Blutiger Regen
Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen
Der lange Arm der Mafia reicht bis hinein in unsere Vorgärten: Leonie Hausmann ermittelt im SchwäbischenZwei ermordete Pizzeriabesitzer. Ein Fünfzehnjähriger auf der Flucht. Ein toter Millionär im Pool seiner Villa. Die schwäbische Region wird von mehreren...
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Produktinformationen zu „Blutiger Regen “
Klappentext zu „Blutiger Regen “
Der lange Arm der Mafia reicht bis hinein in unsere Vorgärten: Leonie Hausmann ermittelt im SchwäbischenZwei ermordete Pizzeriabesitzer. Ein Fünfzehnjähriger auf der Flucht. Ein toter Millionär im Pool seiner Villa. Die schwäbische Region wird von mehreren grausamen Verbrechen erschüttert. Journalistin Leonie Hausmann und Kommissar Fabian Grundmann ermitteln in einem Fall, der sie in die Untiefen der kalabrischen Mafia führt und bis zum Äußersten gehen lässt. Auch wenn sie sich selbst dabei in höchste Gefahr bringen ...Für alle Fans von Nele Neuhaus und Klüpfel/Kobr
Lese-Probe zu „Blutiger Regen “
Blutiger Regen von Charlotte KernProlog
»Auf die Knie«, sagte er leise. Die Siedlung lag wie ausgestorben. Rundherum standen die Wohnblöcke wie Riesen und schauten ihm aus ihren leeren Fensterhöhlen zu. Hinter einer der blinden Scheiben saß sie seit Tagen im verqualmten Zimmer vor dem Fernseher und drückte eine Zigarette nach der anderen in ihrem leeren Joghurtbecher aus. Talking Italian. Aber eigentlich sagte sie gar nichts, hatte den Kontakt zu ihm abgebrochen.
Der Junge sah ihn an. Er fröstelte in seiner dünnen Jacke. Jeans, billige Turnschuhe von Aldi. Noch ein Loser, Grieche, Siebtklässler, der die Schule schwänzte, weil er sowieso nur Sechsen schrieb. Er kannte seinen Namen nicht, hatte ihn ein paar Mal mit seinen kleinen Schwestern auf dem Spielplatz gesehen. »Du hast sie doch nicht mehr al ...«
Da zog er den Revolver aus seiner Jackentasche. Geschockt tat der Junge, was er verlangte, und ging auf dem Rand des Sandkastens in die Knie. Er war auch im Stehen kleiner. Jetzt ging er ihm gerade noch bis zur Brust. Von weitem sah er auf dem Dach des Mercedes-Benz Werks Mettingen den riesigen Stern, der sich sachte drehte. Der Tag war kühl und verhangen, der Spielplatz wie ausgestorben. Wind fing sich in der quietschenden Schaukel und pustete eine blaugelbe Lidl-Tüte über den Rasen.
Die Waffe war kühl und schwer und lag in seiner Hand, als sei sie schon immer sein Eigentum gewesen. Das Gefühl, sie zu halten, schmeckte nach Macht.
»Ist die geladen, Mann?« In den dunklen Augen des anderen lag Furcht. Respekt, dachte er. Es wurde Zeit, dass man ihm diesen entgegenbrachte.
»Klar!«, sagte er.
»Und was machen wir jetzt damit?« Fast hörte er die Tränen, die dem Jüngeren im Hals steckten.
... mehr
»Wir spielen.« Er trat einen Schritt näher, hob den Revolver und zielte. Das Herz, der Kopf, der Bauch. Es war ein Kinderspiel.
»Was denn?« Der Kleine schaute angestrengt auf den Rand des Sandkastens.
»Russisches Roulette. Kennst du doch, oder? In einer von den Kammern ist eine Kugel.« Er setzte die Mündung an die Schläfe des Jungen. Die Haut war hellbraun und zart und gab ein bisschen nach. Auf seiner Hose breitete sich ein dunkler Fleck aus.
»Du stinkst.«
»Ich will weg«, flüsterte der Kleine.
»Kannst du aber nicht.«
»Die ist nicht echt, oder?«
»Du hast mich doch gehört.« Die Waffe zitterte nicht einmal in seiner Hand. Sein Pulsschlag war nicht einmal erhöht. Er war cool. Als er sie entsicherte, klickte es leise. Er kannte dieses Geräusch, denn sein Vater hatte das Spiel tausendmal mit ihm gespielt.
»Ich sage es meinen Cousins, und die machen dich alle.«
»Dann wird es zu spät sein.«
»NEIN!«, schrie der Junge, aber er bewegte sich nicht.
Er stellte sich vor, wie er schoss, wie Blut und Gehirn über den Sandkasten spritzten, einfach so. Sicher würden sie den Spielplatz sperren, ihn mit einem rotweißen Band sichern, wie sie es mit Baustellen taten. Dann kämen die Polizeitechniker in ihren weißen Anzügen und würden das Gelände durchsuchen, den Sand pfundweise durchsieben, bis sie das Projektil gefunden hatten. Kein Platz mehr für die Kinder der Siedlung, die sich am Zaun die Nase plattdrücken würden. Vielleicht würde es auch eine Gedenktafel geben oder so. Und nie könnten sich die Kinder später sicher sein, was sie im Sand alles fänden. Die Knarre klebte noch immer an der Schläfe des Jungen. Ich glaube, er heißt Athanassios, dachte er, und drückte ab. Kein Problem. Er hatte es im Blut.
1.
Leonie Hausmann stand hoch oben im Kirschbaum und streckte sich nach den reifsten Früchten. Knapp unter dem Himmel, wo das Gewirr der Zweige nicht mehr ganz so dicht war, bogen sie sich unter dem Gewicht der obsidianschwarzen Kirschen. Auf dem obersten Ast saß ein Amselmännchen und sang sich die Seele aus dem Leib. Der Kirschbaum stand am Hang. Sein Stamm war so dick, dass Leonie ihn alleine nicht umfassen konnte, nicht einmal, wenn sie beide Arme ausbreitete. Ihr fehlten noch genau diese Kirschen in ihrer Marmelade, und sie würde sie nicht verkommen lassen. Niemals! Sie stieg auf die oberste Stufe der Leiter, wo es keine Holme zum Festhalten mehr gab, und stützte sich an der rauen Rinde des Baumes ab. Endlich waren die süßesten Früchte in Reichweite. Sie pflückte zwei der prallen Dinger und steckte sie in den Beutel, den sie um den Hals trug. Und noch mal drei und dann fünf.
Doch die Konkurrenz schlief nicht. Leonie hielt den Atem an, als sich zwei Elstern, schwarzweiß wie die aufgeputzten Kellner eines Luxusrestaurants, auf dem Ast neben ihr niederließen. Ihre dunklen Augen musterten sie scharf und schlau und machten klar, wen sie hier für den Eindringling hielten. Die Amsel protestierte und erhob sich in die Luft. Leonie lachte leise und schüttelte den Kopf.
»Nichts da«, sagte sie und ruckelte an dem Zweig, auf dem die Räuber saßen. Majestätisch erhoben sie sich in die Luft und segelten davon, die Flügel setzten scharfe Scherenschnitte gegen den blauen Himmel. Ihr Weg kreuzte sich mit einem Flugzeug, das zur Landung auf dem Flughafen Stuttgart ansetzte.
Es war ein schöner Tag Anfang Juli. Tief unter ihr lag Leander in seiner Wippe, spielte zufrieden mit seinen Zehen und beobachtete die Sonnenflecken auf dem Gras. Im Garten blühten lachsrosa und knallrot die Rosen. Auf den Rabatten reiften die Johannisbeeren und sprenkelten die Büsche mit Rot. Der Kirschbaum stand am äußersten Ende des Hausmann'schen Gartens in Oberesslingen, da, wo sich der Bewuchs in Wildnis wandelte, knapp unterhalb des Parks der Kliniken. Leonie schaute sich um. Ihr Elternhaus, ein weißgrauer Kasten mit grünen Fensterläden, begrenzte den Garten ein gutes Stück tiefer zur Straße hin. Schon als Kinder waren sie in dem alten Kirschbaum herumgeklettert und hatten Kirschen gegessen, bis sie beinahe platzten. Einmal war ein Ast unter Leonie abgebrochen, und sie war einige Meter in die Tiefe gesegelt. Ihr Vater hatte sie den Hang hinauf in die Kinderklinik getragen, die sie, stolz wie ein Schneekönig, mit einem Gips am Arm wieder verlassen hatte. Nur Rabenvögel, die die Singvögel vertrieben, hatte es damals noch nicht so viele gegeben.
Plötzlich schluckte sie, so sehr fühlte sie sich hier zu Hause und wusste doch, dass es nicht so bleiben konnte. Sie würde sich mit Leander etwas Eigenes suchen müssen, sich endlich auf eigene Füße stellen. Leonie Hausmann, 27 Jahre alt, Doktorandin der Kunstgeschichte und alleinerziehende Mutter. Sie hatte ein eigenes Leben gehabt, zuerst an der Uni, dann als Stipendiatin der Bibliotheca Hertziana in Rom. Doch jetzt wohnte sie wieder daheim in der väterlichen Einliegerwohnung. Das musste sich ändern. Wenn der Sommer vorbei ist, dachte sie träge, ließ ihre Augen schweifen und genoss die Stille und das endlich einmal zufriedene Kind.
Von der Krone des Kirschbaums aus hatte man einen grandiosen Blick ins Tal, auf die Oststadt von Esslingen mit ihrem Gewirr aus roten Dächern. Dahinter stand die griechische Kirche mit ihrer prächtigen Kuppel, daneben der Moscheeneubau, dessen Minarett die Gläubigen auf Weisung der Stadt verkürzen mussten. Weit entfernt hörte sie die B 10 rauschen, der westwärts strömende Neckar war nur eine Ahnung. Leonie pflückte den Ast leer und aß die restlichen Kirschen, die nicht mehr in den Beutel passten, kurzerhand auf. Süßer Saft rann ihr das Kinn herunter.
Als sie ein entzücktes Lachen hörte, hob sie den Kopf.
Sie stand auf Sichthöhe zum Zaun des Krankenhausparks, hinter dem sich mehrere Ahornbäume mit gelbgrün gefleckter Rinde erhoben. Hier befand sich eine Aussichtsplattform, auf der die Patienten und ihre Besucher bei schönem Wetter die Ruhe genießen konnten. Hinter der Baumgruppe lag das Gebäude der psychosomatischen Klinik, gebaut als einladender Pavillon. Wie eine Baumelfe stand ein Mädchen am Zaun und schaute aus dunkel umrandeten Augen gebannt zu ihr hinüber. »Du hast dich ja ganz schön eingesaut, aber das mit den Elstern, das war genial.«
Die Kleine zog an ihrer Zigarette, inhalierte tief und blies Leonie weißen Rauch entgegen. Am liebsten hätte sie gefragt, ob sie schon in dem Alter war, in dem man rauchen durfte, aber stattdessen erkundigte sie sich nach ihrem Namen.
»Flavia«, sagte sie. »Und du?«
»Leonie. Möchtest du ein paar?«
»Klar.«
Das Mädchen drückte die Zigarette aus, beugte sich vor und pflückte eine Handvoll Kirschen von den obersten Zweigen des Baums.
»Danke!« Wie eine Opfergabe präsentierte sie die schwarzen Früchte in der geöffneten Schale ihrer Hände. Dabei glitt der Ärmel ihrer Strickjacke zurück und entblößte einen stöckchendünnen Unterarm. Die Hüftjeans schlotterte um schmale Oberschenkel. Leonie wusste, dass in der Klinik auch magersüchtige Mädchen behandelt wurden.
»Kommst du mal wieder?«
»Vielleicht.« Unwillkürlich überlegte sie, wie viele Kalorien in einer Handvoll Süßkirschen steckten. Hoffentlich viele. Aber das Mädchen legte die Früchte vorsichtig auf die Bank und hängte sich je zwei zusammengewachsene Kirschen über beide Ohren. Pandora, dachte Leonie und wusste nicht genau, warum.
Ein leiser Protest von Leander beendete das Gespräch. »Mein Kind«, sagte sie entschuldigend.
»Hast du schon eins? Siehst eigentlich gar nicht so aus.«
Wie eine Königin entließ Flavia sie mit einem Schlenker ihrer Hand. Leonie sprang einen Moment später neben dem Kleinen ins Gras. Sie musste lachen, denn er hatte seinen Schnuller ausgespuckt und sich stattdessen den großen Zeh in den Mund geschoben.
»Du perfekter kleiner Yogi«, sagte sie und hob ihren Sohn auf die Hüfte. »Ciao Flavia«, rief sie.
»Ciao, und vergiss mich nicht«, kam es von oben.
»Leonie?« Sybille stand in der offenen Terrassentür und schaute sich suchend um.
»Hier sind wir.«
Den Kleinen auf der Hüfte schnappte sie sich den randvollen Eimer und machte sich auf zum Haus. Es war sowieso Zeit. Sie hatte sich mit ihrer Schwester zum Kaffee verabredet. Da musste die Marmelade eben warten.
»Mein kleiner Neffe!« Sybille streckte die Hände nach Leander aus, der es sich einen Moment später auf ihrem Arm bequem machte. Gemeinsam betraten sie die Küche. Das Haus war alt, ein zugiger Kasten, in den Dreißigerjahren gebaut, als man noch Küchen plante, in denen eine ganze Großfamilie zum Kochen, Essen und Einmachen Platz fand. Als Leonie schwanger gewesen war, hatte sie den Raum auf Vordermann gebracht. Sie hatte die Wände geweißelt, die Regale und den alten Holztisch abgeschliffen und eingeölt. Auf die Fensterbank hatte sie ihre Kräutertöpfe mit Rosmarin und Thymian gestellt, fast so, als hätte sie vor zu bleiben.
»Und wo steckt die Restfamilie?«
»Vater angelt am Kanal.«
»Was sonst?« Sybille hob die Augen zum Himmel. Wann immer er es ermöglichen konnte, machte sich Gottfried Hausmann auf, um seiner Leidenschaft nachzugehen und dabei so viel Ruhe wie möglich zu tanken. Meistens gab es dann Fisch zum Abendessen, den er zum Glück - Leonie schlug drei Kreuze, dass es so bleiben möge - selbst ausnahm, putzte und in die Pfanne warf.
Sybille setzte sich mit Leander auf die Eckbank. Sie war ebenso groß und blond, wie Leonie klein und braunhaarig war, was ihren Vater dazu brachte, seine Töchter Weide und Haselnuss zu nennen. Vor seiner Emeritierung hatte er als Professor für Botanik in Hohenheim gelehrt. Leonie hasste solche Klassifizierungen, vor allem, wenn sie bei dem Vergleich schlechter wegkam. Denn Sybille hatte ihr Leben im Griff. Sie war als Gymnasiallehrerin für Deutsch und Geschichte festangestellt und bereitete gerade ihre Hochzeit mit ihrem langjährigen Freund Martin vor, der bei Daimler als Entwicklungsingenieur arbeitete. Selbstverständlich in der Stadtkirche und mit allem Drum und Dran.
Aber ein Kind hat sie nicht, dachte Leonie. Flink holte sie die Kaffeebecher aus dem Regal und verteilte Kuchenteller auf dem Tisch, alles aus Mamas altem, weißblauem Geschirr, das der schäbigen Küche einen verblichenen Landhauscharme verlieh. Während Leander mit Sybilles Autoschlüssel spielte, vermischte sie in einer Schale einen Zwieback mit einer zerdrückten Banane und etwas abgekochtem heißem Wasser. Mit dieser Mischung waren alle drei Hausmannkinder als Babys gefüttert und groß und stark geworden. Dann goss sie ihrer Schwester Kaffee ein, was Leander neugierig beobachtete. »Mit Milch?«, fragte sie.
»Wie immer«, sagte Sybille. »Und was macht der Kleine?« Damit meinte sie nicht Leander, sondern ihren Bruder Sebastian, der mit siebzehn der Jüngste in der Geschwisterreihe war. Als Leander nach der Tasse griff, schob Leonie sie geistesgegenwärtig ein Stück nach hinten.
»Nein«, sagte sie. »Er hat Mittagsschule, Basketball.« Sie holte das Kirschkuchenblech aus der Speisekammer und schloss die Tür mit einem geschickten Stoß ihres Ellbogens. »Das hoffe ich jedenfalls.«
Ihre Schwester legte die Stirn in Falten. »Er soll bloß nicht anfangen zu schwänzen. Das ist der Anfang vom Ende.« Seit ihre Mutter vor beinahe zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, hatte Sybille ein Stück Verantwortung für die Familie übernommen. Sebastian war damals erst sieben gewesen und so etwas wie ihr Ziehkind. »Bist du schwer, kleiner Mann.« Sie stöhnte und setzte Leander auf ihren anderen Oberschenkel.
Mittlerweile waren Sebastians schlechte Schulnoten ein Dauerthema zwischen ihnen. Anders als seine fleißigen und zielstrebigen Schwestern quälte er sich mühsam durchs Gymnasium und hatte höchstens am Kunstunterricht ansatzweise Interesse. Ob er in diesem Jahr das Klassenziel erreichen würde, war höchst fraglich, denn im Moment brauchte sein Einsatz gegen Stuttgart 21 sein Zeitbudget auf.
Als sie die Haustür ins Schloss fallen hörten, nickten sie einander grimmig zu. »Er braucht ein strenges Regiment«, sagte Sybille düster. Mit Schwung stellte sich Leander auf und grabschte nach der Schüssel mit dem Zwiebackbrei. »Gleich«, sagte seine Mutter und nahm ihn auf den Arm.
»Ich habe ja gar nichts gegen politisches Engagement. Und wer für den Tiefbahnhof ist, hat ja auch wirklich nichts begriffen «, flüsterte Sybille. »Aber müssen es gerade die Parkschützer sein?«
Von allen Aktivisten rund um Stuttgart 21 hatte sich Sebastian ausgerechnet den Kompromisslosesten angeschlossen. Bei den Parkschützern kreuzte hin und wieder die Polizei zu Hausdurchsuchungen auf, um Handyvideos zu konfiszieren, die sie ins Internet gestellt hatten. Leonie war heilfroh, dass sie den Sprung ins beschauliche Esslingen noch nicht geschafft hatte, denn was ihr Bruder so alles an Videos hortete, wollte sie lieber gar nicht wissen. Auf den Demos filmte er mit Hingabe alle, die er für Zivilbullen hielt, und hatte nach dem schwarzen Donnerstag am 30. 9. 2010 jede Menge Material hochgeladen, das den martialischen Einsatz der Polizei gegen die Demonstranten dokumentierte.
In diesem Moment sprang die Küchentür auf, und eine Sporttasche schlitterte quer über den schwarzweiß gekachelten Boden in die Ecke neben dem Kühlschrank. Ihr Besitzer lümmelte sich auf die Eckbank.
»Ausräumen und wegstellen!«, sagte Leonie kalt.
Sebastian zuckte die Schultern. »Wenn ihr euch den Geruch meiner Sportschuhe antun wollt, bitte!« Er angelte nach der Tasche und machte Anstalten den Reißverschluss zu öffnen.
»Draußen!«
Sebastian war groß und schlacksig. Er hatte sich die dunklen Haare vor einer Woche selbst kinnlang abgeschnitten und trug in jedem Ohr, nach Größe aufgereiht, fünf Ringe. Auf seinem schwarzen Che-Guevara-T-Shirt prangten alle Buttons, die je gegen den geplanten Tiefbahnhof verkauft worden waren, und dazu noch ein besonders großer »Atomkraft - Nein Danke«-Anstecker. Als er seine Schuhe in den Flur geräumt hatte, setzte er sich an den Küchentisch.
»Hallo Basti!«, sagte Sybille. Leonie mutmaßte, dass sie den verunglückten Beginn der Begegnung wiedergutmachen wollte.
»Hallo Billie.«
Niemand im Haus nannte sie mehr bei ihrem Spitznamen aus Kindertagen, außer Sebastian, wenn er sie ärgern wollte, und das war ziemlich oft der Fall.
»Na, Kanakenbrut!«
Begeistert streckte Leander seinem Onkel die Arme entgegen und ließ sich von ihm über den Tisch heben.
»Das ist rassistisch«, murmelte Sybille entnervt.
Er zuckte die Schultern. »Eure Political Correctness ödet mich an.« Hin und wieder versuchte er, Leonie mit dem Aussehen ihres schwarzhaarigen, brombeeräugigen Sohnes auf die Palme zu bringen, dessen Vater sie einfach nicht offenbaren wollte. Was tat man mit pubertierenden Brüdern? Ruhe bewahren, dachte sie. Der Kleine war begeistert von seinem Onkel. Er liebte es besonders, wenn dieser ihn so halsbrecherisch durch die Luft segeln ließ, dass er fast an die Decke stieß. Sebastian setzte sich mit ihm auf die Bank.
Während Leonie den Zwiebackbrei Löffel für Löffel in Leanders Mund schob, kaute Sybille missbilligend auf ihrem Kuchen herum. »Kirschkuchen zum Spucken!«, murmelte sie, entfernte eine ganze Reihe von Kernen aus ihrem Mund und legte sie mit spitzen Fingern an den Tellerrand.
»Heute Morgen hat der Kleine mir einfach keine Zeit gelassen«, entschuldigte sich Leonie. Leanders gute Laune war mit drei Stunden heftigem Zahnen am Morgen erkauft worden. Weinerlich hatte er seinen Platz auf ihrer Hüfte keinen Moment lang aufgeben wollen, so dass an eine so zeitraubende Tätigkeit wie Kirschenentsteinen einfach nicht zu denken gewesen war.
»Ich würde sagen, du hattest schlicht und ergreifend keinen Bock«, warf ihr Bruder gönnerhaft ein.
Leonie nahm sich vor, ihn zu ignorieren, und reichte Leander einen weiteren Löffel Brei.
»Hmm«, machte dieser und sperrte seinen Mund auf wie ein junger Spatz.
»Man sieht, dass du kein Kostverächter bist, Neffe«, sagte Sebastian und kniff Leander in seinen dicken Oberschenkel. Dann probierte er selbst von seinem Kirschkuchen. »Ich weiß, was wir mit den Kernen machen. Einen Weitspuckwettbewerb. «
»Sebastian!«, sagte Sybille.
Leonie war heilfroh, als die Kaffeestunde mit ihren Geschwistern vorbei war und Leander zielbewusst auf das Regal zukrabbelte, dessen untere Böden sie ausgeräumt und mit seinen Spielsachen gefüllt hatte. Erschöpft ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und goss sich selbst einen Kaffee ein. Nach dem ersten Schluck wurde sie noch müder.
»Wir sehen uns morgen. Mein Impftermin mit Leander ist um vier«, sagte sie zu Sybille. »Danach fahre ich mit dem Bus zu dir rauf.«
Die Schwestern wollten gemeinsam das Internet durchforsten, um für Leonie eine eigene Wohnung zu suchen.
»Verschieb es nicht wieder!«, sagte Sybille beschwörend. »Das ist doch kein Leben. Du hier mit den zwei ... Chaoten. Und Vater, na ja.«
»Danke«, sagte Sebastian und lüpfte spöttisch einen nicht vorhandenen Hut.
»Und wie sieht es überhaupt mit deiner Assistentenstelle an der Stuttgarter Uni aus? Du hast dich doch beworben, oder etwa nicht?«
Sebastian stand auf, hob Leander in die Luft und schwenkte ihn einmal im Kreis herum. »Gib ihr Zeit, Billie! Manche Leute erleben ein Coming-out, und Leonie hat ihr Coming-home erlebt. «
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
»Wir spielen.« Er trat einen Schritt näher, hob den Revolver und zielte. Das Herz, der Kopf, der Bauch. Es war ein Kinderspiel.
»Was denn?« Der Kleine schaute angestrengt auf den Rand des Sandkastens.
»Russisches Roulette. Kennst du doch, oder? In einer von den Kammern ist eine Kugel.« Er setzte die Mündung an die Schläfe des Jungen. Die Haut war hellbraun und zart und gab ein bisschen nach. Auf seiner Hose breitete sich ein dunkler Fleck aus.
»Du stinkst.«
»Ich will weg«, flüsterte der Kleine.
»Kannst du aber nicht.«
»Die ist nicht echt, oder?«
»Du hast mich doch gehört.« Die Waffe zitterte nicht einmal in seiner Hand. Sein Pulsschlag war nicht einmal erhöht. Er war cool. Als er sie entsicherte, klickte es leise. Er kannte dieses Geräusch, denn sein Vater hatte das Spiel tausendmal mit ihm gespielt.
»Ich sage es meinen Cousins, und die machen dich alle.«
»Dann wird es zu spät sein.«
»NEIN!«, schrie der Junge, aber er bewegte sich nicht.
Er stellte sich vor, wie er schoss, wie Blut und Gehirn über den Sandkasten spritzten, einfach so. Sicher würden sie den Spielplatz sperren, ihn mit einem rotweißen Band sichern, wie sie es mit Baustellen taten. Dann kämen die Polizeitechniker in ihren weißen Anzügen und würden das Gelände durchsuchen, den Sand pfundweise durchsieben, bis sie das Projektil gefunden hatten. Kein Platz mehr für die Kinder der Siedlung, die sich am Zaun die Nase plattdrücken würden. Vielleicht würde es auch eine Gedenktafel geben oder so. Und nie könnten sich die Kinder später sicher sein, was sie im Sand alles fänden. Die Knarre klebte noch immer an der Schläfe des Jungen. Ich glaube, er heißt Athanassios, dachte er, und drückte ab. Kein Problem. Er hatte es im Blut.
1.
Leonie Hausmann stand hoch oben im Kirschbaum und streckte sich nach den reifsten Früchten. Knapp unter dem Himmel, wo das Gewirr der Zweige nicht mehr ganz so dicht war, bogen sie sich unter dem Gewicht der obsidianschwarzen Kirschen. Auf dem obersten Ast saß ein Amselmännchen und sang sich die Seele aus dem Leib. Der Kirschbaum stand am Hang. Sein Stamm war so dick, dass Leonie ihn alleine nicht umfassen konnte, nicht einmal, wenn sie beide Arme ausbreitete. Ihr fehlten noch genau diese Kirschen in ihrer Marmelade, und sie würde sie nicht verkommen lassen. Niemals! Sie stieg auf die oberste Stufe der Leiter, wo es keine Holme zum Festhalten mehr gab, und stützte sich an der rauen Rinde des Baumes ab. Endlich waren die süßesten Früchte in Reichweite. Sie pflückte zwei der prallen Dinger und steckte sie in den Beutel, den sie um den Hals trug. Und noch mal drei und dann fünf.
Doch die Konkurrenz schlief nicht. Leonie hielt den Atem an, als sich zwei Elstern, schwarzweiß wie die aufgeputzten Kellner eines Luxusrestaurants, auf dem Ast neben ihr niederließen. Ihre dunklen Augen musterten sie scharf und schlau und machten klar, wen sie hier für den Eindringling hielten. Die Amsel protestierte und erhob sich in die Luft. Leonie lachte leise und schüttelte den Kopf.
»Nichts da«, sagte sie und ruckelte an dem Zweig, auf dem die Räuber saßen. Majestätisch erhoben sie sich in die Luft und segelten davon, die Flügel setzten scharfe Scherenschnitte gegen den blauen Himmel. Ihr Weg kreuzte sich mit einem Flugzeug, das zur Landung auf dem Flughafen Stuttgart ansetzte.
Es war ein schöner Tag Anfang Juli. Tief unter ihr lag Leander in seiner Wippe, spielte zufrieden mit seinen Zehen und beobachtete die Sonnenflecken auf dem Gras. Im Garten blühten lachsrosa und knallrot die Rosen. Auf den Rabatten reiften die Johannisbeeren und sprenkelten die Büsche mit Rot. Der Kirschbaum stand am äußersten Ende des Hausmann'schen Gartens in Oberesslingen, da, wo sich der Bewuchs in Wildnis wandelte, knapp unterhalb des Parks der Kliniken. Leonie schaute sich um. Ihr Elternhaus, ein weißgrauer Kasten mit grünen Fensterläden, begrenzte den Garten ein gutes Stück tiefer zur Straße hin. Schon als Kinder waren sie in dem alten Kirschbaum herumgeklettert und hatten Kirschen gegessen, bis sie beinahe platzten. Einmal war ein Ast unter Leonie abgebrochen, und sie war einige Meter in die Tiefe gesegelt. Ihr Vater hatte sie den Hang hinauf in die Kinderklinik getragen, die sie, stolz wie ein Schneekönig, mit einem Gips am Arm wieder verlassen hatte. Nur Rabenvögel, die die Singvögel vertrieben, hatte es damals noch nicht so viele gegeben.
Plötzlich schluckte sie, so sehr fühlte sie sich hier zu Hause und wusste doch, dass es nicht so bleiben konnte. Sie würde sich mit Leander etwas Eigenes suchen müssen, sich endlich auf eigene Füße stellen. Leonie Hausmann, 27 Jahre alt, Doktorandin der Kunstgeschichte und alleinerziehende Mutter. Sie hatte ein eigenes Leben gehabt, zuerst an der Uni, dann als Stipendiatin der Bibliotheca Hertziana in Rom. Doch jetzt wohnte sie wieder daheim in der väterlichen Einliegerwohnung. Das musste sich ändern. Wenn der Sommer vorbei ist, dachte sie träge, ließ ihre Augen schweifen und genoss die Stille und das endlich einmal zufriedene Kind.
Von der Krone des Kirschbaums aus hatte man einen grandiosen Blick ins Tal, auf die Oststadt von Esslingen mit ihrem Gewirr aus roten Dächern. Dahinter stand die griechische Kirche mit ihrer prächtigen Kuppel, daneben der Moscheeneubau, dessen Minarett die Gläubigen auf Weisung der Stadt verkürzen mussten. Weit entfernt hörte sie die B 10 rauschen, der westwärts strömende Neckar war nur eine Ahnung. Leonie pflückte den Ast leer und aß die restlichen Kirschen, die nicht mehr in den Beutel passten, kurzerhand auf. Süßer Saft rann ihr das Kinn herunter.
Als sie ein entzücktes Lachen hörte, hob sie den Kopf.
Sie stand auf Sichthöhe zum Zaun des Krankenhausparks, hinter dem sich mehrere Ahornbäume mit gelbgrün gefleckter Rinde erhoben. Hier befand sich eine Aussichtsplattform, auf der die Patienten und ihre Besucher bei schönem Wetter die Ruhe genießen konnten. Hinter der Baumgruppe lag das Gebäude der psychosomatischen Klinik, gebaut als einladender Pavillon. Wie eine Baumelfe stand ein Mädchen am Zaun und schaute aus dunkel umrandeten Augen gebannt zu ihr hinüber. »Du hast dich ja ganz schön eingesaut, aber das mit den Elstern, das war genial.«
Die Kleine zog an ihrer Zigarette, inhalierte tief und blies Leonie weißen Rauch entgegen. Am liebsten hätte sie gefragt, ob sie schon in dem Alter war, in dem man rauchen durfte, aber stattdessen erkundigte sie sich nach ihrem Namen.
»Flavia«, sagte sie. »Und du?«
»Leonie. Möchtest du ein paar?«
»Klar.«
Das Mädchen drückte die Zigarette aus, beugte sich vor und pflückte eine Handvoll Kirschen von den obersten Zweigen des Baums.
»Danke!« Wie eine Opfergabe präsentierte sie die schwarzen Früchte in der geöffneten Schale ihrer Hände. Dabei glitt der Ärmel ihrer Strickjacke zurück und entblößte einen stöckchendünnen Unterarm. Die Hüftjeans schlotterte um schmale Oberschenkel. Leonie wusste, dass in der Klinik auch magersüchtige Mädchen behandelt wurden.
»Kommst du mal wieder?«
»Vielleicht.« Unwillkürlich überlegte sie, wie viele Kalorien in einer Handvoll Süßkirschen steckten. Hoffentlich viele. Aber das Mädchen legte die Früchte vorsichtig auf die Bank und hängte sich je zwei zusammengewachsene Kirschen über beide Ohren. Pandora, dachte Leonie und wusste nicht genau, warum.
Ein leiser Protest von Leander beendete das Gespräch. »Mein Kind«, sagte sie entschuldigend.
»Hast du schon eins? Siehst eigentlich gar nicht so aus.«
Wie eine Königin entließ Flavia sie mit einem Schlenker ihrer Hand. Leonie sprang einen Moment später neben dem Kleinen ins Gras. Sie musste lachen, denn er hatte seinen Schnuller ausgespuckt und sich stattdessen den großen Zeh in den Mund geschoben.
»Du perfekter kleiner Yogi«, sagte sie und hob ihren Sohn auf die Hüfte. »Ciao Flavia«, rief sie.
»Ciao, und vergiss mich nicht«, kam es von oben.
»Leonie?« Sybille stand in der offenen Terrassentür und schaute sich suchend um.
»Hier sind wir.«
Den Kleinen auf der Hüfte schnappte sie sich den randvollen Eimer und machte sich auf zum Haus. Es war sowieso Zeit. Sie hatte sich mit ihrer Schwester zum Kaffee verabredet. Da musste die Marmelade eben warten.
»Mein kleiner Neffe!« Sybille streckte die Hände nach Leander aus, der es sich einen Moment später auf ihrem Arm bequem machte. Gemeinsam betraten sie die Küche. Das Haus war alt, ein zugiger Kasten, in den Dreißigerjahren gebaut, als man noch Küchen plante, in denen eine ganze Großfamilie zum Kochen, Essen und Einmachen Platz fand. Als Leonie schwanger gewesen war, hatte sie den Raum auf Vordermann gebracht. Sie hatte die Wände geweißelt, die Regale und den alten Holztisch abgeschliffen und eingeölt. Auf die Fensterbank hatte sie ihre Kräutertöpfe mit Rosmarin und Thymian gestellt, fast so, als hätte sie vor zu bleiben.
»Und wo steckt die Restfamilie?«
»Vater angelt am Kanal.«
»Was sonst?« Sybille hob die Augen zum Himmel. Wann immer er es ermöglichen konnte, machte sich Gottfried Hausmann auf, um seiner Leidenschaft nachzugehen und dabei so viel Ruhe wie möglich zu tanken. Meistens gab es dann Fisch zum Abendessen, den er zum Glück - Leonie schlug drei Kreuze, dass es so bleiben möge - selbst ausnahm, putzte und in die Pfanne warf.
Sybille setzte sich mit Leander auf die Eckbank. Sie war ebenso groß und blond, wie Leonie klein und braunhaarig war, was ihren Vater dazu brachte, seine Töchter Weide und Haselnuss zu nennen. Vor seiner Emeritierung hatte er als Professor für Botanik in Hohenheim gelehrt. Leonie hasste solche Klassifizierungen, vor allem, wenn sie bei dem Vergleich schlechter wegkam. Denn Sybille hatte ihr Leben im Griff. Sie war als Gymnasiallehrerin für Deutsch und Geschichte festangestellt und bereitete gerade ihre Hochzeit mit ihrem langjährigen Freund Martin vor, der bei Daimler als Entwicklungsingenieur arbeitete. Selbstverständlich in der Stadtkirche und mit allem Drum und Dran.
Aber ein Kind hat sie nicht, dachte Leonie. Flink holte sie die Kaffeebecher aus dem Regal und verteilte Kuchenteller auf dem Tisch, alles aus Mamas altem, weißblauem Geschirr, das der schäbigen Küche einen verblichenen Landhauscharme verlieh. Während Leander mit Sybilles Autoschlüssel spielte, vermischte sie in einer Schale einen Zwieback mit einer zerdrückten Banane und etwas abgekochtem heißem Wasser. Mit dieser Mischung waren alle drei Hausmannkinder als Babys gefüttert und groß und stark geworden. Dann goss sie ihrer Schwester Kaffee ein, was Leander neugierig beobachtete. »Mit Milch?«, fragte sie.
»Wie immer«, sagte Sybille. »Und was macht der Kleine?« Damit meinte sie nicht Leander, sondern ihren Bruder Sebastian, der mit siebzehn der Jüngste in der Geschwisterreihe war. Als Leander nach der Tasse griff, schob Leonie sie geistesgegenwärtig ein Stück nach hinten.
»Nein«, sagte sie. »Er hat Mittagsschule, Basketball.« Sie holte das Kirschkuchenblech aus der Speisekammer und schloss die Tür mit einem geschickten Stoß ihres Ellbogens. »Das hoffe ich jedenfalls.«
Ihre Schwester legte die Stirn in Falten. »Er soll bloß nicht anfangen zu schwänzen. Das ist der Anfang vom Ende.« Seit ihre Mutter vor beinahe zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, hatte Sybille ein Stück Verantwortung für die Familie übernommen. Sebastian war damals erst sieben gewesen und so etwas wie ihr Ziehkind. »Bist du schwer, kleiner Mann.« Sie stöhnte und setzte Leander auf ihren anderen Oberschenkel.
Mittlerweile waren Sebastians schlechte Schulnoten ein Dauerthema zwischen ihnen. Anders als seine fleißigen und zielstrebigen Schwestern quälte er sich mühsam durchs Gymnasium und hatte höchstens am Kunstunterricht ansatzweise Interesse. Ob er in diesem Jahr das Klassenziel erreichen würde, war höchst fraglich, denn im Moment brauchte sein Einsatz gegen Stuttgart 21 sein Zeitbudget auf.
Als sie die Haustür ins Schloss fallen hörten, nickten sie einander grimmig zu. »Er braucht ein strenges Regiment«, sagte Sybille düster. Mit Schwung stellte sich Leander auf und grabschte nach der Schüssel mit dem Zwiebackbrei. »Gleich«, sagte seine Mutter und nahm ihn auf den Arm.
»Ich habe ja gar nichts gegen politisches Engagement. Und wer für den Tiefbahnhof ist, hat ja auch wirklich nichts begriffen «, flüsterte Sybille. »Aber müssen es gerade die Parkschützer sein?«
Von allen Aktivisten rund um Stuttgart 21 hatte sich Sebastian ausgerechnet den Kompromisslosesten angeschlossen. Bei den Parkschützern kreuzte hin und wieder die Polizei zu Hausdurchsuchungen auf, um Handyvideos zu konfiszieren, die sie ins Internet gestellt hatten. Leonie war heilfroh, dass sie den Sprung ins beschauliche Esslingen noch nicht geschafft hatte, denn was ihr Bruder so alles an Videos hortete, wollte sie lieber gar nicht wissen. Auf den Demos filmte er mit Hingabe alle, die er für Zivilbullen hielt, und hatte nach dem schwarzen Donnerstag am 30. 9. 2010 jede Menge Material hochgeladen, das den martialischen Einsatz der Polizei gegen die Demonstranten dokumentierte.
In diesem Moment sprang die Küchentür auf, und eine Sporttasche schlitterte quer über den schwarzweiß gekachelten Boden in die Ecke neben dem Kühlschrank. Ihr Besitzer lümmelte sich auf die Eckbank.
»Ausräumen und wegstellen!«, sagte Leonie kalt.
Sebastian zuckte die Schultern. »Wenn ihr euch den Geruch meiner Sportschuhe antun wollt, bitte!« Er angelte nach der Tasche und machte Anstalten den Reißverschluss zu öffnen.
»Draußen!«
Sebastian war groß und schlacksig. Er hatte sich die dunklen Haare vor einer Woche selbst kinnlang abgeschnitten und trug in jedem Ohr, nach Größe aufgereiht, fünf Ringe. Auf seinem schwarzen Che-Guevara-T-Shirt prangten alle Buttons, die je gegen den geplanten Tiefbahnhof verkauft worden waren, und dazu noch ein besonders großer »Atomkraft - Nein Danke«-Anstecker. Als er seine Schuhe in den Flur geräumt hatte, setzte er sich an den Küchentisch.
»Hallo Basti!«, sagte Sybille. Leonie mutmaßte, dass sie den verunglückten Beginn der Begegnung wiedergutmachen wollte.
»Hallo Billie.«
Niemand im Haus nannte sie mehr bei ihrem Spitznamen aus Kindertagen, außer Sebastian, wenn er sie ärgern wollte, und das war ziemlich oft der Fall.
»Na, Kanakenbrut!«
Begeistert streckte Leander seinem Onkel die Arme entgegen und ließ sich von ihm über den Tisch heben.
»Das ist rassistisch«, murmelte Sybille entnervt.
Er zuckte die Schultern. »Eure Political Correctness ödet mich an.« Hin und wieder versuchte er, Leonie mit dem Aussehen ihres schwarzhaarigen, brombeeräugigen Sohnes auf die Palme zu bringen, dessen Vater sie einfach nicht offenbaren wollte. Was tat man mit pubertierenden Brüdern? Ruhe bewahren, dachte sie. Der Kleine war begeistert von seinem Onkel. Er liebte es besonders, wenn dieser ihn so halsbrecherisch durch die Luft segeln ließ, dass er fast an die Decke stieß. Sebastian setzte sich mit ihm auf die Bank.
Während Leonie den Zwiebackbrei Löffel für Löffel in Leanders Mund schob, kaute Sybille missbilligend auf ihrem Kuchen herum. »Kirschkuchen zum Spucken!«, murmelte sie, entfernte eine ganze Reihe von Kernen aus ihrem Mund und legte sie mit spitzen Fingern an den Tellerrand.
»Heute Morgen hat der Kleine mir einfach keine Zeit gelassen«, entschuldigte sich Leonie. Leanders gute Laune war mit drei Stunden heftigem Zahnen am Morgen erkauft worden. Weinerlich hatte er seinen Platz auf ihrer Hüfte keinen Moment lang aufgeben wollen, so dass an eine so zeitraubende Tätigkeit wie Kirschenentsteinen einfach nicht zu denken gewesen war.
»Ich würde sagen, du hattest schlicht und ergreifend keinen Bock«, warf ihr Bruder gönnerhaft ein.
Leonie nahm sich vor, ihn zu ignorieren, und reichte Leander einen weiteren Löffel Brei.
»Hmm«, machte dieser und sperrte seinen Mund auf wie ein junger Spatz.
»Man sieht, dass du kein Kostverächter bist, Neffe«, sagte Sebastian und kniff Leander in seinen dicken Oberschenkel. Dann probierte er selbst von seinem Kirschkuchen. »Ich weiß, was wir mit den Kernen machen. Einen Weitspuckwettbewerb. «
»Sebastian!«, sagte Sybille.
Leonie war heilfroh, als die Kaffeestunde mit ihren Geschwistern vorbei war und Leander zielbewusst auf das Regal zukrabbelte, dessen untere Böden sie ausgeräumt und mit seinen Spielsachen gefüllt hatte. Erschöpft ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und goss sich selbst einen Kaffee ein. Nach dem ersten Schluck wurde sie noch müder.
»Wir sehen uns morgen. Mein Impftermin mit Leander ist um vier«, sagte sie zu Sybille. »Danach fahre ich mit dem Bus zu dir rauf.«
Die Schwestern wollten gemeinsam das Internet durchforsten, um für Leonie eine eigene Wohnung zu suchen.
»Verschieb es nicht wieder!«, sagte Sybille beschwörend. »Das ist doch kein Leben. Du hier mit den zwei ... Chaoten. Und Vater, na ja.«
»Danke«, sagte Sebastian und lüpfte spöttisch einen nicht vorhandenen Hut.
»Und wie sieht es überhaupt mit deiner Assistentenstelle an der Stuttgarter Uni aus? Du hast dich doch beworben, oder etwa nicht?«
Sebastian stand auf, hob Leander in die Luft und schwenkte ihn einmal im Kreis herum. »Gib ihr Zeit, Billie! Manche Leute erleben ein Coming-out, und Leonie hat ihr Coming-home erlebt. «
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Charlotte Kern
Kern, CharlotteCharlotte Kern ist ein Pseudonym. Die Autorin wurde 1963 in der Nähe von Osnabrück geboren. Nach dem Abitur studierte sie in Stuttgart Kunstgeschichte, Literatur und Pädagogik. Heute lebt sie mit Mann und zwei Kindern in Esslingen und arbeitet als freie Journalistin, Stadtführerin und Autorin. »Blutiger Regen« ist ihr erster Krimi.
Bibliographische Angaben
- Autor: Charlotte Kern
- 2013, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596189314
- ISBN-13: 9783596189311
- Erscheinungsdatum: 25.07.2013
Rezension zu „Blutiger Regen “
Ein Buch, das vom erzählerischen Können der Autorin, der ausgefeilten Dramaturgie und der gelungenen Mischung aus Liebe, Landschaft und Lynchjustiz seine Spannung zieht Olaf Nägele Eßlinger Zeitung 20130903
Kommentar zu "Blutiger Regen"
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