielleicht bekäme ich ja wieder einen klaren Kopf, wenn ich etwas spazieren ginge, doch die Hitze machte einem sogar morgens schon das Atmen schwer. Offenkundig hielten sich die Gärtner unseres Krankenhauses an das offizielle Sprengverbot, denn die Rosen ließen ihre Köpfe hängen, und der dürre braune Rasen hatte eindeutig bereits seit Wochen keinen Tropfen Wasser mehr gesehen.
Bei meiner Rückkehr fragte ich eine der Frauen am Empfang, ob Darren zu seinem Termin erschienen war.
»Ich fürchte, nein«, erklärte sie entschuldigend, als hätte sie persönlich ihn daran gehindert, zu Hari hinaufzugehen.
Kochend vor Zorn und mit schmerzenden Rippen stapfte ich durchs Treppenhaus zurück in mein Büro. Nachdem Darren nicht erschienen war, tat mir meine Reaktion auf seinen Angriff plötzlich leid. Ich hätte ihn verhaften lassen sollen. Mühsam zwang ich mich zur Ruhe und rief den ersten Patienten auf.
Bis zum Abend herrschte eine fast tropische Hitze in meinem Beratungszimmer, und das köstliche Fensterblatt auf meinem Schreibtisch welkte vor sich hin. Auch der bis zum Anschlag aufgedrehte Ventilator nützte nichts, da er die abgestandene Luft nur von einer Seite auf die andere schob. Normalerweise wäre ich in meine Laufschuhe gestiegen und über die Hintertreppe aus dem Haus gesprintet, aber heute war das Beste, was ich mir erhoffen konnte, ein gemächlicher Spaziergang durch die brütend heiße Stadt. Langsam ging ich durch die Eingangshalle, in der abgesehen von ein paar Besuchern, die mit Zeitschriften und Blumen kamen, und den letzten Schwestern, die nach Ende ihrer Tagschicht Richtung U-Bahn liefen, niemand war.
Pendler strömten aus der U-Bahn-Station London Bridge und zogen im Gehen Jacketts, Krawatten, Strickjacken und alles andere, was sie nicht mehr brauchten, aus. Mir blieb nichts anderes übrig, als allen hinterherzuhinken, denn bei jedem Schritt zuckte ein stechender Schmerz durch meine Brust. Am Ufer der Themse ließ ich mich ermattet auf eine Bank sinken, denn ein Trupp Touristen hatte sich über den gesamten Bürgersteig verteilt. Aber schließlich bot sich auch die Tower Bridge als Hintergrund für Urlaubsfotos an.
Für den letzten halben Kilometer brauchte ich eine gefühlte Ewigkeit. Ich schleppte mich über den Uferweg an der New Concordia Wharf, und als ich endlich den Providence Square erreicht hatte, wollte ich nur noch ins Bett.
Allerdings begrüßte mich in meinem Flur eine bekannte, laute Stimme, die sich seit der Schulzeit nicht verändert hatte. Immer noch klang sie so aufgeregt und rau, als hätte ihre Besitzerin den ganzen Nachmittag mit einer Whiskeyflasche in der Hand verbracht.
»Al!« Lola schlang mir ihre Arme um den Hals, sah mich dann aber erschrocken an. »Mein Gott, du siehst entsetzlich aus! Bist du okay?«
Ich küsste sie und setzte zu einer Erklärung an, doch wie gewöhnlich hatte Lola viel zu viel zu tun, um wirklich zuzuhören. Einen Klumpen Käsesauce in den langen rötlich braunen Locken, fegte sie durch meine Küche, aber wieder einmal hatte der ihr eigene Zauber seine Wirkung auf Will nicht verfehlt. Zur Abwechslung trug er ein frisches, blaues Leinenhemd, die neue Jeans, die ich ihm aufgezwungen hatte, und selbst seine Haare sahen frisch gewaschen aus. Ich betrachtete ihn aus dem Augenwinkel. Er sah meine Freundin lächelnd an und hatte sogar seinen Stock gegen die Wand gelehnt. Allein dafür hatte Lola einen dicken Blumenstrauß verdient. Außerdem brachte sie immer irgendetwas mit, um Will zu unterhalten: Die Reise des jungen Che auf DVD, Zutaten für eine Pizza und einmal sogar ein ramponiertes, uraltes Monopoly, auf das sie in einem Oxfamshop gestoßen war. Ich überließ die zwei sich selbst, ließ mir Badewasser ein, glitt mit einem Seufzer der Erleichterung ins warme Wasser und wusch die vergangenen Tage von mir ab.
Zwanzig Minuten später hatte sich das Bild von Darren, wie er auf mich losgegangen war, fast vollständig in meinem Schaumbad aufgelöst. Ich verteilte Arnikasalbe auf meinen Prellungen und kehrte zu den beiden anderen zurück.
Lola wischte sich die Sauce mit einem Papiertuch aus dem Haar. »Scheiße, Will. Wir haben das Knoblauchbrot vergessen. Schmeiß es einfach in die Mikrowelle, alter Freund.«
In der Küche sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Der ganze Fußboden war mit geriebenem Käse übersät, doch ich konnte Lola deswegen unmöglich böse sein. Gegen ihre Lebensfreude kam ich nicht einmal mit meiner schlimmsten Laune an.
»Voilà!« Triumphierend zog sie die Lasagne aus dem Ofen, und ich konnte deutlich sehen, dass mein Bruder jeden Augenblick ihres Zusammenseins genoss. Für gewöhnlich schmollte er in seinem Zimmer und verweigerte die Aufnahme von allem außer Sandwiches, aber heute war er fast der alte Will. Das machte es mir leicht, mich daran zu erinnern, dass er früher, ohne die zerstörerischen Drogen, ein erfolgreicher und lebensfroher junger Mann gewesen war. Während Lola meinem Bruder Nudeln auf den Teller häufte, beugte er sich zu ihr vor.
»Und, wie läuft es mit der Show?«
Lola riss die grünen Augen auf. »Die Highkicks bringen mich fast um, aber schließlich bin ich auch die Älteste in unserer Tanzgruppe.« Sie starrte erbost auf ihre kilometerlangen Beine, als hätten sie sie irgendwie enttäuscht.
»Hast du einen Notfallplan, falls es mit der Revue langfristig nicht klappt?«, erkundigte ich mich.
»Ich arbeite nebenher mit behinderten Kindern in Hammersmith. Wir richten dort einen Talentwettbewerb aus. Komm doch Samstag mal vorbei. Du wärst bestimmt total begeistert, Al.« Lola beugte sich über den Tisch, stibitzte ein Stück Brot vom Teller meines Bruders und blickte ihn fragend an. »Na, was hast du in letzter Zeit getrieben, Will?«
»Nichts weiter. Außer dass ich dem Club der Wolken- freunde beigetreten bin. Das ist diese Webseite, auf der es um verschiedene Wolkenarten geht.« Seine hellen Augen fingen an zu blitzen. »Denn die Sache ist die ... Wir sollten die Wolken wegen der Botschaften, die sie uns schicken, eingehend studieren.«
Lola blickte ihn verwundert an. »Wegen welcher Botschaften? «
»Jede Wolke schickt uns eine Botschaft. Wenn man sie lange genug betrachtet, kann man sie entschlüsseln.« Seine Miene war so ernst wie die eines Wissenschaftlers, der von einem wichtigen Durchbruch bei seinen Forschungen berichtete.
»Das muss ich unbedingt mal ausprobieren!« Lola strahlte meinen Bruder an und nahm sich den Rest von seinem Knoblauchbrot.
Nach dem Essen legte Will sich wieder auf die Couch und überließ den Abwasch uns.
»Himmel«, flüsterte mir Lola zu. »Er hat immer noch ein paar echt seltsame Ideen, findest du nicht auch?«
»Es ist schon deutlich besser als vor ein paar Monaten. Wenigstens bringt er inzwischen wieder ganze Sätze raus.«
»Da hast du wahrscheinlich recht.« Sie starrte auf die Schüssel, die sie in den Händen hielt.
»Du hast deine Sache wunderbar gemacht. Er ist immer total froh, wenn er dich sieht. Das eben war das erste richtige Gespräch seit Wochen.«
»Und wie geht es dir?« Sie sah mich forschend an. »Arbeitest du immer noch zu hart, und bist du immer noch ein tragischer Single, der in seiner Freizeit durch die Gegend rennt?«
»Das ist ja wohl nicht das Schlechteste. Wenn ich so weitermache, habe ich wahrscheinlich bald Beine wie du.«
»Was ist mit den Kerlen? Irgendwelche heißen Dates?«
»Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich von Männern erst einmal nichts wissen will. Ich lasse bis auf weiteres ganz sicher niemanden an mich heran.«
Sie klatschte in die Hände. »Meine Güte, es ist Sommer. Da soll frau sich amüsieren.«
Wir hatten auf den Crossbones-Fall vollkommen unterschiedlich reagiert. Lola war genauso schwer verletzt gewesen wie ich, hatte aber nicht mal eine Spur von Selbstmitleid gezeigt, sondern einfach meine Hand umklammert, als ich sie um Verzeihung bat, und mir erklärt, ich sollte mich ganz auf die Zukunft konzentrieren. Sobald wir aus dem Krankenhaus entlassen worden waren, hatte sie den Spaß, der ihr in der Genesungszeit entgangen war, mit Feuereifer nachgeholt. Sie ging mit möglichst vielen Männern aus und hielt, obwohl ihr Herz schon häufiger gebrochen worden war, an ihrer Überzeugung fest, dass wahre Liebe alle Hindernisse überwand. Manchmal machte ich mir Sorgen, dass sie unter Umständen in eine Depression verfallen würde, ließe sie in ihrem Eifer, sich zu amüsieren, jemals nach. Sie nahm hundert Partyeinladungen an, während ich zu Hause blieb und Bücher schrieb. Doch es hatte keinen Sinn, ihr zu erklären, dass ich erst mal nur mein Gleichgewicht zurückerlangen wollte und sonst nichts. Tatsächlich wurde ich inzwischen nur noch ab und zu von Alpträumen geplagt, aber der Gedanke, noch mal einem Menschen zu vertrauen, schreckte mich noch ganz genauso wie am ersten Tag.
»Du hast das Thema doch nur angesprochen, weil du selber jemanden getroffen hast, nicht wahr?«
Lola blickte mich mit einem breiten Grinsen an. »Vielleicht ...«
Während der nächsten Viertelstunde lag mir meine Freundin damit in den Ohren, dass ich endlich auch wieder nach meinem Traummann Ausschau halten sollte, doch ich war ihr so dankbar dafür, dass sie mir mit meinem Bruder half, dass ich ihr nicht widersprach, sondern einfach hin und wieder nickte, bis sie sich zu Will aufs Sofa legte und laut kichernd eine Wiederholung von Ein Pastor startet durch im Fernsehen sah.
Erst als ich schlafen ging, bemerkte ich das Blinken meines Telefons. Die erste Nachricht war von meiner Mutter. Ihre Stimme klang so kühl, als hätte sie Trockeneis inhaliert. Ich drückte abermals den Knopf und hörte Burns, der mich in eindringlichem Ton an den Besuch der Polizeiwache im Pancras Way erinnerte, obwohl am Nachmittag schon eine E-Mail mit der Wegbeschreibung bei mir eingegangen war. Danach folgte eine lange Pause, als erwarte er, ich käme an den Apparat und sagte ihm womöglich doch noch ab. Es nützte nichts, dass ich beide Nachrichten umgehend löschte. Ich legte mich ins Bett und starrte endlos meine Zimmerdecke an, bevor ich endlich schlief.
Eine junge Polizeibeamtin holte mich am nächsten Morgen am Empfang der Wache ab und bat mich, im Flur zu warten, bis man mich in das Besprechungszimmer rief, denn soweit sie wusste, käme der Fall Leo Gresham erst als Letztes dran. Mir fiel auf, dass sie erleichtert wirkte, weil sie selbst das Zimmer nicht betreten musste, und nachdem man mir die Tür geöffnet hatte, konnte ich sie gut verstehen. Die Atmosphäre in dem Raum war zum Zerreißen angespannt.
Am Kopfende des Tischs saß eine Frau von Mitte fünfzig. Tiefe Falten hatten sich in ihre Stirn gegraben, und ihr ungeschminktes regloses Gesicht wurde von wirren, schulterlangen grauen Locken eingerahmt. Selbst als ich den Raum betrat, behielt sie ihre ausdruckslose Miene bei.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Dr. Quentin. Ich bin DSI Lorraine Brotherton«, stellte sie sich mir mit monotoner Stimme vor, als hätte sie beschlossen, nichts zu sagen, was sich in Erinnerung behalten ließ.
Erst nach einer ganzen Weile hatten sich mir auch die anderen vorgestellt, denn es saßen mindestens ein Dutzend Leute um den Tisch. Das Stirnrunzeln des Chefs der Kriminaltechnik, Pete Hancock, wurde durch die dicken schwarzen Brauen, die sich in der Mitte trafen, noch verstärkt. Ein Opferschutzbeamter blickte mich mit einem kurzen Lächeln an, und der Mann links neben Burns stellte sich als sein Stellvertreter vor. Mit dem breiten, einnehmenden Grinsen und der sportlichen Figur, obwohl auch seine besten Tage offenbar vorüber waren, sah er nicht nach einem Polizisten, sondern eher nach einem Sportreporter aus. Er war tief gebräunt, hatte sich, um seine Stirnglatze zu tarnen, alle Haare abrasiert, und hing an den Lippen seiner Vorgesetzten, als verkünde sie sein ganz privates Evangelium.
»DI Burns geht davon aus, dass der Tote in King's Cross nur der Erste einer ganzen Reihe war. Ich halte nicht besonders viel davon, wenn man sich in unserem Job auf seinen Instinkt verlässt, aber wenn er diese Sache ernst nimmt, ist das natürlich sein gutes Recht. Außerdem leitet er schließlich die Ermittlungen zu diesem Fall.« Brothertons Lippen zuckten leicht, als müsse sie ein Lachen unterdrücken, und sie wandte sich an Burns. »Erzählen Sie uns bitte, was Sie bisher rausgefunden haben, Don.«
Allmählich konnte ich verstehen, weshalb Burns mich hinzugezogen hatte. Die Körpersprache seines Stellvertreters - sein verhangener Blick und seine vor der Brust verschränkten Arme - sprach Bände. Er nutzte offenkundig jede Möglichkeit, um deutlich zu machen, dass die Meinung seines neuen Vorgesetzten ihn nicht im Geringsten interessierte, und die anderen Kollegen ahmten seine Haltung nach.
»Die erste Stunde nach der Tat hat uns nicht viel gebracht«, erklärte Burns. »Der Bahnhof wurde fünf Minuten nachdem Gresham auf das Gleis gestoßen wurde abgeriegelt, aber da war es bereits zu spät. Weil unser Täter zu dem Zeitpunkt schon wieder auf der Straße war. Es gibt Videoaufnahmen, wie er mit einem Bus nach Putney fährt. Das waren die letzten Bilder von dem Kerl, bevor er von unserem Radar verschwunden ist.«
Die verschwommenen Aufnahmen, die Burns den anderen reichte, zeigten einen Mann von mittlerer Statur, der mit hängenden Schultern einen Bus verließ. Er hatte die Kapuze seiner Jacke so tief ins Gesicht gezogen, dass sie einen schwarzen Schatten darauf warf, als stelle er den Sensenmann in einer Pantomime dar. Ich starrte auf die Fotos, während Burns die Polizeiarbeit im Anschluss an die Tat beschrieb. Sie hatten Dutzende von Zeugen aus dem U-Bahnhof befragt, Greshams Kleidung im Labor analysiert und seine Familie informiert.
Einer der Kollegen stellte ein graues Plastiktablett auf den Tisch. Irgendjemand hatte Greshams Tascheninhalt kunstvoll darauf arrangiert: zwei weiße Federn, die Postkarte mit dem Engel, eine elegante Lederbrieftasche sowie ein Bündel blutbespritzter Scheine, auf denen die Flecken allerdings nicht leuchtend rot, sondern in einem dunklen Braunton angetrocknet waren. Seine Rolex hatte das Geschehen ohne einen Kratzer überstanden und zeigte uns immer noch genau die Zeit an.
Mein Verdacht, dass Burns sich im vergangenen Jahr in jemand anderen verwandelt hatte, wurde durch seine Art zu sprechen noch verstärkt. Früher hätte er ein paar Notizen auf die Rückseite von irgendeinem Briefumschlag gekritzelt und darauf vertraut, dass einer seiner Untergebenen die ausführlichen Berichte schrieb. Dieses Mal hingegen war er systematisch vorgegangen und hatte darauf geachtet, dass es noch zum winzigsten Beweisstück einen ordentlichen Eintrag gab.
Jetzt hielt er die Karte so, dass alle das Gesicht des Engels sahen.
»Die Fingerabdrücke auf der Karte haben keinen Treffer in der Kiste ergeben.«
Ich durchforstete mein Hirn, bis mir einfiel, dass man bei der Polizei von der nationalen Datenbank meist nur als »Kiste« sprach. Diese Datenbank enthielt Details zu jedem, der jemals auf irgendeine Weise straffällig geworden war.
»Noch Fragen?«, fragte Burns.
»Ich kapiere immer noch nicht ganz, weshalb Sie glauben, dass der Kerl noch mal zuschlagen wird.« Taylors Stimme war ein dumpfes Leiern. »Schließlich sind Banker momentan nicht unbedingt beliebt. Vielleicht hat ja dieser Gresham das Vermögen irgendeines Kerls verspekuliert. Mir erscheint diese Geschichte wie ein Auftragsmord.«
Das Nicken vieler Köpfe zeigte klar, wem die Loyalität der meisten Leute galt.
»Vielleicht haben Sie recht«, erklärte Burns neutral. »Ich will nur möglichst sichergehen, dass wir allen Spuren nachgegangen sind.«
Ähnlich einer Lehrerin, die einen Streit zwischen den Schülern unterbrach, hob Brotherton die Hand und wandte sich an mich. »Wie sehen Sie die Sache, Dr. Quentin?«
Ich blickte von meinen Notizen auf. »Ich bin immer noch sicher, dass der Angriff diesem Mann persönlich galt. Aber wenn es so gewesen ist, brauche ich mehr Informationen über Greshams Welt, um zu verstehen, weshalb er ins Visier genommen worden ist.« Ich geriet ins Stottern, als ich all die ausdruckslosen Mienen sah. »In Fällen wie diesem stellt der Täter sich oft vor, sich selbst vor einen Zug zu werfen, bevor er sein Opfer stößt. Es könnte durchaus sein, dass er schon mal wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung war, deshalb wäre es gut, die Akten der Krankenhäuser einzusehen. Die sorgfältige Planung dieser Tat macht es durchaus wahrscheinlich, dass er es noch mal versuchen wird. Außerdem hat er aus einem ganz bestimmten Grund einen gutgekleideten Mann mittleren Alters als erstes Opfer ausgesucht. Vielleicht weil er ein Problem mit seinem Vater oder generell mit Autoritätspersonen hat.«
Als hätte ich einen besonders lahmen Witz gemacht, fing Taylor hämisch an zu grinsen, und die anderen sahen mich ohne eine Miene zu verziehen an. Die aggressive Atmosphäre überraschte mich. Normalerweise wurde ich bei meiner Arbeit für die Polizei immer freundlich und zuvorkommend behandelt und bekam genügend Zeit, um interne Kürzel oder Witze zu verstehen. Dieses Team jedoch ging völlig anders mit mir um - als läge ihm die Feindschaft gegenüber Außenstehenden im Blut.
Ich atmete erleichtert auf, als das Gespräch vorüber war. Während alle anderen den Raum verließen, blieb Steve Taylor noch kurz stehen und raunte mir mit einem knappen Kopfnicken in Richtung seiner Chefin zu: »Jetzt ist Ihnen sicher klar, weshalb sie bei uns die Unsichtbare heißt.«
Damit trat er in den Flur und ließ nur noch den Gestank seines Rasierwassers zurück, doch ich verstand, was er sagen wollte. Die Aufmachung der DSI war so dezent, dass sie schon beinahe langweilig zu nennen war, und ihr Händedruck war so schwach, dass ich das Gefühl hatte, ich hätte meine Hand nach einem Nebelschwaden ausgestreckt. Ich fragte mich, wie sie auf der Karriereleiter derart hoch gekommen war. Vielleicht war ihre Unauffälligkeit ja einfach aufgesetzt. Denn Frauen in Führungspositionen bei der Polizei waren entweder brillant oder vollkommen skrupellos.
»Sie hatten mit dem Crossbones-Fall zu tun, nicht wahr?« Sie zog ihre grauen Augenbrauen einen Millimeter hoch.
»Aber ich lebe noch.«
»Dabei war, nach allem, was man mir erzählt hat, jede Menge Glück im Spiel.« Sie schob ihren grauen Pony zur Seite, um mir forschend ins Gesicht zu sehen. »Wie oft haben Sie der Polizei schon bei Ermittlungen geholfen?«
»In drei großen Fällen, und außerdem erstelle ich bereits seit Jahren Gutachten in Gefängnissen.«
»Und wie wird Ihre Arbeit hier bei uns aussehen?«
»Burns hat mich gebeten, mit ihm zusammenzuarbeiten, und erst mal werde ich mit ihm zu Greshams Familie und anderen Kontaktpersonen gehen.«
Brotherton verzog verärgert das Gesicht. Offenbar empfand sie mein Erscheinen als unnötige Ablenkung.
Bitte überlassen Sie mir noch eine Kopie von Ihrer Zulassung, bevor Sie gehen.«
Nachdem sie wieder mit den grauen Flurwänden verschmolzen war, erkannte ich, weshalb die Teambesprechung so angespannt verlaufen war. Brotherton war sicher stolz auf ihre Unergründlichkeit. Niemand ahnte auch nur, was sie dachte, und so wusste keiner ihrer Leute, wer eventuell auf ihrer Abschussliste stand.
Vielleicht war sie der Grund für Burns' beachtlichen Gewichtsverlust. Als Untergebenem einer derart zugeknöpften Frau verging sicher jedem irgendwann der Appetit.
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Autoren-Porträt von Kate Rhodes
Kate Rhodes wurde 1964 in London geboren. Sie ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und lehrte jahrelang an amerikanischen und britischen Universitäten. Für ihre Lyrik wird sie von der Presse hoch gelobt und erhält regelmäßig Preise. Sie lebt in Cambridge, am Ufer des Flusses, für dessen Erkundung sie sich extra ein Kanu zugelegt hat. Ihre Serie um die Kriminalpsychologin Alice Quentin ist eine der größten Entdeckungen im englischen Kriminalroman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kate Rhodes
- 2014, 1. Auflage, 464 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Uta Hege
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548284639
- ISBN-13: 9783548284637
- Erscheinungsdatum: 10.01.2014
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